2016 09

9
dbb magazin
September 2016 – 67. Jahrgang
Behindertenpolitik:
Postvertriebsstück • Deutsche Post AG „Entgelt bezahlt“
Ecken, Kanten, Stufen
Seite 4 <
Interview:
Verena Bentele,
Behinderten­
beauftragte der ­
Bundesregierung
Seite 6 <
Bürgerbefragung 2016:
Starker Staat gefragt
dbb
© Coloures-pic – Fotolia.com
Bei den teuren Sozialreformen, die die Große Koalition bei Rente,
Gesundheit und Pflege in der zu Ende gehenden Legislaturperio­
de auf den Weg gebracht hat, ist einmal mehr der Grundsatz au­
ßer Acht gelassen worden, dass jeder Euro, der ausgegeben wird,
zuvor verdient sein will. Inzwischen macht sich bei den Regie­
rungsparteien Katerstimmung breit. Ins Gerede gekommen ist
aktuell vor allem die Entwicklung des sogenannten Zusatzbei­
trags, den ausschließlich die Versi­
cherten, nicht aber die Arbeitgeber zur
Finanzierung der gesetzlichen Kran­
kenversicherung zahlen müssen. Der
aktuelle Beitragssatz beträgt zurzeit
14,6 Prozent, von dem jeweils 7,3 Pro­
zent Arbeitnehmer und Arbeitgeber
„solidarisch“ zahlen. Benötigen die
Kassen mehr, können sie seit Januar
2015 individuell einen Zusatzbeitrag
festlegen, an dem sich die Arbeitgeber
nicht beteilligen müssen. Dieser Bei­
trag lag im vergangenen Jahr bei etwa
0,9 Prozent und ist in diesem Jahr be­
reits auf durchschnittlich 1,1 Prozent
gestiegen. Einer aktuellen Studie des Lehrstuhlinhabers für Medi­
zinmanagement an der Universität Essen-Duisburg, Prof. Dr. Jür­
gen Wasem, zufolge, wird sich der Zusatzbeitrag bis 2020 auf 2,4
Prozent mehr als verdoppeln.
Nach derzeitiger Regelung würden aber die Arbeitgeber weiterhin
„nur“ 7,3 Prozent, die Arbeitnehmer aber bereits 9,7 Prozent der
Gesundheitskosten aufbringen müssen. Bundesgesundheitsminis­
ter Hermann Gröhe (CDU) warnt vor Panikmache. Dass es teurer
wird, bestreitet er aber nicht. Wie teuer es zunächst einmal 2017
werden soll, werde eine Prognose des Schätzerkreises im Gesund­
heitswesen im Oktober erbringen. Der GKV-Verband rechnet –
zurzeit noch – mit einer Erhöhung des Zusatz­beitrags auf knapp
zwei Prozent. Der dbb spricht sich seit Langem dafür aus, zur pari­
tätischen Finanzierung der Krankenkassenbeiträge zurückzukeh­
ren: Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen wieder je die Hälfte
der Beiträge aufbringen. Ein möglicher Zwischenschritt auf dem
Weg, die Gerechtigkeitslücke zu schließen, wäre eine Deckelung
des Zu­satzbeitrags. Vor den Bundestagswahlen im kommenden
sm
Jahr wäre diese Maßnahme ein gutes Signal. Impressum: Herausgeber: Bundesleitung des dbb beamtenbund und tarifunion – Fried­
richstraße 169, 10117 Berlin. Telefon: 030.4081-40. Telefax: 030.4081-5599.
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zin), gültig ab 1. 10. 2015. Druckauflage: 597.469 (IVW 2/2016). Anzeigenschluss:
6 Wochen vor Erscheinen. Gedruckt auf Papier aus elementar-chlorfrei gebleichtem
Zellstoff.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird der Einfachheit halber nur die männliche
Form verwendet. Sämtliche Personen- und Berufsbezeichnungen gelten jedoch glei­
chermaßen für alle Geschlechter.
ISSN 0941-8156
<< Schwerpunkt: Behindertenpolitik
<
<
aktuell
<<
Interview: Verena Bentele,
Behinderten­beauftragte der
­Bundesregierung
dbb Bürgerbefragung 2016:
Deutsche wollen „starken Staat“
und einheitliche Beamtenbesoldung6
<<
Europäische Zusammenarbeit:
Mehr Wertschätzung für Beamte
in Europa
8
<<
Personalausstattung: Neue Stellen
weiterhin dringend erforderlich
8
<<
Rendite staatlicher Pensionsfonds
sinkt: Vermögen flexibel und
­konservativ anlegen
9
<<
Flexibler Übergang in den Ruhestand: Rahmenbedingungen
weiter verbessern
4
6
28
32
Bildung: In Sachsen fehlt der
­Lehrernachwuchs11
<
<
fokus
<<
Beschäftigte mit Behinderung
im öffentlichen Dienst:
Ohne Unterschied
12
<<
Bundesteilhabegesetz und
Nationaler Aktionsplan:
Gut gemeint, nicht gut gemacht? 16
<<
Standpunkt: „Behinderte sind
nicht automatisch doof“
20
<<
Führungskräfte in der digitalen
­Arbeitswelt: Führung im Wandel22
<
<
spezial
<<
Eine Frage an Dr. Jürgen Schneider,
Beauftragter des Landes Berlin für
Menschen mit Behinderung
24
<<
Hab und Gut sichern: Entfesselte Na­
turgewalten können teuer werden 25
<<
Kampagne „Gefahrenzone Öffent­
licher Dienst“: Zwischenbilanz
26
<<
Geldpolitik: Mehr Schein als Sein? 28
<<
Europäische Säule sozialer
Rechte: Bessere Behindertenrechte
in Europa
32
<<
Arbeiten 4.0: Digitaler Wandel –
Chance oder Risiko für Frauen in der
Arbeitswelt?34
<<
BGH-Beschluss zur Patientenverfügung: Kein Grund zur Panik
38
<
<
finale
<<
Glosse: Fulltime-Jobsharing39
<<
Digitale Infrastruktur:
Wann beginnt die Aufholjagd?
<<
Mitgliedsgewerkschaften42
<<
Kulisse: Der Zweck heiligt
(manchmal) die Mittel47
_0ZY57_IVW LOGO-frei.pdf; s1; (53.55 x 51.43 mm); 20.May 2016 13:58:47; PDF-CMYK ab 150dpi für Prinergy; L. N. Schaffrath DruckMedien
40
10
<<
12
16
4
<<
40
> dbb magazin | September 2016
3
aktuell
Kostenexplosion in der Sozialpolitik
dbb
Interview mit Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange
von Menschen mit Behinderungen:
Schulische Inklusion darf kein Sparmodell sein
dbb magazin
Am 28. Juni 2016 hat das Bun­
deskabinett den Nationalen Ak­
tionsplan 2.0 verabschiedet, der
den Titel „Unser Weg in eine
inklusive Gesellschaft“ trägt.
Wird der öffentliche Dienst als
Arbeitgeber durch den NAP ge­
nug in die Pflicht genommen?
Wo bietet der Aktionsplan dem
öffentlichen Dienst Chancen?
<<
aktuell
4
So wird das Bewusstsein der
Führungskräfte geschärft, dass
Beschäftigte unterschiedliche
Stärken, Begabungen und Prä­
ferenzen haben. Spezielle För­
derprogramme für Führungs­
kräfte mit Behinderung fehlen
jedoch noch.
<<
Verena Bentele
Eine Stärkung der Schwerbe­
hindertenvertretungen – wie
es auch der Koalitionsvertrag
der Regierungsfraktionen for­
muliert – ist im Entwurf des
Bundesteilhabegesetzes vorge­
Verena Bentele
Im neuen NAP 2.0 finden sich
Maßnahmen, die den öffentli­
chen Dienst inklusiver machen.
Dabei beziehen sich die Arbeit­
geber des Bundes auf die Fort­
schritte, die im ersten natio­
nalen Aktionsplan gemacht
wurden. Zentrales Element
sind die Aktionspläne, die in
den Bundesministerien unter
Beteiligung der Schwerbehin­
derten- und Hauptschwerbe­
hindertenvertretungen erstellt
wurden. Nun haben sich die
Ministerien verpflichtet, diese
zu evaluieren und weiterzuent­
wickeln. Nicht alle Ministerien
haben dabei dasselbe Tempo,
und natürlich wünsche ich mir
als Behindertenbeauftragte
und Sportlerin immer mehr
und würde gern schneller Fort­
schritte erkennen.
Um das Bewusstsein bei Neu­
einstellungen und in der Per­
sonalführung zu verändern,
finde ich es gut, dass die Bun­
desakademie für öffentliche
Verwaltung (BAköV) als zentra­
le Fortbildungseinrichtung des
Bundes entsprechende Ange­
bote macht. In ihren verhal­tens­
orientierten Fortbildungsver­
anstaltungen in den Bereichen
Führung, Kommunikation und
Personalentwicklung infor­
miert die BAköV insbesondere
auch über die Belange von
Menschen mit Behinderungen.
> dbb magazin | September 2016
für die sogenannte Unwirk­
samkeitsklausel ein. Diese
sieht vor, dass eine Maßnahme
des Arbeitgebers unwirksam
ist, wenn die gesetzlich festge­
legte Beteiligung der Schwer­
behindertenvertretung unter­
blieben ist. Bisher ist eine
solche Sanktion bei fehlender
Beteiligung der Schwerbehin­
dertenvertretung nicht im Ge­
setzentwurf enthalten. Ich hof­
fe, dass im parlamentarischen
Verfahren zum Bundesteilha­
begesetz dort noch etwas er­
reicht werden kann.
<<
dbb magazin
Durch die demografische Ent­
wicklung wird die Zahl lebens­
älterer Menschen mit Behinde­
rung in den nächsten Jahren
deutlich ansteigen und hin­
sichtlich Betreuung, Pflege und
Inklusion neue Anforderungen
stellen: Sind wir darauf – auch
nur annähernd – vorbereitet,
Frau Bentele?
