1 Freitag, 07.10.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Katharina Eickhoff Neuausgabe eines grandiosen Debüts LE MUSICHE DI BELLEROFONTE CASTALDI Guillemette Laurens soprano Le Poème Harmonique Vincent Dumestre ALPHA CLASSICS 320 Blühendes Knabensopran-Vibrato Aksel! Arias by Bach, Handel & Mozart Aksel Rykkvin treble Orchestra of the Age of Enlightenment Nigel Short conductor signum CLASSICS SIGCD435 Amerikaner mit Gesundheitslatschen GEORGE GERSHWIN An American in Paris Concerto in F 3 Preludes Overture of Thee I Sing LINCOLN MAYORGA piano HARMONIE ENSEMBLE / NEW YORK STEVEN RICHMAN HMU 907658 Inniges Ineinanderatmen BREATHTAKING A CORNETTO AND A VOICE ENTWINED HANA BLAŽĺKOVÁ soprano BRUCE DICKEY cornetto passacaille 1020 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Katharina Eickhoff und den CD-Tipps in Treffpunkt Klassik am Freitag. Kennen Sie Aksel Rykkvin? Falls nicht, haben Sie was verpasst, das13-jährige Milchgesicht aus dem Knabenchor der Oper Oslo singt Mozart und Händel, dass einem die Ohren schlackern. Von Aksel gibt es hier nachher was zu hören, außerdem: Gershwin in historischer Aufführungspraxis – wieso das nicht funktioniert, darüber reden wir auch im Verlauf dieser Sendung und über die CD „Breathtaking“, auf der die Sopranistin Hana Blažíková und der Zinkenspieler Bruce Dickey manchmal kaum voneinander zu unterscheiden sind. Das sehr gelungene Hör-Experiment ist ein Ohrenschmeichler erster Klasse, mehr dazu gegen Ende. Jetzt, für den Anfang, möchte ich Ihnen erst mal einen erstaunlichen Mann aus dem 17. Jahrhundert vorstellen: Bellerofonte Castaldi: Capriccio detto Hermaphrodito (Ausschnitt) 0:40 2 Der Kerl war ein Roman – und er wusste das auch ganz genau. – Bellerofonte Castaldi aus Modena, Jahrgang 1580, war ein Schriftsteller, der in seinen satirischen Dichtungen und provokanten Schriften immer wieder durchblicken ließ, dass es sich da um biografisch unterfütterte Geschichten handelte. Und es gab ja auch immer was zu erzählen aus dem Castaldischen Nähkästchen: Zum Beispiel hat man ihm als jungem Mann den Bruder gemeuchelt, und auch wenn die Mafia und ihre Vendetta noch nicht erfunden waren: Bellerofonte, ganz der Italiener, hat Blutrache an den Verantwortlichen genommen, wurde bei dieser Aktion verwundet und hat daraufhin Zeit seines Lebens gehinkt. Womit er seinem Namensvetter aus der griechischen Mythologie alle Ehre machte: Auch Bellerophon, der Bezähmer des fliegenden Pferds Pegasus, war ein Hinkender. Bellerofonte Castaldi hat das kleine Malheur nicht daran gehindert, auch anderswo Streit zu suchen – in Rom hat er so provokante Reden über den Klerus und seine verderbliche Übermacht geschwungen, dass ihn der Papst persönlich hochkant rausschmeißen ließ. Der Abenteurer Castaldi war rastlos unterwegs, in ganz Italien, wohl auch in Deutschland – er konnte es sich leisten, er kam aus adliger, reicher Familie –, und er war nicht nur Schriftsteller, Herumtreiber, Großmaul. Castaldi war ein hochbegabter Musiker: ein virtuoser Theorbenspieler, ein höchst erfolgreich auftretender Sänger, und ein außergewöhnlicher Komponist, dessen Musik einerseits die Theorbe in all ihrer Schönheit und ihrem ganzen Reichtum präsentiert, die aber andererseits, vor allem in den Vokalstücken, auch ganz deutlich die theatralische Ader ihres Komponisten zelebriert: Bellerofonte Castaldi: Chi vidde più lieto e felice di me? 3:45 Guillemette Laurens war das, zusammen