2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Die „Internationale“ auf dem Newski-Prospekt Lena Kusmenoks Widerstand gegen den russischen Kapitalismus Autorin: Antje Leetz Redaktion: Nadja Odeh Regie: Maria Ohmer Sendung: Montag, 26.09.16 um 10.05 Uhr in SWR2 Wiederholung aus dem Jahr 2015 __________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. In jedem Fall von den Vormittagssendungen. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de ___________________________________________________________________ 1 MANUSKRIPT MUSIK A: CD 01, ab 00.35 – 1.05 Angara-Lied, nur Summen. Wenn Summen zu Ende, aus Lied rausgehen. Soll unter Erzählerin liegen. Verbinden mit: ATMO 01: 3'26'' Zug von Moskau nach Petersburg und Einfahrt in Petersburg. Darauf Erzählerin. ERZÄHLERIN: Ich sitze im Schlafwagenexpress „Roter Pfeil“ von Moskau nach Sankt Petersburg. Lena will mich vom Bahnhof abholen. Ob ich sie wiedererkenne? Vor 23 Jahren habe ich sie bei Moskauer Freunden flüchtig kennen gelernt. Aber oft an sie gedacht. Was mag aus der damals 24 jährigen Studentin der Moskauer Filmhochschule geworden sein? „Einen wahrhaftigen Film über unser Leben drehen! Das ist mein Traum!“, hatte sie damals gesagt. Ihre Begeisterung war ansteckend. (bis hierher reicht Summen von Musik A; optional: Melodie geht über in leises Singen der „Internationale“) Im August 2013 habe ich Lena Kusmenok im russischen Internet wiedergefunden. Auf YouTube stieß ich zufällig auf eine Frau, die Lena sehr ähnlich sah. Sie sang auf dem Newski-Prospekt in Sankt Petersburg die „Internationale“. Ich schrieb ins Blaue hinein an die angegebene Adresse eine Mail: Sind Sie wirklich die Lena, die ich 1992 in Moskau kennenlernte? Die Antwort kam prompt: ZITATORIN (LENA): Ja, ich bin‘s. Ich wohne jetzt in St. Petersburg und arbeite als freiberufliche Verlagsredakteurin. Aus meinem Film ist nichts geworden. Ich war verheiratet, aber mein Mann ist vor sieben Jahren gestorben. Wenn Sie mal in der Nähe sind … Meine Adresse: Chaussee der Revolution Nummer 50. Ich kann Ihnen eine winzige Kammer anbieten und ein Bett ohne Beine. ATMO A: CD 02 Koffer-Atmo mit Lenas Stimme, darauf Erzählerin. Bis: 00.30 1'29'' 2 ERZÄHLERIN: Und jetzt sitze ich wundersamerweise in Lenas winziger Parterre-Wohnung in der Chaussee der Revolution. Der Straßennamen stammt noch aus der sowjetischen Zeit. Lena will mir etwas Wichtiges zeigen. Sie holt aus der Kammer einen Koffer. O-TON LENA , CD 03: Mit Vorlauf. Oi! Predstawljajete! Computer i bumaga! Wot rasniza! 1'06'' LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Oje! Das ist der Unterschied zwischen Papier und Computer! O-TON LENA A läuft als Atmo weiter: Lena öffnet den Koffer und redet. ATMO B, CD 04 Lautes Geräusch des Kofferschlosses. Einbauen. 26'' ERZÄHLERIN: Ich betrachte sie neugierig aus den Augenwinkeln. Den dicken Zopf von damals hat sie nicht mehr. Ihr Haar ist kurzgeschnitten. Eine knabenhafte, aber auch sehr weibliche Frau. Mitte vierzig muss sie jetzt sein. Lena hievt den schweren abgewetzten Koffer auf den Tisch. Sie sei zwar mager, lacht sie, aber kräftig sei sie schon. Sie öffnet das Schloss. Ein Haufen Erzählungen, Gedichte. Von ihr selbst und von ihren Freunden. Die Manuskripte kommen aus einer längst vergangenen Epoche. Für Lena jedoch haben sie unendlichen Wert. Was für Hoffnungen auf ein neues Leben hatten sie damals! Lena holt ein Buch heraus, das ihr besonders teuer zu sein scheint. O-TON LENA B: CD 05 33'' Eto rukami napisano. Wot eto rukodelnaja knishka, kotory delal moi mush jestscho do togo kak on slomal spinu. Wot maschinopisnoje isdanije. Wot maschinopisnoje isdanije. Ja ich naxerokopirowala. I wot takim obrasom my delali 10 exemplarow knishek. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Es ist handgeschrieben. Ich habe die Seiten selbst zusammengenäht. Es stammt von meinem Mann, Sergej Owetschkin. 