H. Yilmaz: National Identities in Soviet Historiography - H-Net

Harun Yilmaz. National Identities in Soviet Historiography: The rise of nations under Stalin. London: Routledge, 2015.
XI, 228 S. $145.00 (cloth), ISBN 978-0-415-84258-7.
Reviewed by Gerhard Simon
Published on H-Soz-u-Kult (September, 2016)
H. Yilmaz: National Identities in Soviet Historiography
tischen jungen Bolschewiken“ (S. 174) in Alma-Ata, der
Hauptstadt Kasachstans: Mehr als ein Drittel der Kasachen wurde Opfer der künstlich herbeigeführten Hungersnot 1931–1934 im Zuge der Zwangsansiedlung der
Nomaden, das wichtigste Projekt der sowjetischen Mo”
dernisierung“ in der kasachischen Steppe.
Diese Monographie untersucht die Konstruktion von
nationaler Geschichte und von Mythen über nationale
Geschichte in den sowjetischen Unionsrepubliken Aserbaidschan, der Ukraine und Kasachstan in den Jahren von
etwa 1935 bis 1945. Eine parallele Entwicklung fand in allen Unionsrepubliken und insbesondere in Russland statt.
Warum der Autor diese drei Fälle auswählte, erfährt der
Leser nicht. Ziel der Arbeit ist also nicht die Darstellung
von Geschichte, sondern die Untersuchung von Manipulation der historischen Ereignisse im Dienst von Politik,
mithin geht es nicht um Geschichte als Wissenschaft sondern als Propaganda. Allerdings kommt der Autor nicht
immer an dem vorbei, was er reality“ (S. 69) nennt, und
”
so ist der Leser nicht selten verunsichert, ob er gerade
mit Konstruktion und Manipulation oder mit Realität von
Geschichte konfrontiert ist.
Das Verdienst dieser Monographie besteht darin zu
zeigen, dass die Konstruktion nationaler Geschichtsbilder direkt nach dem Sturz der orthodox marxistischen
Pokrowski-Schule einsetzt und nicht erst mit dem Zweiten Weltkrieg. In skrupulöser Detailarbeit hat Yilmaz insbesondere aserbaidschanische und kasachische Archive
studiert und zeichnet die Entstehung der ersten historischen Gesamtdarstellungen nach, in denen Nationalgeschichten entworfen wurden, die mit den Realitäten“
”
wenig zu tun hatten. Seit 1941 eröffneten dann die patrioDie Historiker der Stalin Generation“ der nichtrus- tischen Aufwallungen und Notwendigkeiten während
”
sischen Nationen sahen sich in den 1930er-Jahren – nach des Großen Vaterländischen Krieges“ den russischen
”
Einschätzung von Yilmaz – als Avantgarde ihrer Nati- und nichtrussischen Historikern ungeahnte Möglichkeion, which was in the process of formation according ten, Nationalgeschichte als Verteidigungsgeschichte zu
”
to the best modernization and development project in schreiben und neue Helden zu kreieren, die angeblich
the world“. (S. 174) Diese Mission to drag the whole schon vor Jahrhunderten das getan hatten, was jetzt not”
country to Soviet modernity“ kontrastiert der Autor mit wendig war: das Vaterland von den deutschen Invasoder postsowjetischen Gegenwart, die er charakterisiert ren zu befreien. In erstaunlicher Distanzlosigkeit zu seials corrupt, authoritarian, and malfunctioning“ (S. 174). nem Gegenstand heroisiert der Autor den Großen Vater”
”
Gelegentlich gerät diese Heroisierung der Stalinzeit ins ländischen Krieg“ in der sowjetischen Sprache der BreWanken, wenn Yilmaz darlegt, dass ein großer Teil der schnew Zeit, einschließlich der hier ganz überflüssigen
Historiker in Kasachstan, der beauftragt war, die erste Zahlenreihen und Statistiken über sowjetische VerlusGeschichte Kasachstans zu schreiben, den Säuberungen te (S. 109ff.). Das steht in scharfem Kontrast zur weitgezum Opfer fiel (S. 92ff.). Dagegen erfährt der Leser nichts henden Ausblendung der Opfer des Stalinismus im Inneüber den lebensweltlichen Hintergrund der enthusias- ren. Der Gulag ist bekanntlich auch während des Krieges
”
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nicht verkleinert worden.
