Islam in Deutschland

„Islam in Deutschland“
SWRinfo – Freitag, 7. Oktober 2016
Von Hakan Turan
Von Zeit und Vergänglichkeit
Es war ein denkwürdiger Sommer für mich – zum ersten Mal seit vielen
Jahren besuchte ich Kırşehir, die türkische Heimatstadt meiner Eltern.
Diese Stadt war in meiner Kindheit für mich und meine Geschwister ein
legendärer Ort – hier lebten unsere Verwandten, die wir jedoch nur alle
zwei Jahre für vier Wochen zu Gesicht bekamen. So ergab es sich, dass
ich schon als Kind abzuzählen begann, wie oft ich noch meinen Cousins,
die mich durch eine abenteuerliche Welt führten, so begegnen würde,
wie ich sie kennengelernt hatte. Nämlich als Kinder.
Dass diese gemeinsame Zeit nicht mehr allzu lange dauern würde,
veranlasste mich, jeden Moment mit ihnen intensiv zu genießen. So
wurde auch das gemeinsame abendliche Lauschen der Geschichten, die
die Großen im Garten unter freiem Sternhimmel und bei raschelndem
Laub der Maulbeerbäume erzählten, zu Augenblicken, in denen die Zeit
stillstand und die Nacht magisch wurde.
Aus Kindern wurden sehr bald Erwachsene, die nie mehr so
unbeschwert zusammenkommen würden. Willkommen in der Welt der
Großen! Meine unveränderlich geglaubten Großeltern sind inzwischen
gestorben und nun auf einem stillen Hügel Kırşehirs begraben. Von
diesem Hügel aus zeigt sich die Welt in einem anderen Licht. Es ist ein
schwer greifbarer Ort, dessen stille und geduldige Sprache ich mir durch
meinen Glauben verständlich zu machen versuche.
Was ist, wenn die Welt und all die Menschen, die kommen und gehen,
kurze Verkörperungen von etwas Ewigem und Guten darstellen? Im
Koran, Sure 28, Vers 88, heißt es von Gott „Alles wird untergehen, außer
seinem Angesicht.“ Was ist, wenn diese Welt eine Struktur gewordene
und wandelhafte Reflexion seines Angesichts darstellt? Die Sufis
prägten ein Verständnis von der Welt als dem Erscheinungsort der
ewigen Namen Gottes. Die Seele des Menschen, sagen sie, sei ein Ort,
der sich diesen Namen öffnen müsse, um ihr wahres Wesen zu
erkennen und zu verwirklichen.
Wenn Gott eins ist, dann kann man auch Werden und Vergehen als zwei
gleichermaßen legitime Gesichter derselben Sache sehen. Unsere Welt
wird dann durch Bejahung der ihr innewohnenden Endlichkeit zwar
fremdartiger, aber nicht sinnloser. Denn dieser Blick setzt Sein nicht mit
aktuell erlebter Gegenwart gleich.
Im Wissen Gottes sind laut den muslimischen Theologen Vergangenheit
und Zukunft gleichermaßen präsent. Vielleicht hat diese zeitlose
Perspektive sogar eine physikalische Seite, wie etwa im Modell des
Blockuniversums, in dem die vielen Momente der Zeit wie auf einer
Filmrolle gleichzeitig real sind. Demnach ist es erst unser Bewusstsein,
in dem eine Trennung von Vergangenheit und Zukunft stattfindet. Mich
beflügelt jedenfalls der Gedanke, dass meine Großeltern in ihren Phasen
als Kind, als Jugendliche und als gealterte Greise gleichermaßen auch
heute existieren, wenn auch in einem abstrakteren Sinn. Und dass ich
auch heute keinen großen Schritt von der Welt meiner Kindheit entfernt
bin, wenn ich nachts unter freiem Sternhimmel sitze und mir Gedanken
über diese Dinge mache.