Stellungnahme zur Asyl

AMNESTY INTERNATIONAL ÖSTERREICH
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STELLUNGNAHME
zum Entwurf einer Verordnung der Bundesregierung zur
Feststellung der Gefährdung der Aufrechterhaltung der
öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit
4. Oktober 2016
Amnesty International bezieht zu Gesetzesentwürfen nur im Rahmen ihres Mandats, sohin nur
insoweit Stellung, als menschenrechtliche Implikationen gegeben sind.
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STELLUNGNAHME ZUM VORLIEGENDEN ENTWURF
GRUNDSÄTZLICHES
Österreich ist ein schönes Land. Österreich ist ein wohlhabendes und sicheres Land. In Österreich
sagen 81,2% der Menschen, dass sie sich sicher fühlen, das sind sehr viel mehr als der OECDDurchschnitt von 68,3%.1
Das öffentliche Leben in Österreich ist geprägt durch einen starken Gemeinsinn und hohes zivilgesellschaftliches Engagement. 93% der Bevölkerung können eine Person angeben, die ihnen im Notfall helfen würde.2
Österreich ist eines der Länder der Europäischen Union mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt.3
Österreichs Bundeshauptstadt Wien gewann 2016 das Mercer-Ranking als lebenswerteste Stadt zum
siebten Mal in Serie. Maßgebliche Kriterien zur Beurteilung sind beispielsweise innere Stabilität,
Kriminalitätsraten und Leistungsfähigkeit der örtlichen Strafverfolgungsbehörden.
Das ist auch genau das Österreich, das wir sehen, wenn wir unterwegs zur Arbeit, in den Kindergarten oder Sportverein sind.
Der vorliegende Entwurf der Sonderverordnung konstruiert jedoch ein ganz anderes Bild.
Nach Ansicht von Amnesty International wird hier versucht, Österreich schlecht zu reden, indem den
Menschen in Österreich bewusst ein Gefühl der Unsicherheit vermittelt wird und gleichzeitig nach
außen hin eine scheinbare Überforderung mit der aktuellen Situation konstruiert wird.
Es hat den Anschein, dass sich die österreichische Regierung aktuell nicht mit den
menschenrechtskonformen Lösungsansätzen auseinandersetzen will und 4sich damit auf möglichst
einfache Weise um eine politische Managementaufgabe zu drücken, die in gemeinsamer
Verantwortung mit den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durchaus menschenrechtskonform
lösbar ist.
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http://www.oecdbetterlifeindex.org/de/countries/austria-de/, abgerufen am 28.9.2016
ebenda
http://wko.at/statistik/eu/europa-BIPjeEinwohner.pdf
https://www.amnesty.at/de/view/files/download/showDownload/?tool=12&feld=download&sprach_connect=417
3
STELLUNGNAHME ZUM VORLIEGENDEN ENTWURF
Rechtswidrige gesetzliche Grundlage
Amnesty International hat bereits mit ihrer Stellungnahme vom April 2016 aufgezeigt, dass die
gesetzliche Grundlage der zu beurteilenden Verordnung mit Rechtswidrigkeit behaftet ist. Im
Nachfolgenden wird überblicksmäßig noch einmal auf die damals bereits vorgebrachten Punkte
eingegangen, wobei insbesonders menschenrechtlich brisante Problematiken erneut aufgezeigt
werden.
Unvereinbarkeit mit primären und sekundären Europarecht
Die Grundrechtecharta (GRC) als Grundrechtskatalog der EU stellt primäres EU-Recht dar. Art 18
GRC normiert ein Recht „auf Asyl“, somit ist dieses Recht auf der primärrechtlichen Ebene
verankert.5 Im vorliegenden Fall ist das von der Bundesregierung angestrebte Vorgehen daher an Art
18 GRC zu messen. Schon allein der Rang von Art 18 GRC macht deutlich, dass ein Vorgehen nach
Art 72 AEUV – wenn man dieses als zulässig ansieht – Art 18 GRC unberührt lassen muss, weil
durch die Anwendung von Art 72 AEUV äußerstenfalls von sekundärem EU-Recht abgewichen
werden dürfte.6 Demzufolge verletzt die Anwendung der Sonderverordnung primäres EU-Recht,
indem es schutzsuchenden Personen eine angemessene Prüfung des Asylstatus verwehrt.