<<
Insgesamt denke ich, dass wir
bereits viele Erkenntnisse ha­
ben, jetzt geht es jedoch dar­
um, die passenden Strukturen
zu schaffen für Menschen, die
auch im Alter teilhaben wollen
und einen pflegerischen Bedarf
haben.
sehen. So sind Verbesserungen
bei der Freistellung sowie bei
der Heranziehung und Schu­
lung von Stellvertretern ge­
plant. Aus meinen Gesprächen
mit Schwerbehindertenvertre­
tungen habe ich mitgenom­
men, dass es ihnen besonders
auf eine bessere Durchsetzbar­
keit der bestehenden Beteili­
gungsrechte gegenüber dem
Arbeitgeber ankommt. Ich set­
ze mich daher im Rahmen des
Bundesteilhabegesetzes auch
In der Behindertenpolitik be­
schäftigt man sich seit einigen
Jahren mit der Lebenssituation
älterer Menschen mit Behinde­
rungen. Hierbei ist zu berück­
sichtigen, dass die älteren Men­
schen keine homogene Gruppe
darstellen. Es gibt sehr unter­
schiedliche Behinderungen, die
in unterschiedlichen Lebens­
phasen erworben werden. Vie­
le Menschen mit Behinderun­
gen werden von Angehörigen
betreut und gepflegt. Dazu
<
< Verena Bentele
<<
dbb magazin
Die Schwerbehindertenver­
tretungen haben das Recht,
an allen Personalrats- oder
­Betriebsratssitzungen mit be­
ratender Stimme teilzuneh­
men. Die beratende Teilnahme
beinhaltet nicht das Stimm­
recht. Das ist eine „schwache“
Position. Wie könnte eine Stär­
kung der Rechte zum Vorteil
behinderter Beschäftigter er­
reicht werden?
Verena Bentele
CDU/CSU, Steven Rösler
<<
dbb
Barrierefreiheit stellt einen
zentralen Aspekt in der Inklusi­
on dar, das betrifft natürlich
auch ältere Menschen mit Be­
hinderungen. Wichtig ist der
<<
dbb magazin
Immer mehr Lehrer rücken
mittlerweile von der Idee eines
gemeinsamen Unterrichts mit
behinderten Schülern an Re­
gelschulen ab, weil es vom
­Personal bis zur Fortbildung
an allen Ecken fehlt. Was muss
getan werden, damit schuli­
sche Inklusion kein frommer
Wunschtraum bleibt?
<<
Verena Bentele
Deutschland ist nach Art. 24
der UN-Konvention über die
Rechte von Menschen mit Be­
hinderungen verpflichtet,
Menschen mit Behinderungen
gleichberechtigt mit anderen
den Zugang zu einem inklusi­
ven Unterricht an allgemeinen
Schulen zu ermöglichen. Dabei
ist es ganz wichtig, dass Lehrer
die notwendige Unterstützung
erhalten, die sie für die inklusi­
ve Unterrichtsgestaltung be­
nötigen. Schulische Inklusion
darf kein Sparmodell sein. Es
muss eine ausreichende räum­
liche und personelle Ausstat­
tung sichergestellt werden.
Lehrerinnen und Lehrer dürfen
nicht mit der wichtigen Aufga­
be der schulischen Inklusion
alleingelassen werden. Be­
wusstseinsbildung muss für
mehr Akzeptanz der Inklusiven
Bildung an allen Schulen sor­
gen und die schwierige Aufga­
be der Lehrerinnen und Lehrer
im Umgang mit der heteroge­
nen Schülerschaft adäquat
würdigen.
<<
dbb magazin
Die Behinderten-Pauschbeträ­
ge sind seit 1975 nicht mehr
den tatsächlichen wirtschaftli­
chen Verhältnissen angepasst
worden. Betroffene sollen ihre
Aufwendungen einzeln nach­
weisen – eine Regelung, die be­
sonders ältere Menschen über­
fordert und die Finanzämter
zusätzlich belastet. Sehen Sie
eine Lösung des Problems?
<<
Verena Bentele
Zu berücksichtigen ist, dass
seit 2008 beim BehindertenPauschbetrag nur noch die be­
hinderungsbedingten Mehr­
aufwendungen abgegolten
werden. Dies sind Aufwendun­
gen, die etwa für die Pflege
s­ owie für einen erhöhten
­Wäschebedarf anfallen. Alle
­übrigen, nicht vom Pauschbe­
trag erfassten krankheits- und
behinderungsbedingten Auf­
wendungen können zusätzlich
steuermindernd geltend ge­
macht werden. Es gab Überle­
gungen, die Abgeltungswirkung
des Pauschbetrages neu zu kon­
zipieren und auf alle krank­
heits- oder behinderungsbe­
dingten Aufwendungen zu
erstrecken. Im Gegenzug war
angedacht, die Pauschbeträge
anzuheben. Dies ist letztlich
nicht umgesetzt worden, weil
es nach Berechnungen des Bun­
desministeriums der Finanzen
im Vergleich zum geltenden
Recht insbesondere bei Men­
schen mit einer schweren und
kostenintensiven Behinderung
zu Verschlechterungen kom­
men kann, auch wenn die
Pauschbeträge angehoben wür­
den. Die Unterschiedlichkeit der
Lebenssachverhalte führt dazu,
dass eine generelle Pauschalie­
rung nicht für alle Menschen
mit Behinderungen wünschens­
wert ist. Ich habe daher davon
abgesehen, eine Neukonzepti­
on des Behinderten-Pauschal­
betrages zu fordern. << Verena Bentele …
… Jahrgang 1982, wurde in Lindau
am Bodensee geboren. Nach dem
Abitur mit Schwerpunkt Wirt­
schaftslehre am Gymnasium der
Blindenstudienanstalt in Marburg
an der Lahn absolvierte sie von 2001
bis 2011 ein Masterstudium Neue­
re Deutsche Lite­ratur mit den Ne­
benfächern Sprachwissenschaften
und Pädagogik an der Ludwig-Ma­
ximilians-Universität in München.
Seit 2006 hält sie Vorträge und Se­
minare für Firmen im Bereich Syste­
misches Coaching ab. Außerdem ist Bentele seit 2011 freiberufliche
Referentin im Bereich Personaltraining und -entwicklung. Verena
Bentele war von 1995 bis 2011 Leistungssportlerin und gewann
zwölfmal Paralympisches Gold. Sie war Mitglied der Paralympi­
schen Nationalmannschaft im Skilanglauf und Biathlon. Außerdem
ist sie Botschafterin der Laureus Stiftung Deutschland und arbeitet
beim SV Zukunft/Coaching für Schüler mit schwieriger Perspektive
mit. Ferner ist sie Botschafterin des IPC – Internationales Paralympi­
sches Committee. Im Jahre 2012 trat Verena Bentele der SPD bei
und wurde im Januar 2014 auf Vorschlag von Bundesarbeitsministe­
rin Andrea Nahles zur neuen Beauftragten der Bundesregierung für
die Belange von Menschen mit Behinderungen bestellt.
> dbb magazin | September 2016
5
aktuell
Wir brauchen aber auch besse­
re Beratungsstrukturen, die
niedrigschwellig und barriere­
frei sind. Hier wird es im Pfle­
gestärkungsgesetz III wichtige
Neuerungen geben. Die Kom­
munen werden stärker einbe­
zogen in die Beratung. Pflegen­
de Angehörige müssen durch
Ehrenamtliche unterstützt wer­
den und die Nachbarschaftshil­
fe darf nicht vergessen werden.
Aber auch die Arbeitgeber spie­
len eine wichtige Rolle. Ich bin
sehr froh, dass es gelungen ist,
einen Rechtsanspruch auf Frei­
stellung im Familienpflegezeit­
gesetz durchzusetzen. Das ist
ein großer Fortschritt und
zeigt, dass auch Arbeitgeber
sich der Verantwortung für die
älteren Menschen stellen. Eine
neue Herausforderung ergibt
sich bei der Pflege von älteren
Menschen mit Migrationshin­
tergrund. Viele Menschen, die
Anfang der 1960er-Jahre nach
Deutschland kamen, werden
pflegebedürftig. Auch für diese
Menschen müssen Pflegeange­
bote vorgehalten werden.
Ausbau von barrierefreiem Öf­
fentlichen Personennahver­
kehr, damit Menschen mobil
bleiben. Auch in der Gesund­
heitsversorgung brauchen wir
mehr Barrierefreiheit, etwa
was Arztpraxen betrifft. Auch
die Anzahl an Räumlichkeiten
anderer Leistungserbringer ist
noch nicht ausreichend. Sehr
gut finde ich den Ausbau auf­
suchender Angebote wie mobi­
le Rehabilitation. Besonders in
ländlichen Regionen muss die
gesundheitliche Versorgung
sichergestellt werden. Modelle
wie AGnES oder Schwester
Vera sind zukunftsweisende
Ansätze. Und auch die moder­
ne Technik spielt eine wichtige
Rolle, damit ältere Menschen
mit Behinderungen bis ins
hohe Alter selbstständig blei­
ben können. So gibt es mittler­
weile gute technische Hilfen
wie Apps für blinde Menschen,
die dazu beitragen, Selbststän­
digkeit zu erhalten.
