Piano 1 Jan Lisiecki Freitag 7. Oktober 2016 20:00 Bitte beachten Sie: Ihr Husten stört Besucher und Künstler. Wir halten daher für Sie an den Garderoben Ricola-Kräuterbonbons bereit und händigen Ihnen Stofftaschentücher des Hauses Franz Sauer aus. Sollten Sie elektronische Geräte, insbesondere Mobiltelefone, bei sich haben: Bitte schalten Sie diese unbedingt zur Vermeidung akustischer Störungen aus. Wir bitten um Ihr Verständnis, dass Bild- und Tonaufnahmen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet sind. Wenn Sie einmal zu spät zum Konzert kommen sollten, bitten wir Sie um Verständnis, dass wir Sie nicht sofort einlassen können. Wir bemühen uns, Ihnen so schnell wie möglich Zugang zum Konzertsaal zu gewähren. Ihre Plätze können Sie spätestens in der Pause einnehmen. Bitte warten Sie den Schlussapplaus ab, bevor Sie den Konzertsaal verlassen. Es ist eine schöne und respektvolle Geste gegenüber den Künstlern und den anderen Gästen. Mit dem Kauf der Eintrittskarte erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihr Bild möglicherweise im Fernsehen oder in anderen Medien ausgestrahlt oder veröffentlicht wird. Piano 1 Jan Lisiecki Klavier Freitag 7. Oktober 2016 20:00 Pause gegen 20:50 Ende gegen 22:00 19:00 Einführung in das Konzert durch Christoph Vratz PROGRAMM Johann Sebastian Bach 1685 – 1750 Partita für Klavier c-Moll BWV 826 (1726 – 31) aus: Klavierübung I Sinfonia Allemande Courante Sarabande Rondeau Capriccio Robert Schumann 1810 – 1856 4 Klavierstücke op. 32 (1838/39) Scherzo Gigue Romanze Fughette Frédéric Chopin 1810 – 1849 Scherzo h-Moll op. 20 (1835) für Klavier Pause Frédéric Chopin Deux Nocturnes op. 48 (1841) für Klavier Nocturne c-Moll Nocturne fis-Moll Franz Schubert 1797 – 1828 Vier Impromptus op. 142 D 935 (1827) für Klavier Impromptu Nr. 1 f-Moll. Allegro moderato Impromptu Nr. 2 As-Dur. Allegretto-Trio Impromptu Nr. 3 B-Dur. Andante Impromptu Nr. 4 f-Moll. Allegro scherzando 2 ZU DEN WERKEN Vortreffliches Klavierwerk – Johann Sebastian Bachs Partita für Klavier c-Moll BWV 826 »Dieses Werk machte zu seiner Zeit in der musikalischen Welt großes Aufsehen; man hatte noch nie so vortreffliche Clavierkompositionen gesehen und gehört.« Das schrieb der erste BachBiograf Johann Nikolaus Forkel über die sechs Partiten BWV 825 bis 830. Johann Sebastian Bach verfasste sie gleich nach seinem Leipziger Amtsantritt und als Nachfolger der Englischen und Französischen Suiten. Solche Suiten galten – wie später die Sonate – als wichtigste Musik für klavierspielende Dilettanten. Bach wählte für seine neue Serie den abweichenden deutschitalienischen Begriff »Partiten«. Dieser taucht als Bezeichnung verschiedener Drucke der Zeit vor allem für eine außerhöfische, bürgerliche Musik auf. Zwar orientieren sich diese Werke noch am strengen Grundaufbau der aus Tänzen bestehenden Suite, doch gehen sie mit neuen Formmodellen und einer unglaublichen Gestaltungsvielfalt bereits in Richtung Charakterstücke. Erstmals nutzte Bach für den Druck seiner Partiten die berühmte Sammelbezeichnung Clavierübung. Unter diesem Titel publizierte er insgesamt vier Bände Klaviermusik, zuletzt die Goldberg-Variationen. Diese Wortschöpfung übernahm er vermutlich von seinem Leipziger Amtsvorgänger Johann Kuhnau, der mit seinen gleichnamigen Klavierbüchern 1689 regelrechte Bestseller vorgelegt hatte. Bach wollte und musste zeigen, dass er auch auf diesem Gebiet zu den führenden Musikern seiner Zeit gehörte. Komplett im Sechserpack erschienen die Partiten erstmals 1731 als »Opus 1«. Die zweite Partita c-Moll BWV 826 war aber bereits 1727 mit der dritten als separate Ausgabe erschienen. Sie hebt mit einem italienisch als Sinfonia bezeichneten Einleitungsstück an, das gleichsam Elemente der französischen Ouvertüre aufgreift: Den pompösen Eröffnungstakten folgt zunächst ein reich verziertes Arioso, bevor sich