SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Tandem Fassung vom: 20.09.2016 Autorin: Redakteurin: Assistentin: Regisseurin: Tina Saum Katrin Zipse Diana Müller Tina Saum Fußnoten Hörspiel über eine koloniale Spuren-Suche Studiobelegung: Sendung am: 20.-23.09.2016 Studio, Stuttgart Dienstag, 27. September 2016, 10.05 Uhr / 19.20 Uhr Besetzung: Sprecherin Natascha Kuch Sprecher für Michael Andreas Helgi Schmid Sprecher für Snake Yahi Nestor Gahe Diese Kopie wird nur zur rein persönlichen Information überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder Verwertung bedarf der ausdrücklichen vorherigen Genehmigung des Urhebers. © by the author 1. Anfang Musik 1 Sprecherin Keine Geschichte kann die ganze Geschichte erzählen. Kein Erzählen kann sich an alles erinnern. Kein Erzählen kann alles vergessen. Musik Erzählen will vergessen, will erinnern, will bewahren, will konservieren, will erfinden, will schweigen, will verschweigen, will sprechen, will aussprechen, will verändern. Erzählen will Erzählen. Erzählen wiederholt sich, schweift ab, widerspricht sich, unterbricht sich, wird unterbrochen. Erzählen möchte sich wiederholen, möchte sich unterbrechen, möchte unterbrochen werden. Erzählen verschenkt Geschichten, verbraucht Gefühle, verlangt Gedanken. Erzählen braucht Visionen. Erzählen braucht eine Perspektive und eine Position. Musik stoppt 2 Michael Ich bin Michael, 32 Jahre alt, in Deutschland geboren und dort lebe ich auch. 3 Snake Ich bin Snake, 26 Jahre alt, in Kamerun geboren und dort lebe ich auch. 1 4 Snake & Michael (gleichzeitig, etwas zeitlich versetzt) Ich bin auf der Suche nach kolonialen Spuren in Stuttgart. 5 Snake & Michael (gleichzeitig, etwas zeitlich versetzt) Ich bin auf der Suche nach kolonialen Spuren in Yaoundé. 6 Snake / Michael Stuttgart ist die Hauptstadt von Baden-Württemberg, einem Bundesland im Süden Deutschlands in Europa. Vermutlich erhielt die Stadt ihren Namen, weil sie als Gestüt - Stuotengarten - gegründet wurde. 7 Michael / Snake Yaoundé auf Französisch, Jaunde auf Deutsch und Ongola auf Ewondo - einer Sprache der gleichnamigen Ethnie, die bereits vor der Kolonialzeit an diesem Ort ansässig war - ist die Hauptstadt von Kamerun in Afrika. 8 Snake / Michael Stuttgart hat mehr als eine halbe Million Einwohner und einen Fluss namens Neckar. 9 Michael / Snake Yaoundé hat mehr als eine Million Einwohner und einen Fluss namens Mfoundi. 10 Snake / Michael 11 Michael / Snake Stuttgart ist hügelig. Wein wächst an vielen Hängen der Stadt. Yaoundé ist hügelig. Tropischer Regenwald umgibt die Stadt. Musik 2 2. Szene 1: Räume der Geschichte 1 12 Snake & Michael (gleichzeitlich, etwas zeitlich versetzt) Stuttgart - Obertürkheim, ein Wohngebiet. Stadtkarten aus unterschiedlichen Zeiten und ich vergleiche: 13 Snake Kamerun Straße ist Ebniseestraße, Togostraße ist Im Dinkelacker… 14 Michael Ebniseestraße war Kamerun Straße, Im Dinkelacker war Togostraße, Mirabellenstraße war Deutsch-Südwestafrika Straße,… 15 Snake Deutsch-Südwestafrika Straße ist Mirabellenstraße,… 16 Michael Aprikosenstraße war Deutsch-Ostafrika Straße. 17 Snake Deutsch-Ostafrika Straße ist Aprikosenstraße. Häuser entlang der Straßen, alle in gleichen Abständen zueinander, alle mit der Vorderseite zur Straße. In jeder Straße die gleiche Ordnung, auf der linken Seite, auf der rechten Seite. Abgeschiedenheit. Und die Welt drumherum scheint mir sehr, sehr weit weg zu sein. 3 18 Michael Vom Neckar und den Weinbergen eingerahmt, bildeten die vier Straßen zusammen das ehemalige deutsche Kolonialreich in Afrika und erzählten von Phantasien und Phantasmen, von Weltmachtsträumen Deutschlands, die nach dem 1. Weltkrieg den Boden unter den Füßen verloren hatten: Deutschland musste seinen „Platz an der Sonne“ räumen. Im Vorfeld der Vertragsunterzeichnungen in Versailles hatte eine große Mehrheit im Reichstag gegen den Verlust der Kolonien gestimmt. Aber es half nichts, man musste sie hergeben. Irgendwo dort - sehr, sehr weit weg - musste man sie hergeben, doch hier bewahrte man sie sich, schrieb sie fest in die Gegenwart, in das Gedächtnis und ließ sie wiederauferstehen: Kamerun Straße, Togo Straße, Deutsch-Südwest(afrika), Deutsch-Ostafrika Straße. 