Manuskript

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Die „Internationale“ auf dem Newski-Prospekt
Lena Kusmenoks Widerstand gegen den russischen Kapitalismus
Autorin:
Antje Leetz
Redaktion:
Nadja Odeh
Regie:
Maria Ohmer
Sendung:
Montag, 26.09.16 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung aus dem Jahr 2015
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
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1
MANUSKRIPT
MUSIK A: CD 01, ab 00.35 – 1.05 Angara-Lied, nur Summen. Wenn Summen zu
Ende, aus Lied rausgehen. Soll unter Erzählerin liegen. Verbinden mit:
ATMO 01:
3'26''
Zug von Moskau nach Petersburg und Einfahrt in Petersburg. Darauf Erzählerin.
ERZÄHLERIN:
Ich sitze im Schlafwagenexpress „Roter Pfeil“ von Moskau nach Sankt Petersburg.
Lena will mich vom Bahnhof abholen. Ob ich sie wiedererkenne? Vor 23 Jahren habe
ich sie bei Moskauer Freunden flüchtig kennen gelernt. Aber oft an sie gedacht. Was
mag aus der damals 24 jährigen Studentin der Moskauer Filmhochschule geworden
sein? „Einen wahrhaftigen Film über unser Leben drehen! Das ist mein Traum!“, hatte
sie damals gesagt. Ihre Begeisterung war ansteckend.
(bis hierher reicht Summen von Musik A; optional: Melodie geht über in leises Singen
der „Internationale“)
Im August 2013 habe ich Lena Kusmenok im russischen Internet wiedergefunden.
Auf YouTube stieß ich zufällig auf eine Frau, die Lena sehr ähnlich sah. Sie sang auf
dem Newski-Prospekt in Sankt Petersburg die „Internationale“. Ich schrieb ins Blaue
hinein an die angegebene Adresse eine Mail: Sind Sie wirklich die Lena, die ich 1992
in Moskau kennenlernte? Die Antwort kam prompt:
ZITATORIN (LENA):
Ja, ich bin‘s. Ich wohne jetzt in St. Petersburg und arbeite als freiberufliche
Verlagsredakteurin. Aus meinem Film ist nichts geworden. Ich war verheiratet, aber
mein Mann ist vor sieben Jahren gestorben. Wenn Sie mal in der Nähe sind … Meine
Adresse: Chaussee der Revolution Nummer 50. Ich kann Ihnen eine winzige
Kammer anbieten und ein Bett ohne Beine.
ATMO A: CD 02 Koffer-Atmo mit Lenas Stimme, darauf Erzählerin. Bis: 00.30 1'29''
2
ERZÄHLERIN:
Und jetzt sitze ich wundersamerweise in Lenas winziger Parterre-Wohnung in der
Chaussee der Revolution. Der Straßennamen stammt noch aus der sowjetischen
Zeit. Lena will mir etwas Wichtiges zeigen. Sie holt aus der Kammer einen Koffer.
O-TON LENA , CD 03: Mit Vorlauf.
Oi! Predstawljajete! Computer i bumaga! Wot rasniza!
1'06''
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Oje! Das ist der Unterschied zwischen Papier und Computer!
O-TON LENA A läuft als Atmo weiter: Lena öffnet den Koffer und redet.
ATMO B, CD 04 Lautes Geräusch des Kofferschlosses. Einbauen.
26''
ERZÄHLERIN:
Ich betrachte sie neugierig aus den Augenwinkeln. Den dicken Zopf von damals hat
sie nicht mehr. Ihr Haar ist kurzgeschnitten. Eine knabenhafte, aber auch sehr
weibliche Frau. Mitte vierzig muss sie jetzt sein.
Lena hievt den schweren abgewetzten Koffer auf den Tisch. Sie sei zwar mager,
lacht sie, aber kräftig sei sie schon. Sie öffnet das Schloss. Ein Haufen Erzählungen,
Gedichte. Von ihr selbst und von ihren Freunden. Die Manuskripte kommen aus einer
längst vergangenen Epoche. Für Lena jedoch haben sie unendlichen Wert. Was für
Hoffnungen auf ein neues Leben hatten sie damals!
Lena holt ein Buch heraus, das ihr besonders teuer zu sein scheint.
O-TON LENA B: CD 05
33''
Eto rukami napisano. Wot eto rukodelnaja knishka, kotory delal moi mush jestscho
do togo kak on slomal spinu. Wot maschinopisnoje isdanije. Wot maschinopisnoje
isdanije. Ja ich naxerokopirowala. I wot takim obrasom my delali 10 exemplarow
knishek.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Es ist handgeschrieben. Ich habe die Seiten selbst zusammengenäht. Es stammt von
meinem Mann, Sergej Owetschkin.
3
Da hatte er sich noch nicht das Rückgrat gebrochen. Und von d i e s e m
Schreibmaschinenexemplar hier habe ich Kopien gemacht, und wir haben 10
Exemplare hergestellt.
MUSIK A: Ab 1:05 im Hintergrund. Bis 1:40 oder noch eine Strophe länger. Darauf
Erzählerin.