mit Le Poème Harmonique, und einem Scherzliedchen von Bellerofonte Castaldi. – Um aus einem Notentext, der immerhin 400 Jahre auf dem Buckel hat, so bewegte, lebendige, heutige Musik zu machen, braucht es Leute, die sich einerseits ganz genau mit den musikalischen Gepflogenheiten, mit den Möglichkeiten der Interpretation von damals auskennen, und die andererseits genug musikalische Fantasie haben, um so ein Stück in der Gegenwart nochmal neu zu erfinden. Das französische Ensemble Le Poème Harmonique, eines meiner absoluten Lieblingsensembles in der Alten Musik, kann das, und, das kann man an dieser Platte studieren, sie konnten es von Anfang an. Diese CD mit Musik vom Theorbisten und Herumtreiber Bellerofonte Castaldi war nämlich die erste CD der Truppe überhaupt, entstanden im Jahr 1998, da hatte Vincent Dumestre, der Theorbenspieler und musikalische Leiter, das Ensemble gerade eben erst gegründet; und mit diesem Programm haben sie damals auch gleich ein Statement gesetzt, wohin die Reise in Zukunft gehen würde: Zu Unrecht unbekannte Komponisten aus der späten Renaissance und Barockzeit wollten sie ins rechte Licht rücken, wieder lebendig machen und so gut aufführen, dass alle sich fragen sollten, wieso um alles in der Welt man diese Musik in der Schublade hat vermodern lassen. Die erste Exhumierung ist also damals auf ganzer Linie geglückt, und deswegen tut das Label ALPHA auch gut daran, das grandiose Debüt von Le Poème Harmonique jetzt nochmal neu rauszugeben; denn diese Interpretation hat tatsächlich kein bisschen Staub angesetzt – im Gegensatz zum Beispiel zu den ersten CDs von Les Arts Florissants, die einem heute irgendwie schon aus der Zeit gefallen vorkommen beim Anhören. Nun sollen sich also mit dieser Wiederveröffentlichung doch noch ein paar mehr Leute in die Musik des Bellerofonte Castaldi verlieben – und die beteiligten Musiker machen es einem da auch wirklich leicht. Neben dem Chef, Vincent Dumestre, mit seiner Theorbe spielte damals nämlich zum Beispiel auch noch die Gamben-Wunderfrau Sophie Watillon mit, eine der hinreißendsten Musikerinnen seit der großen Wiederentdeckung der Viola da Gamba, die dann 2005 mit noch nicht mal 40 Jahren an Krebs gestorben ist. 3 Bellerofonte Castaldi: Dolci miei martiri 5:15 Das sprechende Musizieren der Instrumente spiegelt sich hier im Gesang von Guillemette Laurens. – Guillemette Laurens war bei fast allen Pionier-Ensembles der historisch informierten Aufführungspraxis dabei, sie war 1980 eines der Gründungsmitglieder von Les Arts Florissants, hat mit Herreweghe und Ton Koopman aufgenommen und ist, das kann man auf dieser Castaldi-Platte hören, ein Glücksfall für die Wiederbelebung der Barockmusik gewesen: Ihr Singen ist so natürlich, als würde sie mit uns sprechen, ihre Stimme ist eigentlich gar nicht mal die schönste, aber sie hat eine ganze Wundertüte an Ausdrucksmöglichkeiten und Farben: weich oder rau, verschleiert oder klar, divenhaft dramatisch oder ganz schlicht wie ein liedersingendes Mädchen. Ein kunstvolles Echo-Stück wie das „Echo Notturno“ ist Guillemette Laurens insofern wie auf den Leib geschrieben – und musikhistorisch interessant ist es außerdem, weil man ihm nämlich anhört, dass Bellerofonte Castaldi ein guter Bekannter, Brieffreund und vor allem großer Bewunderer seines Kollegen und Zeitgenossen Monteverdi war. Bellerofonte Castaldi: Echo Notturno 5:10 Bellerofonte Castaldi hat ganz offensichtlich viele