Die Frage, ob die Regierung in der von ihr angestrebten Form – auf Grundlage von Art 72 AEUV –
von Sekundärrecht abweichen darf, wurde ebenfalls in zahlreichen Stellungnahmen zu Recht in
Zweifel gezogen.7 Sogar die Befürworter*innen einer Auslegung im dem Sinn, dass Art 72 AEUV als
Befugnisnorm auszulegen sei, legen die Latte für dessen Anwendung um ein Vielfaches höher als der
vorliegende Entwurf. Die Rede ist von „außergewöhnlichen Umständen“, vom „Bestand des Staats“,
allesamt Formulierungen, die auf die Situation in Österreich mit Sicherheit nicht anwendbar sind.
Aber selbst wenn man in Art 72 AEUV eine Befugnisnorm sehen wollte, hat es die österreichische
Regierung verabsäumt, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gebotenen Schritte zu setzen.
Österreich hätte im Falle einer Notlage – so wie dies auch Schweden getan hat –, vorläufige
Maßnahmen (wie z.B. Antrag auf Umverteilung) gemäß 78 Abs 3 AEUV beantragen müssen. Es ist
nicht nachvollziehbar, warum Österreich dieses explizit im AEUV vorgesehene Modell der
stufenweisen Steigerung der zu treffenden Maßnahmen gegenüber der EU nicht in Anspruch zu
nehmen versucht hat. Stattdessen wurde ohne Zwischenstufe eine Ermächtigung in Art 72 AEUV
hineininterpretiert, die eine faktische Aussetzung des Asylrechts rechtfertigen soll. Nach Ansicht von
Amnesty International ist diese unionswidrige Vorgehensweise unzulässig und verletzt das
menschenrechtliche Grundprinzip der Verhältnismäßigkeit.
Gänzlich unzureichende Verfahrensgarantien im Registrierstellenverfahren
Die Judikatur des EGMR fordert von den Mitgliedstaaten die Einhaltung von bestimmten
Verfahrensgarantien im Asylverfahren. So lässt sich aus den Urteilen des EGMR ein Mindeststandard
entnehmen, der jedenfalls eine Einzelfallprüfung von entsprechend ausgebildetem Personal fordert.8
Ein Fehlen oder Mangel dieser Verfahrensgarantie wird regelmäßig gegen das Verbot der
5 vgl https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/AUA/AUA_00004/index.shtml insbesondere die Stellungnahmen von UNHCR, Diakonie Österreich und
Caritas Österreich.
6 Vgl Amnesty International, STELLUNGNAHME zum gesamtändernden Abänderungsantrag betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Asylgesetz 2005, das
Fremdenpolizeigesetz 2005 und das BFA-Verfahrensgesetz geändert werden vom 21. April 2016.
7 Vgl https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/AUA/AUA_00004/index.shtml, Stellungnahme des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte siehe
auch Stellungnahme der Österreichischen Hochschüler_innenschaft Helping Hands zur Verordnung der Bundesregierung zur Feststellung der Gefährdung der
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit vom 03.10.2016.
8 Vgl EGMR 23.02.2012, Hirsi Jamaa gegen Italien, 27765/09, §185 u. EGMR 21.10.2014, Sharifi ua gegen Italien und Frankreich, 16643/09, §§ 240 ff;
siehe auch Stellungnahme des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte, S. 7.
4
Kollektivausweisung gemäß Art 4 4. ZP EMRK verstoßen.9
Darüber hinaus müssen die
verantwortlichen Behörden die schutzsuchenden Personen über das Verfahren informieren.
Dolmetscher*innen und Rechtsbeistand müssen in diesem Verfahren ebenfalls gewährleistet werden.
Im Lichte dieser Mindeststandards ruft das geplante Vorgehen Österreichs erhebliche Zweifel an der
EMRK-Konformität des AsylG als gesetzliche Grundlage in Verbindung mit der Sonderverordnung
hervor. Dabei bereitet insbesondere die Qualifikation der Verantwortlichen für eine Zurückweisung
bzw. -schiebung erhebliche Bedenken. Bei den einzurichtenden Registrierstellen werden Organe des
öffentlichen Sicherheitsdienstes über eine Zurückweisung oder Zurückschiebung entscheiden.