ERZÄHLERIN:
Ich erfahre, dass Lena mit 16 die Schule schmiss, ein Hippie-Mädchen wurde und mit
der Gitarre durchs Land zog. 1992, als ich sie kennen lernte, wollte ich eine
Erzählung von ihr für einen deutschen Verlag übersetzen. Aber sie lehnte ab! Es
gäbe nichts Höheres, sagte sie damals, als die Geschichten im Kreis der Freunde
vorzulesen, in ihrer Kommune. Es war ihr nicht wichtig, im Ausland zu erscheinen.
O-TON LENA 03:
45''
Ja rodilas w maje 1968. W samom lutschem godu, w samom lutschem mesjaze, w
samoi jego seredine. Eto god, kogda byli kak ras revoljuzionnyje wolnenija
studentscheskoi molodjoshi wo Franzii, o tschom ja usnala nemnoshko posdnee.
Rodilas ja w gorode Minske. W semje sowjetskich ingenierow. W rabotschem rayone.
Kogda mnje chotelos usnat, kak shiwut ljudi na samom dele, ja perewelas is
matematitscheskoi schkoly, kuda wsech chuliganje rayona popali. Ostalnaja biografija
byla etim neskolko opredelena.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Ich wurde im Mai 1968 geboren. Im schönsten Jahr, im schönsten Monat, denn 68
begannen die revolutionären Unruhen der Studenten in Frankreich, wovon ich erst
später erfuhr. Ich kam in Minsk zur Welt. In einer sowjetischen Ingenieurfamilie. In
einem Arbeiterbezirk. Und weil ich irgendwann wissen wollte, wie die Menschen in
Wirklichkeit leben, wechselte ich von meiner Mathematikschule in eine, in der alle
Rowdys der Gegend ihr Unwesen trieben. (Ironisch) Das hat meine Biografie auf
Weiteres geprägt.
MUSIK 02 – verstimmtes Klavier
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ERZÄHLERIN:
Die spartanisch eingerichtete Wohnung, in der ich die nächsten fünf Tage leben
werde, besteht aus einem Wohnzimmer, Bad, der angekündigten Kammer mit dem
„Bett ohne Beine“ und einer Küche. Das Zimmer ist vollgepfropft mit Schreibtisch
samt Computer, Schlafsofa, Bücherregalen, Klavier und Fahrrad. Mit den Honoraren,
die Lena für Redaktionsarbeiten von verschiedenen Verlagen bekommt, kann sie
sich gerade so über Wasser halten.
ATMO 04:
Wir schauen uns Fotos auf dem Computer an. Lena erklärt.
1'16''
ERZÄHLERIN:
Lena hat den Computer eingeschaltet und zeigt mir alte Fotos.
O-TON LENA 04:
33''
Ja wot eto. Eto primerno w to wremja, kogda my widelis w posledni ras. Autorin: U
was wsegda byli dlinnyje wolos? Lena: Sejtschas ja wam pokashu …Eto ja, kogda
pisala swoi perwy rasskas, no tschut posshe. Wygljadela ja wot tak.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
So sah ich aus, als wir Beide uns zum ersten Mal gesehen haben. Und so sah ich
aus, als ich meine erste Erzählung schrieb.
ERZÄHLERIN:
Ein blutjunges Mädchen mit hochgesteckten Haaren, das herzlich lacht. Man sieht ihr
an, dass sie sich nichts vormachen lässt. So ähnlich war auch die Heldin ihrer ersten
Erzählung, die Lena mit 16 schrieb. Sie hieß Malina und lehnte sich gegen die
autoritären Strukturen in ihrer Schule auf. Während der Perestroika waren viele
Tabus gefallen. Und so konnte die Erzählung 1987 in der Zeitschrift „Rabotschaja
Smena“, „Arbeiterjugend“ erscheinen. Lena lebte da noch in Minsk.
O-TON LENA 05:
26’’
Oni polutschili bolschoi resonanz u molodjoshi, kotory nikak ne oshidala, schto
protschitaw uwidet sebja w kakom to serkale. Shurnal polutschil bolschuju ljubow w
massach. Ja polutschila sotni pisem, korobki pisem. Kak polutschali geroi estrady.
5
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Bei jungen Leuten stieß die Erzählung auf große Resonanz. Sie fanden sich in dem
Text wieder, wie in einem Spiegel. Die Zeitschrift war mit einem Mal sehr beliebt. Und
ich bekam körbeweise Briefe. Wie ein Popstar.
O-TON LENA 06:
13’’
Pered tem, kak publikowat rasskas, on dal ich Rolanu Bykowu na otsyw. Rolan
Bykow nikakogo otsywa ne stal pisat a skasal: „Priwodite dewotschku w Moskwu. My
sejtschas snimem film.“
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Man gab die Erzählung Rolan Bykow, dem berühmter Schauspieler, zur Rezension.
Er ist auch Professor an der Moskauer Filmhochschule. Er schrieb nichts, sondern
sagte: „Bringt das Mädchen sofort her.
ERZÄHLERIN:
Er wollte einen Film nach ihrer Geschichte drehen. Lena konnte es kaum glauben
[Schade, Luftsprung fand ich besser].