ein zweistimmiges Fugato anschließt. Das Form- und Satzprinzip der Franzosen wird durch die luftige Satzkunst und Kantabilität der Italiener im Sinne des »vermischten 3 Geschmacks« ergänzt. In allen Sätzen findet sich diese Fusion. Sie reicht bis hin zur Ornamentik, die sowohl Anleihen bei François Couperin als auch bei den Italienern macht. Auf zwei ›reguläre‹ Tanzsätze Allemande und Courente folgt eine unüblich zweistimmige Sarabande. Dann weicht Bach völlig von der Norm ab und fügt ein neuartiges Rondeaux mit schier übermütigen Septimsprüngen ein. Statt der üblichen Schluss-Gigue endet die Partita mit einem filigran-kontrapunktischen Capriccio (also einem einfallsreichen, »launigen« Stück), das die linke Hand des Pianisten humorvoll einbezieht. Pianistische Nachlese – Robert Schumanns Vier Klavierstücke op. 32 Robert Schumanns Klaviermusik hatte es schwer. Im Klavierunterricht Frédéric Chopins etwa spielte sie überhaupt keine Rolle, und seine eigene Frau Clara, gefeierte Konzertpianistin, präsentierte ihrem Publikum zunächst nur Auszüge daraus. Erst nach seinem Tod spielte sie die großen Zyklen komplett. Der Grund lag in der eigenwilligen Mischung aus Versunkenheit, Groteske und Doppelbödigkeit, die Schumanns Kunst prägt. Auch das intellektuelle Versteckspiel mit Zitaten war nicht unbedingt populär. Außerdem liebte er leise verklingende Schlüsse. Auch das kam beim klatschsüchtigen Publikum jener Zeit nicht besonders gut an. Der Klavierabend wurde damals ja erst durch Franz Liszt populär und musste ein wenig reißerisch ablaufen, um sich gegen Oper, Sinfonie- und Chorkonzert durchzusetzen. Als Nebenprodukt zur wesentlich berühmteren Humoreske op. 20 komponierte Schumann während eines Wien-Aufenthalts im Winter 1838/39 drei Klavierstücke: ein Scherzo, eine Gigue und eine Romanze. Sie waren nicht als Zyklus gedacht. Man darf die kleinen Stücke daher wohl eher als Studien betrachten. Besonders reizvoll erscheint die raffinierte Gigue g-Moll, die mit der dritten Nummer aus den Kreisleriana verwandt ist. Ähnlich wie es Bach getan hätte, verschmilzt Schumann den französischen 4 Tanz mit kontrapunktischen Techniken. Vielleicht regten ihn auch wesensverwandte Klavierstücke Mozarts an, die er in Wien kennen lernte, man denke etwa an die Gigue KV 574 oder die g-MollFugen KV 154 und 401. Das ebenfalls vom punktiert-springenden Gigue-Rhythmus geprägte Scherzo weist hingegen auf die großen Tanzzyklen Carnaval oder Davidsbündlertänze. Dem Charakterstück Romanze hat sich Schumann ja in seinen etwas später entstandenen Drei Romanzen op. 28 intensiv zugewandt. Bei der Romanze op. 32 aus Wien handelt es sich um ein ruheloses Nachtstück. Dem harschen Staccato der Außenteile steht ein zart singender Mittelteil gegenüber. Filigran ist der Übergang zur raschen Reprise gelöst. Im Sommer 1839 wurden die drei Stücke noch durch eine kleine Fughette g-Moll ergänzt, die leise und zögernd einsetzt. Bemerkenswert an ihr ist die farbig erweiterte Harmonik. 1841 erschienen alle vier Klavierstücke als Opus 32 im Hamburger Verlag Schuberth & Co. Mit dieser Nachlese schließt Schumann seine ertragreichste Epoche der Klaviermusik ab. Es scheint, als habe er diese bunt zusammen gewürfelten Stücke anderswo nicht verwenden können, wollte sie der Welt aber nicht vorenthalten. Ob die Widmung an seine Schülerin Amalie Rieffel, Tochter eines Flensburger Organisten, auf den Studiencharakter dieser Sammlung weist? Fest steht, dass auch diese Miniaturen viel über Schumanns Klavierstil und seine Vorliebe für Kontrapunktik verraten. Exaltierte Romantik – Frédéric Chopins Scherzo Nr. 1 h-Moll op. 20 Frédéric Chopin wurde für seinen feinen Anschlag und sein vornehmes Spiel gelobt, doch er liebte auch den kraftvollen Zugriff des befreundeten Pianisten Franz Liszt. Besonders wichtig ist letzterer in seinen vier Scherzi, die verteilt über sein Leben