Solchen Polizeibeamt*innen bzw Grenzkontrollbeamt*innen fehlt es aber regelmäßig an dem
erforderlichen Fachwissen um komplexe Fragestellungen zu Art 2, 3 und 8 EMRK (hier insbesondere
auch z. B. das Kindeswohl) zu beurteilen. Diesbezüglich verweist Amnesty International auf den
Tätigkeitsbericht des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG), der aufzeigt, dass beinahe 44% der
Entscheidungen des Bundesasylamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) durch das BVwG
aufgehoben oder abgeändert wurden. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass das BFA eine
Sonderbehörde ist, die auf Asylverfahren spezialisiert ist. Dennoch weisen die Entscheidungen des
BFA eine „Fehlerquote“ von 44% auf. Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes verfügen
nachvollziehbarerweise nicht über den Kenntnis- und Ausbildungstand des Personals des BFA.
Daraus folgt, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bei Entscheidungen von diesen öffentlichen
Organen an den Registrierstellen – wie im Falle der Sonderverordnung vorgesehen – mit einer noch
höheren Fehleranfälligkeit zu rechnen ist.
Kürzlich ergangene Entscheidungen des Landesverwaltungsgerichtes (LVwG) Steiermark zu
Zurückweisungen am Grenzübergang Spielfeld stellten schwerwiegende Verfahrensmängel bei
durchgeführten Zurückweisungen fest.10 Gemäß dem LVwG Steiermark haben
haben
Grenzkontrollorgane mehrfach ihre Kompetenzen überschritten und Feststellungen getroffen (zB
Herkunftsland „kein Kriegsgebiet“), die der Asylbehörde vorbehalten sind. Weiters wurde
festgestellt, dass die Kontrollorgane es verabsäumt haben, die Qualifikationen der
Dolmetscher*innen zu prüfen und diese in ihre Arbeit einzuweisen. Schließlich wurden die
Kontrollorgane bei ihrer Beurteilung über die Zulässigkeit einer Zurückweisung von der vorgefassten
Meinung der Dolmetscher*innen beeinflusst. Derartige Mängel werden sich im Falle der
Inkraftsetzung der Sonderverordnung als noch gravierender erweisen, weil Zurückweisungen dann die
Norm darstellen werden, wohingegen es in Spielfeld nur vereinzelt zu einem solchen Vorgehen
gekommen ist.
Amnesty International stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das im Rahmen der
Sonderverordnung vorgesehene Verfahren nicht die nötigen Standards vorweist, um den
verfahrensrechtlichen Maßstäben der EMRK auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Grundsätzlich
sollten Zurückweisungen im asylrechtlichen Verfahren nicht zulässig sein, weil es an einem Korrektiv
in der Form eines Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung fehlt.
Effektives Rechtsmittel fehlt
Die Maßnahmen der Sonderverordnung und die zugrundeliegende Gesetzgebung stehen in
eklatantem Widerspruch zur der maßgebenden Rechtsprechung des EGMR zum Non-RefoulementGrundsatz (EGMR 6.6.2013, Mohammed v. Austria, Appl. 2283/12 u. EGMR 23.02.2012, Hirsi
Jamaa et al v. Italy, Appl. 27765/09). Der Kern dieser Rechtsprechung verlangt zwingend einen
Rechtsbehelf mit automatisch aufschiebender Wirkung, wenn eine schutzsuchende Person vertretbar
vorbringt („arguable claim“), dass durch die Rückführung ein reales Risiko der Verletzung von Art 2
oder 3 EMRK besteht. Eben diesen fundamentalen Schutzmechanismus hebeln § 36 AsylG ff aus,
wenn als einziger Rechtsbehelf nur die Maßnahmenbeschwerde (Art 130 Abs 1 Z 2 B-VG) ohne
9 vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention5, § 22 Rz 57.
10 LVwG 20.3-915_2015, LVwG 20.3-870_2016, LVwG 20.3-912_2016,
5
aufschiebende Wirkung zur Verfügung steht. Als unmittelbare Folge wird bei einer Fehlentscheidung
eine mögliche Verletzung von Art 2 oder 3 EMRK bis zur Stattgebung der Maßnahmenbeschwerde
perpetuiert; im schlimmsten Fall – zB bei bereits erfolgter Kettenabschiebung – ist sie nicht mehr
behebbar. Bereits aus diesem Grund kann nicht mehr von einem effektiven Rechtsbehelf gesprochen
werden.
Im vorliegenden Fall werden jedoch weitere Mängel zur Ineffektivität des Rechtsbehelfs führen.