3 Da hatte er sich noch nicht das Rückgrat gebrochen. Und von d i e s e m Schreibmaschinenexemplar hier habe ich Kopien gemacht, und wir haben 10 Exemplare hergestellt. MUSIK A: Ab 1:05 im Hintergrund. Bis 1:40 oder noch eine Strophe länger. Darauf Erzählerin. ERZÄHLERIN: Ich erfahre, dass Lena mit 16 die Schule schmiss, ein Hippie-Mädchen wurde und mit der Gitarre durchs Land zog. 1992, als ich sie kennen lernte, wollte ich eine Erzählung von ihr für einen deutschen Verlag übersetzen. Aber sie lehnte ab! Es gäbe nichts Höheres, sagte sie damals, als die Geschichten im Kreis der Freunde vorzulesen, in ihrer Kommune. Es war ihr nicht wichtig, im Ausland zu erscheinen. O-TON LENA 03: 45'' Ja rodilas w maje 1968. W samom lutschem godu, w samom lutschem mesjaze, w samoi jego seredine. Eto god, kogda byli kak ras revoljuzionnyje wolnenija studentscheskoi molodjoshi wo Franzii, o tschom ja usnala nemnoshko posdnee. Rodilas ja w gorode Minske. W semje sowjetskich ingenierow. W rabotschem rayone. Kogda mnje chotelos usnat, kak shiwut ljudi na samom dele, ja perewelas is matematitscheskoi schkoly, kuda wsech chuliganje rayona popali. Ostalnaja biografija byla etim neskolko opredelena. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Ich wurde im Mai 1968 geboren. Im schönsten Jahr, im schönsten Monat, denn 68 begannen die revolutionären Unruhen der Studenten in Frankreich, wovon ich erst später erfuhr. Ich kam in Minsk zur Welt. In einer sowjetischen Ingenieurfamilie. In einem Arbeiterbezirk. Und weil ich irgendwann wissen wollte, wie die Menschen in Wirklichkeit leben, wechselte ich von meiner Mathematikschule in eine, in der alle Rowdys der Gegend ihr Unwesen trieben. (Ironisch) Das hat meine Biografie auf Weiteres geprägt. MUSIK 02 – verstimmtes Klavier 4 ERZÄHLERIN: Die spartanisch eingerichtete Wohnung, in der ich die nächsten fünf Tage leben werde, besteht aus einem Wohnzimmer, Bad, der angekündigten Kammer mit dem „Bett ohne Beine“ und einer Küche. Das Zimmer ist vollgepfropft mit Schreibtisch samt Computer, Schlafsofa, Bücherregalen, Klavier und Fahrrad. Mit den Honoraren, die Lena für Redaktionsarbeiten von verschiedenen Verlagen bekommt, kann sie sich gerade so über Wasser halten. ATMO 04: Wir schauen uns Fotos auf dem Computer an. Lena erklärt. 1'16'' ERZÄHLERIN: Lena hat den Computer eingeschaltet und zeigt mir alte Fotos. O-TON LENA 04: 33'' Ja wot eto. Eto primerno w to wremja, kogda my widelis w posledni ras. Autorin: U was wsegda byli dlinnyje wolos? Lena: Sejtschas ja wam pokashu …Eto ja, kogda pisala swoi perwy rasskas, no tschut posshe. Wygljadela ja wot tak. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: So sah ich aus, als wir Beide uns zum ersten Mal gesehen haben. Und so sah ich aus, als ich meine erste Erzählung schrieb. ERZÄHLERIN: Ein blutjunges Mädchen mit hochgesteckten Haaren, das herzlich lacht. Man sieht ihr an, dass sie sich nichts vormachen lässt. So ähnlich war auch die Heldin ihrer ersten Erzählung, die Lena mit 16 schrieb. Sie hieß Malina und lehnte sich gegen die autoritären Strukturen in ihrer Schule auf. Während der Perestroika waren viele Tabus gefallen. Und so konnte die Erzählung 1987 in der Zeitschrift „Rabotschaja Smena“, „Arbeiterjugend“ erscheinen. Lena lebte da noch in Minsk. O-TON LENA 05: 26’’ Oni polutschili bolschoi resonanz u molodjoshi, kotory nikak ne oshidala, schto protschitaw uwidet sebja w kakom to serkale. Shurnal polutschil bolschuju ljubow w massach. Ja polutschila sotni pisem, korobki pisem. Kak polutschali geroi estrady. 5 LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Bei jungen Leuten stieß die Erzählung auf große Resonanz. Sie fanden sich in dem Text wieder, wie in einem Spiegel. Die Zeitschrift war mit einem Mal sehr beliebt. Und ich bekam körbeweise Briefe. Wie ein Popstar. O-TON LENA 06: 13’’ Pered tem, kak publikowat rasskas, on dal ich Rolanu Bykowu na otsyw. Rolan Bykow nikakogo otsywa ne stal pisat a skasal: „Priwodite dewotschku w Moskwu. My sejtschas snimem film.“ LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Man gab die Erzählung Rolan Bykow, dem berühmter Schauspieler, zur Rezension. Er ist auch Professor an der Moskauer Filmhochschule. Er schrieb nichts, sondern sagte: „Bringt das Mädchen sofort her. ERZÄHLERIN: Er wollte einen Film nach ihrer Geschichte drehen. Lena konnte es kaum glauben [Schade, Luftsprung fand ich besser]. O-TON LENA 07: 36’’ No dlja menja washneje bylo to, schto w eto samoje wremja my so mojej podrugoi usnali, schto my takije ne odni. Schto sustschestwujut jestscho dejstwitelno te samyje Hippie. Oni jest w naschej strane i toshe puteschestwujut. My usnali togda takije slowa kak avtostop. Do etogo u nas byli bolee romantitschnyje swoi naswanija: „Doroga“ s bolschoi bukwoi. U nas byl takoi swoi lexikon. A tut my wlilis, kak eto nasywalos, do systemy. My naschli sebje podobnych. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Eine Freundin von mir kam mit nach Moskau und was noch viel wichtiger war als der Erfolg: Wir sahen, dass wir nicht die einzigen waren, die auf die Konventionen pfiffen, nach Freiheit strebten und als Vagabunden durchs Land fuhren. Es gab sowjetische Hippies. Wir lernten den Moskauer Hippie-Slang kennen, zum Beispiel Begriffe wie „Autostop“ und „Tramp“. Bis dahin hatten wir unsere eigenen Wörter benutzt, romantische, russische wie „Doroga“ - und „Brodjaga“. In Moskau schlossen wir uns der Hippie-Szene an. 6 ERZÄHLERIN: Lena hatte Gleichgesinnte gefunden, die die gleichen Träume hatten wie sie. Mit ihren neuen Freunden lebte sie in einer leer stehenden Wohnung als Kommune zusammen. Politik und offizielle Deklarationen hatten sie damals satt. O-TON LENA 10: 36’’ Prosto stschitali, schto nasche neutschastieje w tom, schto deklarirujetsja, nasche neutschastije w politike i w toshe wremja nasche utschastije w prosto obyknowennych tschelowetscheskich otnoschenijach, gde my budem tschestnymi, gde my budem ljubit, gde my budem ne gnatsja sa kakim to materialnym, a opjat slowo tschest, ne poswoljat sebja unishat, ne samim ne komu to, ne prodawat etu tschest ni sa kakije blaga. I schto dostatotschno delat eto, i tut she nastupit nakonez tot mir sprawedliwosti. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Wir wollten einfach gleichberechtigt zusammen leben und ehrlich zueinander sein. Uns lieben, nicht materiellen Werten hinterherlaufen. Wir wollten nicht uns und andere erniedrigen und so unsere Würde verraten und verkaufen. Wenn wir das alles erfüllen, so glaubten wir, bricht die Welt der Gerechtigkeit an. ERZÄHLERIN: Ihre Utopien hatte Lena aus der russischen Literatur geschöpft. In den Bücherregalen sehe ich die zerlesenen Bände stehen: Dostojewskis „Arme Leute“, Tolstois Essay „Sklaverei unserer Zeit“, Turgenjews „Adelsnest“. Daneben Marx und Engels. Trotzkis „Literatur und Revolution“. O-TON LENA 11: 17’’ Politikoi my w to wremja jestscho ne sanimalis. Eto washno, potomu schto politika w to wremja aktivno sanimalas nami. To schto my stschitali, schto odnim twortschestwom my peremenim mir i schto my etogo ne sdelali. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Mit der aktuellen Politik haben wir uns damals, Ende der Achtziger, noch nicht befasst. Aber nur ein, zwei Jahre später hat sich dann die Politik mit uns befasst. 7 Wir dachten, dass wir mit unseren Gedichten und Erzählungen die Welt verändern könnten. Aber wir sind gescheitert. O-TON LENA 12: 24’’ Schto to dejstwitelno wyroslo, chotja zwetotschki byli sowsem ne takimi kak semena, kotoryje sasewalis. A oni, te kotoryje to objawljajut perestroiku , to wdrug okasywajutsja wladelzami neftjanych skwashin. Wot eti ljudi s nami nitschego sdelat ne mogut. Eto bylo neskolko illjusornoje predstawlenije. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Aus den Samen waren ganz andere Blüten gesprossen. Diejenigen, die die Macht hatten und die Perestroika propagierten, waren plötzlich Besitzer der Erdölquellen. Anfangs glaubten wir noch, dass sie nicht über uns bestimmen könnten, aber das war eine große Illusion. ATMO C: CD 06 Reklamespruch aus dem russischen Fernsehen. Kann gekürzt werden. 