19 Snake Vögel zwitschern. Menschen spazieren durch die Straßen, Hand in Hand oder mit Hundeleine in der Hand und Hund an der Seite. Überall Blumen und Bäume, vor den Häusern, zwischen den Häusern, hinter den Häusern. Ich fühle mich wie in einem anderen Universum, dem Universum der gelben, orange-roten und violetten Blumen, der rund geschnittenen Bäume mit grünen und braunen Blättern und der dunkelgrünen Tannen - Blumen, Bäume, Blumen, Bäume, Bäume. 4 20 Michael Von 1937 bis 1946 konnte dieses imaginierte deutsche Kolonialreich als Propagandamittel der Nazis für eine erneute Kolonialpolitik bestehen, danach wurden die Straßen umbenannt. Das deutsche Kolonialreich in Stuttgart-Obertürkheim verschwand - bis auf eine Vergangenheitsspur, bis auf die Leutweinstraße, benannt nach einem Gouverneur in Deutsch-Südwestafrika. 2008 wurde dann nach langer Debatte der Name der Straße geändert. Aus der Leutweinstraße wurde „Am Weinberg“. Irgendetwas mit lokaler Verbindung war der Wunsch gewesen, der mit dem Weinberg als ganz offensichtliche, unmissverständliche Verknüpfung zur Umgebung erfüllt wurde. 21 Snake Vom Neckar und den Weinbergen eingerahmt, bilden die vier Straßen zusammen eine Welt aus Blumen und Bäumen und erzählen von Mirabellen, Aprikosen, Dinkelacker, der schwäbischen Brauerei, dem Ebnisee, einem Stausee in Baden-Württemberg und von all dem, was hier vor, zwischen und hinter den Häusern zu sehen ist. In den Straßen bewahrt man es sich, schreibt es fest in die Gegenwart, in das Gedächtnis. Atmo (Verkehr) 22 Michael Die Straße der Mangos ist eine vierspurige Durchfahrtsstraße in Yaoundé, an einem Ende liegt der Park und der Sitz des Staatschefs, am anderen Ende das Ministerium für Post und Telekommunikation. 5 23 Snake Die Straße der Mangos ist ein Stück Deutschland in Yaoundé, denn ihr Aussehen, die Art, wie sie während der deutschen Kolonialherrschaft gebaut wurde, ist anders als die meisten Straßen in dieser Stadt. Wenn ich auf der Straße der Mangos laufe, laufe ich kurz durch Deutschland. 24 Michael Mangobäume am Straßenrand, alle in gleichen Abständen zueinander, alle sehen alt aus, alle haben knorrige Stämme. 25 Snake Mangobäume am Straßenrand, die den deutschen Kolonialisten als Orientierungspunkt dienten. Yaoundé war damals noch weitläufig Regenwald, ein paar Hütten und viel Wald. Mangobäume am Straßenrand, die den Sklaven Schatten spenden und ihren Hunger stillen sollten. Von hier über Boumnyébel, Pouma, Édea, Yassa mussten die Sklaven vor allem Kautschuk, Palmöl und Elfenbein bis zur Küste schleppen. Von dort wurden sie dann nach Europa verschifft. Ich kann mir auch vorstellen, dass manche Sklaven an die Mangobäume gefesselt und öffentlich ausgepeitscht wurden. 6 Musik 26 Michael Ich laufe entlang der Mangobäume. Unter den Bäumen sitzen vereinzelt Männer, die Nummernschilder für Autos verkaufen. Werkzeug haben sie auch dabei, damit sie die Schilder direkt an die Autos schrauben können. Und einer der Männer meint zu mir, nachdem er bemerkt hat, dass ich aus Deutschland komme: Leider waren die Deutschen damals nur kurz hier. Wären sie länger hier gewesen, würde es heute bestimmt so gut funktionierende Systeme geben, dass man Kameruns Potenziale besser in der Welt entfalten könnte. Ich laufe entlang der Mangobäume. Wenigen Menschen begegne ich. Die Straße dagegen ist ein Meer aus gelben Taxen, fast nur Autos der Marke Toyota, ein paar Kleinlaster mit Aufdrucken wie Stuttgarter Hofbräu und immer mal wieder ein aufgemöbelter Benz. In den späten Abendstunden ist die Straße voll mit einem nicht abreißenden Konvoi aus Lastwagen, die Tropenhölzer bis zu den Häfen nach Douala und Kribi fahren, von wo sie dann nach Europa verschifft werden. 