Gemäß der Rechtsprechung des EGMR genügt es nicht, ein Rechtsmittel auf dem Papier zur
Verfügung zu stellen, vielmehr muss die Effektivität auch praktisch gewährleistet sein. In der Praxis
ist es für zurückgewiesene Schutzsuchende nahezu unmöglich eine Maßnahmenbeschwerde zu
verfassen bzw einzubringen: Sie haben keinen Zugang zur Rechtsberatung. Sie befinden sich in
einem Land, in dem ein gänzlich anderes Recht zur Anwendung kommt. Sie werden regelmäßig
nicht der deutschen Sprache mächtig sein. Sie werden ferner auch regelmäßig mit der Situation
überfordert sein, vor allem vor dem Hintergrund der Umstände unter welchen ihre Flucht erfolgt ist.
Wenn die äußeren Zustände eine Ergreifung eines Rechtsbehelfes aber nicht möglich machen, ist
der Rechtsbehelf als ineffektiv zu qualifizieren. Dies muss umso mehr im Anwendungsbereich der
Art 2 und 3 EMRK gelten. Diese Argumentation findet ebenso auf einen auf Art 8 EMRK gestützten
Rechtsbehelf Anwendung.
Im Lichte der Grundrechtecharta und Art 47 GRC schlägt der Gerichtshof der Europäischen Union in
dieselbe Kerbe wie der EGMR. Gemäß dieser Rechtsprechung muss einer Rückkehrentscheidung,
die geeignet ist, den betroffenen Drittstaatsangehörigen einer ernsthaften Gefahr der Todesstrafe,
der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe
auszusetzen, aufschiebende Wirkung zukommen.11
Obwohl Amnesty International der Ansicht ist, dass bereits aufgrund der oben ausgeführten
Rechtswidrigkeit das Inkraftsetzen der Sonderverordnung eine Verletzung menschen-, unions- und
verfassungsrechtlicher Grundsätze zur Folge hätte, wird hiermit kurz auf den vorliegenden Entwurf
eingegangen. Dieser Entwurf, der den Versuch darstellt, einen vermeintlichen Notstand zu
konstruieren, weist nach Ansicht von Amnesty International schwere Mängel auf. Amnesty
International geht in Folge nur exemplarisch auf einzelne Sachverhalte ein, welche die
grundsätzlichen Defizite des Entwurfs aufzeigen.
Mangelhafte Begründung der Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und
inneren Sicherheit
Die von Österreich in den Raum gestellten Szenarien eines neuerlichen Zustroms im Ausmaß des
Jahres 2015 sind nicht durch Fakten gedeckt. Man zieht für Prognosen einen Zeitraum bis Juni
2016 heran, ohne dabei festzuhalten, dass die Tendenz der Anträge insgesamt und im Vergleich
zum Vorjahr ab Mai 2016 rückläufig ist. Auch werden schon seit langem bestehende strukturelle
Probleme auf den Zustrom von Schutzsuchenden abgewälzt. Solcherart zeichnet Österreich ein
unvollständiges, einseitiges und unzutreffendes Bild der gegenwärtigen Situation.
Bereits die Diktion der Erläuterungen vermag nicht zu überzeugen. Wiederkehrend wird die Phrase
„ein neuerlich starker Zustrom an Schutzsuchenden, wie der des Jahres 2015 wird dazu führen…“
oder Ähnliches bemüht, um einen vermeintlich nahenden Notstand zu prognostizieren. Dabei
scheinen die Verfasser*innen selbst nicht ganz überzeugt, denn laut den Erläuterungen ist die
Ankunft einer hohen Zahl Schutzsuchender lediglich nicht auszuschließen. Die bloße
Wahrscheinlichkeit einer möglichen Herausforderung in der Flüchtlingsaufnahme rechtfertigt
keinesfalls die derartige massive Beschneidung von Menschen- und Asylrecht und widerspricht
jedenfalls dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit.
11 EuGH 17.12.2015, Abdoulaye Amadou Tall gegen Centre public d’action sociale de Huy, C-239/14, § 58.
6
Ein Großteil der Argumentation der Regierung bezieht sich auf die entstehenden Kosten in
unterschiedlichen Bereichen (Kosten für die Verfahren, Bildungsbereich, Gesundheitsbereich etc),
dabei ist allerdings nicht ersichtlich, warum ein Anstieg der Kosten (so fordernd er auch für das
Staatsbudget sein mag) eine Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und
inneren Sicherheit darstellt.