SPD
müssen wir die entsprechen­
den Strukturen und die richti­
gen Unterstützungsangebote
schaffen. Gerade die Pflege von
Menschen mit Behinderungen
im Alter kann ganz andere An­
forderungen haben, nicht nur
bei demenzkranken Menschen,
sondern auch bei Menschen,
die zum Beispiel erblinden oder
gehörlos sind. In der Pflegeaus­
bildung müssen Menschen mit
Behinderungen mit ihren be­
sonderen Bedarfen daher mehr
in den Fokus rücken. Durch die
Einführung des neuen Pflege­
bedürftigkeitsbegriffs erhoffe
ich mir eine neue Sichtweise
bei der Pflege von Menschen,
die darauf abzielen soll, die Po­
tenziale der Menschen noch
besser zu fördern und Teilhabe
zu ermöglichen. Die gute Aus­
bildung von Pflegenden ist da­
her ein wichtiger Faktor.
dbb Bürgerbefragung 2016:
Deutsche wollen „starken Staat“ und
einheitliche Beamtenbesoldung
Die Bürger in Deutschland wollen einen „starken Staat“ (72 Prozent) und sind zu fast zwei Dritteln da­
von überzeugt, dass die Ausgaben für den öffentlichen Dienst angemessen sind (in 2007 zu 37 Prozent,
2016 zu 64 Prozent). Das sind zwei der wesentlichen Ergebnisse der am 23. August 2016 in Berlin vor­
gestellten zehnten „Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst“, die das Meinungsforschungsinstitut forsa
im Auftrag des dbb durchgeführt hat.
Bundesvorsitzende Klaus
­Dauderstädt das Ergebnis
am 23. August 2016 in Berlin:
„Abstrakt sind die Menschen
für weitgehende Kompetenz­
aufteilung, konkret wollen sie
aber gleichzeitig Bundesvorga­
ben für landesweit einheitliche
Standards und Regelungen.“
Marco Urban
aktuell
6
<
< forsa-Chef Manfred Güllner (links) und der dbb Bundesvorsitzende Klaus Dauderstädt präsentierten am
23. August 2016 im dbb forum berlin die Ergebnisse der aktuellen Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst.
Im Ranking der beliebtesten Be­
rufe liegen mit Feuerwehrleu­
ten (93 Prozent), Ärzten und
Pflegern (87 Prozent) oder Poli­
zisten bzw. Erziehern (82 Pro­
zent) auch 2016 die öffentlich
Bediensteten ganz vorn. Die
größten Gewinner im Beru­
feranking der Deutschen (seit
2007) arbeiten bei der Müllab­
fuhr (+10 Prozent) oder als
> dbb magazin | September 2016
Briefträger (+8 Prozent), Lehrer
und „Beamte“ (+7 Prozent). In
der diesjährigen dbb Umfrage
wurden die Deutschen zudem
über ihre Kenntnisse und Ein­
stellungen zu Aspekten des Fö­
deralismus gefragt. Obwohl 61
Prozent der Bundesbürger fin­
den, dass sich die Kompetenz­
verteilung zwischen Bund und
Ländern bewährt hat, können
die meisten Befragten außer
dem Thema „Bildung“ kaum
weitere Länderkompetenzen
benennen. Gleichzeitig fordert
die Mehrheit eine einheitliche
Bundeskompetenz bei Themen
wie Strafvollzug, Steuer- und
Finanzpolitik, Beamtenbesol­
dung, Schule und Polizei. „Das
ist ein interessanter Wider­
spruch“, kommentierte der dbb
Generell, so der dbb Chef,
habe auch die zehnte Auflage
der dbb Bürgerbefragung die
po­sitive Imageentwicklung
von öffentlichem Dienst und
Beamtenschaft bestätigt. Dau­
derstädt: „Vor allem beim Be­
amtenimage gibt es eine nach­
haltige Verbesserung. ­Positive
Attribute, wie ‚verantwor­
tungsbewusst‘ oder ‚zuverläs­
sig‘ werden den Beamten von
Jahr zu Jahr öfter zugeschrie­
ben. Negative Eigenschaften,
wie ‚arrogant‘, ‚ungerecht‘ und
‚überflüssig‘ werden immer
weniger genannt. Das ist ein
sehr ermu­tigendes Zeichen!“ << Webtipp
Die vollständige dbb Bürger­
befragung Öffentlicher
Dienst 2016 zum Download
unter: http://goo.gl/LlAAC0
©tiero – Fotolia.com
dbb
dbb
Europäische Zusammenarbeit:
„In der Vergangenheit hat die politische Klasse in
den EU-Staaten für die europäische Integration ge­
standen und diese auch vorangetrieben. Die heute
politisch Verantwortlichen steuern Europa mehr
schlecht als recht, was die Krisen verlängert und
weiter anheizt“, kritisierte der dbb Bundesvorsit­
zende Klaus Dauderstädt am 16. August 2016 in
Berlin. Kontinuität und Verlässlichkeit, auch in Fra­
gen der europäischen Zusammenarbeit, sieht der
dbb Bundesvorsitzende dagegen bei den öffentli­
chen Verwaltungen und ihren Mitarbeitern.
sam mit den Bürgerinnen und
Bürgern zukunftsweisende po­
litische Entscheidungen umzu­
setzen.“ Der dbb Bundesvorsit­
zende sieht die Notwendigkeit
von mehr grenzüberschreiten­
der Kooperation. „Nicht nur
die Mehrheit der Menschen
wünscht sich mehr Behörden­
zusammenarbeit, zum Beispiel
auf so elementaren Feldern
wie der inneren und der äuße­
ren Sicherheit. Auch die öffent­
lich Bediensteten und ihre Ge­
werkschaften sehen klar den
Nutzen gemeinschaftlichen
Handelns.“
„Umfragen zeigen recht deut­
lich, dass viele Menschen unzu­
frieden mit der EU in ihrem ge­
genwärtigen Zustand sind, mit
kleinteiligen Detailregelungen
aus Brüssel, dass sie gleichzei­
tig aber zur Lösung der großen
Fragen unserer Zeit mehr euro­
päische Zusammenarbeit wün­
schen“, so Dauderstädt. „Der
öffentliche Dienst kann genau
das leisten, wenn er nicht wei­
ter als Sparobjekt gesehen und
so in seiner Leistungsfähigkeit
geschwächt wird.“ In vielen EUStaaten sei der Druck auf die
Verwaltungen in den Krisenjah­
ren besonders groß gewesen.
„Das muss ein Ende haben“,
fordert Dauderstädt. „Die öf­
fentlich Bediensteten in unse­
ren europäischen rechtsstaatli­
chen Demokratien stehen für
Stabilität, Gerechtigkeit und
Sicherheit im Wandel.“
Personalausstattung:
Neue Stellen weiterhin dringend erforderlich
Obwohl bei Bund, Ländern und Gemeinden in jüngster Zeit viele Stellen geschaffen oder zumindest
angekündigt worden sind, bleibt die fehlende Personalausstattung aus Sicht des dbb eines der Haupt­
probleme des öffentlichen Dienstes in Deutschland. Gegenüber dem Handelsblatt (Ausgabe vom
11. August 2016) wies der dbb Bundesvorsitzende Klaus Dauderstädt erneut darauf hin, dass der
­allgemeine Personalmangel beim Staat nicht erst durch die Flüchtlingssituation entstanden ist.
Der aktuelle Personalmangel
sei die Konsequenz aus einer
über lange Zeit verfehlten Per­
sonal- und Sparpolitik. „Die
Funktionsfähigkeit des Staates
wird deshalb aktuell auf eine
harte Probe gestellt“, so Dau­
derstädt. Trotz einiger Perso­
nalverstärkungen würden bei
Polizei, Schule und Verwaltung
weiterhin Millionen Überstun­
den gemacht, ohne dass auch
nur klar wäre, wie und ob diese
jemals abgebaut werden könn­
ten. Eine Abfrage des Handels­
blattes bei Bund und Ländern
> dbb magazin | September 2016
©Jeanette Dietl – Fotolia.com
aktuell
8
Dauderstädt bemängelt die
fehlende Geschlossenheit der
EU-Regierungen, die Heraus­
forderungen der Zeit gemein­
sam in der Union zu bestehen.
„Dabei verfügen die Regierun­
gen über europäisch vernetzte
Verwaltungen, die in der Regel
gut aufgestellt sind, gemein­
©Kadmy – Fotolia.com
Mehr Wertschätzung für
Beamte in Europa
hatte ergeben, dass allein im
Länderbereich in den vergan­
genen zwölf Monaten 24 000
neue Stellen geschaffen wor­
den seien, bei der Bundespoli­
zei waren es 3 000. Die mit
­Abstand meisten neuen Ar­
beitsplätze in den Ländern
­entstanden an Schulen, es fol­
gen die Landespolizeibehörden,
die Landesverwaltung und die
Justiz. Seit 1995 sei die Zahl der
Beschäftigten im öffentlichen
Dienst zuvor allerdings um
13 Prozent von 5,3 auf 4,6 Mil­
lionen zurückgegangen.
dbb
Rendite staatlicher Pensionsfonds sinkt:
Vermögen flexibel und konservativ anlegen
Nach einer Umfrage der Süd­
deutschen Zeitung unter den
Bundesländern waren 2014 die
Renditen der Versorgungsfonds
aus Zinserträgen und anderen
Einkünften wie Dividenden teil­
weise noch sehr gut. So habe
das Plus in Sachsen-Anhalt da­
mals noch 8,26 Prozent betra­
gen, in Baden-Württemberg
7,55 Prozent. Ein Jahr später
ging es dann steil bergab: in Ba­
den-Württemberg auf 3,65 Pro­
zent, in Sachsen-Anhalt auf nur
noch 1,98 Prozent und in Nord­
rhein-Westfalen sogar auf le­
diglich 1,48 Prozent. Für 2016
setze sich diese Entwicklung
fort. Sachsen-Anhalt zum Bei­
spiel habe im ersten Halbjahr
dieses Jahres gerade einmal
0,16 Prozent Ertrag verzeichnet.