7 27 Snake Ich laufe entlang der Mangobäume, neben mir die Autos, ein rasendes Meer von Autos. Ich möchte vorwärts laufen, doch ich laufe zurück, das Drama ist noch nicht vorbei. Wenn ich sagen würde, das Drama ist vorbei, würde ich lügen. Verheimlicht sind die Worte. Versteckt ist die Vergangenheit in der Gegenwart. Viel zu wenig weiß man über die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft in Kamerun. Viel zu selten folgt man den Spuren der Stadt in die Vergangenheit, wenn man auf sie trifft. Immer mal wieder fällt der Kopf der Statue von Charles Atangana herunter, den manche nicht mögen, weil sie meinen, dass er durch seinen Dienst für die deutsche und französische Kolonialverwaltung Kamerun an die Europäer verkauft hat. Immer mal wieder setzt die heutige Stadtverwaltung der Statue von Charles Atangana den Kopf dann einfach wieder auf. Ich laufe entlang der Mangobäume, neben mir die Autos, ein rasendes Meer von Autos. Ich möchte vorwärts laufen, doch ich laufe zurück, das Drama ist noch nicht vorbei. Wenn ich sagen würde, das Drama ist vorbei, würde ich lügen. „Wenn du regennass bist und deine Sachen trocknen magst, so gehe dahin zurück, wo der Regen anfing dich zu durchnässen“, heißt ein Igboisches Sprichwort. Ich laufe entlang der Mangobäume, neben mir die Autos, ein rasendes Meer von Autos. Ich möchte vorwärts laufen, doch ich laufe zurück, das Drama ist noch nicht vorbei. Wenn ich sagen würde, das Drama ist vorbei, würde ich lügen. Während meine Gedanken und Geschichten über die Zukunft auf dem Asphalt nach vorne springen, stolpern meine Beine über die noch unfertige Straße zurück. 8 Während ich zurückgehe, komme ich vorwärts, komme ich in der Zukunft an. Und plötzlich spüre ich unter dem Asphalt, unter meinen Schuhen, einen Hauch der Vergangenheit und die Stadt dampft, dampft schon den ganzen Tag und die Stadt wartet, wartet schon den ganzen Tag, darauf, dass es endlich regnet und dann fängt es an zu regnen… dieser wunderschöne Regen Kameruns… Ich laufe entlang der Mangobäume, neben mir die Autos, ein rasendes Meer von Autos. Ich möchte vorwärts laufen, doch ich laufe zurück... wer weiß wohin wir gehen werden… Musikwechsel 3. Szene 2: Räume der Bilder 28 Musiker Oh, du schönes Afrika, alles was glänzt… 29 Michael Ich trete ein. Musik läuft, Menschen unterhalten sich, essen, trinken, es ist gesellig. Wände wie Erde, helle Erde, eine Zeichnung mit einem gelben Kamel an der Wand, Stühle mit Kamel- und Zebramuster bezogen, Tischdecken mit Zebramuster, Tische aus Holz, Schalen - kleine Schalen, große Schalen - alle Schalen auf den Tischen aus Holz, Tonkrüge, Holzmasken, geschnitzte Holzfiguren… 30 Musiker Oh, du schönes Europa, alles was glänzt… 9 31 Snake Ich brauche einige Minuten, um mich an alles zu gewöhnen, an die Architektur im Inneren, die ganze Atmosphäre - es ist sehr hell, eine künstliche Helligkeit durch weiße Lampen und Lampen, die beigefarbene Schirme haben. Hellgrün gestrichene Wände. Crémerie steht auf einer Wand - das Wort silberglänzend und darunter eine Menge Butter, Margarine, Käse, Frischkäse, Yoghurt. Schilder weisen die Richtung zu verschiedenen Sorten Mehl, Essig, Öl, Wein, Champagner, Salz und Suppen. Während ich mich umschaue, bemerke ich die Verwandlung der Menschen, mit denen ich vor wenigen Minuten hereingekommen bin: Ihre Bewegungen sind plötzlich ganz anders, sie bilden eine Einheit mit ihrem Einkaufswagen, den sie vor sich herschieben, den sie hinter sich herziehen, entlang an den immer länger werdenden Regalen mit Produkten, Produkten, Produkten, Produkten, Produkten. 