Unvollständige und einseitige Darstellung durch die Erläuterungen
Die Schlussfolgerungen der Regierung zu den Asylanträgen sind in keiner Weise nachvollziehbar:
Seit Mai 2016 ist die Zahl der Asylanträge stark rückläufig und gerechnet von Jänner 2016 bis
August 2016 wurden 30% weniger Asylanträge gestellt.12 Bei verknüpfender Betrachtungsweise –
eine insgesamt rückläufige Tendenz und minus 30% Asylanträge bis August 2016 – ist sogar das
Gegenteil zu erwarten, nämlich dass ein neuerlich starker Zustrom gerade nicht im Raum steht.
In gleicher Weise sind die Angaben zu „schleppungswilligen Migranten“ in Libyen unschlüssig, nicht
nachvollziehbar und einseitig. Bereits die Terminologie der Erläuterungen lässt auf eine einseitige
Auffassung der Situation schließen; mit Sicherheit halten sich nicht nur „schleppungswillige
Migranten“ in Libyen auf. Zwar könnten sich laut der Internationalen Organisation für Migration
(IOM) etwa 800.000 Flüchtlinge und Migrant*innen in Libyen aufhalten, doch ist der Schluss, dass
diese alle nach Europa (bzw. nach Österreich) kommen, unzulässig. Der IOM-Missionschef für
Libyen, Othman Belbeisi, hat diesbezüglich festgestellt, dass niemand sagen könne, wie viele der
Personen nach Europa wollen.13 Manche Personen halten sich schlicht in Libyen auf, um dort zu
arbeiten. Andere wiederum hoffen auf eine Rückkehr, ohne eine Überfahrt nach Europa in Betracht
zu ziehen. Letztlich sind diese negativen Prognosen bloße Annahmen, um die Erlassung der
Sonderverordnung zu rechtfertigen. In Verbindung mit dem gegenwärtigen Trend der fallenden
Asylanträge erweist sich die Einschätzung der Regierung als unwahrscheinlich. Laut UNHCR würden
beispielsweise nur 10% aller syrischen Flüchtlinge versuchen, in Europa Asyl zu erhalten.14
Die Erläuterungen zur Sonderverordnung führen zutreffend aus, dass mit einer Erhöhung der Anträge
auch die Arbeitsbelastung des BFA steigen und dies wiederum zu einer längeren Verfahrensdauer
führen würde. Hier zeigt sich besonders, wie leichtfertig die Regierung mit dem Begriff der
Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit umgeht. Denn
warum eine längere Verfahrensdauer und der Verlust an Verfahrensqualität, welcher hauptsächlich zu
Lasten der Schutzsuchenden geht, eine solche Gefährdung darstellen sollen, ist schleierhaft. Noch
seltsamer mutet die Lösung dafür an; anstatt eines qualitativ verminderten Verfahrens (eine längere
Verfahrensdauer) sollen die Schutzsuchenden gemäß der Sonderverordnung überhaupt kein
Asylverfahren mehr erhalten.
Die Ausführungen der Erläuterungen zum Sicherheits- und Strafvollzugbereich sind irreführend und
nicht schlüssig. Es wird mehrmals auf Begriffe rekurriert, die in dem gegebenen Kontext keine
Aussagekraft haben. Die Bezeichnung „Tatverdächtiger“ ist in der österreichischen
Strafprozessordnung verankert und trifft keinerlei Aussage darüber, ob die betroffene Person auch
tatsächlich einer Straftat schuldig ist. Denn bis zum Schuldspruch gilt die Unschuldsvermutung; erst
danach gilt eine Person als „verurteilt“. Insofern die Erläuterungen also mit einen Anstieg der
Tatverdächtigen mit dem Aufenthaltsstatus „Asylwerber“ argumentieren, kann daraus keine
Erkenntnis über die Zahl der tatsächlich schuldigen Personen im Personenkreis der Asylwerber*in
gewonnen werden. Es überrascht doch einigermaßen, wenn die Regierung Personen, die gemäß StPO
als unschuldig zu gelten haben, praktisch in eine Statistik über eine mögliche Gefährdung für
Österreich miteinbezieht. Nur ergänzend bemerkt Amnesty International, dass die Anzahl der
12 vgl http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Asylwesen/statistik/files/2016/Asylstatistik_August_2016.pdf
13 vgl http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4995129/Moglicherweise-bis-zu-einer-Million-Migranten-in-Libyen
14 vgl http://data.unhcr.org/syrianrefugees/asylum.php
7
Tatverdächtigen in Bezug zu den gestellten Asylanträgen von 2014 gegenüber 2015 stark
zurückgegangen ist.