O-TON LENA 07:
36’’
No dlja menja washneje bylo to, schto w eto samoje wremja my so mojej podrugoi
usnali, schto my takije ne odni. Schto sustschestwujut jestscho dejstwitelno te samyje
Hippie. Oni jest w naschej strane i toshe puteschestwujut. My usnali togda takije
slowa kak avtostop. Do etogo u nas byli bolee romantitschnyje swoi naswanija:
„Doroga“ s bolschoi bukwoi. U nas byl takoi swoi lexikon. A tut my wlilis, kak eto
nasywalos, do systemy. My naschli sebje podobnych.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Eine Freundin von mir kam mit nach Moskau und was noch viel wichtiger war als der
Erfolg: Wir sahen, dass wir nicht die einzigen waren, die auf die Konventionen pfiffen,
nach Freiheit strebten und als Vagabunden durchs Land fuhren. Es gab sowjetische
Hippies. Wir lernten den Moskauer Hippie-Slang kennen, zum Beispiel Begriffe wie
„Autostop“ und „Tramp“. Bis dahin hatten wir unsere eigenen Wörter benutzt,
romantische, russische wie „Doroga“ - und „Brodjaga“. In Moskau schlossen wir uns
der Hippie-Szene an.
6
ERZÄHLERIN:
Lena hatte Gleichgesinnte gefunden, die die gleichen Träume hatten wie sie.
Mit ihren neuen Freunden lebte sie in einer leer stehenden Wohnung als Kommune
zusammen. Politik und offizielle Deklarationen hatten sie damals satt.
O-TON LENA 10:
36’’
Prosto stschitali, schto nasche neutschastieje w tom, schto deklarirujetsja, nasche
neutschastije w politike i w toshe wremja nasche utschastije w prosto
obyknowennych tschelowetscheskich otnoschenijach, gde my budem tschestnymi,
gde my budem ljubit, gde my budem ne gnatsja sa kakim to materialnym, a opjat
slowo tschest, ne poswoljat sebja unishat, ne samim ne komu to, ne prodawat etu
tschest ni sa kakije blaga. I schto dostatotschno delat eto, i tut she nastupit nakonez
tot mir sprawedliwosti.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Wir wollten einfach gleichberechtigt zusammen leben und ehrlich zueinander sein.
Uns lieben, nicht materiellen Werten hinterherlaufen. Wir wollten nicht uns und
andere erniedrigen und so unsere Würde verraten und verkaufen. Wenn wir das alles
erfüllen, so glaubten wir, bricht die Welt der Gerechtigkeit an.
ERZÄHLERIN:
Ihre Utopien hatte Lena aus der russischen Literatur geschöpft. In den Bücherregalen
sehe ich die zerlesenen Bände stehen: Dostojewskis „Arme Leute“, Tolstois Essay
„Sklaverei unserer Zeit“, Turgenjews „Adelsnest“. Daneben Marx und Engels. Trotzkis
„Literatur und Revolution“.
O-TON LENA 11:
17’’
Politikoi my w to wremja jestscho ne sanimalis. Eto washno, potomu schto politika w
to wremja aktivno sanimalas nami. To schto my stschitali, schto odnim
twortschestwom my peremenim mir i schto my etogo ne sdelali.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Mit der aktuellen Politik haben wir uns damals, Ende der Achtziger, noch nicht
befasst. Aber nur ein, zwei Jahre später hat sich dann die Politik mit uns befasst.
7
Wir dachten, dass wir mit unseren Gedichten und Erzählungen die Welt verändern
könnten. Aber wir sind gescheitert.
O-TON LENA 12:
24’’
Schto to dejstwitelno wyroslo, chotja zwetotschki byli sowsem ne takimi kak semena,
kotoryje sasewalis. A oni, te kotoryje to objawljajut perestroiku , to wdrug
okasywajutsja wladelzami neftjanych skwashin. Wot eti ljudi s nami nitschego sdelat
ne mogut. Eto bylo neskolko illjusornoje predstawlenije.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Aus den Samen waren ganz andere Blüten gesprossen. Diejenigen, die die Macht
hatten und die Perestroika propagierten, waren plötzlich Besitzer der Erdölquellen.
Anfangs glaubten wir noch, dass sie nicht über uns bestimmen könnten, aber das
war eine große Illusion.
ATMO C: CD 06 Reklamespruch aus dem russischen Fernsehen.
Kann gekürzt werden.
30''
ERZÄHLERIN:
Mit dem Zerfall der Sowjetunion zog der Kapitalismus ein. Alte Gesetze galten nicht
mehr und neue gab es noch keine. Anfang der neunziger Jahre werden die
Menschen über Funk und Fernsehen aufgefordert, einen sogenannten Voucher zu
erwerben. Damit soll man angeblich Mitaktionär zum Beispiel einer Fabrik werden.
„MMM Invest! Wir machen aus Ihrem Voucher Gold!“
Die Bürger geben gutgläubig ihre Wertpapiere in besagte Voucherfonds. Gewinner
sind die alten Manager und die Nomenklatura. Aus dieser Schicht gehen die ersten
Oligarchen hervor.