entstanden. Bereits die beiden signalartigen Anfangs-Akkorde (hoch-tief und außerdem dissonant) in Chopins erstem Scherzo h-Moll op. 20 klingen nach exaltierter Romantik. Als teuflischer 5 Spuk wurden die vom Instrumentalisten zu bewältigenden Griffe und das aufgeregt umherirrende Passagenwerk angesehen. Die Rahmenteile des um 1831 konzipierten, aber erst 1835 für den Druck abgeschlossenen Scherzo sind spannungsreich angelegt: Die tobenden Läufe münden immer wieder in ein sonores Kontrastthema. Zwischen den Extremen scheint es keinen Ausweg zu geben. Erst das im Dur-Mittelteil angestimmte polnische Weihnachts-Wiegenlied »Lulajze Jezuniu, lulajze, lulaj«, (»Schlaf, kleiner Jesus, schlaf«) entrückt in die heile Welt der Kindheit. Frühe Biografen deuteten diese Stelle als Heimweh des Emigranten nach der verlorenen Heimat. Ungestüm kehrt danach der erste Teil wieder, in dem wiederum der kämpferische Patriotismus des stolzen Polen erkannt wurde. Die Coda kulminiert in einem erneut dissonanten zehnstimmigen Akkord, der neunmal hintereinander in höchster Lautstärke gehämmert wird, ehe die Auflösung erfolgt. Der britische Verleger Christian Wessel publizierte dieses Scherzo unter dem reißerischen Titel Banquet infernal (Höllenbankett), was Chopin allerdings überhaupt nicht gefiel. Vokale Melodik – Frédéric Chopins Deux Nocturnes op. 48 Viele verbinden den Namen Chopin vor allem mit seinen berauschenden 21 Nocturnes. Die vom irischen Klavierpoeten John Field beeinflussten Stücke sind elegische Nachtgesänge, die mitunter zu leidenschaftlicher Dramatik gesteigert werden. Sie entführen in eine Sphäre zwischen Tag und Traum. Sicher hat die italienische Belcanto-Oper (Bellini, Donizetti) mit ihren ergreifenden Abschiedsarien diese Musik beeinflusst, ebenso der französische Liedgesang. Chopins Melodien sind vokal erdacht und atmen in klaren Phrasen. Andererseits sind Oberstimme und Begleitung so raffiniert miteinander vernetzt, dass es sich um ausgewachsene Charakterstücke handelt. Die Deux Nocturnes op. 48 entstanden 1841 in Paris. Von rhetorischer Kraft getragen ist der Hauptgedanke der ersten in c-Moll, fast möchte man an eine 6 Totenklage auf einen großen Helden denken. Der Mittelteil setzt auf herrische Oktavengänge, die sich bedrohlich aufbäumen. Dann wird das Anfangsthema über erregten Triolen im doppelten Tempo wiederholt. Das Stück ist eine Tondichtung im Kleinen. Das zweite Nocturne fis-Moll fließt zunächst deutlich gleichmäßiger dahin, wobei die Oberstimme die emphatische Gesangsmelodie anführt. Der Mittelteil wirkt fast ein wenig improvisiert und schrullig, dann erklingt erneut die raffiniert variierte und mit Trillern umspielte Anfangsmelodie und wird am Ende selig nach Dur aufgelöst. Prägnante Einfälle – Franz Schuberts Vier Impromptus op. 142 D 935 Der Titel Impromptus geht auf die Idee des Wiener Verlegers Tobias Haslinger zurück. Dieser hatte die Nr. 1 von Franz Schuberts zwischen Sommer und Dezember 1827 ausgearbeiteten acht neuen Stücken mit dieser Bezeichnung gedruckt. Der Komponist griff darauf zustimmend zurück, wenn er die heute gespielte zweite Gruppe daraus (op. 142 D 935) gleich selbst mit Vier Impromptu’s überschrieb. Vielleicht dachten beide auch an jene lyrischen Stücke, die der Tscheche Jan Václav Voříšek einige Jahre zuvor unter diesen Titeln veröffentlicht hatte. So etablierte sich eine neue Gattung des 19. Jahrhunderts: ein fantasieartiges Klavierstück, umfangreicher und weniger bildhaft als das spätere Charakterstück. Oft gibt es darin einen prägnanten Einfall. Die Bezeichnung ist wohl aus dem Lateinischen abgeleitet für eine Musik, die dem Pianisten schnell »bereit« stand (promtu). Solche Einzelstücke waren oft beliebter als große Sonaten. Viel wurde über den zyklischen Zusammenhalt dieser zweiten Serie nachgedacht. Zwar bot Schubert die Stücke im Februar 1828 dem