Die Unschärfen zu dieser Thematik werden fortgeführt. Die Erläuterungen gehen auf die Punkte
Anklageerhebung – diesbezüglich gilt gleichermaßen das Vorgesagte – und Verurteilungen über und
sprechen dabei plötzlich von Fremden. Fremde sind all jene Personen die nicht die österreichische
Staatsbürgerschaft besitzen. Das eine derartige Unschärfe systemimmanent ist, zeigt auch ein
Abschlussbericht des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie15 auf: Es gibt polizeiintern
keinerlei inhaltliche Richtlinien, wie die Aufenthaltsstatuskategorien zu verwenden sind. In der
Praxis kommt es folglich auch zu einer uneinheitlichen Anwendung der Aufenthaltskategorien. Somit
ist erneut wenig von der Darstellung der Erläuterungen zu gewinnen, weil keine spezifischen
Aussagen zu Schutzsuchenden getätigt werden. Bedenklich ist dabei, dass derart der Eindruck einer
stark steigenden Kriminalität unter den Schutzsuchenden vermittelt wird.
Tatsächlich liegen die Fakten ganz anders: Die Gesamtkriminalität ist tendenziell rückläufig. Hiezu
stellt das Bundeskriminalamt folgendes fest: „Verglichen mit den letzten zehn Jahren wurde 2015
erneut ein Tiefstand erreicht“.16 Bereits diese Tendenz widerlegt die Annahme der Regierung, dass
es im Sicherheits- und Strafvollzugsbereich zu einer Gefährdung der Aufrechterhaltung der
öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit kommen könnte.
Bereits lang bestehende Strukturprobleme werden den Schutzsuchenden zugeschoben
Ganz generell verabsäumen es die Erläuterung andere Ursachen für die gegenwärtige Situation – die
sicherlich eine Herausforderung, jedoch keinesfalls einen Notstand darstellt – in die Überlegungen
miteinzubeziehen. Die von der Regierung vorgenommene Personalaufstockung des BFA 2015 hätte
früher erfolgen müssen, vor allem im Hinblick darauf, dass diese Maßnahme erst zeitlich verzögert
ihre Wirkung gezeigt hat. Tatsächlich ist die Lage des BFA ein selbstverschuldeter Planungsfehler
der Regierung, der vermeidbar gewesen wäre, hätte die Regierung rechtzeitig Maßnahmen zur
Personalaufstockung getroffen.
Gänzlich augenscheinlich wird der falsche Umgang der Regierung mit dieser Situation, wenn man
folgende Situation betrachtet: Einerseits konstatieren die Erläuterungen einen erhöhten
Beschwerdeanfall beim BVwG. Gleichzeitig wird von einer schrittweisen Reduktion der Ressourcen
gesprochen, die auf Basis bundesfinanzgesetzlicher Vorgaben vorzunehmen wäre. Ob eine
Adaptierung dieser Vorgaben im Lichte der gegenwärtigen Situation sinnvoll wäre, wird nicht einmal
von den Erläuterungen diskutiert. Abermals ist klar erkennbar, dass sich die Regierung selbst die
Mittel nimmt, um die zu bewältigende Herausforderung bestmöglich zu lösen.
Zum selben Schluss kommt man im Bereich der Grundversorgung. Amnesty International verkennt
nicht, dass die Unterbringung einer Vielzahl von Flüchtlingen eine Herausforderung darstellt.
Österreich hat in dieser Hinsicht auch schon Beträchtliches geleistet. Allerdings kann es einen Staat
wie Österreich – der selbst in der EU im oberen Bereich der reichen Staaten anzusiedeln ist – wohl
nicht an den Rand einer Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und inneren
Sicherheit drängen, wenn gewisse Ressourcen (Unterkünfte, Zelte, Container) zu beschaffen sind.