MUSIK-AKZENT: Musik 02: Verstimmtes Klavier.
ERZÄHLERIN:
Lenas Freunde und auch sie selbst waren diesem neuen Leben nicht gewachsen.
O-TON LENA 13:
13’’
Bólschej tschast ljudej togo kruga umerla ne perechodja rubesha 25letnego
wosrasta. W osnownom eto samym prostym obrasom ot pjanstwa i ot narkotikow.
8
LENA:
SPRECHERIN OVERVOICE
Die meisten aus meiner Kommune starben, da waren sie noch nicht einmal 25. Auf
ganz banale Weise. An Alkohol oder einer Überdosis Rauschgift.
ERZÄHLERIN:
Oder sie begehen Selbstmord. Auch Lenas späterer Mann will nicht mehr und springt
1993 aus dem Fenster. Er überlebt, ist seitdem jedoch schwerbehindert. Lena
heiratet ihn, obwohl sie weiß, dass er nicht mehr lange leben wird.
MUSIKAKZENT: MUSIK 02
O-TON LENA 14:
48''
Sakontschila ja s pisanijem i sakontschila ja WGIK. I w eto she wremja sakontschila
swojo suschestwowanije ta strana, w kotoroi my do etogo plocho ili choroscho tak ili
sjak shili. Te kto is naschego kursa poumneje, oni ostalis w Moskwe poblishe k
naschim masteram. Wsjo kontschilos i kontschilos mojo shelanije pisat … W eto
wremja ja reschila, schto nikogda ne budu pisat togo, tschego mnje ne chotschetsja...
Lutsche tak tschem naoborot. Ja pereschla w Peterburg, w Leningrad jestscho togda.
Na studio Lenfilm. Kogda ja na sledujustschi mesjaz prischla … mnje skasali: A
satschem ty prischla. Lenfilma bolsche njet.
LENA:
SPRECHERIN OVERVOICE
Als ich die Filmhochschule beendete, zerfiel das Land, in dem wir lebten. Einige
meiner Kommilitonen waren clever, passten sich dem neuen Leben an und drehten
kommerzielle Filme. Aber ich hatte plötzlich keine Motivation zum Schreiben mehr.
Ich schwor mir, niemals etwas zu veröffentlichen, was nicht aus meinem Innersten
kommt. Ich zog nach Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Ich wollte im
Lenfilm-Studio für künstlerische Filme arbeiten. Als ich jedoch ankam, hieß es:
„Lenfilm gibt es nicht mehr.“
MUSIK 03: Weißrussisches Volkslied, a capella, gesungen von Lena. Unter
Erzählerin und Erzählung aus dem Internet. Kann auch schon vorher einsetzen.
ERZÄHLERIN:
Lenas Gesichtszüge sind härter geworden. Ihre Augen müde vom vielen Arbeiten am
Computer. Aber manchmal leuchten sie auf wie früher.
9
ZITATORIN (LENA)
DIE ERLEUCHTUNG. Erzählung aus dem Internet:
Einmal zog sie sich aufs Land zurück, um ein Märchen zu schreiben. Sie lebte
einsam in einem großen Holzhaus. Und in diesem großen Holzhaus stand ein großer
russischer Ofen, den sie mit Birkenholz heizte. Aber er rauchte und zog schlecht.
Doch wenn sie in der blassen Dämmerung aufwachte und aus dem Fenster schaute,
sah sie den grauen Himmel und blaugrüne Tannenspitzen. Und wenn sie sich
schlafen legte, schaute sie wieder aus dem Fenster und sah jedes Mal am Himmel
einen Stern. Da begriff sie auf einmal: D a s ist das Märchen! Der Sinn des Daseins
besteht nicht darin, ein Märchen zu s c h r e i b e n, sondern in diesem Haus zu
leben, den grauen Himmel zu sehen, Holz zu hacken und den Ofen zu heizen, damit
es warm wird. Aber nach einiger Zeit überlegte sie: Nein, das was ich angefangen
habe, muss ich zu Ende schreiben.
ERZÄHLERIN:
Heute veröffentlich Lena ihre Texte im Livejournal, auf Russisch „Shiwoi Shurnal“. Ein
weltweites Internetportal, auf dem Privatpersonen ihre Blogs und Online-Tagebücher
verbreiten. Die Hälfte aller Benutzer sitzt in Russland. Lena genießt hier große
Populärität.
ATMO 05: In Lenas Küche.
1'
ERZÄHLERIN:
Wir stehen in der Küche und kochen gemeinsam. Sie eine Ucha, eine Fischsuppe,
ich ein scharfes indisches Gericht. Die Sonne geht schon unter. In Petersburg ist es
im Winter fast immer dunkel. Lena reibt Möhren, die sie im Garten ihrer
Schwiegermutter gepflanzt und geerntet hat. Sie ist eine Grüne, benutzt keine
Plastiktüten und spart mit Wasser.
Beim Kochen erzählt sich‘s leichter
ATMO 06 (wie O-Ton behandeln):
16’’
I wot desjat proschedschich let, kotoryje priweli k tomu momentu, kak ja okasalas
prodawstschizej Finlandskogo woksala.