verschiedene Gesichter gehabt. Einerseits war er der großsprecherische Provokateur, der mehr als ein Mal mit seinen waghalsigen Aktionen im Knast gelandet ist, andererseits ein sehr konzentrierter, kenntnisreicher Musiker, der den Klang- und Spielmöglichkeiten seiner Theorbe musizierend hinterherforscht und sie erweitert. Bei Castaldi ist die Theorbe nicht bloß ein irgendwo im Hintergrund gezupfter Generalbass, sondern eine Erzählerin und Meditationsleiterin und – nicht zuletzt – Gesprächspartnerin! Bellerofonte Castaldi war nämlich fast der einzige Komponist, der auch für das Tiorbino komponiert hat, eine Theorbe in Miniausführung, die eine Oktave höher als das Original gestimmt ist. Bei Castaldi versenken sich die Große und die Kleine in ein Zwiegespräch, ein Frage-und-Antwort-Spiel, dem man ewig zuhören könnte. Bellerofonte Castaldi: Capriccio detto Svegliatoio 2:55 „Le musiche di Bellerofonte Castaldi“ – diese Neuausgabe der allerersten CD von Le Poème Harmonique lohnt sich auch deshalb, weil das Label ALPHA anscheinend so langsam endlich mal eingesehen hat, dass ein informatives Booklet zur CD etwas sehr Schönes und Sinnvolles und von den Käufern ungemein Erwünschtes ist. ALPHA hat nämlich jahrelang den immer sehr gelungenen Aufnahmen reichlich rätselhafte Begleitheftchen mitgegeben, in denen sich seltsame Essays über nur entfernt mit der Sache zu tun habende Themen fanden, die dann auch noch oft nur in Französisch und bestenfalls Englisch abgedruckt waren. Nach halbwegs geordneten Infos zu den Komponisten und Interpreten hat man vergeblich gesucht, geschweige denn gab es Erhellendes zu den Stücken selbst zu lesen. Anscheinend hat das Leiden der ALPHA-Gemeinde aber doch langsam ein Ende, der Castaldi-CD jedenfalls hat man jetzt netterweise Auszüge aus einem aktuellen Interview mit Vincent Dumestre mitgegeben, die genau das haben, was man sich begleitend wünscht: Dumestre erzählt da zum Beispiel darüber, wie sie im Ensemble an die Sache rangehen, dass sie versuchen, den Dialog von Werk und Publikum zu rekonstruieren, wie er im 17. Jahrhundert, zur Zeit Castaldis, stattgefunden hat, und dass sie mit ihrer Fantasie die Lücken füllen müssen, die zwangsläufig in 400 Jahren entstehen, denn in den Noten steht ja nichts über Phrasierung und Dynamik, über die Verzierungen und die Instrumente, die da womöglich noch mitgespielt haben. Zum Beispiel sind auf der Platte auch diverse tamburinartige Trommeln zu hören, die in den Noten gar nicht erwähnt sind – es hat sich aber ein alter Stich gefunden, der Castaldi beim Musikmachen zeigt, und da wird er von einem Tamburellospieler begleitet. Wer Alte Musik macht, muss eben immer auch ein Universalgelehrter sein ... Le Poème Harmonique haben 4 jedenfalls damit schon vor der Jahrtausendwende einen neuen Sound in der historischen Aufführungspraxis kreiert, der sich bei anderen Ensembles erst in den folgenden zehn Jahren langsam durchgesetzt hat. Bellerofonte Castaldi: Follia (Ausschnitt) 1:50 Nochmal ein paar Takte „Follia“ von der CD „Le Musiche di Bellerofonte Castaldi“ mit Le Poème Harmonique, erschienen ist sie beim Label ALPHA. Hier ist SWR2 Treffpunkt Klassik mit Katharina Eickhoff und neuen CDs. Und jetzt treffen wir Cherubino. Den kennt man ja, Mozart, Hochzeit des Figaro, der pubertierende Knabe, der nicht weiß, wie ihm geschieht, weil eine erste, unerwartete Welle von Hormonen in ihm überschwappt, das Ganze dargebracht in leicht frivoler