Vielmehr ist ein Mangel dieser Ressourcen auf den mangelnden politischen Willen und das damit
einhergehende Planungsdefizit zurückzuführen. Bei rechtzeitiger und sorgfältiger Planung muss es
Österreich möglich sein, solche herausfordernde Situationen zu bewältigen, ohne dabei
unverhältnismäßig in die Menschenrechte von Schutzsuchenden – durch Einsatz einer
Sonderverordnung – einzugreifen. Derzeit stehen darüber hinaus zahlreiche Quartiere frei.17 .
15 Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Univ. Doz. Dr. Arno Pilgram u.a. „Abschlussbericht – Vorarbeiten für eine fortlaufende Beobachtung der
Delinquenz ausländischer Staatsangehöriger in Wien und Pilotbeobachtung für das Jahr 2015“, Juli 2016
16 vgl Bundeskriminalamt, Sicherheit Österreich 2015, S. 12, abrufbar unter
http://www.bmi.gv.at/cms/BK/publikationen/krim_statistik/2015/1342016_Web_Sicherheit__2015.pdf
17 vgl http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/5012205/Osterreich-hat-8000-bis-9000-freie-Quartierplaetze
8
Kosten
Die Regierung widmet einen Großteil ihrer Argumentation den steigenden Kosten im Asylwesen,
welche die Sonderverordnung rechtfertigen würden, unterlässt es aber, die Kosten der
Grenzschließungen, Grenzkontrollen und Einrichtung der Registrierstellen zu erörtern.
Überdies ergibt sich aus Sicht der Landesverwaltungsgerichte eine ganze eigene
Kostenproblematik.18
In
ihrer
Stellungnahme
haben
die
Präsident*innen
der
Landesverwaltungsgerichte etliche Bedenken im Hinblick auf die Sonderverordnung bzw ihre
gesetzliche Grundlage dargelegt. Einige davon werden zu einer Kostenvermehrung bei den
Landesverwaltungsgerichten führen.
Grundsätzlich sieht die Bundesverfassung eine festgelegte Zuständigkeitsverteilung zwischen dem
Bundesverwaltungsgericht
und
den
Landesverwaltungsgerichten
vor.
Gemäß
dieser
Zuständigkeitsverteilung ist das Bundesverwaltungsgericht für den Bereich der Fremdenpolizei
zuständig. Durch das Inkrafttreten der Sonderverordnung würde von dieser klaren
Zuständigkeitsregelung wieder abgegangen werden. Durch die Änderungen der Sonderverordnung
werden die Landesverwaltungsgerichte für die in Haft befindlichen Fremden die zuständige
Beschwerdeinstanz. Dies führt laut Stellungnahme zu kostenintensiven doppelgleisigen Strukturen,
weil für Schubhaftbeschwerden der BVwG zuständig ist.
Zusätzlich müssen die Landesverwaltungsgerichte über die Maßnahmenbeschwerde aufgrund einer
Zurückweisung/Zurückschiebung entscheiden; diese Materie war bislang nicht die Zuständigkeit der
Landesverwaltungsgerichte.
Mit den Worten der Stellungnahme: „Die zu übertragenden fremdenpolizeilichen und asylrechtlichen
Zuständigkeiten stellten bisher eine Kernkompetenz des Bundesverwaltungsgerichtes dar. Die
Landesverwaltungsgerichte sind in ihrer derzeitigen Konfiguration nicht in der Lage, in Ansehung der
zu erwartenden Beschwerden, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines geordneten Gerichtsbetriebes, innerhalb der gesetzlich geforderten Entscheidungsfristen zu entscheiden.“
Im Ergebnis wird die Verlagerung von Kompetenzen im asylrechtlichen und fremdenpolizeilichen
Bericht zu erheblichen Mehrkosten bei den Landesverwaltungsgerichten führen, womit die
Entlastung des BVwG und die erhofften Einsparungen konterkariert werden.
Aufgrund der oben ausgeführten, schwerwiegenden menschenrechtlichen Bedenken, die bezüglich
der Sonderverordnung bestehen, fordert Amnesty International die österreichische Regierung auf,
diese nicht in Kraft zu setzen, sondern ihre Energie darauf zu fokussieren, sich in gemeinsamer
Verantwortung mit den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mit den dringend notwendigen und
auch möglichen menschenrechtskonformen Lösungsansätzen auseinanderzusetzen.
18 Vgl Gemeinsame Stellungnahme der Präsidentin und der Präsidenten aller Landesverwaltungsgerichte abrufbar unter:
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/SN/SN_00359/imfname_526884.pdf