Um die Fondsrenditen zu
­erhöhen, schichten einige Län­
der ihre Anlagen verstärkt in
Aktien um. Der Umfrage zufol­
ge strebt etwa Baden-Würt­
temberg an, den Aktienanteil
von heute 40 Prozent auf 50
Prozent zu erhöhen. dbb Chef
Klaus Dauderstädt zeigte dafür
prinzipiell Verständnis. „Die
Anlagestrategie muss sich der
Entwicklung am Kapitalmarkt
anpassen“, sagte er der Nach­
richtenagentur Reuters. Er
mahnte aber, einerseits müsse
eine verlässliche Rendite er­
wirtschaftet werden: „Ande­
rerseits muss das Vermögen so
konservativ angelegt sein, dass
sein Zweck nicht gefährdet
wird.“ Langfristig, so der dbb
Chef, seien die Versorgungs­
fonds aber der richtige Weg,
um auch Kapitalerträge zu nut­
zen: „Insofern fordern wir auch
Niedersachsen, Berlin, Saar­
land, Schleswig-Holstein und
Bremen auf, entsprechende
Vorsorge zu betreiben.“ Diese
fünf Länder haben bisher keine
Versorgungsfonds. Hohe Auszeichnung:
Bundesverdienstkreuz
für Klaus Dauderstädt
bund und tarifunion wirke er
für Beamte wie Tarifbeschäf­
tigte erfolgreich, unspektaku­
lär, aber sehr effizient, betonte
der Minister.
An der Zeremonie im Bundes­
innenministerium nahmen
­neben Renate Krupp-Dauder­
städt seitens des Ministeriums
der Leiter der Abteilung D
­Öffentlicher Dienst, Ministeri­
aldirektor Paul Fietz, und der
BMI/SKIR
Der dbb Bundesvorsitzende Klaus Dauderstädt
ist am 26. August 2016 mit dem Verdienstkreuz
am Bande des Verdienstordens der Bundesrepu­
blik Deutschland ausgezeichnet worden. Die Ver­
leihung fand im Bundesministerium des Innern
in Berlin statt. „Beamtenminister“ Thomas de
Maizière persönlich hielt die Laudatio.
Zur Ordensübergabe hatte der
Minister in sein Amtszimmer
geladen. Dort würdigte er den
Einsatz des neuen Ordensträ­
gers von jungen Jahren an: in
Schülermitverwaltung, Perso­
nal- und Betriebsräten, in der
ehrenamtlichen Jugend- und
Behindertenarbeit, in der Un­
terstützung des Hospizwesens
und in vielen Funktionen inner­
halb der Sozialversicherung. An
der Spitze des dbb beamten­
9
aktuell
Die Null-Zins-Politik der Euro­
päischen Zentralbank (EZB)
bringe den Staat in eine para­
doxe Lage: Einerseits profitie­
ren der Bund und die Länder
als Emittenten von Staatsanlei­
hen von den niedrigen Zinsen.
Andererseits bekommen sie
aber wie normale Investoren
kaum noch Renditen für ihre
eigenen Geldanlagen.
©gena96 – Fotolia.com
Die von den Pensionsfonds der Bundesländer erwirtschafteten
Renditen am Kapitalmarkt gehen deutlich zurück. Teilweise, so
berichtet die Süddeutsche Zeitung am 18. August 2016, hätten
sich 2015 die Erträge der Fonds halbiert.
<
< Bundesinnenminister Thomas de Maizière überreichte am 26. August 2016
das von Bundespräsident Joachim Gauck verliehene Verdienstkreuz an dbb
Chef Klaus Dauderstädt „in Anerkennung der um Volk und Staat erworbe­
nen besonderen Verdienste“, wie es in der Ernennungsurkunde heißt.
Referatsleiter Arbeits- und
­Tarifrecht, Ministerialrat Ernst
Bürger, teil, für den dbb dessen
Zweiter Vorsitzender und
Fachvorstand Tarifpolitik, Willi
Russ, für die Gewerkschaft der
Sozialversicherung GdS ihr
Bundesvorsitzender Maik
Wagner und für das dbb Team
Bundesgeschäftsführerin
­Marion Gipkens. Mit einem
Blumenstrauß dankte der
­Bundesinnenminister Renate
Krupp-Dauderstädt für ihren
Beitrag zu dieser Lebensleis­
tung ihres Ehemannes.
> dbb magazin | September 2016
dbb
Flexibler Übergang in den Ruhestand:
Rahmenbedingungen weiter verbessern
nun konsequent weitergegan­
gen werden muss“, betonte
Silberbach.
Im Hinblick auf die vorgesehe­
ne Neuregelung der Versiche­
rungspflicht von Rentenbezie­
hern hat der dbb moniert, dass
die während der Rentenphase
geleisteten Rentenbeiträge nur
dann dem Rentenbezieher zu­
gutekommen, wenn dieser
selbst ebenfalls entsprechende
Beiträge entrichtet. Bisher wa­
ren nur vom Arbeitgeber Bei­
träge zu entrichten, die dann
jedoch in den allgemeinen Ren­
tentopf flossen, ohne die Ren­
<< Klausursitzung der dbb AG Justiz: Ein starker Rechtsstaat – Starke Justiz
ten des Betreffenden zu erhö­
hen. Der dbb präferiert ein auf
Freiwilligkeit des Arbeitneh­
mers beruhendes Modell, in
dem die Beiträge – unabhängig
von wem sie entrichtet werden
– individuell gutgeschrieben
werden.
Auch der Vorsitzende der dbb
bundesseniorenvertretung,
Wolfgang Speck, begrüßte an­
lässlich der Anhörung grund­
sätzlich die Möglichkeit eines
flexiblen Renteneintritts. Aller­
dings dürfe die Weiterarbeit
nach Erreichen der Regelalters­
grenze nicht erzwungen wer­
den, beispielsweise durch eine
zu niedrige Rentenhöhe. So­
wohl der gleitende Übergang
in den Ruhestand als auch die
Sicherstellung eines auskömm­
lichen Alterseinkommens
müssten Ziele einer zukunfts­
orientierten Rentenpolitik sein,
erklärte Speck.
Das Bundeskabinett wird vor­
aussichtlich am 14. September
über den Entwurf beraten. Ziel
sei es, das Gesetzgebungsver­
fahren bis zum Ende dieses
Jahres abzuschließen. << Nahverkehr Bayern
Neuer Tarifvertrag
dbb
aktuell
10
„Die auf die Arbeitswelt bezo­
genen Rahmenbedingungen
müssen allerdings so gestaltet
werden, dass ein freiwilliges
Weiterarbeiten über die Re­
gelaltersgrenze hinaus über­
haupt möglich ist“, sagte der
stellvertretende dbb Bundes­
vorsitzende Ulrich Silberbach.
„Während die Verbesserungen
im Bereich der Rehabilitation
und Prävention in die richtige
Richtung gehen, erscheinen
die Regelungen beim Hinzu­
verdienst zu kompliziert.“ Bei
den Erwerbsminderungsren­
ten sieht der dbb weiterhin
dringenden Handlungsbedarf.
Die derzeitigen Abschläge
müssten ebenso überdacht
werden wie eine weitere Ver­
längerung der Zurechnungs­
zeiten. „Mit den bereits im
RV-Leistungsverbesserungsge­
setz enthaltenen Maßnahmen
wurde ein Weg begonnen, der
©Marco2811 – Fotolia.com
Anlässlich einer Verbändeanhörung zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur
Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur
Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben am 15. August
2016 im Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat der dbb einen Ausbau
der Flexibilität beim Übergang in das Rentenalter ausdrücklich begrüßt.
<
< Die dbb AG Justiz kam unter Leitung des stellvertretenden dbb Bundesvorsitzenden und Fachvorstands Beamten­
politik, Hans-Ulrich Benra, am 18./19. Juli 2016 zu einer Klausursitzung im dbb forum siebengebirge zusammen.
„Eine starke Justiz benötigt eine starke Stimme in unserem Rechtsstaat“, sagte Benra. Er betonte damit das Ziel der
dbb Justizgewerkschaften, ihre Anliegen gemeinsam gegenüber der Politik stärker vertreten zu wollen. Die Tagung
diente dazu, justiz- und berufspolitische Positionen zu e
­ rarbeiten.Dabei ging es sowohl um Fragestellungen zur
Stärkung des Rechtsstaates als auch um veränderte Aufgaben in den unterschiedlichen Berufsfeldern der Justiz.
> dbb magazin | September 2016
Am 11. August 2016 haben
sich der dbb und der Kom­
munale Arbeitgeberverband
Bayern (KAV Bayern) nach
langen und schwierigen Ver­
handlungen in München auf
einen neuen Tarifvertrag für
die Nahverkehrsbetriebe in
Bayern (TV-N Bayern) geei­
nigt. Für alle Beschäftigten
gibt es eine lineare Entgelt­
erhöhung von tabellenwirk­
samen 4,75 Prozent. Weiter
wurde die Entgeltgruppe F
abgeschafft. Es gilt nun, die
Entgeltgruppe 3b in allen
bayerischen Nahverkehrs­
unternehmen zur Anwen­
dung zu bringen.
dbb
Bildung:
In Sachsen fehlt der
Lehrernachwuchs
©contrastwerkstatt – Fotolia.com
Eine umfassende Analyse der Situation im Schulsys­
tem des Freistaates Sachsen stand im August 2016
im Mittelpunkt mehrerer Gespräche von dbb und
GEW Sachsen mit Finanzminister Georg Unland
und ­Kultusministerin Brunhild Kurth in Dresden.
Aktuelle Prognosen bestätigen
steigende Schülerzahlen in den
nächsten Jahren. Der hohen
Zahl von ausscheidenden Lehr­
kräften stehen aber zu wenige
Studierende und Absolventen
des Vorbereitungsdienstes ge­
genüber. Im Vorfeld des Ge­
sprächs hatte Kultusministerin
Brunhild Kurth auf einer Pres­
sekonferenz zur Vorbereitung
des neuen Schuljahres den
Stand des Einstellungsverfah­
rens bekanntgegeben: Von
1 200 Stellen konnten zwei
Tage vor Ende der Sommerferi­
en 1 148 besetzt werden, da­
von 45 Prozent nur durch die
Einstellung von Seiteneinstei­
gern ohne Lehrerausbildung.