30'' ERZÄHLERIN: Mit dem Zerfall der Sowjetunion zog der Kapitalismus ein. Alte Gesetze galten nicht mehr und neue gab es noch keine. Anfang der neunziger Jahre werden die Menschen über Funk und Fernsehen aufgefordert, einen sogenannten Voucher zu erwerben. Damit soll man angeblich Mitaktionär zum Beispiel einer Fabrik werden. „MMM Invest! Wir machen aus Ihrem Voucher Gold!“ Die Bürger geben gutgläubig ihre Wertpapiere in besagte Voucherfonds. Gewinner sind die alten Manager und die Nomenklatura. Aus dieser Schicht gehen die ersten Oligarchen hervor. MUSIK-AKZENT: Musik 02: Verstimmtes Klavier. ERZÄHLERIN: Lenas Freunde und auch sie selbst waren diesem neuen Leben nicht gewachsen. O-TON LENA 13: 13’’ Bólschej tschast ljudej togo kruga umerla ne perechodja rubesha 25letnego wosrasta. W osnownom eto samym prostym obrasom ot pjanstwa i ot narkotikow. 8 LENA: SPRECHERIN OVERVOICE Die meisten aus meiner Kommune starben, da waren sie noch nicht einmal 25. Auf ganz banale Weise. An Alkohol oder einer Überdosis Rauschgift. ERZÄHLERIN: Oder sie begehen Selbstmord. Auch Lenas späterer Mann will nicht mehr und springt 1993 aus dem Fenster. Er überlebt, ist seitdem jedoch schwerbehindert. Lena heiratet ihn, obwohl sie weiß, dass er nicht mehr lange leben wird. MUSIKAKZENT: MUSIK 02 O-TON LENA 14: 48'' Sakontschila ja s pisanijem i sakontschila ja WGIK. I w eto she wremja sakontschila swojo suschestwowanije ta strana, w kotoroi my do etogo plocho ili choroscho tak ili sjak shili. Te kto is naschego kursa poumneje, oni ostalis w Moskwe poblishe k naschim masteram. Wsjo kontschilos i kontschilos mojo shelanije pisat … W eto wremja ja reschila, schto nikogda ne budu pisat togo, tschego mnje ne chotschetsja... Lutsche tak tschem naoborot. Ja pereschla w Peterburg, w Leningrad jestscho togda. Na studio Lenfilm. Kogda ja na sledujustschi mesjaz prischla … mnje skasali: A satschem ty prischla. Lenfilma bolsche njet. LENA: SPRECHERIN OVERVOICE Als ich die Filmhochschule beendete, zerfiel das Land, in dem wir lebten. Einige meiner Kommilitonen waren clever, passten sich dem neuen Leben an und drehten kommerzielle Filme. Aber ich hatte plötzlich keine Motivation zum Schreiben mehr. Ich schwor mir, niemals etwas zu veröffentlichen, was nicht aus meinem Innersten kommt. Ich zog nach Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Ich wollte im Lenfilm-Studio für künstlerische Filme arbeiten. Als ich jedoch ankam, hieß es: „Lenfilm gibt es nicht mehr.“ MUSIK 03: Weißrussisches Volkslied, a capella, gesungen von Lena. Unter Erzählerin und Erzählung aus dem Internet. Kann auch schon vorher einsetzen. ERZÄHLERIN: Lenas Gesichtszüge sind härter geworden. Ihre Augen müde vom vielen Arbeiten am Computer. Aber manchmal leuchten sie auf wie früher. 9 ZITATORIN (LENA) DIE ERLEUCHTUNG. Erzählung aus dem Internet: Einmal zog sie sich aufs Land zurück, um ein Märchen zu schreiben. Sie lebte einsam in einem großen Holzhaus. Und in diesem großen Holzhaus stand ein großer russischer Ofen, den sie mit Birkenholz heizte. Aber er rauchte und zog schlecht. Doch wenn sie in der blassen Dämmerung aufwachte und aus dem Fenster schaute, sah sie den grauen Himmel und blaugrüne Tannenspitzen. Und wenn sie sich schlafen legte, schaute sie wieder aus dem Fenster und sah jedes Mal am Himmel einen Stern. Da begriff sie auf einmal: D a s ist das Märchen! Der Sinn des Daseins besteht nicht darin, ein Märchen zu s c h r e i b e n, sondern in diesem Haus zu leben, den grauen Himmel zu sehen, Holz zu hacken und den Ofen zu heizen, damit es warm wird. Aber nach einiger Zeit überlegte sie: Nein, das was ich angefangen habe, muss ich zu Ende schreiben. ERZÄHLERIN: Heute veröffentlich Lena ihre Texte im Livejournal, auf Russisch „Shiwoi Shurnal“. Ein weltweites Internetportal, auf dem Privatpersonen ihre Blogs und Online-Tagebücher verbreiten. Die Hälfte aller Benutzer sitzt in Russland. Lena genießt hier große Populärität. ATMO 05: In Lenas Küche. 