32 Musiker Oh, du schönes Afrika, alles was glänzt… 33 Michael … bunte Tücher, bunte, große Teppiche, bunte, große Sitzkissen, Sand auf dem Boden, leere Konserven als Lampen an der Decke, Ingera (Hirsefladenbrot) und Gari (gestampfte Maniokwurzel) auf dem Teller, Krokodil-, Zebra-, Antilopen-, Oryx- , Python-, (aber nur auf Vorbestellung!) und Straußenfleisch werden als exotische Gerichte und als Attraktion angepriesen. 10 Ambiente Afrika, ein Restaurant in Stuttgart, spiegelt eines meiner Afrikabilder wider, das sich aus Kindheitserinnerungen zusammensetzt: meinen Büchern von dem Abenteurer Rüdiger Nehberg, meinen Bilderbüchern von „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, dem geschnitzten Trio aus Antilope, Elefant und Löwe, das meine Mutter im 3. Weltladen gekauft und auf den Wohnzimmerschrank gestellt hatte, einem angsteinflößenden Krokodil im Zirkus und meinen vielen selbstgebauten Hütten im Wald, der für mich zum afrikanischen Urwald wurde. 34 Musiker Oh, du schönes Europa, alles was glänzt… 35 Snake Frauen bleiben vor den Modezeitschriften stehen, blättern darin, auf allen Titelseiten nur Frauen mit weißer Hautfarbe und langen, leicht gelockten blonden oder braunen Haaren. Ihre eigene Haut ist gebleicht. In ihren Haaren entdecke ich künstliche Haarteile, die wie europäisches Haar aussehen. Manche Frauen tragen auch eine Perücke aus europäischem Haar, unter der die eigenen Haare völlig verschwinden. Um ihre Handgelenke tragen sie Uhren von einem - wahrscheinlich - Gucci-Imitat, an ihren Füßen Schuhe von Adidas. Ihre Körper sind eingepackt in Second Hand TShirts von H&M und in Second Hand Hosen von Zara. Um ihre Hüften Gürtel von Dolce & Gabbana. Während ich an ihnen vorbeigehe, rieche ich Yves Saint Laurent. 11 Casino, eine französische Supermarktkette in Yaoundé spiegelt eines meiner Europabilder wider, das mir täglich in abertausenden Versatzstücken begegnet: in Modezeitschriften von Freundinnen, Musikvideos im Internet, in Filmen, Büchern und auf Werbeplakaten in der Stadt, in Menschen aus dem Café Moulin de France und anderen europäischen Orten in Bastos, einem Quartier in Yaoundé, in dem eigentlich nur Menschen wohnen, die wir „babah“ und „mouna for tété“ nennen, was letztlich einfach nur die Reichen und die Kinder von den Reichen meint. 12 36 Michael & Snake (gleichzeitig, etwas zeitlich versetzt) In den Lauf der Geschichte eingebettet, reiche ich die Bilder, die immer wieder gleichen Bilder, weiter. Im Lauf der Geschichte stelle ich die Bilder, die immer wieder gleichen Bilder, zwischen unsere Begegnungen. 37 Michael Verstrickt in die immer wieder gleichen Bilder ist schon viel gedacht, ist schon viel gesagt, 38 Snake bevor ich überhaupt etwas gedacht, bevor ich überhaupt etwas gesagt habe. 39 Michael Wir verkennen uns durch die immer wieder gleichen Bilder und nehmen uns die Chance uns kennenzulernen. (kurzer Stopp) 40 Snake Und weiter dreht sich der Lauf der Geschichte mit den Bildern, den immer wieder gleichen Bildern, 41 Michael die nicht falsch sind, 42 Snake aber doch auch nicht richtig 43 Michael & Snake (gleichzeitig, etwas zeitlich versetzt) Und bin ich nur damit beschäftigt, ihnen zu entsprechen, zu widersprechen, zu entsprechen, zu widersprechen…? Musik stoppt 44 Michael Oh, du schönes Afrika, alles was glänzt… 13 45 Snake Oh du schönes Europa, alles was glänzt… 46 Michael pfeift 4. Szene 3: Räume der Kultur Zwischenspiel 1 47 Snake Ich bin Raoul Zobel Tejeutsa alias Snake, 26 Jahre alt, in Kamerun geboren und dort lebe ich auch. Ich bin Tänzer und Choreograph. Ich kommuniziere mit meinem Körper, er drückt meine Gedanken und Gefühle aus, mit ihm fange ich Einflüsse meiner Umgebung ein das, was mich umgibt, was ich annehme, was ich ablehne, woran ich zweifle. Snake nenne ich mich und jeder, der meine Bewegungen kennt, weiß, warum ich so heiße. Ich performe am liebsten an großen Straßenkreuzungen, da wo ich den Zusammenprall von Raum auf Zeit und von Zeit auf Raum am deutlichsten spüre. Ich möchte tanzen - in Afrika, in Europa. 