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Entwicklungsrichtungen der Transport Management Systeme (TMS)
– von der Offline Planung zum Real-Time Betriebssystem für
Transportketten – von Frank Felten
Bemüht man Wikipedia zum Thema „TMS“ so ist der Sachverhalt mit einem Satz
beschrieben: „Transport Management Software umfasst Software-Komponenten zur
Verwaltung, Abrechnung, Kontrolle und Durchführung von Transportdienstleistungen“1.
Soweit – so einfach. Innerhalb dieses Rahmens hat die Software-Kategorie TMS in den
letzten zehn bis 15 Jahren eine evolutionäre Entwicklung genommen – und trotzdem
zeichnet sich ein ganz grundsätzlicher Wandel erst noch ab.
Die Basisfunktionen der TMS – ganz klassisch…
Am Anfang der Systemkategorie TMS stand die Transportplanung und Disposition: Am Vortag
wird geplant, was am Folgetag zu transportieren ist – offline und die Grenzen des eigenen
Betriebs kaum verlassend. Der Bezugsrahmen erstreckt sich von der Auftragserfassung über
verschiedene Aspekte der Transportplanung bis zur Abrechnung. Er umfasst im Wesentlichen
den eigenen Fuhrpark, schon früh bezieht er aber auch Fremdvergabe mit ein. Im Kern geht es
darum, Aufträge zu erfassen und softwaregestützt auf Touren zu verplanen. Dabei werden die
im jeweiligen Prozessschritt erforderlichen Dokumente generiert und alle Daten strukturiert
abgelegt, sodass die Disposition auch bei zeitkritischen Entscheidungen auf eine gute
Informationsgrundlage zugreifen kann.
Im Vergleich zur Planung ohne IT ergeben sich die Vorteile der klassischen Transport
Management Systeme wie folgt:
 Die softwaregestützte Tourenoptimierung führt in der Regel zu 7 bis 15 % Einsparung in
Zeit, gefahrenen Kilometern, Spritverbrauch und damit in den Kosten des Transporteurs.
 Durch den höheren Automatisierungsgrad sinkt der Aufwand für die Disposition selbst.
Größere Auftragsvolumina lassen sich mit weniger Disponenten erledigen. Cut-off-Zeiten
können nach hinten geschoben und die Service Levels gesteigert werden.
 Die Einhaltung sowohl von betrieblichen als auch von gesetzlichen Vorgaben für die
Transportplanung erfolgt im oder zumindest unterstützt durch das System. So wird
Compliance sichergestellt und die Anzahl von Verstößen reduziert.
 Die größere Transparenz und Flexibilität ermöglicht eine bessere und auch
vorrausschauende Betriebsführung. Über die Key Performance Indikatoren aus dem System
kann an systematischen Verbesserungen gearbeitet werden und zukünftige Veränderungen
1
https://de.wikipedia.org/wiki/Transport_Management_Software, abgerufen am 03.10.2015
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können auf Basis aktueller Zahlen simuliert werden. Die Daten des TMS werden zur
Grundlage strategischer Unternehmensplanung.
Die Phase der Ausdifferenzierung: TMS à la carte
Die sich anschließende Phase in der Evolution hat eine starke Ausdifferenzierung der Transport
Management Systeme in naheliegende Anwendungsbereiche gebracht (siehe Abbildung 1). Sie
ist auch heute noch nicht beendet. Die Grundlagen dafür finden sich in der steigenden
Arbeitsteilung im Transportwesen, in der Komplexitätszunahme in den Prozessen und
Rahmenbedingungen sowie in der Dynamisierung von Supply Chains, Distribution und
Beschaffung. Als Beispiele dafür können angeführt werden:
 Eine hochgradig an Bestandsminimierung orientierte Produktionslogistik verschiebt
Anforderungen und Risiken vom Lager auf den Transport. Und kein isländischer Vulkan war
unaussprechlich genug, dass er diese Maxime hätte umkehren oder auch nur in Frage
stellen können.2 Statt einer Rückbesinnung auf höhere Lagerbestände wurde Risk
Management zum Thema der Supply Chain Manager. Anstelle der Vereinfachung ging’s
nochmal „eins rauf“ mit der Komplexität in den Transportketten.
 Subunternehmerstrukturen kaskadieren immer weiter – vom Transporteur, Spediteur über
den Logistikdienstleister zum Third Party Logistics Provider (3PL) und Fourth Party Logistics
Provider (4PL). Nur das eigene Unternehmen ggf. mit einer weiteren Vergabestufe zu
planen, reicht immer seltener aus. So entwickelt sich neben dem TMS der „Supply Chain
Control Tower“. Im Gegensatz zum TMS betrachtet dieser die gesamte Supply Chain und
nicht nur den Transportprozess im Sinne des oben genannten Bezugsrahmens.