Geschlechterverwechslung von einer Mezzosopranistin, als Zitat einer noch frivoleren Konstruktion, wenn in der damals gerade zu Ende gegangenen Zeit der Kastraten solche Hosenrollen von Männern mit Frauenstimmen gesungen wurden. Was aber, wenn dieser Cherubino mal nicht von einer erwachsenen Frau gesungen wird, die der Sphäre pubertierender Jungs ja eigentlich ziemlich fern steht, auch nicht von einem Mann mit Frauenstimme, sondern von einem Buben, der gerade dabei ist, in eben diese Cherubino-Phase hineinzuwachsen? Der 13-jährige Aksel Rykkvin aus Norwegen singt Cherubino, und er macht das so hinreißend, dass mal ganz schnell jemand eine FigaroInszenierung für ihn aus dem Boden stampfen sollte, bevor diese wohl charmanteste Knabensopranstimme der Gegenwart hormonbedingt wieder verschwunden sein wird. Wolfgang Amadeus Mozart: Le nozze di Figaro, Non so più cosa son, cosa faccio 2:35 Keine Frage: Ein Kind mit einer solchen Stimme hätte früher ein gieriger Impresario in einen Sack gesteckt, entführt und in irgendeinem düsteren Hinterzimmer unters KastratenMesserchen legen lassen, um aus ihm einen Farinelli oder Carestini zu machen. Aber zum Glück hat sich ja inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass schöne Stimmen der Welt nicht verloren gehen, auch wenn sie nicht auf ewig im Diskant jubeln. – Wenn man bedenkt, dass auch Bryn Terfel mal als so ein außergewöhnlicher Knabensopran angefangen hat, dann kann man von Aksel Rykkvin vermutlich noch einiges erwarten. Aksel kommt zwar aus dem Kinderchor der Nationaloper Oslo; er hat Unterricht, seit er acht Jahre alt ist, also seit ungefähr fünf Jahren, aber seine Art zu singen ist meilenweit weg von den sonst üblichen, leicht blökenden Tönen anderer Knabensolisten. Da, wo die meisten Jungs zwar rein und durchdringend, aber eben fahl singen, hat dieser blonde fast-nochKnirps ein geradezu blühendes Vibrato, eine Sinnlichkeit, von der er ja wohl noch nichts wissen kann, die sich aber anscheinend irgendwie schon ahnungsweise in ihm mopsig macht, und es ist fast ein bisschen gespenstisch und verschafft einem ein paar Zentimeter Gänsehaut, wie dieses blauäugige Milchgesicht da ein tiefmelancholisches Stück wie Händels „Lascia ch’io pianga“ aus dem „Rinaldo“ singt: Klar kann er noch nicht wirklich wissen, wovon er da singt – aber die Intuition und das instinktive Einfühlungsvermögen für diese Musik sind schon ziemlich einzigartig: Georg Friedrich Händel: Rinaldo, Lascia ch’io pianga 4:10 Ingeborg Bachmann schreibt von den armen Sängern, die sich danach sehnen, sich irgendwann „den überflüssigen Ballast ihrer Körper und Hirne unter die Federn“ zu stecken – und tatsächlich sind das ja die beiden Gegner, gegen die ein Sänger immer kämpfen muss: der Körper und das Hirn. Und vielleicht ist es das, was Aksel Rykkvins Gesang so anziehend macht: dass er diesen Ballast noch nicht spürt. Die erste große Gesangskrise hat ihn noch nicht erwischt, das ewige Hirnen über die richtige Technik noch nicht ergriffen, dieses Kind 5 singt zwar mit der emotionalen Intuition und Wärme eines viel Älteren, aber eben gleichzeitig trotzdem noch wie ein unbekümmertes Kind. Und dann kommt noch ein Drittes dazu: Der Kerl ist unglaublich musikalisch. Aksel Rykkvin hat einen ganz natürlichen, intuitiven Bezug zu musikalischen Phrasierungen, man merkt, dass ihm die Gestaltung der Stücke nicht von irgendwem mühsam eingetrichtert wurde, sondern dass sie aus ihm selbst