14 Ich bin für diese koloniale Spuren-Suche zum ersten Mal nach Europa gereist, wo ich auch meine Performances gezeigt habe. Ob ich weiß oder schwarz bin, das ist eine Frage, die mich in meiner Identität beeinflusst; die Hautfarbe hat bis heute eine große Aussagekraft. Wichtiger als die Hautfarbe ist aber für mich die Frage, was afrikanisch und was europäisch bedeutet und wie die Antworten darauf meine Persönlichkeit prägen. 48 Michael Ich bin Michael, 32 Jahre alt, in Deutschland geboren und dort lebe ich auch. Ich bin gelernter Koch und Bildender Künstler. Das Kunststudium habe ich letzten Sommer beendet und mache seither wieder Musik. Mit dem Musizieren bin ich zu etwas zurückgekehrt, das ich vor dem Studium in fast jeder freien Minute gemacht habe. An einer Kunst-Karriere gezielt zu arbeiten interessiert mich nicht. Ich wünsche mir ohne Zeit- und Leistungsdruck künstlerisch arbeiten zu können. 15 Ich bin für diese koloniale Spuren-Suche zum ersten Mal in ein afrikanisches Land gereist. Weil ich mich jahrelang leidenschaftlich für Hip Hop, Rap, Graffiti, Breakdance, Basketball und so weiter interessiert habe, hatte ich bisher eher eine Verbindung zu Afroamerikanern als zu Afrikanern in Afrika. Um Menschen zu unterscheiden, wurde aus einer Vielzahl an Möglichkeiten auch die Hautfarbe ausgewählt und mit Merkmalen und einer Symbolik verknüpft, die bis in die Antike zurückverfolgt werden kann: schwarz und weiß wurden in Europa zum klassischen Gegensatzpaar konstruiert. Wie wichtig ist die Hautfarbe für mich, für meine Identität? Ich denke, weiß zu sein hat mich bisher nicht beeinflusst. Während meines Aufenthalts in Yaoundé war das anders, denn dort wurde mir mehrmals auf den Straßen „le blanc!“, „le blanc!“ hinterhergerufen. Musik 49 Michael & Snake (gleichzeitig, etwas zeitlich versetzt) Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde: Afrika-Ausstellung. Die Sammlung mit Objekten aus Afrika ist nach Regionen gegliedert. 50 Michael & Snake (Snake spricht Kommentare in Klammer) „3 rituelle Pfeifen aus Oku, Kamerun“ Übrigens Oku: die Fassade des Palastes des Königs von Oku steht nachgebaut im Museum (Foto gemacht von der Palastfassade des Königs von Oku) 16 „2 Kämme aus Holz“ (Kämme - kenne ich) „1 Mütze mit Glasperlen“ „1 Gürtel mit Glasperlen“ (ein Gürtel - hübsch) „1 Medizintäschchen mit Glasperlen“ und noch eins und noch eins „1 Tontopf zum Kochen mit Deckel“ „1 Tonscherbe“ (eine Scherbe - aha) „Musikinstrumente (Sansa) aus Holz der Ekoi, Kamerun“ (Sansa - die mag ich sehr) „1 doppelgesichtige Maske aus Holz, das mit Antilopenhaut überzogen ist: Darstellung eines berühmten Kriegshelden (dunkel) und seiner Frau (hell).“ Ich entdecke ein janusköpfiges Objekt, eine Maske, die mir gefällt: Ihr Gesicht hat eine hellbraune Hautfarbe, einen leicht geöffneten Mund mit weißen Zähnen, schmale Schlitze als Augen, gestreifte, nach oben gebogene Hörner an beiden Seiten des Kopfes. Hinter der Maske ist ein Spiegel angebracht, so dass man ihre andere Seite betrachten kann, auf der auch ein Gesicht zu sehen ist, das allerdings eine deutlich dunklere Hautfarbe hat. Ich erinnere mich, dass ich mit ungefähr 22 unter dem Namen JanusJanus alle bis dahin unabgeschlossenen Songs zu einer letzten Veröffentlichung zusammengeführt habe, um damit meine Ära als Rapper zu beenden. Ich erinnere mich auch an zahlreiche Janusbüsten, die ich mir mal im Vatikan angeschaut habe. Dieser Gott Janus hat mich schon immer fasziniert, bis heute - der Gott der Gegensätze ist für mich auch ein Symbol der Doppelgesichtigkeit 17 des Menschen. Ich habe diese Figur bisher nur mit der römischen und griechischen Antike in Verbindung gebracht. Wie es sich damit in Afrika verhält, weiß ich nicht. 