Schott-Verlag mit dem Hinweis an, dass »jedes einzeln oder alle vier zusammen erscheinen können«, doch die Tonartendisposition zeigt eine klare Verbindung. Anfangs- und Schlussstück stehen in f-Moll, außerdem verweisen die Formtypen 7 Sonatensatz und Rondo auf die viersätzige Klaviersonate. Als langsame Binnensätze fungieren dann das tonal verwandte Allegretto an zweiter Stelle und die Variationen über die populäre Rosamunde-Melodie an dritter Stelle (Andante). Dies erkannte bereits Robert Schumann in einer 1838 erschienenen Rezension für die Neue Zeitschrift für Musik. Er konnte jedenfalls nicht glauben, dass Schubert diese Stücke wirklich als Impromptus bezeichnet hat. In der Tat verwenden sie (außer dem als Hausmusik beliebten As-Dur-Stück) auch nicht die für die Gattung übliche einfache Liedform (ABA). Sie sind komplex aufgebaut und in ihrer Virtuosität für ein größeres Auditorium bestimmt. Der spätere Verlag unterstrich dies noch mit einer Widmung an Franz Liszt, dem Prototyp des romantischen Pianisten. Das einleitende f-Moll-Impromptu D 935 Nr. 1 verglich Schumann mit dem »ersten Satz einer Sonate«. Es sei »so vollkommen ausgeführt und abgeschlossen, dass gar kein Zweifel aufkommen kann«. Das zweiteilig als Exposition und Reprise angelegte Stück ist formal weiträumig gestaltet und nutzt drei Themengruppen. Mit einem emphatischen Dreiklangs-Arpeggio und einem verzierten Abstieg durch zwei Oktaven hebt es an. Aus der Fortführung entwickelt sich ein akkordisches Legato-Thema in As-Dur. Ein weiteres, geheimnisvoll zwischen Diskant und Bass wechselndes Motiv wendet die Tonart nach as-Moll. Vor allem der letzte Gedanke zeigt den für Schubert typischen, traumverloren schweifenden Ton. Motive werden wiederholt, minimal abgewandelt und harmonisch stets neu eingebettet. Im Grunde schließt sich das Impromptu D 935 Nr. 2 an das AsDur-Legato-Thema der ersten Nummer nahtlos an. Schubert greift also einen Aspekt aus dem ersten Stück heraus, um ihn nun einzeln zu beleuchten. Der Charakter der engschrittigen Hauptmelodie im ¾-Takt verbindet Sarabande und Menuett. Das fast zu schöne Thema kann auch eine hineinplatzende Fortissimo-Episode nicht einschüchtern. Im Trio wenden sich fließende Triolen nach Des-Dur und bringen in der Mitte eine reizvolle harmonische Ausweichung nach A-Dur. Auch dieser farbige Tonartenplan samt ausgeklügelter Modulationen ist ›echt Schubert‹. 8 Das nächste Impromptu B-Dur D 935 Nr. 3 beruht auf dem Thema der dritten Zwischenaktmusik aus Schuberts Schauspielmusik Rosamunde, die am 20. Dezember 1823 im Theater an der Wien aufgeführt wurde. Die Melodie durchlebt verschiedene Charaktere: In Var. I und II wird sie ornamental umspielt, wendet sich dann als innige Kantilene nach b-Moll (Var. III) und wird anschließend in punktierten Ges-Dur-Sprüngen der linken und rechten Hand gänzlich aufgelöst (Var. IV). Die rasante letzte Variation kehrt zur Grundtonart B-Dur zurück. Als vollgriffiges LentoBassthema wird die Melodie am Ende kurz noch einmal angespielt, als eher nachdenklicher Epilog. Ein keckes Staccato-Thema beherrscht das letzte Impromptu D 935 Nr. 4. Stampfende Akzente gegen den Taktschwerpunkt erinnern an den von Schubert geliebten Stil »à la hongroise« (nach ungarischer Art). Auch die rauschenden Triller- und Passagengirlanden lassen an das Cimbalom-Spiel von reisenden Musikern des Balkanraums denken. Die gut 100-taktige Coda beginnt mit erwartungsvollen Pianissimo-Staccati. Nach einer zweitaktigen Generalpause schrauben sich ungestüme Oktaven in die Höhe, um anschließend in einem rasanten Abwärtslauf über sechs Oktaven hinabzustürzen. Musikantischer hat Schubert kaum je komponiert. Aber er liebte es ja, bei kleinen Gesellschaften zum Tanz aufzuspielen. Matthias Corvin 9 WEITERHÖREN Predigen und Fließen – Diskographische Anmerkungen zu Bachs zweiter Partita Nein, ihren Namen sucht man