kommt. Sogar durch die sonst oft monoton wirkenden virtuosen Rouladen von Händels „Joshua“ hangelt er sich mit einer Leichtigkeit, als ob er das auf dem Weg zum Bolzplatz so vor sich hinsingt. Georg Friedrich Händel: Joshua, Oh! Had I Jubal’s lyre 2:40 Es ist übrigens nicht irgendein Orchester, das Aksel Rykkvin da bei diesen Aufnahmen begleitet, sondern immerhin das Orchestra of the Age of Enlightenment – die haben zugegeben klanglich schon mal bessere Zeiten gehabt. Aber für die Debüt-CD eines 13-Jährigen ist das trotzdem eine ziemlich schicke Visitenkarte. Und am Pult bei den Aufnahmen stand Nigel Short, der vielleicht auch kein bedeutender Orchesterdirigent mehr wird, aber Short, der auch als Knabensopran angefangen hat und dann als Countertenor Mitglied der King’s Singers wurde, ist sicher ein sehr guter Coach für Aksel bei der Aufnahme gewesen, weil er aus eigener Erfahrung weiß, wie so eine Knabengurgel funktioniert, und wie man sich als so ein ganz junger Sänger fühlt. Die CD selbst ist dann auch kein aufgeblasener Medien-Coup einer Plattenfirma, die für ein bisschen Aufmerksamkeit einen unschuldigen Knaben verheizt, sondern eine große Gemeinschaftsanstrengung von Fans von Aksel Rykkvins Gesang, soll heißen: Sie ist erst durch eine Crowdfunding-Aktion und ein paar großzügige Privatsponsoren möglich geworden, auch das macht die Sache irgendwie sympathisch. Klar ist das keine Platte, die man sich unbedingt immer wieder am Stück anhören soll, dafür sind ein paar barocke Oratorien-Koloraturen zu viel im Programm, und bei manchem HighSpeed-Händel geht Aksel noch ein bisschen arg lässlich mit dem Text um, da verschwinden halbe Wörter, um nur ja den Anschluss an die nächste Phrase nicht zu verpassen. Aber für mein Gefühl liegt die Zukunft von Aksel Rykkvin auch in jedem Fall auf der Opernbühne – in die Opernarien legt er Seele und Herz und Schmelz, man spürt, dass die dramatischen Situationen ihn über sich selbst hinauswachsen lassen ... schauen wir mal, wo er noch so hinwächst in den kommenden Jahren – eins ist jedenfalls sicher: Von Aksel Rykkvin werden wir noch hören. Wolfgang Amadeus Mozart: Le nozze di Figaro, Voi che sapete 2:40 Der 13-jährige Aksel Rykkvin nochmal als Mozarts Cherubino, zusammen mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment. – „Aksel!“ heißt ganz schlicht die CD dieses erstaunlichen Knaben, Aksel immerhin völlig zu Recht mit Ausrufezeichen, erschienen als CrowdfundingProjekt bei signum CLASSICS. Hier ist SWR2 mit Treffpunkt Klassik und den neuen CDs am Freitag. Und jetzt kommt etwas, das Sie – behaupten zumindest die Macher – so noch nicht gehört haben: George Gershwin in historischer Aufführungspraxis! George Gershwin: An American in Paris (Ausschnitt) 1:10 Steven Richman und das Harmonie Ensemble New York sind das, mit Gershwins „American in Paris“, in einer, wie das Booklet dieser Gershwin-CD betont, vollkommen neuen, nämlich originalen Fassung: Steven Richman hat Gershwins Originalpartituren in der Library of Congress durchgesehen und festgestellt, dass es in dem bis dahin üblichen 6 Aufführungsmaterial Abweichungen von der Urschrift gab, die Saxofonstimmen, so Richman, seien verändert worden und sonst noch so dies und das, er habe nun aber eben die Urfassung wieder hergestellt, und das habe zur Folge, so erfährt man, dass es sich bei dieser Aufnahme hier, Zitat „um die schnellste – und packendste – aller Einspielungen des Werks“ handele. – Das