10
Lena singt: „Ja prodawschiza, blja, Finlandskogo woksala. Wot tak ja goworila pro
sebja.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Verdammt/Fuck! Nun bin ich Verkäuferin auf dem Finnischen Bahnhof!
ERZÄHLERIN:
So hat sie – nicht ohne Selbstironie - einen alten russischer Gassenhauer
umgedichtet. Die ehemalige Filmstudentin fand sich hinter einer Ladentheke auf dem
Bahnhof wieder. Als Verkäuferin von billigem chinesischen Spielzeug. Und neben ihr
stehen andere Verkäuferinnen, die genauso um ihre Existenz kämpfen: eine
promovierte Physikerin, eine ehemalige Literaturlehrerin. Der Verdienst – ein paar
Rubel.
Im August 1998 hatte sich das Leben vieler Menschen auf einen Schlag verändert.
Durch massiven Kapitalabfluss herrschte eine schwere Wirtschaftskrise. Der Wert
des Rubels sank um 60 Prozent.
O-TON LENA 15:
30’’
Politika nas nastigla w 1998 godu. W 1998 godu byl default sdes. Sa kwartiru my
dolshny byli saplatit ne 600 Rubel, a 3000. Drugije ljudi w toshe samoje wremja
sarabotali mnogo w eto 1998 god. A drugije ljudi w to she samoje wremja wnesapno
okasalis na dne kak goworitsja.
LENA OVERVOICE:
Die Politik drang 1998 mit Macht in mein Leben ein. Vorher bezahlten wir für unsere
Wohnung 600 Rubel. Und über Nacht war die Miete plötzlich auf 3000 Rubel
gestiegen. Manche haben in diesem Jahr sehr viel Geld verdient. Aber Tausende
andere fanden sich plötzlich „ganz unten“ wieder.
ERZÄHLERIN:
Zu diesen gehörten auch Lena und ihr schwerbehinderter Mann. Lena war arbeitslos.
Sergej studierte Philosophie an der Petersburger Universität. Für seinen Studienplatz
hatten beide gekämpft. „Den darfst du nicht aufgeben!“, sagte Lena.
11
O-TON LENA 16:
19’’
No nushno schto to jest. I ja poschla na woksal i ja stoju i prodaju kitaiskije igruschki,
kotoryje lomajutsja. A igruschki lomajutsja u nich w rukach. Ja stala ssoritsja s
natschalstwom: No eto she deti. Kak? No eto byli slowa is proschloi shisni.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Der Mensch muss was essen. Nur aus diesem Grund bin ich auf den Bahnhof
gegangen und habe Plastikspielzeug verkauft. Es ging sofort kaputt, wenn die Kinder
es in die Hand nahmen. Ich stritt mich mit dem Chef herum: „Sowas kann man doch
Kindern nicht anbieten!“ – „Was?!“ fragte er verständnislos. Er fand mich
hoffnungslos altmodisch.
ATMO 07:
1’53’’
Nach 25’’ fängt Lena auf der Gitarre zu spielen an. Harmoniert gut mit Elektritschka.
Lena und Autorin fahren im Regionalzug auf die Datscha von Juri Medwedko. Darauf
Erzählerin.
ERZÄHLERIN:
In der Elektritschka, dem Regionalzug. Wir fahren auf die Datscha von Lenas Freund
Juri Medwedko. Lena hat immer ihre Gitarre dabei. Ihr Schatz sind die alten
revolutionären Lieder. Die von 1917. Lena kennt sie noch aus der Schule, aus
Pionierlagern. Viele davon durften unter Stalin nicht mehr gesungen werden oder nur
mit abgeändertem Text, vor allem, wenn die Lieder zu anarchistisch waren oder
„towaristsch Trotzki“, Genosse Trotzki, vorkam. Die alten originalen Worte hat Lena
im Internet gefunden.
ATMO 07: Elektritschka von oben kommt wieder hoch mit Lenas Gitarre.
ERZÄHLERIN:
2003 haben Juri und sie den kleinen alternativen Verlag „Neuer kultureller Raum“
gegründet. Hier geben sie politische Essays und belletristische Bücher junger
Autoren heraus, die die Zustände im heutigen kapitalistischen Russland kritisieren.
Eigentlich hatte sie beschlossen, den Verlag aufzugeben, erzählt Lena.
12
ATMO 08:
5’03’’
Reine Zugatmo. Ohne unsere Stimmen. Als Untergrund für Lena und Erzählerin.
O-TON LENA 17: (auf Atmo 08 – Zug)
33’’
Ja chotela bolsche ne sanimatsja isdatelskoi dejatelnostju, potomu schto pribyl eto
nikakoi ne dajot. Eti Dengi, kotoryje my tuda sakladywajem, my snajem, schto oni
nikogda ne wernutsja. I jesli by ne pojawilsja pisatel is Belorussii, s kotorym ja
slutschaino posnakomilas, potom tak she slutschaino stala tschitat. I stala wsem
goworit: Wot tschelowek, kotory sejtschas pischet lutsche wsech na russkom jasyke.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Denn er bringt nicht den geringsten Gewinn. Das Geld, das wir investieren, kommt
nicht wieder herein. Hätte ich nicht zufällig diesen Schriftsteller aus Weißrussland
entdeckt, Konstantin Tscharuchin, ich hätte aufgegeben. Ich halte ihn für den besten
russischsprachigen Autor, den es heute gibt.