„Der Freistaat Sachsen muss um­
gehend in attraktivere Arbeits­
bedingungen im Schulbereich
investieren, ansonsten wird die
Bildungsqualität zwangs­läufig
und langfristig zur Disposition
gestellt“, forderte dbb Tarifchef
Willi Russ. Dabei müsse der Ge­
nerationengerechtigkeit Rech­
nung g
­ etragen werden. „Es gilt,
die Einstellungs­bedingungen
für künftige Lehrkräfte zu ver­
bessern und genauso die Inte­
ressen der Lehrkräfte zu be­
rücksichtigen, die Sachsen zu
einem hervorragenden Bil­
dungs­standort gemacht haben.“
Der stellvertretende Vorsit­
zende der dbb Bundestarif­
kommission, Jens Weichelt, er­
gänzte: „Jahrelang haben die
sächsischen Lehrerinnen und
Lehrer für andere Bundeslän­
der ausgebildet, weil keine Ein­
stellungen zur Demografievor­
sorge erfolgten. Jetzt müssen
wir dort um Lehrernachwuchs
werben, aber wenn die Arbeits­
bedingungen hier nicht stim­
men, kann das nicht gelingen.
Die Lehrerausbildung im Frei­
staat muss sich umgehend an
unseren künftigen schulartund fächerspezifischen Bedar­
fen orientieren, sonst wird der
Lehrermangel auch im nächs­
ten Jahrzehnt noch akut sein.“
Die Vertreter von Gewerkschaf­
ten und Staatsregierung ver­
ständigten sich die Gespräche
im September fortzusetzen, um
auf Basis der erfolgten Analyse
Möglichkeiten zur Sicherung
des künftigen Lehrerbedarfs
auszuloten. > dbb magazin | September 2016
©Jenny Sturm – Fotolia.com
dbb
Beschäftigte mit Behinderung im öffentlichen Dienst:
Ohne Unterschied
Kein Land verfügt über mehr Gesetze und Vereinbarungen, die behin­
derten Menschen einen Platz mitten in der Gesellschaft sichern sol­
len, als Deutschland. Auch der Anspruch auf eine angemessene Teil­
habe am Erwerbsleben ist gesetzlich geregelt, wobei der öffentliche
Dienst seine Position als besonders behindertenfreundlicher Arbeit­
geber seit Jahrzehnten behauptet. Drei Schwerbehinderte berichten,
wie sie ihren ­Arbeitseinsatz im öffentlichen Dienst erleben. Ihr Fazit:
Integration g
­ elingt, wenn alle Beteiligten weniger bewerten, was ein
behinderter Bewerber nicht kann, sondern welche Fähigkeiten ihn für
die jeweilige Aufgabe qualifizieren.
Der Bundespolizist
bahnhof, wo Holger Müller seit
2008 Dienst getan hatte, per­
sönlich Kontakt zur Vertrauens­
person der schwerbehinderten
Menschen der Bundespolizeidi­
rektion Berlin aufgenommen.
„Er rief an und erzählte mir,
dass einer seiner besten Beam­
ten, einer, der immer vorne mit
dabei sei, einen Schlaganfall
hatte und fragte, ob wir etwas
für Herrn Müller tun können“,
erinnert sich Frank Richter.
Richter informierte daraufhin
seinen Stellvertreter Jürgen
Pilz in Frankfurt/Oder. Pilz
machte sich auf den Weg in
Müllers 40 Kilometer entfernt
gelegenen Wohnort Neuzelle.
„Als ich Herrn Müller zum ers­
ten Mal ­besuchte, saß er im
Rollstuhl, konnte nicht spre­
chen und nicht alleine essen.
Frank und ich verständigten
uns anschließend trotzdem,
dass wir helfen wollen. Von da
an haben wir Holger begleitet.“
Richter und Pilz, beide seit eini­
gen Wahlperioden freigestellte
Mitglieder der fünfköpfigen
Schwerbehindertenvertretung
der für die Hauptstadt und die
brandenburgischen Grenz­
inspektionen Angermünde,
Frankfurt/Oder und Forst zu­
ständigen Bundespolizeidirek­
tion Berlin, vertreten die Anlie­
gen von rund 200 Beschäftigten
mit Schwerbehinderung oder
einer dieser entsprechenden
„Gleichstellung“. Sie wussten
aus ihren Erfahrungen, dass der
Fall Holger Müller aus vielerlei
Gründen äußerst knifflig wer­
den könnte.
<<
Zurückgekämpft,
­Solidarität ­erfahren
Dabei war die gesundheitliche
Rehabilitation des Polizei­
hauptmeisters bei Weitem
nicht das größte Problem:
­Mithilfe seiner eisernen Dis­
ziplin und der Unterstützung
seiner ­Familie lernte Holger
<
< Drei Jahre nach seinem schweren Schlaganfall verrichtet
Holger Müller seit Januar 2016 Dienst in der zentralen
­Asservatenverwertung der Bundespolizeidirektion Berlin,
die in Frankfurt/Oder ihren Sitz hat. Der Bundespolizei­
hauptmeister beurteilt und verwertet „De­liktsgut“, Ge­
genstände aus Diebstählen oder – wie im Hintergrund zu
sehen – Fahrzeuge, die bei Kontrollen der Bundespolizei
aus dem Verkehr gezogen wurden.
Fünf Monate Reha. Im Mai
2013 kam er wieder nach Hau­
se: als Pflegefall? Damit wollte
er sich nicht abfinden. Müller
kämpfte und erarbeitete sich
in winzigen Schritten die Herr­
schaft über Kopf und Körper
zurück.
Zwischenzeitlich hatte der Lei­
ter der Bundespolizeiinspekti­
on auf dem Berliner Haupt­
> dbb magazin | September 2016
Jan Brenner
fokus
12
An den Tag, der alles änderte,
kann er sich kaum erinnern.
„Ich fühlte mich nicht fit, hatte
seit Januar eine schwere Erkäl­
tung verschleppt. Ich war zu
Hause, wollte gleich los zum
Frühdienst. Dann weiß ich
nichts mehr.“ Vom ersten
Schlaganfall, den Polizeihaupt­
meister Holger Müller am 12.
März 2013 zu Hause im bran­
denburgischen Neuzelle erlitt,
hätte er sich noch vollständig
erholen können. Das haben sei­
ne Ärzte ihm später gesagt.
„Am 15. März kam der Zweite.
Der hat mich so schwer er­
wischt, dass ich danach alles
neu lernen musste, wirklich al­
les.“ Binnen drei Tagen war
Müller, 1,98 Meter groß, sport­
lich und seit 27 Jahren Polizist
mit Leib und Seele, vom Helfer
zum Hilfsbedürftigen gewor­
den – Genesungsprognose un­
gewiss.
dbb
<<
Wieder und immer
noch ein guter Polizist
Happy End? Müller zögert mit
seiner Antwort. „Ich kam im
Mai 2015 zur Eingewöhnung
zunächst auf das Bundespoli­
zeirevier nach Eisenhütten­
stadt. Dort habe ich über Mo­
nate weiße Wände angestarrt,
bis ich nach Frankfurt gefahren
bin und gesagt habe: ,Gebt mir
endlich Arbeit!‘ “ Wieder brach­
ten Richter und Pilz die Drähte
ihres Netzwerks zum Glühen
– und erfuhren, dass ein Kolle­
ge in der in Frankfurt beheima­
teten zentralen Asservatenver­
wertung zum Jahresende in
Pension ging.
Am 1. Januar 2016 trat Holger
Müller die Stelle an. Er über­
nimmt Asservate nach deren
Freigabe von der Asservaten­
verwaltung, beurteilt und ver­
wertet sie oder führt sie der
Vernichtung zu. Bei den zu ver­
wertenden Asservaten handelt
es sich überwiegend um soge­
nanntes Deliktsgut. Müller ist
berechtigt, wieder ein Polizei­
fahrzeug zu führen und somit
in der Lage, „zu verwertende
Asservate mittels Kleintrans­
porter zu verbringen“, wie es
im Polizeijargon heißt. Die Wo­
chenarbeitszeit des Bundesbe­
amten beträgt aufgrund seiner
Schwerbehinderung 40 statt
41 Stunden.
Holger Müller ist wieder und
immer noch Polizist. Ist er zu­
frieden? „Ja“, sagt er, „es hätte
alles viel schlimmer ausgehen
können. Aber dass ich draußen
keine Uniform mehr tragen
darf, weil die Bevölkerung er­
warten kann, dass ein Polizist in
Uniform voll handlungs- und
bewegungsfähig ist, was bei
mir ja nicht mehr der Fall ist, das
tut mir sehr weh. Ich war lei­
denschaftlich gerne Polizist, am
liebsten 25 Stunden am Tag.“
13
<
< Frank Richter, Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen der
Bundespolizeidirektion Berlin (links), und sein Stellvertreter Jürgen Pilz
haben Holger Müller auf seinem Weg zurück in den Polizeidienst tatkräf­
tig unterstützt.
Die Berufsförderschullehrerin
Wäre der Begriff nicht längst
im allgemeinen Sprachge­
brauch verankert, für Kerstin
Knauer hätte ihn jemand er­
funden: Netzwerkerin. Die
50-jährige Thüringerin ordnet
die Aufgaben, die sie sich in
den vergangenen 16 Jahren zu
eigen gemacht hat, so struktu­
riert und besonnen in den Ak­
tenkoffer ihres Lebens, dass
man meinen könnte, sie sei al­
les, was sie heute ist, immer
schon gewesen: Lehrerin an
einer Förderberufsschule, Ver­
trauensperson der schwerbe­
hinderten Menschen auf örtli­
cher und bezirklicher Ebene,
ausgebildete Suchtkrankenhel­
ferin, Beraterin für das Betrieb­
liche Eingliederungsmanage­
ment von Langzeitkranken
(BEM): „Im Januar 2015 habe
ich bei der dbb akademie mei­
ne zertifizierte Fortbildung zur
Gesundheitsmanagerin abge­
schlossen und dann gibt es
auch noch meine Mitarbeit im
tlv, dem Thüringer Lehrerver­
band“, führt Kerstin Knauer die
Liste ihrer Mandate und Aktivi­
täten weiter.
