Nobelpreis für Santos

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
8./9. Oktober 2016, Nr. 235
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Gegen »NATO-Doppelbeschiss«: »Krefelder Appell« von 1980 war eines der erfolgreichsten Manifeste der Friedensbewegung
Russland im Spiegel der Außerirdischen.
Neues aus dem Paralleluniversum der
Qualitätsmedien. Von Reinhard Lauterbach
Warten im Transitland: In Belgrad hoffen
Hunderte Menschen auf eine Gelegenheit,
um nach Westeuropa zu gelangen
Zwei Texte über zottelige Viecher: Wie sich
die Ziegennummer in der Heavy-MetalSzene durchsetzte. Von Till Burgwächter
LAIKA VERLAG
»Oma, bist du wirklich
noch Kommunistin?«
Gespräch n Mit Luciana Castellina. Über seriöse Kommunisten, Widersprüche
in Organisationen, Brüche in Parteien und die Zukunft Europas
PRIVAT
M
an kann Sie durchaus als kommunistisches Urgestein aus
Italien bezeichnen.
Sie haben der Italienischen Kommunistischen Partei,
IKP, angehört, dann der ManifestoGruppe, die aus der IKP ausgeschlossen wurde, und den Partito di Unità
Proletaria, PdUP, gegründet, die
Partei der Proletarischen Einheit.
Schließlich kehrten die PdUP-Mitglieder zur IKP zurück und führten
diejenigen an, die gegen die Auflösung
kämpften. Später waren Sie für Rifondazione Comunista, die Partei der
kommunistischen Wiedergründung,
auch im Europäischen Parlament.
Zur Zeit stellen Sie in Deutschland
Ihr Buch »Die Entdeckung der Welt«
vor, in dem Sie Ihrem Enkel Ihren
Weg zum Kommunismus erzählen.
In diesem Buch erzähle ich die Geschichte
eines Kindes, das 1943 dreizehn Jahre alt
Luciana Castellina
… geboren 1929, ist Autorin, hat als
Journalistin unter anderem für Il Manifesto gearbeitet und war von 1976
bis 1983 Abgeordnete im italienischen
Parlament. Von 1979 bis 1999 vertrat
sie die Rifondazione Comunista im
Europäischen Parlament
war und 1947 in die KP eintrat. Damals
habe ich ein Tagebuch geführt, das am 26.
Juli 1943 begann, am Tag, an dem Mussolini verhaftet wurde. Ich habe es »Politisches Tagebuch« genannt und geführt, bis
ich im Oktober 1947 in die IKP ging. Daraus ist das Buch für den Enkel entstanden.
Als er zehn Jahre alt war, fragte er
mich: »Oma, bist du wirklich noch Kommunistin?« Und ich habe geantwortet:
»Ja, das bin ich. Und schau, auch dein
Großvater ist Kommunist!« Er konnte das
nicht glauben: »Das ist nicht möglich,
Großvater ist zu respektabel! Er sieht
doch ganz seriös aus!« Er konnte sich
nicht vorstellen, dass ein seriöser Mensch
Kommunist sein kann. Die Großmutter
ja, denn Frauen sind komische Leute,
die können vielleicht auch Kommunisten
sein. Ich glaube, er hat gedacht, dass der
Kommunismus ein Flügel des Feminismus war.
Sie gehörten zu den wenigen in der
Führungsgruppe der IKP, die sich
schon 1989 gegen Pläne für ihre Auflösung positionierten.
Die Manifesto-Gruppe, der ich angehörte, war 1969 aus der IKP ausgeschlossen
worden. Später, 1984, sind wir wieder
aufgenommen worden. Aber als dann
1989 Achille Occhetto, der damalige
Generalsekretär, dem höchsten Parteigremium die Auflösung vorschlug,
waren wir zunächst nur drei Personen,
die sofort offen dagegen stimmten, und
zwei davon waren Manifesto-Leute –
Lucio Magri und ich. Als es im ZK diskutiert wurde, waren es natürlich mehr.
Es war kein Konflikt zwischen Konservativen und Neuerern. Es gab viele Widersprüche: Umweltprobleme, Feminismus;
der Charakter der Arbeit hatte sich verändert. Unserer Meinung nach war es gerade
deshalb nötig und aktueller denn je, das
kapitalistische System zu bekämpfen. Aber
die andere Seite wollte die Partei zerstören.
Luciana Castellina in
der Menschenmenge bei
einer Kundgebung der
Kommunisten anlässlich
des Attentats auf Palmiro Togliatti, Rom,
14. Juli 1948
Unbeugsam
Ein Gespräch mit der italienischen Journalistin und Politikerin Luciana Castellina.
Über seriöse Kommunisten, Widersprüche
in Organisationen, Brüche in Parteien und
die Zukunft Europas. Außerdem: Leben
im Transitland – Flüchtlinge in Belgrad.