Ostsiedlung bis zur deutschen, rassistisch motivierten Invasion im Zweiten Weltkrieg (S. 54). Die deutsche Ori”
Nach 1945 wurde die Zensurschraube wieder ange- entalisierung der slawischen Völker“ sei so
prägend gezogen und der beträchtliche Freiraum, der in den Kriegs- wesen, dass sie sogar Eingang in die britische Historiojahren für die Historiker der nichtrussischen Nationen graphie zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefunden habe.
bestanden hatte, wurde drastisch eingeschränkt. Yilmaz Beinahe überflüssig zu sagen, dass es sich nach dem Ursieht das allerdings nicht so: The Second World War was
teil des Autors bei der Normanisten-Theorie – die Kiewer
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not a temporary thaw in the construction of the past.“
Rus sei eine Gründung nordischer Germanen“ – um das
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(S. 164) In einem Epilogue“ erfolgt dann aber eine halbe Werk deutscher Forscher
handelt (S. 56f.).
”
Zurücknahme dieser kühnen Aussage. Denn die Historiker in den nichtrussischen Republiken erlebten die JahDer Gründervater der ukrainischen Geschichtsre der so genannten Zhdanowshchina nach dem Zwei- schreibung Hruschewski habe dann den Kampf aufgeten Weltkrieg als attack on their national histories and a nommen against all those German and Russian-German
”
”
purge against historians who had meticulously construc- historians who described all or a part of the Slavs as
ted them since 1937“ (S. 171). Ich habe schon vor 30 Jah- Asiatic peoples“ (S. 56). Hruschewski habe eine ukrai”
ren diese radikale Demobilisierung“ der nationalen Ge- nische nationale Identität“ auf der Basis einer mono”
”
schichtsschreibung am ukrainischen Beispiel beschrie- ethnische Definition“ konstruiert. Diese ukrainische
”
ben. Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitäten- mono-ethnische nationale Identität“ sei auch heute in der
politik in der Sowjetunion. Von der totalitären Dikta- selbständigen Ukraine noch gültig (S. 64). Dies ist eine
tur zur nachstalinschen Gesellschaft, Baden-Baden 1986, grobe Fehleinschätzung der gegenwärtigen Ukraine, wo
S. 235–237. Die Kriegsjahre waren sehr wohl eine Aus- seit einem Vierteljahrhundert eine ukrainische politische
nahmesituation und eine Art Tauwetter gegenüber der Nation unter Einschluss der Russophonen entsteht.
Zeit davor und danach.
Die Monographie von Yilmaz ist eine nicht immer geYilmaz hat Recht, wenn er betont, dass sowjetische lungene Verbindung von detailversessenen Studien zur
Politik erheblich zur Nationsbildung in der Sowjetuni- Entstehung nationalhistorischer Arbeiten in den drei geon beigetragen hat. Dabei war die Konstruktion natio- nannten Unionsrepubliken und ausgreifenden, weit reinaler Geschichtsbilder von besonderer Bedeutung. Die- chenden Urteilen zum politischen Gesamtkontext, die oft
ser Sachverhalt dürfte heute – anders als vor 30 Jahren – nicht gut begründet sind. So schreibt der Autor in der
von niemandem mehr ernstlich in Frage gestellt werden. Einleitung, Stalin habe den Staatsterror effektiver ge”
Insoweit ist die Grundthese von Yilmaz zutreffend, aber nutzt als jeder andere moderne Herrscher“ (S. 1). Abgekeineswegs neu.
sehen von der Schwierigkeit, effektiven“ Terror zu defi”
nieren, der Millionen Menschenleben vernichtet hat, wie
Einen schweren Stand hat bei Yilmaz die deutsche der Autor sogleich hinzufügt, muss doch daran erinnert
Ostforschung“ (so im Original). Sie habe seit ihrer Entwerden, dass das System Stalin zugrunde gegangen ist
”
stehung im frühen 19. Jahrhundert die Orientalisierung
und sich eben nicht als effektiv“ erwiesen hat. Am Ende
”
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der Slawen“ zum Ziel gehabt. Es sei eine Grenze gezo- seiner Monographie nimmt
der Autor Stalin persönlich in
gen worden zwischen dem zivilisierten arischen Euro- Schutz. Er und die anderen Sowjetführer hätten reacted
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pa“ und den inferioren asiatischen Ländern“ (S. 55). Den to certain developments instead of leading them“”(S. 173).
”
Drang nach Osten“ (Deutsch im Original) der deutschen Entscheidend seien die außenpolitischen, geopolitischen
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Kulturträger“ (Deutsch im Original) habe die OstforFaktoren gewesen. Mit anderen Worten: Schuld an den
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schung“ zu ihrem zentralen Thema gemacht. So ergebe
sowjetischen Katastrophen waren die anderen.
sich eine direkte Kontinuität von der mittelalterlichen
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Citation: Gerhard Simon. Review of Yilmaz, Harun, National Identities in Soviet Historiography: The rise of nations
under Stalin. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. September, 2016.
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