ERZÄHLERIN:
Den Erzählband von Tscharuchin haben sie und Juri 2013 herausgegeben. Auf den
Buchumschlag hat Lena besonderen Wert gelegt: eine utopische Zeichnung aus dem
Jahr 1932 - „Plan einer Mondstadt“. Der Künstler war vollkommen in Vergessenheit
geraten. Lena hat ihn wiederentdeckt. Sie liebt die revolutionäre avantgardistische
Kunst aus der Anfangszeit der Sowjetunion, als alles noch offen war.
ATMO 09 (auf reine Zug-Atmo 08)( wie O-Ton):
52’’
Lena erzählt über den Literaturpreis „Nos“. Darauf Erzählerin.
ERZÄHLERIN:
Lena und Juri reichten Tscharuchins Buch für den renommierten russischen
Literaturpreis „Die Nase“ ein. Der nach Gogols gleichnamiger Erzählung benannte
Preis fördert neue Trends in der modernen russischen Literatur. Eigentlich ging diese
Einreichung Lena gegen den Strich: der Preis wird vom Oligarchen Michail
Prochorow gestiftet, und sie hasst die Milliardäre. Aber in diesem Fall war es ihr
wichtig, den jungen Schriftsteller aus ihrer Heimat Belarus bekannt zu machen.
13
O-TON LENA 18: (auf Atmo 08, Zugatmo)
17’’
I s nekotorym udiwlenijem tscheres dwa mesjaza polutschili wdrug is fonda
Prochorowa takoje pobednoje pismo. Posdrawljajem!!! Wy woschli w dlinny spisok
pobediteljej premii „Nos“.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Und wie durch ein Wunder bekamen wir zwei Monate später von der ProchorowStiftung einen triumphalen Brief: Wir gratulieren! Sie sind in der Longlist!
ATMO 10:
1’25’’
In der Elektritschka. Nach 12’’ fängt Lena zu singen an. Unter Erzählerin.
ERZÄHLERIN:
Vor einigen Tagen erst erhielt sie die Nachricht, dass ihr Autor jetzt sogar in die
Shortlist aufgenommen wurde. 40 000 Rubel bekommt er schon allein dafür. Das
sind etwa 1000 Euro. Das muss heute mit Juri gefeiert werden. Unter freiem Himmel!
Am Lagerfeuer! Lena hat außer ihrer Gitarre noch Rotwein mitgenommen.
ATMO 11:
Auf der Datscha. Im Freien. Gespräche.
1'32''
ERZÄHLERIN:
Juris Datscha ist ein einfaches kleines Holzhaus mit einem großen russischen Ofen.
Es trägt eine weiße Kappe. Während der Fahrt ist Schnee gefallen. Juri hat ein
Lagerfeuer angefacht.
ATMO 12:
Beginnen bei 00.23, wenn Lena zu singen anfängt. Bis 01.26 – erste Strophe.
3'46''
ERZÄHLERIN:
Lena singt für mich die „Internationale“. Juri schaut sie skeptisch an: „Lena ist unsere
Revolutionärin“, sagt er.
14
ATMO 12 kommt wieder hoch
ZITATORIN (LENA)
Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt. Das
Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch
macht mit den Bedrängern. Heer der Sklaven wache auf. Ein Nichts zu sein, tragt es
nicht länger. Alles zu werden strömt zuhauf. Völker hört die Signale. Auf zum letzten
Gefecht. Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.
O-TON 19 DIALOG ZWISCHEN LENA UND JURI MEDWEDKO:
1’04’’
O-TON MEDWEDKO: Eto bylo samoje interesnoje wremja. Sejtschas krome
poschljatiny i shestokosti nitschego ne ostalos. Togda dejstwitelno interesno bylo.
Nawernoje etot golod, kotory byl w Sowjetskom Sojuse …
MEDWEDKO
SPRECHER OVERVOICE:
Weißt du, Lena, die neunziger Jahre waren die interessantesten. Damals gab‘s noch
Kultur, und wir konnten unseren geistigen Hunger nach der Literatur stillen, die in der
Sowjetunion verboten war. Heute ist außer Gemeinheit und Brutalität nichts übrig
geblieben.
O-TON LENA: Ne snaju. Moshet byt, wam eto bylo interesno. Ja eto wremja s
ushasom wspominaju i s nLenawistju. Kogda wo mnje klassowaja nenawist
sarodilas. Togda ona wo mnje wosrosla. Blishe k 1998 godu.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Ich weiß ja nicht …Vielleicht waren die Neunziger für d i c h interessant. I c h
erinnere mich mit Horror an diese Zeit. 1998 ist in mir der Klassenhass erwacht.