 Die Geschwindigkeit und tendenziell auch die Kleinteiligkeit von Politik und Regulierung
nehmen zu: In den Nationalstaaten Europas entstehen eine Reihe neuer Mautsysteme mit
häufigen Tarifänderungen. Die Sonderreglungen für Gefahrgut und Schwerlastverkehr
wachsen weiter, teilweise in Verbindung mit sehr regionalen Ideen und Konzepten der
Verkehrssteuerung wie zum Beispiel Vorzugsstrecken für den Güterverkehr. Auch die
Tatsache, dass über die Einrichtung einer Umweltzone in jeder Gemeinde autark
entschieden werden kann, ist ein plakatives Beispiel für diesen Trend.
Parallel zu den Veränderungen der Rahmenbedingungen bringt der Fortschritt in der
Informationstechnologie neue Möglichkeiten, die die TMS-Anbieter nutzen, um die o.g.
Herausforderungen zu adressieren: Die Systeme gehen online, sie kommunizieren mit der
2
Hier wird angespielt auf den Ausbruch der Vulkans Eyjafjallajökull auf Island im April 2010. Infolge ausgestoßener
Vulkanasche musste der Flugverkehr in weiten Teilen Nord- und Mitteleuropas für mehrere Tage eingestellt werden.
Dies hatte großräumige Auswirkungen auf die Logistik bis hin zum kompletten Stillstand von Logistik- und Produktionsketten, zum Beispiel im Automobilbau, wo Just-in-Time prägend und mit sehr geringen Vorratshorizonten gearbeitet
wird.
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Onboard-Unit des Telematiksystems, Schnittstellen zu externen Bausteinen des
Planungsprozesses sorgen für eine stärkere Integration der Managementaufgabe auf dem
Bildschirm des Disponenten. Die Systemgrenzen des TMS als Legacy-System verschwimmen
zusehends, wie die Vielzahl möglicher Funktionen in Abbildung 1 zeigt.
Abbildung 1: TMS Funktionen
3
Ein schillerndes Beispiel für eine unternehmensindividuelle Ausrichtung der TMS Landschaft
liefert die Firma Lekkerland, die im Jahr 2013 Träger des Deutschen Logistikpreises war. Unter
dem Motto „Eine Bestellung. Eine Lieferung. Eine Rechnung.“ führte man ein sog.
Multitemperatur-Logistikkonzept ein. „Durch das innovative und flexible Konzept ist es möglich,
dass die Kunden Produkte aus verschiedenen Temperaturbereichen mit nur einer Lieferung
erhalten.“4 Dahinter steht neben ganz physikalischen Innovationen wie einem Multikammer-
3
Quelle: Kraft, Volker (2014), TMS als Lösungselement von Smart Transportation Logistics: Möglichkeiten und Auswahl, Vortrag gehalten auf dem Zukunftskongress Logistik, 32. Dortmunder Gespräche 2014, 16.-17.09.2014, Dortmund
4
Quelle: Lekkerland AG & Co KG (2013): Deutscher Logistik-Preis 2013 für Lekkerland, Pressemitteilung vom 24.
Oktober 2013, Frechen
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Fahrzeug und entsprechenden Intralogistik- und Lagerstrukturen ein ausgeklügeltes
Transportplanungssystem, das insbesondere Laderaumoptimierung mit der Tourenoptimierung
in der Disposition verbindet.
Abbildung 2: Multitemperatur-Logistik bei Lekkerland
Die Perspektive: Transport Management als Teil der „Connected Supply Chain“
Bleibt die Frage nach der zukünftigen Entwicklung. Welche sind die wesentlichen Trends und
Einflüsse, die auf die Evolution der Transport Management Systeme einwirken und wie wird die
weitere Evolution aussehen?