ist nun allerdings reichlich vollmundig. Klar ist es gut, sich mal die Noten anzugucken, wie Gershwin sie damals aus der Hand gegeben hat, und ja, wir wissen inzwischen, dass Gershwin durchaus auch selber instrumentieren konnte. Aber an seinen Stücken haben eben, das ist Fakt, für die immer wieder wechselnden Besetzungen viele verschiedene Leute herum arrangiert, wie das in der Jazz- und Musicalszene, aus der Gershwin kam, nun mal üblich und auch sinnvoll war; und wenn ich die etwas verwirrenden Erklärungen Steven Richmans richtig verstehe, dann sind auch auf seiner CD wieder Arrangements zu hören – der Käse mit der historischen Aufführungspraxis wäre damit also schon mal gegessen; bleibt das, was wir tatsächlich hören, und das ist enttäuschend. „Den schlanken und unsentimentalen Stil der 20er und 30er Jahre, als Gershwin seine Werke schrieb“ habe man einfangen wollen, heißt es im Begleittext, aber vor lauter Unsentimentalität verzichten Richman und das Harmonie Ensemble fast ganz auf Dynamik und Flexibilität. Der Charme und Witz von Gershwins Musik liegt ja gerade darin, dass innerhalb des fortlaufenden Beats jede Menge binnendynamische Aktion stattfindet, dass die Phrasen Schwung haben, sich auch mal flexibel wie Gummibänder dehnen lassen, um dann wieder Gas zu geben. Kaum etwas von diesem Gershwin-Charme hört man bei diesem Amerikaner, der offenbar mit Gesundheitslatschen durch Paris zu tappen scheint, und auch dieses Paris selbst, sonst glitzernd, klingelnd, rummelnd, hupend, klingt irgendwie seltsam behäbig und kommt nicht aus den Puschen. George Gershwin: An American in Paris (Ausschnitt) 6:45 Laut Booklet hören wir hier die flotteste Einspielung von Gershwins „American in Paris“ – was übrigens auch objektiv ganz und gar nicht stimmt: Arthur Fiedler und die Boston Pops, Antal Dorati und Minnesota und noch ein paar andere sind schneller, aber letztlich ist es ja auch wurscht, was am Ende die Stoppuhr anzeigt, die kürzeste Aufführungszeit hilft ja nichts, wenn die Einspielung dynamisch nicht vom Fleck kommt. Insofern ist zumindest in diesem Fall das Projekt „Gershwin in historischer Aufführungspraxis“ gescheitert, und ich empfehle bei Lust auf dieses Stück dringend, sich an die Aufnahmen oder YouTube-Einspielungen von Michael Tilson Thomas zu halten. Der allerdings, das muss man schon dazusagen, für seine Gershwin-Aufführungen auch immer erstklassige Orchester zur Verfügung hat. Und das Harmonie Ensemble, ein New Yorker Telefonorchester, das sich aus Musikern der unterschiedlichsten Orchester zusammensetzt, ist kein erstklassiges Orchester, das kann man, denke ich, einfach mal so konstatieren – darunter, also unter fehlenden Feinheiten, leidet auch die Einspielung von Gershwins „Concerto in F“, das bei diesem Programm auch mit dabei ist. Es stellt sich eben raus, dass Gershwins Musik in all ihrer Raffiniertheit und Lebendigkeit verdammt schwer zu machen ist, und dass historische informierte Aufführungspraxis keine Entschuldigung für uninspiriertes Spiel ist. Wer sich das trotzdem nochmal genauer anhören will, der bekommt diese Gershwin-CD mit dem Harmonie Ensemble über harmonia mundi. SWR2 Treffpunkt Klassik hier mit neuen CDs. Das, was ich jetzt noch zu empfehlen habe – und zwar mit Nachdruck! – könnte man ein Konzeptalbum nennen. „Breathtaking“ heißt es, atemberaubend. Und die Idee dahinter ist, wenn schon vielleicht nicht atemraubend, aber doch wirklich hübsch, und