O-TON MEDWEDKO: A ja dumal, schto togda … Ja toshe ne dumal, schto tak
obernjotsja, schto w takuju dikost obernjotsja, ne dumal.
15
MEDWEDKO
SPRECHER OVERVOICE:
Ich habe auch nicht gedacht, dass sich alles mal ins Gegenteil verkehrt. Dass sich
alles in so eine Unkultur verwandelt. Daran hab ich nicht im Traum gedacht.
O-TON LENA: W 98om ne dumal? A ushe wsjo obernulos. Da, ushe bylo …
W twoich raskasach wsjo eto widno, wo schto wsjo obernulos.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Was?! 98 hast du das noch nicht gemerkt?! Da war doch alles schon deutlich zu
sehen. Du beschreibst ja selbst in deinen Erzählungen, was aus uns geworden ist.
O-TON MEDWEDKO: Wot eto byl schock.
MEDWEDKO
SPRECHER OVERVOICE:
Es war ein Schock!
ATMO 13:
2’58’’
Lena singt Revolutionslied von 1917: „Schto ostanetsja ot Moskwy, da ot Rossii.“
Bis ca. 00.42
ERZÄHLERIN:
Irgendwann geht den Beiden die Lust zum Diskutieren aus.
ATMO 13: von oben kommt wieder hoch.
ERZÄHLERIN:
Was wird aus Moskau, wird aus Russland werden, heißt das Lied, das Lena jetzt
singt. Ein Revolutionslied von 1917, als der Zar gestürzt wurde. Lena hat neue
Strophen hinzugedichtet, die sich auf die heutigen Verhältnisse in Russland
beziehen.
ATMO 14:(mit Atmo 13 verbinden)
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Die letzten vier Strophen des Liedes, die sie neu gedichtet hat. Lena: Staraja pesnja
na nowy lad.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Was liegt ihr auf dem Ofen, ihr Schlafmützen, und wartet, bis man euch alles
weggenommen hat!? Sogar die Luft zum Atmen. Dann kommt euer Heulen zu spät.
Was ist nur aus Moskau, aus Russland geworden?!
Atmo 14 kommt wieder hoch und geht über in
ATMO 2a:
Newski-Prospekt
Falls Länge nicht ausreicht verbinden mit:
32''
ATMO 03:
1'30''
purer Newski-Prospekt, Lärm, weiter hinten Autohupen und Passanten. Ohne unsere
Stimmen.
ERZÄHLERIN:
Mein letzter Tag. Wir sind auf dem Newski Prospekt. Der Newski war schon immer
die berühmteste und prächtigste Straße von Sankt Petersburg. So wie in Paris die
Champs Elysees und in Berlin der Ku'Damm. In den Luxusgeschäften glitzert und
funkelt es in den Auslagen. Unerreichbar für die Vielen, die, ärmlich gekleidet und
abgekämpft, vorübereilen. Nasser Schnee fliegt uns ins Gesicht.
O-TON LENA 01:
Won tam stoit Jekaterina bolschaja, bolschaja so swoimi malenkimi swoimi
Potjomkinami. A, wot tam fotografurujutsja s zarizej.
13''
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Schauen Sie, da drüben! Da steht das Denkmal für Katharina die Große mit all ihren
kleinen Potjomkins. Die Leute lassen sich mit der Zarin fotografieren.
ATMO 03 als Untergund für folgende Erzählerin
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ERZÄHLERIN:
Eine junge Frau steht neben dem Denkmal. Sie trägt das prächtige historische
Gewand der Zarin. Doch das ist für den Sommer gemacht. Jetzt sind in Petersburg
Null Grad. Als wir näher treten, sehe ich, dass die junge Frau vor Kälte zittert. Doch
sie muss lächeln und bietet sich den Touristen als Fotomotiv an.
O-TON LENA 02:
26''
Odna moja podrushka nedawno rabotala zarizej i skasala, schto chushe raboty ne
bywalo prosto w shisni. Nestschastnyje ljudi wse. Tschem tolko ne sarabatywaju na
shis.
Atmo - lautes Auto fährt auf Newski vorbei - an O-Ton anhängen.
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Eine Freundin von mir hat auch mal als Zarin gejobbt. In ihrem ganzen Leben hätte
sie keine anstrengendere Arbeit gehabt, hat sie mir erzählt. Mit allem Möglichen
müssen die Armen ihr Geld verdienen!
ATMO 15:
1’50’’
Lenas Demo auf dem Newski-Prospekt. Laute Rufe „Posor!“ - „Schämt euch!“
Bei 43’’ ruft Lena: „Schämt euch“. Bei 1’43’’ Polizeihorn.
ERZÄHLERIN:
Der eigentliche Grund, warum wir hier auf dem Newski sind, ist eine Demo. Lena trifft
sich mit linken Aktivisten. Sie ist nicht die einzige, die sich politisch engagiert. Es gibt
viele junge Leute, die nach dem Zerfall der Sowjetunion geboren wurden und ein
starkes Empfinden für soziale Ungerechtigkeit entwickeln.
ATMO 15 kommt wieder hoch.