Fortsetzen wird sich die Zunahme von Komplexität und Volatilität, die Beschleunigung und
Dynamisierung in der Logistikdienstleistung, auf die die Lösungen der TMS-Anbieter
entsprechende Antworten bieten müssen. Heute für morgen zu planen, ist von gestern. Immer
häufiger muss auf Transportstörungen und aktuelle Ereignisse in Minutenschnelle reagiert
werden – egal ob kurzfristige Aufträge, die stetig zunehmende Verkehrsdichte, ein unerwarteter
Materialschaden, zu gering geplante Puffer oder unangemessene Wartezeiten beim Be- oder
Entladen die Ursache sind. Ein sicherer Indikator dafür ist, dass sich in der Disziplin des Supply
Chain Managements mittlerweile das Sub-Thema „Supply Chain EVENT Management“ als feste
Größe etabliert hat. Nicht wenige der hier behandelten Events entstehen in den Transportlegs,
die zwischen den Produktions- und Handelsstufen oftmals auf der Straße laufen. Und die
Transport Management Systeme müssen Entscheidungsunterstützung für diese kurzfristigen
Ereignisse bieten, Alternativen aufzeigen und deren Auswirkungen für die verschiedenen
Stakeholder des Transports frühzeitig abschätzbar machen.
Ein zwar spezifisches, aber diese Entwicklung beschleunigendes Logistiksegment ist die KEPBranche. Hier treffen aktuell starke eCommerce-bedingte Zuwachsraten auf vergleichsweise
leicht veränderbare Logistikstrukturen. Noch dazu versuchen sich die Online-Händler nicht nur
über Preis, Marke oder Qualität des Handels-Produktes, sondern gerade auch über das
logistische Servicelevel gegenüber ihrer Konkurrenz zu differenzieren. Mit „Prime Now“
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verspricht Amazon seit Frühjahr 2016 die Belieferung von Kunden in Berlin binnen einer
Stunde. Wir waren gerade noch dabei zu verstehen, dass „Same Day Delivery“ ein allgemeiner
Trend im eCommerce ist, da lesen wir bereits, wie sich ganze Branchen dem Diktat der
„Sofortness“ unterwerfen müssen.5
Funktionieren können die neuen dynamischen Anwendungsfälle der Transportlogistik nur auf
der Basis hochgradig vernetzter IT-Systeme. Wer der Anforderung unterliegt, immer
dynamischer agieren oder reagieren zu müssen, der kann nicht einzelne Transporte oder
Fahrzeuge isoliert betrachten, sondern muss die Möglichkeiten innerhalb der gesamten Flotte
und im kompletten Netz kennen. Und die Flotte macht schon lange nicht mehr an den eigenen
Unternehmensgrenzen Halt, sondern kennt Subunternehmer und Kooperationspartner – in
Zeiten von Shareconomy auch immer häufiger den Wettbewerber oder die Optionen in
alternativen Modi oder Transportformen.
IT-Trends
Transportlogistik-Trends
Trends in Umwelt und
Gesellschaft
 Vernetzung der Systeme,
Autonomie, Industrie 4.0
 Heterogenität und
Komplexität
 Verkehrszunahme auf
begrenzter Infrastruktur
 Cloud
 Anhaltend hoher
Kostendruck
 Nutzerfinanzierung (Maut,
Steuer etc.)
 Kooperation, Vernetzung
und Integration
 Umwelt-/Klimabezogene
Regulierung
 Big Data
 „Sofortness“, Real-Time
 Consumerization und
Mobile
 Höhere Dynamik und
Volatilität
 Social Networking
Abbildung 3: Einflussfaktoren auf zukünftige Entwicklungen
Mit welchen weiteren Entwicklungsschritten für das softwaregestützte Transportmanagement
können wir also rechnen? Dieser Frage sind die nachfolgenden Thesen und Beispiele
gewidmet:
1. Die TMS werden sich verbinden mit den IT-Systemen, die den Zustand der
Verkehrsinfrastruktur kennen (die digitale Straße6). Aus der Infrastruktur entstehende
Probleme (Staus, Sperrungen, Verkehrsprognosen) werden frühzeitig bekannt sein, so dass
antizipativ (re)agiert werden kann.
5
Der Begriff „Sofortness“ geht zurück auf den Internet-Blogger und Spiegel Kolumnisten Sascha Lobo, bezieht sich
aber – wie man meinen könnte – nicht nur auf den sofortigen Zugang zu virtuellen Produkten sondern auch zu physischen. Daher hat er eine massive logistische Implikation. Siehe auch:
http://www.3sat.de/page/?source=/nano/gesellschaft/161975/index.html .
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2. Die TMS werden sich weiter verbinden mit den IT-Systemen, die die Prozesse beim
Verlader oder Empfänger unter digitaler Kontrolle haben (Intralogistik und
Produktionssteuerung). Der zum erwarten Ankunftszeitpunkt prognostizierte Prozessstand
beim Verlader oder Empfänger wird bekannt sein. So können starre Zeitfenster wesentlich
dynamischeren Mechanismen weichen, die auf Echtzeitinformationen und permanent
aktualisierten Verlaufsprognosen aufbauen.