jedenfalls hat sie viel mit dem Atem zu tun: Zwei ganz wunderbare Musiker treffen da aufeinander, die 7 tschechische Sopranistin Hana Blažíková und der Amerikaner Bruce Dickey, der ein sehr besonderes Instrument spielt, das eigentlich schon ausgestorben war, den Zinken. Und dass diese beiden, Sopranstimme und Zink, sich gesucht und gefunden haben, dass sie wie füreinander gemacht und sich manchmal auf fast schon gespenstische Weise ähnlich sind, das ist eine echte Entdeckung! Sigismondo d’India: Langue al vostro languir 3:45 Sigismondo d’Indias „Langue al vostro languir“ ist eigentlich für zwei Soprane und Basso continuo geschrieben, hier ist der eine Sopran durch einen Zinken ersetzt worden, und siehe da: Es singen trotzdem zwei. Der Zink, ein seltsames Zwitterding zwischen Blockflöte und Trompete, hatte schon zu seinen Hochzeiten im 16. und 17. Jahrhundert den Ruf, der menschlichen Stimme, genau genommen der weiblichen menschlichen Stimme, besonders ähnlich zu sein. Mit dieser Idee des verwechselbaren Klangs spielt das Programm von „Breathtaking“, und die beiden Solisten, die Sängerin Hana Blažíková und der Zinkspieler Bruce Dickey, kriegen da immer wieder ziemlich sensationelle Doppelwirkungen hin: Hana Blažíkovás Timbre ist weich und klar und relativ instrumental, ohne flach zu klingen, und das passt so gut zu Bruce Dickeys strahlendem, lebendigem Bläserton, dass die zwei Stimmen sich tatsächlich manchmal ineinander aufzulösen scheinen: Sigismondo d’India: Dilectus meus 4:20 Nochmal Musik von Sigismondo d’India, mit Hana Blažíková und Bruce Dickey im innigen Ineinanderatmen. Geblasen wird so ein Zink übrigens ganz ähnlich wie eine Trompete, er gehört auch nominell zu den Blechblasinstrumenten; das Instrument selbst ist allerdings aus Holz und mit seinem sanften, schlanken Schwung schon rein als Anblick eine Augenweide. In dem geschwungenen Rohr sind Grifflöcher wie bei einer Blockflöte, das Mundstück ist ziemlich klein, das macht die Sache kompliziert. Und außerdem ist es sehr schwierig, mit den paar Grifflöchern intonationsrein zu spielen – es ist also eine wirklich große Kunst, aus diesem eleganten Blasprügel schöne Musik hervorzuzaubern. Aber wenn einer es kann, und Bruce Dickey kann es nun mal, dann sind die Töne des Zinken wirklich etwas ganz Einzigartiges in der Musik. Der große Gelehrte Marin Mersenne, Mathematiker und Musiktheoretiker im 17. Jahrhundert, hat den Zinken vielleicht am besten beschrieben, er sagt: „Wenn sich der Zink unter die anderen Instrumente im Gottesdienst mischt, dann muss es klingen, als ob ein Sonnenstrahl die Dunkelheit durchbricht.“ Aber bei aller Ähnlichkeit mit der menschlichen Stimmproduktion und dem Klang gesungener Töne, das ist nicht das einzige, was der Zink kann: Der venezianische Blockflöten- und Zinkspieler Silvestro Ganassi hat schon im 16. Jahrhundert darauf bestanden, dass es in Wirklichkeit nicht darum geht, das Singen zu imitieren, sondern das Sprechen! Man solle, rät Ganassi den Spielern, „Worte durch das Spiel so verständlich machen, dass man sagen könnte, es fehlt nichts als der menschliche Körper dazu, so wie man von einem gut gemachten Gemälde sagt, dass ihm nichts fehle als der Atem. Also kennt euer Ziel: Imitiert die Sprache!