ERZÄHLERIN:
Die Aktivisten fordern die Freilassung von Valentin Urussow, dem Führer einer
unabhängigen sibirischen Gewerkschaft. Er sitzt im Gefängnis, weil er einen Streik
organisiert hat. Anlass waren die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei der
Aktiengesellschaft „Alros“, „Russischer Diamant“.
18
2000 Arbeiter traten einer Polizei-Sondereinheit mit dem alten Rotfront-Gruß der
deutschen Arbeiter entgegen – sie hoben die geballte rechte Faust. Der Streik wurde
niedergeschlagen.
Ein Polizist, breit wie ein Schrank drängt die zierliche, sich jedoch vehement
wehrende Lena von der Straße. „Posor!“ - „Schämt euch!“, ruft sie.
ATMO 16:
10’’
Autorin: Eto otschen stranno: snatschit gosudarstwennaja wlast na storone
wladelzew fabrik. Lena: Konetschno!
O-TON LENA 20:
50’’
Sdes wsjo po klassike. Gosudarstwennaja wlast na storone kapitalistow. Ja dashe ne
snaju, moshno li o gosudarstwennoi wlasti jestscho o kak takowoi goworit. Slischkom
serjosnyje interesy. Kto budet po dobroi wolje wypuskat is ruk milliony? Uprawljajut
te, kto sachapal sebje westschi, kotoryje w prinzipe ne mogut prinadleshat odnomu
tscheloweku. Kak moshno ne byt politikom, jesli ponjatno schto ne bywajet tak , schto
u odnogo byli milliony, a u drugogo nitschego njet. Nu ne bywajet, nu chot streljajete
menja. Nikto menja w etom ne ubedit. (Dann Stille)
LENA
SPRECHERIN OVERVOICE:
Alles wie bei Marx. Die Staatsmacht steht auf Seiten des Kapitals. Ich weiß nicht mal,
ob die Staatsmacht so mächtig ist. Hier bestimmen andere. Wer wird schon freiwillig
seine Millionen hergeben! In Wirklichkeit regieren die Milliardäre, die sich alles unter
den Nagel gerissen haben. Dinge, die eigentlich keinem einzelnen gehören dürfen.
Man kann mich erschießen, aber ich werde mich niemals damit abfinden, dass der
eine Millionen hat und der andere nichts.
MUSIK-AKZENT. Vorschlag: Musik 02
ERZÄHLERIN (trocken):
Gut ein Jahr ist es her, dass ich Lena das letzte Mal gesehen habe. Seitdem ist viel
passiert: die Flugzeugkatastrophe über der Ostukraine im Juli 2014 – der Krieg im
Gazastreifen, der Krieg in Syrien, vor allem der in der Ukraine.
„Lenotschka!“, schreibe ich nach Petersburg. „Lenotschka! Wie geht es Ihnen?“
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ZITATORIN (LENA):
Guten Tag, Antje! Wie soll es mir gehen? Ich hatte geplant, in die Ostukraine zu
fahren, um dort als Krankenschwester den Verwundeten zu helfen. Aber meine
ukrainischen Freunde rieten mir ab. Die Lage sei zu gefährlich.
ERZÄHLERIN:
Als ich erfahre, dass bei Donezk Massengräber gefunden wurden, in denen junge
Frauen liegen, denke ich: Ein Glück, dass Lena nicht dorthin ist.
Mir klingt noch ihre Stimme im Ohr, als sie mir zum Abschied in Petersburg sagte:
O-TON LENA 21:
39’’
Nushno ljudjej strachiwat. Ja dumaju, schto na drugom konze my imejem prosto
smert wsego. Ja ne dumaju, schto my wywernjomsja, jesli budem bratjami. No eto
chotja by my poprobujem, schto to delat, schtoby nam pomoglo. Potomu schto wsjo
slischkom ushe sapustscheno, slischkom na semlje wsjo isportscheno. I moshno tak
sakasat, schto tschelowek kak projekt prirody pod bolschim somnenijem.
LENA:
SPRECHERIN OVERVOICE:
Die Menschen müssen endlich aufwachen! Sonst wird hier noch alles kaputt gehen
auf der Erde. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir uns alle verbrüdern müssen,
damit es besser wird, wie damals, als wir Hippies waren. Aber wir müssen etwas tun.
Es ist so viel schief gelaufen. Man könnte fast sagen: Das Projekt Mensch ist
gescheitert.
MUSIK-AKZENT: Musik 03 – weißrussisches Lied
- Aussprachen, bis auf die nachgereichten Töne.
- Drei Musiken, die die Regie nach eigener Entscheidung einsetzen kann.
Musik 03 – Weißrussisches Lied
Musik 04 – moderner russischer Blues-Rock, die Vertonung eines Gedichtes von
Anna Achmatowa.
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1. MUSIK A – CD 01 – Taigalied, gesummt.
2. ATMO A – CD 02 – Koffer-Atmo.
3. O-TON LENA A – CD 03
4. ATMO B – CD 04 Geräusch des Kofferschlosses.
5. O-TON LENA B – CD 05
6. ATMO C - CD 06 – Reklamespruch.
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