Fotoreportage
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 8./9. OKTOBER 2016 · NR. 235 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
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Politische Justiz
Schwarzer Montag
Breite Ablehnung
Fröhliche Zocker
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Kurden vor Gericht: Die Bundesregierung intensiviert ihren Feldzug
gegen linke Exilstrukturen
Viel Lärm – um was? Die Keilerei um
die Spitzenkandidaten der Linkspartei. Von Michael Merz
Auf der japanischen Insel Okinawa
Berlin legte Millionen bei der wegen
kämpfen Zehntausende gegen
»Cum-Ex-Deals« zusammengeden Ausbau einer US-Militärbasis
brochenen Maple-Bank an
Die Mutter des Terrors
Vor 15 Jahren begann der Afghanistan-Krieg. Seitdem ist die Welt unsicherer geworden,
die BRD aggressiver und das Völkerrecht Makulatur. Von Sebastian Carlens
E
2015 bei den »G 7« in Elmau: Protest gegen westliche Aggression und deutsche Angriffskriege
ge: Die Bundeswehr, 2013 mit großem
Pomp abgezogen, ist klammheimlich
zurückgekehrt. Und das Kräftevakuum,
in dem Terrorbanden gedeihen, hat sich
nach dem Auftakt des Krieges in Zentralasien auf weite Teile der arabischen
Welt ausgedehnt. Der Triumphzug des
»Islamischen Staates«, der ganze Länder niedertrampeln konnte, wäre ohne
die westliche Aggression, die 2001 ihren Anfang nahm, undenkbar gewesen.
Der Pfad der Gewalt führt über den Irak
nach Libyen und bis nach Syrien.
Doch die Aggression in Zentralasien
richtete und richtet sich gegen andere
Gegner. Gegen die Volksrepublik China, deren schmale gemeinsame Grenze zu Afghanistan bis 2013 direkt von
deutschen Truppen kontrolliert wurde.
Und gegen das mit Syrien verbündete Russland. Für die Bundesrepublik
sollte die Beteiligung am »Krieg gegen
den Terror« bewirken, dass militärische
Gewalt wieder als Verlängerung der
Politik mit anderen Mitteln gilt. Nach
dem Auftakt in Jugoslawien 1999 war
der Einmarsch in Afghanistan der willkommene Anlass, die Bundeswehr zur
Angriffsarmee hochzurüsten.
Auch die juristischen Fragen sind
seit Donnerstag geklärt. Für zivile Opfer der deutschen Militärmaschinerie
gilt kein Recht; es gibt keinerlei Anspruch auf Entschädigung, urteilte der
Bundesgerichtshof am Donnerstag und
wies eine Klage von Hinterbliebenen
des Luftangriffes auf einen Tanklastzug 2009 in Kundus zurück. Ein deutscher Oberst hatte die Einäscherung
von mehr als 140 Zivilisten befohlen.
Das deutsche Amtshaftungsrecht sei
»auf militärische Kampfhandlungen
im Ausland nicht anwendbar«, so der
BGH. Der Rest der Welt ist schussfreies Feld.
15 Jahre »Terrorbekämpfung« haben
die Welt zu einem gewalttätigeren Ort,
die BRD zum bis an die Zähne gerüsteten Imperialisten und den Weltfrieden
und das Völkerrecht zur bloßen Makulatur werden lassen. Dies wird nicht
enden, wenn wir es nicht beenden. Deshalb: die Waffen nieder! Nieder mit
dem Imperialismus!
Siehe Seite 8
Nobelpreis für Santos
Auszeichnung für Friedensprozess in Kolumbien. Kritik an einseitiger Würdigung
D
er Friedensnobelpreis 2016
geht an Kolumbiens Präsidenten Juan Manuel Santos.
Er erhalte die Auszeichnung »für seine entschlossenen Anstrengungen,
den mehr als 50 Jahre andauernden
Bürgerkrieg in dem Land zu beenden«, teilte das norwegische Nobelkomitee am Freitag in Oslo mit. Mit
Blick auf den negativen Ausgang
des Referendums am vergangenen
Sonntag, bei dem eine knappe Mehrheit der Abstimmenden das mit der
FARC-Guerilla ausgehandelte Ab-
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bestellen
Siehe Seite 16
Unruhen in Äthiopien:
Hunderte Tote
WOLFGANG RATTAY / REUTERS
s begann mit »uneingeschränkter Solidarität«: Nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 hatte der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den
USA eben diese zugesagt. Vier Wochen später verkündete US-Präsident
George W. Bush den »Krieg gegen den
Terrorismus«. Die NATO wertete die
Anschläge als Angriff auf ihr Terrain
und rief den »Bündnisfall« gemäß Artikel fünf des Nordatlantik-Vertrages
aus. Der westliche Einmarsch in Afghanistan, dessen Taliban-Regierung
laut US-Geheimdiensten die Brutstätte des islamistischen Terrors gewesen
sein soll, begann am 7. Oktober 2001.
Dies war die wahre Geburtsstunde des
gegenwärtigen Terrors.
In Afghanistan haben die Taliban
auch nach 15 Jahren »Demokratisierung« ihre Stärke bewahrt. In der Provinz Kundus, bis zum Jahr 2013 von
der Bundeswehr besetzt, liefern sich
die Islamisten regelmäßig Gefechte
mit der afghanischen Armee, die von
deutschen Ausbildern »beraten« wird.