“. Alessandro Scarlatti: Emireno, Labbra gradite 1:40 Noch ein paar Sätze zu den Solisten dieser CD: Bruce Dickey ist sowas wie der Godfather of Zink – als Spieler und als musikwissenschaftlicher und spielpraktischer Forscher hat er 8 dieses wunderbare Instrument überhaupt erst wieder in seine Rechte eingesetzt. Dickey hat als Trompeter angefangen, ist dann zur Blockflöte gewechselt, der Zink ist sozusagen die logische Konsequenz aus beidem, und wer immer es ernsthaft mit diesem schwer zu spielenden Instrument aufnehmen will, der muss zu Bruce Dickey an die Scola Cantorum Basiliensis in Basel gehen. Bei Hana Blažíková wiederum haben wir es auch nicht mit einer Wald- und WiesenSopranistin, sondern mit einer geradezu verwirrend vielschichtigen Künstlerin zu tun – eigentlich ist sie studierte Musikwissenschaftlerin und Philosophin; neben dem Singen spielt sie die gotische Harfe und ist firm auch in Musik aus Mittelalter und Renaissance; sie tritt mit den besten Ensembles der historischen Aufführungspraxis auf, dem Collegium Vocale Gent oder L’Arpeggiata, spielt aber gleichzeitig auch E-Bass in der tschechischen Band Stillknox, wo sie zusammen mit ihrer Schwester mit verfilzten Haaren in Jeans und T-Shirt ziemlich heftige Grunge-Rock-Nummern abzieht. Dabei steht sie doch auf dem Cover unserer CD hier so brav vor dem Zink blasenden Bruce Dickey, als ob der sie mit seinem Spiel angelockt und hypnotisiert hätte wie der Rattenfänger von Hameln – ein wirklich gelungenes Coverbild ist das. Und auch das Programm, das die zwei scheinbar so unterschiedlichen Musiker da zusammengestellt haben, ist spannend und inspiriert; es gibt auch rein instrumentale Stücke mit dem ziemlich famos spielenden kleinen Ensemble aus Geige, Viola da Gamba, Orgel und Theorbe, Musik von Palestrina und Biagio Marini, von Merula und Carissimi und inmitten all dieser schönen Barockmusik eine Überraschung: Das heimliche Herz von „Breathtaking“, dieser CD für Stimme und Zink, ist ein neues Stück, das die griechische Komponistin Calliope Tsoupaki extra für dieses Projekt geschrieben hat. Als Text hat sie sich das „Nigra sum sed formosa“ aus dem Hohelied ausgesucht, Dunkel bin ich, aber schön, so kennen wir das, hier zu hören in einer Version in byzantinischem Griechisch. Das Stück ist eine anziehende, fast improvisiert wirkende Mischung aus Alter und Neuer Musik, ein Anklang an Monteverdi und Co und mittelalterliche Gesänge, aber vor allem präsentiert es wie in einem Brennpunkt die Idee dieser ganzen Unternehmung, dass Atem und Klang von Zink und Stimme in eins fließen und sich ineinander verlieren können wie bei jenem Rilkeschen „Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht“ – und das ist dann tatsächlich immer mal wieder ziemlich atemberaubend. Calliope Tsoupaki: Mélena imí (Nigra sum) 8:55 Mélena imí – das „Nigra Sum“ aus dem Hohelied in byzantinischem Griechisch, ein neues Stück in alter Manier, geschrieben von der griechischen Komponistin Calliope Tsoupaki für die Sopranistin Hana Blažíková und den Zinkenspieler Bruce Dickey. – „Breathtaking“ heißt die sehr schöne CD der beiden, bei der man manchmal kaum zwischen geblasenem und gesungenem Ton unterscheiden kann, ein spannendes Hör-Experiment, erschienen beim Label passacaille. Und das war es dann auch in Treffpunkt Klassik am Freitag mit den neuen CDs, die Liste der heute hier besprochenen Platten gibt es im Internet nachzulesen bei swr2.de, Abteilung Musik; dort können Sie die Sendung auch noch eine Woche lang nachhören. Hier folgen jetzt die Nachrichten, schönen Freitag wünscht Ihnen Katharina Eickhoff.
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