„Der tlv ist mir sehr wichtig,
nicht nur, weil er im Februar
1990 in meiner Heimatstadt
Saalfeld gegründet wurde. „Die
Gewerkschaft gibt mir auch im­
mer wieder den nötigen Rück­
halt“, ergänzt sie und räumt auf
Nachfrage überraschend ein,
dass ihre heutige Laufbahn als
Sozialnetzwerkerin für die im
Thüringer Schulwesen beschäf­
tigten Kolleginnen und Kolle­
gen ganz und gar nicht zu ihren
Berufswünschen gehört hatte.
„Ich saß schon im Kindergarten
an der Nähmaschine und habe
mein geliebtes Hobby später
zu meinem Traumberuf ge­
macht und hier in Saalfeld als
Damenmaßschneidermeisterin
ein eigenes Geschäft geführt.
Das musste ich nach meinem
Autounfall Anfang 2000 leider
aufgeben, weil ich als Folge ei­
ner Wirbelsäulenverletzung
kein Gefühl mehr in den Hän­
den hatte.“
<<
Vor den Trümmern
des Lebenstraums
Mit knapp 35 Jahren stand
Kerstin Knauer mit einer
Schwerbehinderung vor den
Trümmern ihres Lebenstraums
und ihrer Existenz. Dann hörte
sie von einer Freundin, dass für
den Förderbereich der Berufs­
schule im benachbarten Unter­
wellenborn Praktiker für den
Unterricht gesucht würden.
„Ich habe im April 2000 an­
gefangen, im Bereich Haus­
wirtschaft Wäsche- und Textil­
pflege zu unterrichten und
zunächst für zwei Jahre als
­Honorarkraft gearbeitet, wäh­
rend ich mich nebenbei an der
Uni Erfurt in Berufspädagogik
qualifiziert habe. 2002 wurde
ich unbefristet angestellt und
habe dann auch gleich am Auf­
bau einer stärkeren Schwerbe­
hindertenvertretung mitge­
wirkt. Denn als ich anfing, hat
sich niemand besonders um
meine Bedürfnisse als Schwer­
behinderte gekümmert.“
2008 kandidierte Kerstin Knau­
er zum ersten Mal als Vertrau­
ensperson und wurde seitdem
in jeder Wahlperiode bestätigt.
Inzwischen gehören sie und
ihre Stellvertreterin auch der
bezirklichen Schwerbehinder­
> dbb magazin | September 2016
fokus
Da Holger Müller seinen Auf­
gaben als Bundespolizist bis
zum Schlaganfall ohne Fehl
und Tadel nachgekommen
war, zogen schließlich alle an
einem Strang: Auf Initiative der
Schwerbehindertenvertretung
und ehemaliger Vorgesetzter,
mit Unterstützung des Perso­
nalrates und Billigung des Prä­
sidenten der Bundespolizeidi­
rektion Berlin kehrte Müller
am 4. Mai 2015 ohne amts­
ärztliches Gutachten in den
­Polizeidienst zurück.
Jan Brenner
Müller wieder laufen, sprechen
und essen, er stieg stundenlang
Treppen, machte Kraftsport
und ging zum Boxtraining, um
seine Motorik zu schulen. Als
es ihm körperlich besser ging,
nahm er Fahrstunden, um wie­
der Auto fahren zu dürfen. Der
Haken war – sein Alter. „Holger
war 52, als er den Schlaganfall
bekam. Bis 55 werden derartige
Fälle in der Regel vom Amtsarzt
auf ihre Polizeidienstfähigkeit
untersucht und bei Nichteig­
nung zur Umschulung für den
Verwaltungsdienst geschickt.
Das bedeutet Wegfall der Poli­
zeizulage und der Heilfürsorge
und Pensionierung nicht mit
61 ½ Jahren, wie im Polizei­
dienst üblich, sondern mit
66 ½“, erklärt Frank Richter.
„Keine Perspektive für unseren
Kollegen Müller.“
dbb
fokus
14
Doch sie verschweigt auch
nicht, dass die Zuständigkeiten
für die Belange behinderter
Menschen die Integrationsämter (Bewilligung von Sach­
leistungen), Schulämter (per­
sönliche Belange, Zuständigkeit nach Arbeitsort) sowie die
Städte beziehungsweise Land­
kreise als Sachaufwandsträger
unter sich aufteilen, in einem
Flächenland wie Thüringen für
enorm viel Bürokratie und –
auch als Folge anhaltender
Verwaltungsreformen – für
sehr weite Wege sorgen. „Das
für unseren Landkreis Saalfeld-­
Rudolstadt zuständige Schul­
amt befindet sich mittlerweile
in Suhl. Da fahren wir hin- und
zurück rund 150 Kilometer
mehrheitlich Landstraße, im
Winter gibt es im Thüringer
Wald viel Eis und Schnee: Das
kostet Zeit. Zum Integrations­
amt nach Gera ist es zwar
nicht ganz so weit. Trotzdem
müssen wir viel mehr Dinge
telefonisch erledigen, als uns
lieb ist“, bedauert Kerstin
Knauer.
<<
Besser als mancher
­Comedy-Sketch
Dann macht sie an zwei aktu­
ellen Beispielen klar, dass die
Wirklichkeit, die ihr als Vertrau­
ensperson für schwerbehinder­
te Menschen entgegentritt,
manchmal abgefahrener ist als
jeder Comedy-Sketch. „Wir ha­
ben für eine stark sehbehinder­
te Lehrerin eine beleuchtete
Leselupe beantragt. Deren Be­
schaffung musste vom Integra­
tionsamt genehmigt und finan­
ziert werden. Da die Lupe aber
elektrischen Strom braucht,
musste anschließend der Land­
kreis als Sachaufwandsträger
genehmigen, dass im Klassen­
raum die notwendigen Streck­
dosen verlegt werden. Das hat
Christine Bonath
tenvertretung an. „Wir haben
in den Jahren verlässliche
Strukturen aufgebaut.“
<
< Wenn etwas kreuz und quer läuft, lächelt Kerstin Knauer ihren Frust
auch schon mal weg: Als Vertrauensperson der Schwerbehinderten
­Menschen muss sich die Förderberufsschullehrerin aus dem thüringi­
schen Saalfeld oft mit dem Übermaß an Bürokratie auseinandersetzen,
das durch unterschiedliche Zuständigkeiten verursacht wird.
ein paar Monate gedauert, und
als alles durch war, ging die
Kollegin in Rente.“
Oder die Sache mit dem Umzug
eines Schulbereiches in ein re­
noviertes Gebäude, das vor gut
drei Monaten als barrierefrei
übergeben wurde: „Dort gibt
es einen Fahrstuhl, der – aus
uns nicht bekannten Gründen
– nur vom Keller aus bedient
werden kann. Eine schwer geh­
behinderte Kollegin, die dort
unterrichtet, muss jetzt mit ih­
ren Krücken jedes Mal über die
Treppe in den Keller laufen, um
den Aufzug zu benutzen. Mir
wurde zugesagt, dass der Man­
gel bis nach den Sommerferien
behoben ist. Ich bin gespannt“,
sagt Kerstin Knauer und schaut
halb belustigt, halb resigniert.
„Meine Kollegin und ich bieten
zweimal die Woche persönliche
Beratungen an, wir sind telefo­
nisch und per E-Mail ansprech­
bar, pflegen viele Kontakte zu
zuständigen Sachbearbeitern,
Ärzten und Einrichtungen und
wir müssen jede Menge Papier­
kram erledigen. Es gibt noch so
viel zu tun, wofür unser zeitli­
cher Aufwand gar nicht aus­
reicht.“
Der Zollbeamte
Markus Samhammer lässt sich
jeden Morgen vorlesen. Er tut
das aber nicht im Kindergar­
ten, sondern in seinem Büro
und er möchte auch keine Mär­
chen hören, sondern Namen,
Daten und Fakten. Der Zollbe­
amte ist blind und arbeitet im
Hauptzollamt München als
Sachbearbeiter in der Kfz-Steu­
erstelle. „Ich kann alle digita­
len Schriften in meinem Com­
puter bearbeiten. Es macht
aber keinen Sinn, wenn ich
handschriftliche Anträge oder
Vermerke einscanne. Deshalb
müssen die Kollegen mir
manchmal vorlesen. Ich tippe
die Angaben dann schnell in
den PC, was ich für die An­
tragsbearbeitung noch brau­
che, kann ich mir dann wieder
aus der EDV holen“, sagt der
50-Jährige und checkt jetzt sei­
> dbb magazin | September 2016
ne Mails, die ihm der Computer
nach Eingang, Betreff und Ab­
sender vorliest.
„Die Sprachangabe und die
Braillezeile hier unterhalb der
Tastatur ersetzen meine Au­
gen“, kommentiert Samham­
mer die Besonderheiten seines
mit Blindentechnik ausgestat­
teten Arbeitsplatzes. „Wir
­Blinden müssen uns halt viel
merken“, sagt er mit einer Be­
tonung, als sei das das gerings­
te Problem. Dabei ist es aus
Sicht der Sehenden ganz sicher
das größte.
auch auf dem Weg von und zur
Arbeit: „Ich habe ein gutes Ori­
entierungsvermögen, das ist
nicht bei allen Blinden so.
