Schauspielschüler - das unbekannte Wesen Oder „dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist“ von Jan Langenheim Was ist anders, wenn man mit Schauspielschülern arbeitet statt mit fertigen Schauspielern? Gar nichts, habe ich gerade den Studenten in einem Vorbereitungsgespräch gesagt. Sie stehen auf einer Bühne, sie sind Schauspieler; ich sitze hinter meinem Tisch mit dem Papier und den Kaffeetassen, ich bin Regisseur. Und das ist natürlich wahr. Und glatt gelogen. Nicht, weil Schauspielschüler weniger können. Wahrscheinlich können sie viel mehr von den Dingen, die man so können kann auf einer Bühne, als alle anderen. Gehen und Stehen; Singen und Tanzen; Fechten und Feldenkrais alles ganz frisch, und im Zweifelsfall ist der entsprechende Pädagoge eine Tür entfernt. Kein Zu Wenig also, ganz bestimmt nicht. Ein Zu Viel? Sicher manchmal. Aber vor allem einfach: Viel! Viel Energie, natürlich. Viel Neugier, hoffentlich. Viel Phantasie, wahrscheinlich. Viel Spaß, bitte! Und ganz bestimmt: Viel Angst. In der Mitte einer Schauspielausbildung weiß man genug, um die Tiefe der Abgründe zu ahnen, die in jeder Bühne lauern - und zu wenig, um all die albernen, kleinen Behelfsbrücken zu kennen, mit denen man sich im Notfall über fast jeden Abgrund hinwegsetzen kann. Zumindest über die auf der Bühne. Man hat eine sehr genaue Vorstellung von dem, was gehen kann und sollte auf einer Bühne - viel klarer als später jemals wieder. Und man hat sehr greifbare Erfahrungen, wie schnell und wie sehr alles danebengehen kann. Und wie nah eigentlich beides beieinander liegt. Für Schauspielschüler gibt es Tage, an denen sie nicht mehr wissen, an welchem Körperteil genau ihre linke Hand angebracht ist. Und welche psychomotorische Technik und welchen Teil ihres emotionalen Gedächtnisses sie aktivieren müssen, um sie zu heben. Einmal wieder so gut sein wie beim Vorsprechen, ein unerreichbarer Traum. Jede Selbstsicherheit, jede Freiheit, jeder Instinkt zerbröselt in ununterbrochener Selbstbeobachtung und dauerndem Sich-selbstin-Frage-stellen. Damit man dann irgendwann, wenn die Hand wieder da ist, wo sie immer war, weiß, dass sie da ist. Und warum. Und es vergessen kann. Und nie wieder darüber nachdenken muss, wie man sie aus der Tasche bekommt. Und damit man nicht mehr ganz so kalte Füße bekommt, wenn jemand anderes einen in Frage stellt. Auch wenn man nicht alle Antworten weiß - kaum eine Frage, die man sich nicht schon mal selber gestellt hat. Das hilft. Irgendwann. Später. Eine ganze, gemeinsame Produktion für echte Zuschauer in einem echten Theater ist also so eine Art Urlaub in der Zukunft. Eine Reise. Ein Abenteuer. In dem man als Regisseur vielleicht ein bisschen andere Seekarten braucht als sonst. Vielleicht müssen sie ein bisschen genauer sein - aber man muss sie auch besser verstecken, vor allem vor sich selbst. Um noch weniger als sonst den Blick zu verlieren für jeden Einzelnen da auf den Brettern, die man so gerne mit nautischen und anderen großen Vergleichen beschreibt. Um nicht bei jeder Untiefe gleich den rettenden, kleinen Kniff parat zu haben, mit dem man ihr garantiert entkommt. Der garantiert nicht wirklich hilft - und jemandem die Chance nimmt, einen Fehler zu machen. Der dann wahrscheinlich gar keiner ist. Fast alles, was das Leben wirklich weiterbringt, ist streng genommen ein Fehler - da nehmen sich Theater und Biologie nichts. … dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist steht so oder so ähnlich in feinen Neonbuchstaben am Stuttgarter Hauptbahnhof - der Satz sollte dringend über allen Eingängen zu allen Probebühnen der Welt angebracht werden. Trotzdem darf das Schiff natürlich nie auf Grund laufen - dann hat es sich mit der Freiheit und dem fröhlichen Irrtum. Alle Freiheit für die auf den Brettern - also nicht allzu viele Fehler auf der Brücke! Der größte Irrtum, dem der Regisseur einer Schauspielschul-Produktion aufsitzen kann, ist vielleicht der, zu vergessen, dass er Regisseur ist. Und kein Hilfspädagoge. Natürlich denkt man viel mehr als sonst über die Akteure selbst nach und darüber, wie man ihnen ein möglichst aufregendes, produktives Erlebnis auf der Bühne verschaffen kann. Um sie geht es; um die letztgültige und gleichzeitig superaktuelle Deutung von, sagen wir mal, Hamlet, die eigene Unsterblichkeit und die Zuschauer erst weit danach. Aber natürlich kann man noch so viele tolle Sachen für sich selbst entdecken, erleben und ausprobieren - wenn man keinen Weg findet, die Zuschauer an diesem Erlebnis teilhaben zu lassen, bleibt von den aufregendsten Erlebnissen der Proben nur die frustrierende Erfahrung, dass man nirgendwo so alleine sein kann wie auf einer Bühne. Selbst wenn man zu acht ist. Und wieso sollte eigentlich die Chance kleiner sein, mit einer Schauspielschulklasse die letztgültige Hamlet-Deutung zu finden, als mit irgendjemand anderem? Was ist also das Besondere an einer Arbeit mit Schauspielschülern? Gar nichts. Ich freue mich sehr darauf! zwischen tiefer einsamkeit und äußerster euphorie - der erlebnisort bühne spektrum 14 33
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