51 Snake Ich erkenne verschiedene Masken sofort wieder. Vertrautes in fremder Umgebung. Vertraute Objekte verbunden mit mir fremden Worten; bis auf einzelne Ortsnamen oder Namen mir bekannter Ethnien. Viele der Masken stammen aus dem Westen Kameruns, wo ich aufgewachsen bin: Wie beispielsweise diese doppelgesichtige Maske aus Holz, die, glaube ich, die beiden Seiten eines Landes Tradition und Moderne - symbolisiert. Doch jede Maske ist mit einer Vielzahl an Bedeutungen verbunden, die von den verschiedenen Ethnien und Zeremonien abhängen. Während ich umhergehe, erinnere ich mich an Zeremonien, an denen ich teilgenommen habe, spüre ich die traditionellen Tanzriten, höre ich die Musik. Ich sehe die Masken in den Vitrinen gleichzeitig an den Wänden mir bekannter Häuser von meiner Familie und Freunden hängen. Die Masken sind dort zum Schutz gegen böse Geister angebracht, die die reinen Seelen aufessen wollen. Zu all diesen Objekten, den Masken und allem anderen, habe ich kein besonderes Verhältnis. Sie zeigen Teile einer Tradition, mit der ich aufgewachsen bin. Musik stoppt 18 5. Zwischenspiel 2 52 Snake Tradition ist für mich die Wurzel einer Identität; meine Tradition verbindet mich mit meiner Herkunft, meinen Vorfahren. Ich gehöre zu Bamiléké, einer Ethnie in Westkamerun. Ich bin aber auch Christ. Ich glaube an die Bibel, an das Christentum. Ich spreche Dschang. Ich spreche aber auch französisch. Tejeutsa ist der Name meines Großvaters, der Name des Vaters meiner Mutter. Unsere Tradition besagt, dass die Kinder den Namen der Großeltern tragen müssen, damit diese über ihren Tod hinweg unter den Lebenden sein können. Raoul und Zobel sind dagegen europäische Namen. 19 53 Michael Ich bin aufgewachsen in einem winzigen Dorf am Bodensee, im Süden Deutschlands: Wälder, Wiesen, das Wasser. Heimatgefühle stecken in mir, mein Herz entspannt sich am Bodensee, das ist das, was ich kenne: eine wirklich gute Brezel essen, den Dialekt, den ich gerne höre, aber nicht sprechen kann, die alemannische Fasnacht. Obwohl ich keine Gottesdienste besuche und mich auch sonst nicht für die Kirche engagiere, halte ich mich trotzdem für einen Christen. Weil viele meiner ganz selbstverständlichen Umgangsformen aus der christlichen Tradition kommen. Musik 54 Michael & Snake (gleichzeitig, etwas zeitlich versetzt) Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde: Afrika-Ausstellung. Die Sammlung mit Objekten aus Afrika ist nach Regionen gegliedert. 55 Michael „Wehrgehänge: 1 Pulverflasche und 1 Patronentasche aus Fell, Baumwolle, Pflanzenfasern und europäischen Messingglöckchen der Ekoi, Kamerun“ „1 Königsstoff aus Baumwolle, auf dem ein Grundriss der königlichen Residenz von Bamum abgebildet ist. Der Stoff stammt aus dem Besitz von Königen und höfischen Würdenträgern, Kameruner Grasland“ 56 Michael Zusammengestellt ergeben all diese Objekte - profan, religiös, kultisch, künstlerisch - ein Afrikabild für mich, das nicht alle 20 Geschichten aus der Vergangenheit erzählt, das in den Zeilen manchmal schweigt und zwischen den Zeilen manchmal spricht. 6. Szene 4: Räume der Geschichte 2 57 Michael & Snake (gleichzeitig, etwas zeitlich versetzt) entdecken, Bedeutungen: 1. etwas bislang Unbekanntes finden / 2. etwas Verborgenes, etwas, das man gesucht hat, finden, ausfindig machen / 3. unvermutet auf etwas stoßen - nachgeschlagen im Duden. 