Wenn ich einen Weg einmal
gegangen bin, finde ich mich
zurecht“, erklärt er. „Außerdem
kenne ich mich in München
aus“, fügt er lächelnd hinzu,
„ich fahre jeden Tag Bus und
Straßenbahn und sollte ich mal
umziehen, hilft mir ein Mobili­
tätstrainer, die wichtigsten
Wege kennenzulernen. So war
das auch, als ich 1987 nach Re­
gensburg gezogen bin.“
<<
Das Sich-merken-Müssen be­
trifft schließlich nicht nur die
Bearbeitung von Kfz-Steuer­
bescheiden, sondern jeden
Schritt, den Samhammer tut,
sowohl im Dienstgebäude als
Postbeamter mit Faible
für Computer-Router
Dort hatte der Pfarrerssohn,
der mit zwei älteren Brüdern
aufgewachsen ist, bei der
Deutschen Bundespost eine
Anwärterstelle im mittleren
nichttechnischen Verwaltungs­
dienst angetreten. „Ein Freund
rief damals an und erzählte
mir, dass die Post in Regens­
burg eine Blinden-Stelle ausge­
schrieben hat“, blickt Samham­
mer zurück. „Der Anruf hat
mein Leben verändert. Eigent­
lich wollte ich nach der mittle­
ren Reife Abitur machen und
Sozialpädagogik studieren,
hatte dann aber Bedenken,
­wegen meiner Behinderung
keine Stelle zu finden.“
Als er drei Jahre später zurück
nach München kam, war seine
Laufbahn im mittleren Postverwaltungsdienst auf gutem
Weg. Aus der Bundespost wur­
de Telekom und Samhammer
kam wegen seiner Fähigkeit,
komplexe Vorgänge sehr gut
Christine Bonath
dbb
„Herr Samhammer wurde ge­
nommen, weil er gut war, und
nicht, weil er schwerbehindert
ist“, ergänzt Joachim Geiger,
Vertrauensperson der schwer­
behinderten Menschen im
Hauptzollamt München, der
das Auswahlverfahren gemein­
sam mit dem Personalrat da­
mals begleitet hatte. „In dieser
Hinsicht hat sich bei uns in der
Bundeszollverwaltung einiges
zum Besseren entwickelt“, er­
gänzt Geiger, der für die Belan­
ge der rund 52 schwerbehin­
derten oder gleichgestellten
Beschäftigen im Hauptzollamt
München eintritt. „Früher hat
man bei der Einstellung auf die
Defizite geschaut, mittlerweile
<
< Markus Samhammer kann die Informationen auf seinem Display nicht sehen. Sprachangabe und Braillezeile
­(kleines Bild oben links) seines mit Blindentechnik ausgestatteten Arbeitsplatzes in der Kfz-Steuerstelle ermög­
lichen es dem Zollhauptsekretär, seine Sachbearbeitertätigkeit selbstständig auszuführen – wie er Joachim
­Geiger, Vertrauensperson der Schwerbehindertvertretung im Münchener Hauptzollamt, demonstriert.
wird mehr darauf geachtet,
welche Fähigkeiten ein Bewer­
ber mitbringt.“
<<
Zollhauptsekretär und
Inklusionsratgeber
Dass bei Markus Samhammer
Kompetenz weit vor Handicap
steht, bestätigt auch Dirk
Schneider, der als Fachgebietsleiter im Sachgebiet 4 Dienst­
vorgesetzter der 22 Mitarbei­
terinnen und Mitarbeiter in der
Kfz-Steuerstelle ist. „Als ich im
Mai 2014 hörte, dass unter den
neuen Mitarbeitern auch ein
Blinder ist, war ich zunächst
erschrocken, weil ich mir nicht
vorstellen konnte, wie er die
Sachbearbeitungsaufgaben
­erledigen kann. Herr Samham­
mer hat sich aber sehr schnell
in die für ihn ja zunächst völlig
fremde Materie eingearbeitet
und gezeigt, dass er – mit we­
nigen Ausnahmen – alles kann,
was die anderen auch können.“
Im April 2015 wurde Markus
Samhammer zum Zollhauptse­
kretär ernannt. Seine Wochen­
arbeitszeit beträgt aufgrund
seiner Schwerbehinderung 40
anstelle von 41 Stunden. Und
„so ganz nebenbei“ hält er an
der Münchener Universität vor
Lehramtsstudenten Vorträge
zur Inklusion von Blinden. Und
erklärt Grundschülern, wenn
sie das Auge durchnehmen,
dass er mit nur sechs Monaten
viel zu früh auf die Welt ge­
kommen ist. Dass seine Augen
durch den vielen Sauerstoff
zerstört wurden, den er im
Brutkasten bekommen hat,
weil die Versorgung von Früh­
geborenen 1966 noch am An­
fang stand. Dann fragen die
Kinder meist Sachen wie:
Kriegst du allein Zahnpasta
auf die Zahnbürste? Oder: Wie
weißt du, welche Farbe deine
Socken haben? Wenn sie dann
fragen, wie schlimm es ist,
blind zu sein, antwortet er: Ich
bin es nicht anders gewöhnt.“
Christine Bonath
<< Beschäftigte mit Behinderung
Öffentlicher Dienst liegt vorn
Mit 6,6 Prozent schwerbehinderten Beschäftigten liegen die
­öffentlichen Arbeitgeber deutlich vor den privaten, die eine
Quote von 4,1 Prozent vorweisen und die gesetzlichen Vorga­
ben nicht erfüllen. Das geht aus der im März 2016 von der Bun­
desagentur für Arbeit veröffentlichten „Beschäftigungsstatistik
schwerbehinderter Menschen (BsdM)“ hervor, die sich auf das
Berichtsjahr 2014 bezieht. Insgesamt betrug die Beschäftigten­
quote in Deutschland 2014 4,7 Prozent. Alle privaten und öf­
fentlichen Arbeitgeber ab 20 Beschäftigte sind verpflichtet,
fünf Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Men­
schen zu besetzen (SGB IX Teil 2 Kapitel 2 Beschäftigungs­
pflicht). Wird die Pflichtquote nicht erfüllt, muss eine Aus­
gleichsabgabe an das für den Arbeitgeber zuständige
Integrationsamt geleistet werden.
Weitere Informationen: http://goo.gl/v4Kp90
> dbb magazin | September 2016
15
fokus
Anfang 2014, als die Verwal­
tung der Kraftfahrzeugsteuer
von den Finanzbehörden der
Länder auf den Bund übertra­
gen wurde und die nunmehr
zuständige Zollverwaltung für
diese zusätzliche Aufgabe nach
geeignetem Personal suchte,
klopfte das Schicksal ein wei­
teres Mal bei Markus Sam­
hammer an: „Ich las eine Stel­
lenausschreibung, die auch
innerhalb der Telekom verbrei­
tet wurde und dachte mir: Die
letzten zehn bis 15 Berufsjahre
machst’ noch mal was anderes.
Also habe ich mich beworben
– mit Erfolg.“
Christine Bonath
koordinieren zu können, in den
technischen Bereich: „Ab Mitte
der 90er-Jahre habe ich im
­Onlinesupport für InternetRouter gearbeitet.“ Wussten
die Kunden, dass er blind ist?
Sein Lächeln wird breiter:
„Nein, nur ein paar Techniker,
mit denen ich zu tun hatte.“
dbb
Bundesteilhabegesetz und Nationaler Aktionsplan:
Andi Weiland | Gesellschaftsbild
Gut gemeint, nicht gut gemacht?
fokus
16
Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) und dem
Nationalen Aktionsplan (NAP) 2.0 hat das Bundes­
kabinett Ende Juni 2016 zwei wichtige behinderten­
politische Vorhaben beschlossen. Das erklärte Ziel
ist, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die
Inklusion in Deutschland weiter zu verbessern und
Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestim­
mung und Teilhabe zu ermöglichen. Die Betroffenen
sind wenig begeistert von dem Gesetzespaket, das
über zehn Millionen Menschen mit einer amtlich
anerkannten Behinderung betreffen wird, davon
rund 7,5 Millionen Schwerbehinderte.
„Wir haben heute mit dem
Bundesteilhabegesetz eine
der großen sozialpolitischen
Reformen dieser Legislatur be­
schlossen. Wir schaffen mehr
Selbstbestimmung und Teilha­
be, indem wir die Verfahren
vereinfachen und den Wün­
schen und Vorstellungen von
Menschen mit Behinderungen
mehr Gewicht verleihen“, be­
kräftigte die Bundesministerin
für Arbeit, Wirtschaft und
> dbb magazin | September 2016
­ oziales, Andrea Nahles, am
S
28. Juni 2016 in Berlin auf der
Pressekonferenz zum Kabi­
nettsbeschluss. Die Bundesre­
gierung wolle mehr möglich
machen und weniger behin­
dern: „ Mit unserem Gesetz
soll es niemandem schlechter
gehen, aber den meisten bes­
ser. Zusammen mit dem Natio­
nalen Aktionsplan 2.0 und
auch dem Behinderten-Gleich­
stellungsgesetz, das voraus­
sichtlich im Juli in Kraft treten
wird, kommen wir so ein gutes
Stück voran hin zu einer inklu­
siven Gesellschaft.“
Mit dem BTHG soll die Einglie­
derungshilfe aus dem „Fürsor­
gesystem“ der Sozialhilfe her­
ausgeführt werden. Es soll
mehr individuelle Selbstbe­
stimmung durch ein modernes
Teilhaberecht und die ­dafür
notwendigen Unterstützungs­
leistungen ermöglichen. Bezie­
her von Leistungen der Einglie­
derungshilfe sollen deutlich
mehr vom eigenen Einkommen
behalten und sparen können,
ohne dass Ehegatten und Le­
benspartner künftig mit ihrem
Einkommen oder ihrem Ver­
mögen herangezogen werden.
Die Verbesserungen sollen
auch beim gleichzeitigen Be­
zug von Eingliederungshilfe
und Hilfe zur Pflege gelten,
wenn der Betroffene erwerbs­
tätig ist. Ein einziger Reha-An­
trag soll künftig ausreichen,
um alle benötigten Leistungen
von verschiedenen Trägern
„wie aus einer Hand“ zu erhal­
ten, eine ergänzende unabhän­
gige Teilhabeberatung soll die
Betroffenen zudem stärken.
<<
Weitreichende
Vorhaben ...