1' ERZÄHLERIN: Wir stehen in der Küche und kochen gemeinsam. Sie eine Ucha, eine Fischsuppe, ich ein scharfes indisches Gericht. Die Sonne geht schon unter. In Petersburg ist es im Winter fast immer dunkel. Lena reibt Möhren, die sie im Garten ihrer Schwiegermutter gepflanzt und geerntet hat. Sie ist eine Grüne, benutzt keine Plastiktüten und spart mit Wasser. Beim Kochen erzählt sich‘s leichter ATMO 06 (wie O-Ton behandeln): 16’’ I wot desjat proschedschich let, kotoryje priweli k tomu momentu, kak ja okasalas prodawstschizej Finlandskogo woksala. 10 Lena singt: „Ja prodawschiza, blja, Finlandskogo woksala. Wot tak ja goworila pro sebja. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Verdammt/Fuck! Nun bin ich Verkäuferin auf dem Finnischen Bahnhof! ERZÄHLERIN: So hat sie – nicht ohne Selbstironie - einen alten russischer Gassenhauer umgedichtet. Die ehemalige Filmstudentin fand sich hinter einer Ladentheke auf dem Bahnhof wieder. Als Verkäuferin von billigem chinesischen Spielzeug. Und neben ihr stehen andere Verkäuferinnen, die genauso um ihre Existenz kämpfen: eine promovierte Physikerin, eine ehemalige Literaturlehrerin. Der Verdienst – ein paar Rubel. Im August 1998 hatte sich das Leben vieler Menschen auf einen Schlag verändert. Durch massiven Kapitalabfluss herrschte eine schwere Wirtschaftskrise. Der Wert des Rubels sank um 60 Prozent. O-TON LENA 15: 30’’ Politika nas nastigla w 1998 godu. W 1998 godu byl default sdes. Sa kwartiru my dolshny byli saplatit ne 600 Rubel, a 3000. Drugije ljudi w toshe samoje wremja sarabotali mnogo w eto 1998 god. A drugije ljudi w to she samoje wremja wnesapno okasalis na dne kak goworitsja. LENA OVERVOICE: Die Politik drang 1998 mit Macht in mein Leben ein. Vorher bezahlten wir für unsere Wohnung 600 Rubel. Und über Nacht war die Miete plötzlich auf 3000 Rubel gestiegen. Manche haben in diesem Jahr sehr viel Geld verdient. Aber Tausende andere fanden sich plötzlich „ganz unten“ wieder. ERZÄHLERIN: Zu diesen gehörten auch Lena und ihr schwerbehinderter Mann. Lena war arbeitslos. Sergej studierte Philosophie an der Petersburger Universität. Für seinen Studienplatz hatten beide gekämpft. „Den darfst du nicht aufgeben!“, sagte Lena. 11 O-TON LENA 16: 19’’ No nushno schto to jest. I ja poschla na woksal i ja stoju i prodaju kitaiskije igruschki, kotoryje lomajutsja. A igruschki lomajutsja u nich w rukach. Ja stala ssoritsja s natschalstwom: No eto she deti. Kak? No eto byli slowa is proschloi shisni. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Der Mensch muss was essen. Nur aus diesem Grund bin ich auf den Bahnhof gegangen und habe Plastikspielzeug verkauft. Es ging sofort kaputt, wenn die Kinder es in die Hand nahmen. Ich stritt mich mit dem Chef herum: „Sowas kann man doch Kindern nicht anbieten!“ – „Was?!“ fragte er verständnislos. Er fand mich hoffnungslos altmodisch. ATMO 07: 1’53’’ Nach 25’’ fängt Lena auf der Gitarre zu spielen an. Harmoniert gut mit Elektritschka. Lena und Autorin fahren im Regionalzug auf die Datscha von Juri Medwedko. Darauf Erzählerin. ERZÄHLERIN: In der Elektritschka, dem Regionalzug. Wir fahren auf die Datscha von Lenas Freund Juri Medwedko. Lena hat immer ihre Gitarre dabei. Ihr Schatz sind die alten revolutionären Lieder. Die von 1917. Lena kennt sie noch aus der Schule, aus Pionierlagern. Viele davon durften unter Stalin nicht mehr gesungen werden oder nur mit abgeändertem Text, vor allem, wenn die Lieder zu anarchistisch waren oder „towaristsch Trotzki“, Genosse Trotzki, vorkam. Die alten originalen Worte hat Lena im Internet gefunden. ATMO 07: Elektritschka von oben kommt wieder hoch mit Lenas Gitarre. ERZÄHLERIN: 2003 haben Juri und sie den kleinen alternativen Verlag „Neuer kultureller Raum“ gegründet. Hier geben sie politische Essays und belletristische Bücher junger Autoren heraus, die die Zustände im heutigen kapitalistischen Russland kritisieren. Eigentlich hatte sie beschlossen, den Verlag aufzugeben, erzählt Lena. 12 ATMO 08: 5’03’’ Reine Zugatmo. Ohne unsere Stimmen. Als Untergrund für Lena und Erzählerin. O-TON LENA 17: (auf Atmo 08 – Zug) 33’’ Ja chotela bolsche ne sanimatsja isdatelskoi dejatelnostju, potomu schto pribyl eto nikakoi ne dajot. Eti Dengi, kotoryje my tuda sakladywajem, my snajem, schto oni nikogda ne wernutsja. I jesli by ne pojawilsja pisatel is Belorussii, s kotorym ja slutschaino posnakomilas, potom tak she slutschaino stala tschitat. I stala wsem goworit: Wot tschelowek, kotory sejtschas pischet lutsche wsech na russkom jasyke. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Denn er bringt nicht den geringsten Gewinn. Das Geld, das wir investieren, kommt nicht wieder herein. Hätte ich nicht zufällig diesen Schriftsteller aus Weißrussland entdeckt, Konstantin Tscharuchin, ich hätte aufgegeben. Ich halte ihn für den besten russischsprachigen Autor, den es heute gibt. ERZÄHLERIN: Den Erzählband von Tscharuchin haben sie und Juri 2013 herausgegeben. Auf den Buchumschlag hat Lena besonderen Wert gelegt: eine utopische Zeichnung aus dem Jahr 1932 - „Plan einer Mondstadt“. Der Künstler war vollkommen in Vergessenheit geraten. Lena hat ihn wiederentdeckt. Sie liebt die revolutionäre avantgardistische Kunst aus der Anfangszeit der Sowjetunion, als alles noch offen war. ATMO 09 (auf reine Zug-Atmo 08)( wie O-Ton): 52’’ Lena erzählt über den Literaturpreis „Nos“. Darauf Erzählerin. ERZÄHLERIN: Lena und Juri reichten Tscharuchins Buch für den renommierten russischen Literaturpreis „Die Nase“ ein. Der nach Gogols gleichnamiger Erzählung benannte Preis fördert neue Trends in der modernen russischen Literatur. Eigentlich ging diese Einreichung Lena gegen den Strich: der Preis wird vom Oligarchen Michail Prochorow gestiftet, und sie hasst die Milliardäre. Aber in diesem Fall war es ihr wichtig, den jungen Schriftsteller aus ihrer Heimat Belarus bekannt zu machen. 13 O-TON LENA 18: (auf Atmo 08, Zugatmo) 17’’ I s nekotorym udiwlenijem tscheres dwa mesjaza polutschili wdrug is fonda Prochorowa takoje pobednoje pismo. Posdrawljajem!!! Wy woschli w dlinny spisok pobediteljej premii „Nos“. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Und wie durch ein Wunder bekamen wir zwei Monate später von der ProchorowStiftung einen triumphalen Brief: Wir gratulieren! Sie sind in der Longlist! ATMO 10: 1’25’’ In der Elektritschka. Nach 12’’ fängt Lena zu singen an. Unter Erzählerin. ERZÄHLERIN: Vor einigen Tagen erst erhielt sie die Nachricht, dass ihr Autor jetzt sogar in die Shortlist aufgenommen wurde. 40 000 Rubel bekommt er schon allein dafür. Das sind etwa 1000 Euro. Das muss heute mit Juri gefeiert werden. Unter freiem Himmel! Am Lagerfeuer! Lena hat außer ihrer Gitarre noch Rotwein mitgenommen. ATMO 11: Auf der Datscha. Im Freien. Gespräche. 1'32'' ERZÄHLERIN: Juris Datscha ist ein einfaches kleines Holzhaus mit einem großen russischen Ofen. Es trägt eine weiße Kappe. Während der Fahrt ist Schnee gefallen. Juri hat ein Lagerfeuer angefacht. ATMO 12: Beginnen bei 00.23, wenn Lena zu singen anfängt. Bis 01.26 – erste Strophe. 3'46'' ERZÄHLERIN: Lena singt für mich die „Internationale“. Juri schaut sie skeptisch an: „Lena ist unsere Revolutionärin“, sagt er. 14 ATMO 12 kommt wieder hoch ZITATORIN (LENA) Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt. Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit den Bedrängern. Heer der Sklaven wache auf. Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger. Alles zu werden strömt zuhauf. Völker hört die Signale. Auf zum letzten Gefecht. Die Internationale erkämpft das Menschenrecht. O-TON 19 DIALOG ZWISCHEN LENA UND JURI MEDWEDKO: 1’04’’ O-TON MEDWEDKO: Eto bylo samoje interesnoje wremja. Sejtschas krome poschljatiny i shestokosti nitschego ne ostalos. Togda dejstwitelno interesno bylo. Nawernoje etot golod, kotory byl w Sowjetskom Sojuse … MEDWEDKO SPRECHER OVERVOICE: Weißt du, Lena, die neunziger Jahre waren die interessantesten. Damals gab‘s noch Kultur, und wir konnten unseren geistigen Hunger nach der Literatur stillen, die in der Sowjetunion verboten war. Heute ist außer Gemeinheit und Brutalität nichts übrig geblieben. O-TON LENA: Ne snaju. Moshet byt, wam eto bylo interesno. Ja eto wremja s ushasom wspominaju i s nLenawistju. Kogda wo mnje klassowaja nenawist sarodilas. Togda ona wo mnje wosrosla. Blishe k 1998 godu. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Ich weiß ja nicht …Vielleicht waren die Neunziger für d i c h interessant. I c h erinnere mich mit Horror an diese Zeit. 1998 ist in mir der Klassenhass erwacht. O-TON MEDWEDKO: A ja dumal, schto togda … Ja toshe ne dumal, schto tak obernjotsja, schto w takuju dikost obernjotsja, ne dumal. 15 MEDWEDKO SPRECHER OVERVOICE: Ich habe auch nicht gedacht, dass sich alles mal ins Gegenteil verkehrt. Dass sich alles in so eine Unkultur verwandelt. Daran hab ich nicht im Traum gedacht. O-TON LENA: W 98om ne dumal? A ushe wsjo obernulos. Da, ushe bylo … W twoich raskasach wsjo eto widno, wo schto wsjo obernulos. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Was?! 98 hast du das noch nicht gemerkt?! Da war doch alles schon deutlich zu sehen. Du beschreibst ja selbst in deinen Erzählungen, was aus uns geworden ist. O-TON MEDWEDKO: Wot eto byl schock. MEDWEDKO SPRECHER OVERVOICE: Es war ein Schock! ATMO 13: 2’58’’ Lena singt Revolutionslied von 1917: „Schto ostanetsja ot Moskwy, da ot Rossii.“ Bis ca. 00.42 ERZÄHLERIN: Irgendwann geht den Beiden die Lust zum Diskutieren aus. ATMO 13: von oben kommt wieder hoch. ERZÄHLERIN: Was wird aus Moskau, wird aus Russland werden, heißt das Lied, das Lena jetzt singt. Ein Revolutionslied von 1917, als der Zar gestürzt wurde. Lena hat neue Strophen hinzugedichtet, die sich auf die heutigen Verhältnisse in Russland beziehen. ATMO 14:(mit Atmo 13 verbinden) 16 Die letzten vier Strophen des Liedes, die sie neu gedichtet hat. Lena: Staraja pesnja na nowy lad. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Was liegt ihr auf dem Ofen, ihr Schlafmützen, und wartet, bis man euch alles weggenommen hat!? Sogar die Luft zum Atmen. Dann kommt euer Heulen zu spät. Was ist nur aus Moskau, aus Russland geworden?! Atmo 14 kommt wieder hoch und geht über in ATMO 2a: Newski-Prospekt Falls Länge nicht ausreicht verbinden mit: 32'' ATMO 03: 1'30'' purer Newski-Prospekt, Lärm, weiter hinten Autohupen und Passanten. Ohne unsere Stimmen. ERZÄHLERIN: Mein letzter Tag. Wir sind auf dem Newski Prospekt. Der Newski war schon immer die berühmteste und prächtigste Straße von Sankt Petersburg. So wie in Paris die Champs Elysees und in Berlin der Ku'Damm. In den Luxusgeschäften glitzert und funkelt es in den Auslagen. Unerreichbar für die Vielen, die, ärmlich gekleidet und abgekämpft, vorübereilen. Nasser Schnee fliegt uns ins Gesicht. O-TON LENA 01: Won tam stoit Jekaterina bolschaja, bolschaja so swoimi malenkimi swoimi Potjomkinami. A, wot tam fotografurujutsja s zarizej. 13'' LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Schauen Sie, da drüben! Da steht das Denkmal für Katharina die Große mit all ihren kleinen Potjomkins. Die Leute lassen sich mit der Zarin fotografieren. ATMO 03 als Untergund für folgende Erzählerin 17 ERZÄHLERIN: Eine junge Frau steht neben dem Denkmal. Sie trägt das prächtige historische Gewand der Zarin. Doch das ist für den Sommer gemacht. Jetzt sind in Petersburg Null Grad. Als wir näher treten, sehe ich, dass die junge Frau vor Kälte zittert. Doch sie muss lächeln und bietet sich den Touristen als Fotomotiv an. O-TON LENA 02: 26'' Odna moja podrushka nedawno rabotala zarizej i skasala, schto chushe raboty ne bywalo prosto w shisni. Nestschastnyje ljudi wse. Tschem tolko ne sarabatywaju na shis. Atmo - lautes Auto fährt auf Newski vorbei - an O-Ton anhängen. LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Eine Freundin von mir hat auch mal als Zarin gejobbt. In ihrem ganzen Leben hätte sie keine anstrengendere Arbeit gehabt, hat sie mir erzählt. Mit allem Möglichen müssen die Armen ihr Geld verdienen! ATMO 15: 1’50’’ Lenas Demo auf dem Newski-Prospekt. Laute Rufe „Posor!“ - „Schämt euch!