Am Donnerstag erst meldete der lokale Polizeisprecher eine »Pattsituation«
zwischen Taliban und Regierung. Zwar
sei Kundus-Stadt wieder »weitgehend
unter Kontrolle«. Doch Anwohner
bezichtigten die Sicherheitskräfte der
Lüge: »Die Regierung sagt, sie kontrolliere die Stadt, aber sie kontrolliert
nur das Polizeihauptquartier, das Geheimdienstbüro und den Gouverneurspalast«, zitiert die Nachrichtenagentur
dpa einen Einwohner.
Diese Lage dürfte im ganzen Land
herrschen – ob die Kontrolle der Kabuler Regierung über die hochgesicherte
Innenstadt hinausreicht, wird von den
Taliban regelmäßig erfolgreich in Frage
gestellt. So gesehen, endete der »Krieg
gegen den Terror« mit einer Niederla-
jW drei Wochen
lang gratis lesen!
kommen abgelehnt hatte, interpretierte die Vorsitzende des norwegischen
Nobelkomitees, Kaci Kullmann Five,
die Auszeichnung auch als Ermutigung, den Friedensprozess zu retten.
»Die Botschaft ist, dass wir durchhalten müssen, um ein Ende dieses
Krieges zu erreichen«, sagte Santos am
Freitag in einer ersten Reaktion. »Wir
sind sehr nah dran. Wir müssen nur ein
bisschen weitermachen, und das hier ist
ein großartiger Ansporn, um das Ende
zu erreichen und mit dem Aufbau von
Frieden in Kolumbien zu beginnen.« Er
nehme den Preis im Namen aller seiner
Landsleute entgegen.
Führende Vertreter der FARCGuerilla übermittelten dem Staatschef
Glückwünsche. »Ich gratuliere Präsident Santos sowie den Garanten Kuba
und Norwegen sowie den Begleitern
Venezuela und Chile, ohne die der Frieden nicht möglich wäre«, twitterte der
oberste Comandante Timoleón Jiménez. Die vier Länder hatten die in Havanna geführten Verhandlungen unterstützt. Der Chef der FARC-Delegation
in der kubanischen Hauptstadt, Iván
Márquez, kommentierte: »Wir hoffen,
dass der Friedensnobelpreis Präsident
Santos die Kraft gibt, das Abkommen
mit Leben zu füllen und allen Kolumbianern die Würde zurückzugeben.«
International gab es allerdings Kritik
daran, dass nicht auch ein Vertreter der
Guerilla in die Würdigung einbezogen
wurde. Die Bundestagsabgeordnete
Heike Hänsel (Linke) sprach deshalb
am Freitag von einem »faden Beigeschmack, weil zum Frieden immer zwei
Seiten gehören«. (AFP/dpa/jW)
Siehe Kommentar Seite 8
Addis Abeba. Im ostafrikanischen
Äthiopien verschärfen sich die Unruhen, bei denen Menschenrechtsgruppen zufolge mittlerweile mehr
als 450 Menschen umgekommen
sind. Während der jüngsten Protestwelle wurden fast ein Dutzend Fabriken beschädigt und mehr als 60
Fahrzeuge in Brand gesteckt, wie
ein regierungsnaher Radiosender
am Freitag meldete. Am vergangenen Wochenende waren mindestens
55 Menschen in einer Massenpanik
ums Leben gekommen, als die
Polizei eine Demonstration in der
Oromiya-Region nahe der Hauptstadt Addis Abeba auflöste.
Die Proteste richten sich gegen
die Folgen einer schnellen Industrialisierung, die vor allem ausländische Investoren nach Äthiopien
lockt. Die Demonstranten werfen
der Regierung vor, ihnen ihr Land
zu rauben, um es anschließend
günstig an Unternehmen zu verkaufen. (Reuters/jW)
Bundeswehr-»Tornados«
bleiben am Boden
Berlin. Fast jeder zweite »Tornado«Kampfjet der Bundeswehr muss
wegen eines technischen Defekts
bis auf weiteres am Boden bleiben.
Betroffen sind 39 Maschinen der
modernsten Version, darunter
auch die sechs, die im türkischen
Incirlik als Aufklärungsflugzeuge
stationiert sind. Die Panne beeinträchtigt damit auch die Luftangriffe in Syrien und im Irak. Die
Bundeswehr kann bis auf weiteres
keine Aufklärungsbilder mehr
liefern. Das bedeutet allerdings
nicht, dass die Attacken nicht mehr
stattfinden können. Die Aufklärungsflüge der »Tornados« würden
im Moment von anderen Nationen
übernommen, sagte ein Ministeriumssprecher am Freitag. Die Bundeswehr ist vorerst nur noch mit
einem Tankflugzeug im Einsatz.
Insgesamt hat die Bundeswehr
85 »Tornados«. (dpa/jW)
wird herausgegeben von
1.874 Genossinnen und
Genossen (Stand 20.9.2016)
n www.jungewelt.de/lpg