in den Listen der großen BachInterpreten eher vergebens: Martha Argerich, die schon immer ein recht schmales Repertoire gepflegt hat und dieses kaum erweitert – eher noch verschlankt; ausgerechnet La Martha also setzt hin und wieder die zweite Partita aufs Programm. Eine Aufnahme von 1979 (Warner) bezeugt, dass ihr Bach-Verständnis eher auf Strenge beruht, auf einer unerschütterlichen Statik, mit Streben, die nie nachgeben, schon gar nicht unter Romantizismen. So kann man Bach deuten. Zum Verlieben aber ist er nicht. Dafür ist er zu kühl: die herbe Einleitung etwa, die straffe Courante, das Capriccio, das so stählern nach vorne peitscht. Es gibt prominente Pianisten an Argerichs Seite, die Bach ähnlich spielen: ohne jede Verzärtelung, mit Drang zum Motorischen, dabei apollinisch klar – ein moderner Bach? Dann war Glenn Gould der erste Modernist. Seine Aufnahme von 1959 (Sony) gilt vielen Hörern und Kritikern als Meilenstein. Einverstanden. Ein kühner Bach, erstaunlich leicht im Rondeau, das durchaus spielerisch daherkommt und doch zugleich straff, unbeugsam. Bach und Humor? Das passt nicht zu Goulds und Argerichs Bach-Bild. Man muss nicht gleich das Gegenteil heraufbeschwören. Wer es dennoch sucht, findet es bei Rosalyn Tureck, die die Partiten erstmals zwischen 1956 und 1958 aufgenommen hat (Philips), ein zweites Mal 1984 (VAI). Bei der c-Moll-Partita zeigen beide Lesarten Unterschiede, zugegeben. In der späteren Aufnahme ist Tureck zügiger unterwegs, zumindest ein bisschen. Im Ansatz aber ist sie sich treu geblieben. Die Allemande ist ein krasses Beispiel. Hier erahnt man, warum man Tureck hartnäckig das Etikett von der »Hohepriesterin Bachs« angeheftet hat – zum einen, weil sie sich unermüdlich für Bachs Musik eingesetzt hat, weil sie für Bach am Klavier plädiert hat, als Cembalistin Wanda Lewandowska darin noch eine Entweihung sah. »Hohepriesterin« zum anderen, weil Tureck die Stücke wie ein Hochamt zelebriert. Die 10 Sarabande ist ein ewig lang gesponnener Faden, eine Predigt, tief empfunden gewiss, aber muss es gleich so langsam sein? Carl Seemann, der große stille Mann des Klaviers, hat die Partiten im Sechserpack 1965 in seiner Geburtsstadt Bremen aufgenommen (Orfeo). Wer einen Bach ohne jede Eitelkeit sucht, ohne den Hauch von Manierismus, der sollte sich an Seemann halten. Zu Zeiten, als die Erkenntnisse der historisch orientierten Aufführungspraxis noch in ihren Anfängen steckten und stockten, verzichtete Seemann auf Breite, auf ein sämiges Fließen, wie seinerzeit in Orchesteraufnahmen mit Bach-Werken allenthalben zu hören. Ein Bach ohne Finessen? Durchaus. Aber auch ohne jedes Überdreh-Moment. Das gilt auch für eine Aufnahme, die meist abseits der großen Namen geführt wird: Von Mieczyslaw Horszowski stammt ein Live-Mitschnitt aus dem Jahr 1983 – da war der polnische Pianist bereits über 90 Jahre alt (arbiter): Er spielt betörend klangschön – eine wahrhaft bezaubernde, weil so ungemein gesangliche Deutung. Kein Wunder, dass Murray Perahia und András Schiff von Horszowski in höchsten Tönen schwärmen … In der jüngsten Aufnahmegeschichte ist die c-Moll-Partita immer mal wieder als Einzel-Werk eingespielt worden. Von David Theodor Schmidt etwa (Profil), oder von Piotr Anderszewski live 2008 (Virgin). Rudolf Buchbinder hat mit Ende 60 im Jahr 2015 sein erstes Bach-Album veröffentlicht, darauf auch die zweite Partita (Sony). Abgesehen von einem etwas halligen Klangbild, findet Buchbinder zu schlüssigen Ergebnissen – Referenzcharakter aber haben sie nicht. Auch der junge Franzose David Fray – ohnehin kein Freund von Gesamtaufnahmen – hat die zweite Partita ausgewählt (Erato). »Wir sollten keine Angst davor haben, die Ausdruckskraft in Bachs Musik anzuerkennen«, sagt Fray. »Die Romantiker haben das Recht auf Expressivität nicht gepachtet.