21 Musikwechsel (Musik wie in Szene 1, Stuttgart-Teil) 58 Michael Stuttgart-Obertürkheim, ein Wohngebiet: Ich versuche zu klären, was die Verbindung zwischen Obertürkheim und den ehemaligen deutschen Kolonien so stark gemacht haben könnte, dass so viele Straßen nach ihnen benannt wurden. Ich gehe umher, schaue mich um, finde nichts und lese deshalb nach: „[Kamerun entwickelte sich] unter deutscher Herrschaft zur größten Plantagenkolonie im westafrikanischen Raum. Vor allem der Anbau von Kakao erwies sich als einträglich, während Experimente mit Kaffee oder Tabak ohne Erfolg blieben. Ökonomisch war Kamerun für Deutschland die wichtigste Kolonie, aber der Großteil der Exporte wurde innerhalb der einheimischen Wirtschaft erzeugt; der Beitrag der Plantagen blieb trotz aller Investitionen gering. Vor allem Kautschuk, das in der Elektro- und Automobilindustrie nachgefragt wurde, aber auch Palmöl und Palmkerne gehörten zu den Produkten, die in langen Trägerkarawanen und häufig unter Einbeziehung [von] Zwischenhändler aus dem Hinterland an die Küste transportiert wurden.“ Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008. Ich gehe erneut umher, schaue mich um und finde vielleicht zwei Verbindungen zur kolonialen Geschichte Deutschlands: Kautschuk und Kakao. Unweit von Obertürkheim ist in Stuttgart-Untertürkheim das Daimler Werk. Kautschuk für die Autoindustrie? Unweit von 22 Obertürkheim war in Stuttgart-Untertürkheim von 1898 bis 1975 das Unternehmen Eszet. Kakao für die Herstellung von Schokolade? Eszet wurde anschließend von Stollwerk aufgekauft. Eszet-Schnitten sind bis heute im Supermarkt erhältlich und die Haltestation Eszet der U-Bahnlinie 13 erinnert an diesen vergangenen Teil Stadtgeschichte als Stuttgart noch die Schokoladen-Metropole war. Ich kann nur durch Abstraktion - durch Informationen, die ich recherchiere - versuchen, eine Verbindung zur Kolonialgeschichte und zu Afrika herzustellen. Unsichtbar bleibt sie vor Ort, sowohl in Ober- als auch in Untertürkheim. Ob Kautschuk oder Kakao: Nicht mit dem Ort wo man sie anbaut, sondern mit dem Ort, wo man sie weiterverarbeitet, wird Identifikation geschaffen. Und es werden damit Geschichten erzählt, denen der Anfang fehlt. 23 59 Snake & Michael (gleichzeitig, etwas zeitlich versetzt) entwickeln, Bedeutungen: 1. allmählich entstehen, sich stufenweise herausbilden / 2. In einem Prozess fortlaufend in eine neue (bessere) Phase treten / 3. allmählich unter bestimmten Bedingungen zu etwas anderem, Neuem werden - nachgeschlagen im Duden. Musikwechsel (Musik wie in Szene 1, Stuttgart-Teil) 60 Snake Stuttgart-Obertürkheim, ein Wohngebiet: Ich versuche zu klären, was die Verbindung zwischen Obertürkheim und den ehemaligen deutschen Kolonien so stark gemacht haben könnte, dass so viele Straßen nach ihnen benannt wurden. Ich gehe umher, suche und finde eine Kirche, die mich sogleich an Kirchen in Kamerun und in anderen afrikanischen Ländern erinnert. Atmo / Kirche In Yaoundé wird heute immer mehr und mehr und mehr Christentum produziert, jeden Tag eine neue Kirche, jeden Tag eine neue Kirche, die in ihrer Erscheinung noch gewaltiger ist. Während sonntags Tausende Menschen in die Kirchen strömen, um zu beten, um zu singen - beten, singen, beten, singen, beten - ziehen die Propheten des Glaubens ihnen das Geld aus den Taschen. 61 Snake Von dem zeitgenössischen Schriftsteller Alain Mabanckou aus Kongo gibt es ein gutes Zitat, das ich neulich in einem Film aufgeschnappt habe: „Die Weißen kamen mit der Bibel. Wir hatten den Boden. Sie haben uns gelehrt mit geschlossenen Augen zu 24 beten und als wir sie wieder öffneten, hatten sie den Boden und wir die Bibel.