“ Bei 43’’ ruft Lena: „Schämt euch“. Bei 1’43’’ Polizeihorn. ERZÄHLERIN: Der eigentliche Grund, warum wir hier auf dem Newski sind, ist eine Demo. Lena trifft sich mit linken Aktivisten. Sie ist nicht die einzige, die sich politisch engagiert. Es gibt viele junge Leute, die nach dem Zerfall der Sowjetunion geboren wurden und ein starkes Empfinden für soziale Ungerechtigkeit entwickeln. ATMO 15 kommt wieder hoch. ERZÄHLERIN: Die Aktivisten fordern die Freilassung von Valentin Urussow, dem Führer einer unabhängigen sibirischen Gewerkschaft. Er sitzt im Gefängnis, weil er einen Streik organisiert hat. Anlass waren die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei der Aktiengesellschaft „Alros“, „Russischer Diamant“. 18 2000 Arbeiter traten einer Polizei-Sondereinheit mit dem alten Rotfront-Gruß der deutschen Arbeiter entgegen – sie hoben die geballte rechte Faust. Der Streik wurde niedergeschlagen. Ein Polizist, breit wie ein Schrank drängt die zierliche, sich jedoch vehement wehrende Lena von der Straße. „Posor!“ - „Schämt euch!“, ruft sie. ATMO 16: 10’’ Autorin: Eto otschen stranno: snatschit gosudarstwennaja wlast na storone wladelzew fabrik. Lena: Konetschno! O-TON LENA 20: 50’’ Sdes wsjo po klassike. Gosudarstwennaja wlast na storone kapitalistow. Ja dashe ne snaju, moshno li o gosudarstwennoi wlasti jestscho o kak takowoi goworit. Slischkom serjosnyje interesy. Kto budet po dobroi wolje wypuskat is ruk milliony? Uprawljajut te, kto sachapal sebje westschi, kotoryje w prinzipe ne mogut prinadleshat odnomu tscheloweku. Kak moshno ne byt politikom, jesli ponjatno schto ne bywajet tak , schto u odnogo byli milliony, a u drugogo nitschego njet. Nu ne bywajet, nu chot streljajete menja. Nikto menja w etom ne ubedit. (Dann Stille) LENA SPRECHERIN OVERVOICE: Alles wie bei Marx. Die Staatsmacht steht auf Seiten des Kapitals. Ich weiß nicht mal, ob die Staatsmacht so mächtig ist. Hier bestimmen andere. Wer wird schon freiwillig seine Millionen hergeben! In Wirklichkeit regieren die Milliardäre, die sich alles unter den Nagel gerissen haben. Dinge, die eigentlich keinem einzelnen gehören dürfen. Man kann mich erschießen, aber ich werde mich niemals damit abfinden, dass der eine Millionen hat und der andere nichts. MUSIK-AKZENT. Vorschlag: Musik 02 ERZÄHLERIN (trocken): Gut ein Jahr ist es her, dass ich Lena das letzte Mal gesehen habe. Seitdem ist viel passiert: die Flugzeugkatastrophe über der Ostukraine im Juli 2014 – der Krieg im Gazastreifen, der Krieg in Syrien, vor allem der in der Ukraine. „Lenotschka!“, schreibe ich nach Petersburg. „Lenotschka! Wie geht es Ihnen?“ 19 ZITATORIN (LENA): Guten Tag, Antje! Wie soll es mir gehen? Ich hatte geplant, in die Ostukraine zu fahren, um dort als Krankenschwester den Verwundeten zu helfen. Aber meine ukrainischen Freunde rieten mir ab. Die Lage sei zu gefährlich. ERZÄHLERIN: Als ich erfahre, dass bei Donezk Massengräber gefunden wurden, in denen junge Frauen liegen, denke ich: Ein Glück, dass Lena nicht dorthin ist. Mir klingt noch ihre Stimme im Ohr, als sie mir zum Abschied in Petersburg sagte: O-TON LENA 21: 39’’ Nushno ljudjej strachiwat. Ja dumaju, schto na drugom konze my imejem prosto smert wsego. Ja ne dumaju, schto my wywernjomsja, jesli budem bratjami. No eto chotja by my poprobujem, schto to delat, schtoby nam pomoglo. Potomu schto wsjo slischkom ushe sapustscheno, slischkom na semlje wsjo isportscheno. I moshno tak sakasat, schto tschelowek kak projekt prirody pod bolschim somnenijem. LENA: SPRECHERIN OVERVOICE: Die Menschen müssen endlich aufwachen! Sonst wird hier noch alles kaputt gehen auf der Erde. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir uns alle verbrüdern müssen, damit es besser wird, wie damals, als wir Hippies waren. Aber wir müssen etwas tun. Es ist so viel schief gelaufen. Man könnte fast sagen: Das Projekt Mensch ist gescheitert. MUSIK-AKZENT: Musik 03 – weißrussisches Lied - Aussprachen, bis auf die nachgereichten Töne. - Drei Musiken, die die Regie nach eigener Entscheidung einsetzen kann. Musik 03 – Weißrussisches Lied Musik 04 – moderner russischer Blues-Rock, die Vertonung eines Gedichtes von Anna Achmatowa. 20 1. MUSIK A – CD 01 – Taigalied, gesummt. 2. ATMO A – CD 02 – Koffer-Atmo. 3. O-TON LENA A – CD 03 4. ATMO B – CD 04 Geräusch des Kofferschlosses. 5. O-TON LENA B – CD 05 6. ATMO C - CD 06 – Reklamespruch. 21
© Copyright 2024 ExpyDoc