« Entsprechend spielt er dieses Werk: umsichtig, aber auch mit hohem Ausdrucks-Risiko. Bach als Meditation. Bach als Kontemplation. In der Sarabande ist er nicht viel schneller als Tureck – und doch sind die Verläufe der Melodien andere, immer wieder setzt Fray kleine Zäsuren, nimmt er einzelne Töne diskret 11 zurück. Das hat Hand und Fuß, bleibt aber unter dem Strich Geschmackssache. Zu den neuesten Gesamtaufnahmen zählt die Einspielung mit Igor Levit (Sony). Keine Frage, diese Einspielung verdient genauere Betrachtung. Levit fällt vieles leicht, obwohl er es sich nie leicht macht. Levit grübelt und tanzt, eine seltene Verbindung, die aber dem Kern Bachschen Denkens sehr nahekommt. Die Tempi sind eher verhalten, als wolle er dadurch dem Moll-Gestus des Werkes Nachdruck verleihen. Aber wie er nach der nachdenklichen Sarabande das Rondeau als befreiende Antwort versteht, das ist eindrucksvoll. Und das Capriccio verrät durchaus Augenzwinkern. Hier sind die Bassfiguren von eigenem Gewicht. Sie sind mal wie ein Echo, mal spielen sie Pingpong mit der Diskant-Stimme, immer sind sie versteckte Taktgeber. Murray Perahia geht noch ein Stückchen weiter (Sony). Sein Bach, seine zweite Partita, verrät noch größere Selbstverständlichkeit, kommt ohne Grübelfalten eines Jungspundes à la Levit aus. Wie raffiniert Perahia die Courante phrasiert – das erscheint schon fast lässig, wenn es nicht gleichzeitig so präzise wäre. Diese Aufnahme zeigt, wie viel Farben Bach auf dem modernen Klavier verträgt, und wie viel man ihm auch mitgeben darf, ohne es gleich zu übertreiben. Ähnliches gilt auch für Angela Hewitt (Hyperion), deren Bach eher etwas weicher gezeichnet ist. Doch ist Hewitt klug genug, den Klang nicht unnötig zu verwässern. Ihr Spiel besitzt Geschmeidigkeit, bisweilen Grazie. Schließlich eine Referenz-Aufnahme, deren Rang unstrittig ist. Nach seiner ersten Einspielung 1983 (Decca) ließ András Schiff 2007 bei ECM eine zweite Aufnahme folgen. Aus jedem Takt blickt die jahrelange Erfahrung mit Bachs Musik. Diese zweite Produktion ist an Finesse, Witz, an entschlossenem Zugriff, an historisch geschultem Umgang mit Cembalo und Klavier kaum zu übertreffen. Christoph Vratz 12 BIOGRAPHIE Jan Lisiecki Jan Lisiecki wurde als Kind polnischer Eltern 1995 in Kanada geboren. Nur vier Jahre, nachdem er im Alter von fünf Jahren seinen ersten Klavierunterricht bekam, gab er sein öffentliches Debüt. 2011 machte er seinen High-SchoolAbschluss und studierte anschließend an der Glenn Gould School in Toronto. Er gewann 2010 bei den Révélations von Radio-Canada Musique, 2011 bei Jeune Soliste des Radios Francophones und wurde 2013 mit dem Leonard Bernstein Award beim SchleswigHolstein Musik Festival ausgezeichnet und vom Gramophone Magazine zum Young Artist of the Year ernannt. Mit Live-Einspielungen der beiden Chopin-Klavierkonzerte, herausgebracht vom Fryderyk Chopin Institut, machte Jan Lisiecki die internationale Musikwelt bereits als 13- bzw. 14-Jähriger auf sich aufmerksam. Das Album wurde mit dem renommierten Diapason Découverte Preis ausgezeichnet. 2011 unterzeichnete Jan Lisiecki als erst 15-Jähriger einen Schallplatten-Exklusivvertrag. 2012 erschien in diesem Rahmen seine Aufnahme mit Mozarts Klavierkonzerten KV 466 und KV 467. Die zweite CD folgte 2013 mit Chopins Etüden op. 10 und op. 25. Sein drittes Album wurde im Januar 2016 veröffentlicht und umfasst Schumanns Werke für Klavier und Orchester. Im Frühjahr 2017 wird Jan Lisieckis Einspielung von Chopins seltener gespielten Werken für Klavier und Orchester mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester und Krzysztof Urbanski erscheinen. Im März 2013 sprang Jan Lisiecki kurzfristig für Martha Argerich in Bologna ein, wo er mit dem Orchestra Mozart unter Claudio Abbado Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 aufführte. Die gleiche Saison wurde gekrönt von seiner Darbietung von Schumanns Klavierkonzert bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall in London. Im folgenden Jahr spielte er drei Mozartkonzerte in einer Woche mit dem Philadelphia Orchestra und meisterte seine Debüts als Konzertsolist mit der Filarmonica della Scala in 13 Mailand, dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem NHK Symphony Orchestra in Tokio und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. In der gleichen Spielzeit gab Jan Lisiecki seine Rezital debüts in der Wigmore Hall, in der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom und in San Francisco. Im Januar 2016 debütierte er im Main Auditorium der New Yorker Carnegie Hall. Andere wichtige Ereignisse in seinem Saisonkalender 2015/2016 waren u. a. seine Konzerte mit den Bamberger Symphonikern in Luzern, Debüts mit dem Cleveland Orchestra und dem San Francisco Symphony Orchestra und mehrere Tourneen einschließlich einer Europatour mit dem Zürcher Kammerorchester, das Jan Lisiecki vom Flügel aus leitete. Die Entwicklung des jungen Pianisten wurde begleitet von so international renommierten Orchestern wie dem Orchestre de Paris, dem New York Philharmonic und dem BBC Symphony Orchestra an Spielorten wie der Suntory Hall, dem Kennedy Center, dem Lincoln Center, dem Barbican Center und der berühmten Royal Albert Hall. Jan Lisiecki pflegt enge Beziehungen zu namhaften Dirigenten wie beispielsweise Sir Antonio Pappano, Yannick Nézet-Séguin, Daniel Harding und Pinchas Zukerman. Auch in der Spielzeit 2016/2017 stehen Jan Lisiecki zahlreiche Auftritte weltweit bevor. Zu den Höhepunkten gehören eine Tournee mit dem London Philharmonic Orchestra und Vladimir Jurowski sowie der Auftritt beim Eröffnungsfestival der Elbphilharmonie in Hamburg mit Yannick Nézet-Séguin. Viele große Radio- und TV-Sender berichteten bereits ausführlich über Jan Lisieckis Karriere und übertrugen seine Konzerte. Er war auch Gegenstand eines Dokumentarfilms der CBC News namens The Reluctant Prodigy (»Wunderkind wider Willen«). Jan Lisieckis engagiert sich in vielen karitativen Projekten und für Kunst-Organisationen wie die David Foster Foundation, die Polish Humanitarian Organization und die Wish upon a Star Foundation. 2012 wurde er zum UNICEF-Botschafter für Kanada ernannt, nachdem er seit 2008 als National Youth Representative fungierte. In der Kölner Philharmonie war Jan Lisiecki bereits mehrfach zu Gast, zuletzt im Oktober 2015 mit der Warschauer Nationalphilharmonie. 14 Centrum Köln Vom Einsteigerklavier bis zum Konzertflügel – besuchen Sie das C. Bechstein Centrum Köln! C. Bechstein Centrum Köln In den Opern Passagen · Glockengasse 6 · 50667 Köln Telefon: +49 (0)221 987 428 11 [email protected] · bechstein-centren.de KölnMusik-Vorschau Oktober DO 13 20:00 MI 12 Savina Yannatou & Primavera en Salonico Savina Yannatou Gesang Kostas Vomvolos Qānun Yannis Alexandris Ûd, Gitarre Kyriakos Gouventas Violine Harris Lambrakis Ney Michalis Siganidis Bass Kostas Theodorou Percussion 20:00 Simone Kermes Sopran Tänzer der Staatlichen Ballettschule Berlin La Magnifica Comunità Enrico Casazza Konzertmeister Songs of Thessaloniki Torsten Händler Inszenierung und Choreographie Mit ihrem jüngsten Programm »Songs of Thessaloniki« besucht die griechische Sängerin Savina Yannatou mit ihrer Band jene Stadt, die einst vom Volksmund »Jerusalem des Balkans« genannt wurde. In Thessaloniki lebten Griechen, Juden, Türken, Bulgaren, Serben, Armenier, Slawo-Mazedonier und Pontosgriechen zusammen. Von diesem friedlichen Miteinander erzählen nun viele jüdisch-spanische Lieder, orientalische Melodien sowie griechische und türkische Texte. Diese Musik veredelt Yannatou mit behutsamer Innovation zu ewiger Gültigkeit, weil sie es vermag, ihre individuelle Interpretation mit den tradierten Werten der Musik in Gleichklang zu bringen. mit Werken von Claudio Monteverdi, Antonio Cesti, Carlo Mannelli, Anthoine Boësset, Henry Purcell, Tarquinio Merula, John Eccles, Michele Lambert, Giovanni Legrenzi, John Dowland, Luis de Briceño und Barbara Strozzi Simone Kermes’ neues Programm dreht sich ganz um die Liebe und spannt einen musikalischen Bogen von 1580 bis 1700. Begleitet vom Ensemble La Magnifica Comunità und zwei Tänzern erzählt die Sopranistin in den handverlesenen Arien vom ersten Verliebtsein über rasende Leidenschaften bis zum Abschied oder gar dem Tod aus Liebe. Operette und ... 