3. Transport Management wird vom Arbeitsplatzsystem der Disponenten eines Unternehmens
immer mehr in Plattformen münden, die alle Stakeholder eines Transports miteinander
verbinden. Dazu gehört nicht nur der Logistikdienstleister samt seiner Subunternehmer
sondern auch der Verlader und der Empfänger aber auch Individuen wie der einzelne
Fahrer oder „Things“ – nicht zuletzt das Transportgut selbst oder seinen Ladungsträger.
4. Technische Lösungen in diesem Zusammenhang werden einfach und leichtgewichtig sein.
Softwaretechnische Vernetzung läuft immer weniger über tiefe und in der Vergangenheit
meist projektspezifische Integration an komplexen Schnittstellen sondern immer mehr über
Interaktion auf Dienstebene. Internetdienste aus dem Consumer-Umfeld zeigen hier seit
langem einfache Möglichkeiten auf. Sei es die Nutzung des Facebook oder Google Logins
für zahlreiche Drittanbieter-Dienste oder die Automatisierungsplattform „If this than that
(IFTTT)“, die Dienste verschiedener Anbieter über einfache Regeln, die deren Anwender
definieren können, miteinander verknüpft.7 Ganz ohne Programmierkenntnisse lässt sich so
das Fitnessarmband mit der heimischen Stereoanlage verknüpfen oder die Alarmanlage im
Einfamilienhaus deaktivieren, sobald sich das Smartphone im heimischen WLAN anmeldet.
In einer derart interagierenden Welt wird es die erste Aufgabe der TMS Systeme sein, den
Transportabschnitt als Teil der Supply Chain oder einer nach Industrie-4.0-Gesetzen
gesteuerten Produktionskette für die Gesamtsteuerung derselben digital adressierbar zu
machen. Der PTV Drive&Arrive Cloud-Service tut genau dies schon heute und ermöglicht
Kollaboration aller Beteiligten. Verlader, Empfänger, Logistikdienstleister und der Transporteur
inkl. aller Subunternehmer bis hin zum Fahrer wissen jederzeit über die erwartete Ankunftszeit
eines Auftrags Bescheid. Diese wird mittels aller dynamischen Einflüsse auf den Transport
berechnet und permanent aktualisiert. Die Prozesse der o.g. Stakeholder lassen sich so schon
heute digital an den jeweiligen Transportstand andocken. In solchen Szenarien entwickelt sich
das TMS schrittweise von der Wikipedia‘nischen Verwaltungssoftware zum Real-Time
Betriebssystem für Transportketten, in dem vorher noch statische Prozesselemente wie die
händische Avisierung oder ein Slot-basiertes Zeitfenstermanagement an der Rampe aufgehen.
6
Siehe hierzu: Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur (Hrsg.) (2015): Strategie automatisiertes und
vernetztes Fahren, Berlin, Stand September 2015
https://ifttt.com/, abgerufen am 31.05.2016
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Abbildung 4: Das Arrival Board innerhalb PTV Drive&Arrive
Spätestens hier beginnt dann das Kapitel mit der Nummer 4.0 in der Evolutionsgeschichte der
Transport Management Systeme, auch wenn es sich aus heutiger Sicht noch ein wenig wie
Science Fiction anfühlt: Wie viel Steuerungskompetenz wird in einer derartigen
Systemlandschaft in welchem System liegen? Wie autark und selbstorganisiert werden die
Systeme untereinander Lösungen aushandeln, in denen die Belange von Produktion/Handel,
Infrastruktur und Transport in Ausgleich gebracht werden? Wie wird sich die Landschaft der
Akteure und deren Geschäftsmodelle darauf ausrichten? Wer wird gewinnen, wer verliert?
Sicher beantworten kann diese Fragen niemand. Die Experten sehen jedes zweite klassische
Logistikunternehmen dadurch in Schieflage geraten. Im gleichen Atemzug klassifizieren sie sich
ergebende neue Logistikdienstleistungen als Goldgrube8. So oder so, die Zukunft dürfte den
Logistikern und damit auch den TMS-Anbietern gehören, die den Mut haben, bestehende
Geschäftsmodelle zu hinterfragen und die Grenzen der bisherigen Wertschöpfung zu verlassen.
Dabei ändert sich zumindest eine Grundregel nicht: Das Bessere bleibt der Feind des Guten.
8
Quelle: Prof. Michael ten Hompel (2015), zitiert in: „Ohne App kein Geschäft“, DVZ vom 10.09.2015, DVV Media
Group GmbH, Hamburg.
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