“ 7. Szene 5: Räume der Kunst 62 Michael Ich treffe auf Kunst aus Europa im Othni, einer experimentellen Theater- Tanz und Musikproduktionsstätte, die 2010 in Yaoundé gegründet wurde. Snake trainiert dort und ich wohne da während meines Aufenthalts in der Stadt. Othni liegt auf einem der vielen Hügel der Stadt. Vom Theatersaal hat man einen fantastischen Ausblick auf das darunter liegende Tal. Weil das Haus von den Rosenkreuzer gebaut wurde und deshalb als verflucht gilt, bleiben angeblich einige Menschen dem Theater fern. Martin Ambara, ein Theaterregisseur und Choreograph aus Kamerun, der in Belgien lebt, leitet das Othni. Zwischen Europa und Afrika hin- und her pendelnd, bringt er Theatertexte aus Europa zum Othni, arbeitet mit lokalen Künstlern und organisiert Kooperationen zwischen Künstlern vor Ort und Künstlern aus Europa. Werden aber auch mal mehr Künstler aus Europa nach Afrika reisen, nicht, um interkulturell zu arbeiten, sondern um ihre Werke zu zeigen? Wo finde ich in Yaoundé Kunst aus Europa? Musikwechsel (Musik wie in Szene 3) Ich mache mich auf die Suche… 25 63 Snake Michael fragte mich nach einem Ort in Yaoundé, wo Werke von Künstlern aus Europa ausgestellt werden. Ich mache mich auf die Suche… 64 Michael Während ich durch Yaoundé gehe, frage ich bei jeder Gelegenheit nach einem Ort, an dem europäische Kunst ausgestellt wird. 65 Snake Ich frage befreundete Künstler, keiner weiß was. In Douala ist das anders, da gibt es solche Orte, aber hier in Yaoundé… 66 Michael Vielleicht gibt es einen Ort nahe des Instituts francais, eine Art art gallery. Ich habe diese art gallery aber noch nicht gefunden. Sonst, sagen hier alle, müsse man dafür nach Douala gehen... 67 Snake Egal mit wem ich spreche, es kann sich keiner erinnern, dass es mal eine Ausstellung in Yaoundé gegeben hat, die zeitgenössische Kunst aus Europa zeigte. In Yaoundé gibt es keinen solchen Ort. Musik stoppt 8. Ende 68 Michael „Ich bemerke nur, dass der Lieutenant Tappenbeck und ich eine Station im größeren Maßstabe auf dem Innerafrikanischen Plateau zwischen den Flüssen Yong und Zannaga an dem Platze angelegt haben, der auf der Karte mit dem Namen Epsumb bezeichnet ist (3° 48' N.).“ 69 Snake Vor mehr als 100 Jahren, am 4. April 1889 schickte der Offizier und Forschungsreisende Richard Kund diese Worte nach Deutschland. 26 70 Michael Im Auftrag der deutschen Kolonialverwaltung wurde unter der Leitung von Richard Kund die Forschungsstation Jaunde an der Stelle gegründet, wo sich auch in der Nähe das Dorf des EwondoChefs Essono Ela an der nördlichen Regenwaldgrenze befand. Essono Ela hatte ihnen die Genehmigung dazu erteilt, weil er sich ökonomische Vorteile und einen besseren Schutz gegenüber anderen Gemeinschaften versprach. Von dort aus sollten dann andere Gebiete Kameruns erobert werden. 71 Snake Epsum wurde Yaoundé zuerst genannt, was übersetzt so viel heißt wie „bei Essomba“. Jaunde geht anscheinend auf ein Missverständnis zurück: Während Kund und sein Team durch die hügelige Landschaft zogen, fragten sie Menschen, denen sie begegneten, wo sie denn gerade wären und diese antworteten: „Mia wondo“. Kund und sein Team verstanden so etwas wie „Jawondo“, „Jewondo“, „Jaunde“, notierten das Wort und zogen weiter. Aber die Menschen hatten nicht den Ort, sondern sich selbst vorgestellt, denn sie sagten eigentlich, dass sie Erdnusspflanzer seien. Beides gibt es heute noch: das Missverständnis und die Erdnusspflanzer. Ongola, wie Ewondo-Sprecher die Stadt nennen, bedeutet so viel wie „Zaun“ und soll daran erinnern, dass die ersten Vorstöße der Europäer verhindert wurden. 72 Michael Unter der Leitung des Offiziers Hans Dominik wurde die Station 1895 in eine Militärstation umgebaut und danach weiter ausgebaut. In der 27 Umgebung der Station entwickelte sich dann die Stadt Jaunde auf Deutsch, Yaoundé auf Französisch und Ongola auf Ewondo. Musik (wie am Anfang) 73 Sprecherin Damit begann eine folgenreiche Geschichte, die noch nicht zu Ende erzählt ist, denn keine Geschichte kann die ganze Geschichte erzählen. Kein Erzählen kann sich an alles erinnern. Kein Erzählen kann alles vergessen. 28
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