2 16 Donnerstag 20. Oktober 2016 20:00 Werke von Joseph Haydn, Béla Bartók und Gustav Mahler Foto: Deutsche Grammophon/Mat Hennek Hélène Grimaud Klavier Rotterdams Philharmonisch Orkest Yannick Nézet-Séguin Dirigent Unter der Leitung ihres Chefdirigenten Yannick Nézet-Séguin spielen die Musiker des Rotterdams Philharmonisch Orkest die Sinfonia aus Haydns »Wüster Insel«, bevor Hélène Grimaud Bartóks drittes, seiner Frau, der Pianistin Ditta Pasztory, gewidmetes Klavierkonzert interpretiert. Naturgeräusche, vor allem Vogelstimmen, werden oft mit diesem Konzert assoziiert und mit Mahlers 1. Sinfonie, deren 1. Satz von Mahler mit »Wie ein Naturlaut« überschrieben wurde, bleibt es naturverbunden und »stürmisch bewegt«. Ihr nächstes Abonnement-Konzert FR Mo 14 14 20:00 November 20:00 Anna Pehrsson Tanz Dani Brown Tanz Ioanna Paraskevopoulou Tanz Harry Koushos Tanz Igor Levit Klavier Franz Schubert Allegretto c-Moll D 915 (1827) für Klavier Ensemble Musikfabrik Ilan Volkov Dirigent Frederic Rzewski Dreams II (2014) für Klavier Alexandra Waierstall Choreographie Toshio Hosokawa Slow Dance Franz Schubert Sonate für Klavier B-Dur D 960 (1828) Hanspeter Kyburz Danse aveugle Piano 2 John Cage Sixteen Dances for Soloist and Company of 3 19:00 Einführung in das Konzert durch Stefan Fricke Gefördert durch das Kuratorium KölnMusik e. V. SA 15 20:00 Christiane Karg Sopran Mauro Peter Tenor Helmut Deutsch Klavier Johannes Brahms 28 Deutsche Volkslieder WoO 32 für Singstimme und Klavier 42 Deutsche Volkslieder WoO 33 für Singstimme und Klavier Auswahl aus beiden Zyklen Wenn sich im 19. Jahrhundert ein Komponist dem schönen Volkslied aus vollem Herzen gewidmet hat, dann Johannes Brahms. An die hundert Volks- und Kinderlieder hat er für Chor bzw. für Solostimme und Klavier bearbeitet. Aus zwei bedeutenden Sammlungen von Brahms haben nun Sopranistin Christiane Karg und Tenor Mauro Peter die schönsten und auch berührendsten Volkslieder ausgewählt. Liederabende 2 18 Mittwoch 9. November 2016 20:00 Joachim Kühn p Beauty & Truth solo Joachim Kühn, seines Zeichens Pianist von Weltrang und Solitär des europäischen Jazz, gönnt sich auch im Alter jenseits der 70 keine Pause. Für sein jüngstes Programm »Beauty & Truth« hat er sein heimisches Tonträgerarchiv nach Lieblingssongs und -melodien durchforstet. Fündig geworden ist Kühn bei den Jazzgiganten Gil Evans und Ornette Coleman, aber auch bei The Doors und dem Soundtrack zu Polanskis »Rosemary’s Baby«. Alles zu hören im Kühn-Sound. Foto: Uli Fild Philharmonie-Hotline 0221 280 280 koelner-philharmonie.de Informationen & Tickets zu allen Konzerten in der Kölner Philharmonie! Kulturpartner der Kölner Philharmonie Herausgeber: KölnMusik GmbH Louwrens Langevoort Intendant der Kölner Philharmonie und Geschäftsführer der KölnMusik GmbH Postfach 102163, 50461 Köln koelner-philharmonie.de Redaktion: Sebastian Loelgen Corporate Design: hauser lacour kommunikationsgestaltung GmbH Textnachweis: Die Texte von Matthias Corvin und Christoph Vratz sind Originalbeiträge für dieses Heft. Fotonachweise: Jan Lisiecki © Deutsche Grammophon/Ben Wolf Gesamtherstellung: adHOC Printproduktion GmbH Foto: Decca Classics/Uli Weber Krystian Zimerman spielt Karol Szymanowski und Franz Schubert koelner-philharmonie.de 0221 280 280 Donnerstag 01.12.2016 20:00
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