Darüber hinaus soll das Geset­
zespaket Menschen mit Behin­
derungen bundesweit mehr
Teilhabe am Arbeitsleben er­
möglichen und die Rechte der
Schwerbehindertenvertretun­
gen in Unternehmen und
Werkstatträten stärken. Ein ei­
genes Kapitel zur Teilhabe an
Bildung soll erstmals Assistenz­
leistungen für höhere Studien­
abschlüsse ermöglichen. Dazu
wird unter anderem in der Sozi­
alen Teilhabe ein eigener Tatbe­
stand für Elternassistenz einge­
führt und das ehrenamtliche
Engagement von Menschen
mit Behinderungen gestärkt.
Auch die Neuauflage des Nati­
onalen Aktionsplans zur Um­
dbb
„Das Bundesteilhabegesetz,
das angeblich Menschen mit
Behinderungen Verbesserun­
gen bringen soll, ist eine Mo­
gelpackung. Es ist enttäu­
schend, dass man sich im
Koalitionsausschuss auf den
jetzigen Entwurf geeinigt hat,
der sogar Verschlechterungen
für Menschen mit Behinderun­
gen bringt“, sagt zum Beispiel
Raul Krauthausen, Aktivist und
Gründungsmitglied des Netz­
werks Abilitywatch, einem Zu­
sammenschluss behinderter
Menschen, die sich für gleich­
berechtigte Teilhabe und ein
Recht auf ein selbstbestimm­
tes Leben von Menschen mit
Behinderungen einsetzen.
<<
... herbe Kritik
Bereits im Mai 2016 hatten
sich Rollstuhlfahrer und andere
behinderte Menschen aus ganz
Deutschland im Rahmen einer
Aktion des Netzwerks in der
Nähe des Bundestages aus Pro­
test angekettet, um auf die
Mängel des Gesetzentwurfes
aufmerksam zu machen. Zu­
dem protestieren Hunderte
Betroffene auf Twitter unter
dem Hashtag „#nichtmeinGe­
setz“.
Es sei enttäuschend, dass die
Bundesregierung trotz der von
vielen Verbänden und Gewerk­
schaften dargelegten Mängel
des Entwurfes mit ihrem Kurs
fortfahre: „Die Bundesregie­
rung verhält sich wie ein Geis­
terfahrer auf der Autobahn,
der glaubt, alle anderen fahren
falsch“, sagt Raul Krauthausen.
„Die behinderten Menschen
sind dagegen, die Elternver­
bände, die Sozialverbände, die
Gewerkschaften – für wen
macht die Regierung dieses
Gesetz denn eigentlich, wenn
es so niemand haben möchte?“
neu hineingekommene „5-aus9-Regelung“, nach der zum Bei­
spiel eine sehbehinderte Stu­
dentin, die auf Assistenz beim
Lesen an der Uni angewiesen
sei, die Assistenz künftig nicht
mehr finanziert bekäme, weil
sie nicht in 5 von 9 Lebensbe­
reichen, wie im Gesetz vorge­
sehen, Hilfe benötige. „Sorry,
du bist nicht behindert genug
für Assistenz in dem einen Be­
reich. Das hört sich fast zynisch
an, aber genau so ist es im Ge­
setzentwurf formuliert“, er­
klärt Krauthausen und zählt
einige weitere Mängel im Ge­
setz auf.
Seien behinderte Menschen
zum Beispiel auf persönliche
Assistenz angewiesen, erhiel­
ten sie zumeist Eingliederungs­
hilfe und Hilfe zur Pflege. Doch
nur die Eingliederungshilfe
werde aus dem Sozialhilferecht
Lediglich in der Gesetzesbe­
gründung sei ein Bestands­
schutz hinzugefügt worden,
der besage, dass das, was vor­
her angemessen war, auch an­
gemessen bleibe. „Das ist gut
für die, die wohnen, wie sie
möchten, aber eine Katastro­
phe für diejenigen, die noch im
Heim leben müssen oder erst­
mals von ihren Eltern auszie­
hen möchten“, so Krauthausen,
der mit seiner Kritik nicht allein
steht.
So kritisierte auch der Deut­
sche Behindertenrat (DBR) das
Gesetzesvorhaben: „Der Ent­
wurf für ein Bundesteilhabege­
setz stellt den Deutschen Be­
hindertenrat nicht zufrieden.
Als das wichtigste behinder­
tenpolitische Reformvorhaben
dieser Legislaturperiode darf es
in der vorliegenden Form nicht
vom Bundestag und Bundesrat
fokus
17
Andi Weiland | Gesellschaftsbild
setzung der UN-Behinderten­
rechtskonvention (NAP 2.0) soll
die Inklusion von Menschen
mit Behinderungen durch 175
Maßnahmen in 13 Handlungs­
feldern fördern. Es geht dabei
unter anderem um die Verbes­
serung der Barrierefreiheit in
Gesundheitseinrichtungen wie
Arztpraxen, beschäftigungspo­
litische Programme im Umfang
von 230 Millionen Euro, eine
Repräsentativbefragung, bei
der erstmals umfassende Da­
ten über die tatsächliche Teil­
habesituation von Menschen
mit Behinderungen in Deutsch­
land erhoben werden, sowie
die Einführung eines einheitli­
chen Kennzeichnungssystems
im Tourismussektor, das für
mehr Transparenz bei behin­
dertengerechtem Reisen sor­
gen soll. Bundesministerin
Nahles sagte auf der Presse­
konferenz: „2016 ist ein Fort­
schritt bringendes Jahr für
Menschen mit Behinderun­
gen.“ Was gibt es also zu kriti­
sieren, wenn die Bundesregie­
rung scheinbar ein Füllhorn
von Wohltaten über die Men­
schen mit Behinderungen aus­
schüttet?
<
< Am 11. Mai 2016 ketten sich Aktivistinnen und Aktivisten nahe der Grundgesetztafeln am Bundestag für ein
­gutes Teilhabegesetz an.
Das hatten Raul Krauthausen
und Sigrid Arnade, Geschäfts­
führerin der Interessenvertre­
tung Selbstbestimmt Leben in
Deutschland e. V., bereits auf
einer SPD-Tagung zum Bundes­
teilhabegesetz plastisch ge­
macht, indem sie die nur von
Nichtbehinderten besetzte
Diskussionsrunde enterten und
ihre Sicht der Dinge darlegten.
Das Gesetz berge zu viele Un­
gereimtheiten und Verschlech­
terungen, wie zum Beispiel die
herausgelöst, die Hilfe zur
­P flege bleibe Sozialhilfe. „Das
bedeutet, dass eventuelle Ver­
besserungen in der Eingliede­
rungshilfe diesen Betroffenen
rein gar nichts bringen.“ Weiter
habe bisher der Grundsatz ge­
golten: ambulant vor stationär.
Dieser Vorrang entfalle, sodass
das Wohnen in den eigenen
vier Wänden künftig oft nur
dann „erlaubt“ werden wird,
wenn es günstiger oder ein Le­
ben im Heim unzumutbar sei.
beschlossen werden“, erklärte
Ulrike Mascher, Vorsitzende
des Sprecherrats des DBR und
Präsidentin des Sozialverbands
VdK Deutschland, vor dem
­Kabinettsbeschluss. „Men­
schen mit Behinderung müs­
sen materiell besser- und nicht
schlechtergestellt werden
­gegenüber dem geltenden
Recht“, forderte Mascher. Der
DBR sehe im geplanten Bun­
desteilhabegesetz die Gefahr
von Leistungseinschränkungen
> dbb magazin | September 2016
<
< Selbstbestimmtes Wohnen steht ebenso im Fokus des Bundesteil­
habegesetzes ...
und weiteren möglichen Ver­
schlechterungen für Menschen
mit Behinderungen.
fokus
18
<<
Zu viele
Einschränkungen
Zwar gebe es auch positive
­Ansätze, jedoch überwögen
die negativen Aspekte. Inak­
zeptabel seien vor allem Ein­
schränkungen des leistungs­
berechtigten Personenkreises,
Leistungsausschlüsse oder -ein­
schränkungen, die grundsätzli­
che Beibehaltung der Einkom­
mens- und Vermögensgrenzen
für Menschen mit Behinde­
rung, der Vorrang der Leistun­
gen der Pflegeversicherung vor
Leistungen der Eingliederungs­
hilfe sowie die ­Aushöhlung des
Grundsatzes „ambulant vor
stationär“ beziehungsweise
des Wahlrechts von Menschen
mit Behinderung, etwa beim
Wohnen. Mascher appellierte
an Bundestag und Bundesrat,
das Gesetz nachzubessern und
sich für eine echte Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben von
Menschen mit Behinderung
einzusetzen.
Das Teilhabegesetz in seiner
jetzigen Form sei ein Sparpaket
auf dem Rücken behinderter
Menschen, kritisierte der Vor­
stand des Paritätischen Lan­
> dbb magazin | September 2016
desverbands Brandenburg,
­Andreas Kaczynski gegenüber
dem RBB. „Künftig sollen Men­
schen mit Behinderungen nur
noch Anspruch auf Hilfeleis­
tungen haben, wenn sie Bedarf
in mehreren Bereichen nach­
weisen können“, erklärte der
Vorsitzende der Liga der Freien
Wohlfahrtsverbände, Martin
Matz. „Mit dieser hohen Hürde
soll die Zahl der Leistungsemp­
fänger niedrig gehalten wer­
den.“ Doch alle Betroffenen
hätten das Recht auf Teilhabe
am Leben in der Gesellschaft
und eine angemessene Be­
schäftigung in der Arbeitswelt,
so Matz. Von einem „Gesetz
nach Kassenlage“ sprach der
stellvertretende Direktor der
PARITÄTISCHEN BuntStiftung
Thüringen, Stefan Werner.
Nach Auffassung des PARITÄTI­
SCHEN komme es auch, wenn
die Freigrenze bei der Vermö­
gensheranziehung auf 25 000
Euro erhöht werde, kaum zu
Verbesserungen. Denn auf die
Heranziehung von Einkommen
werde nicht verzichtet, son­
dern ein neues, kompliziertes,
mehrstufiges Verfahren für die
künftige Anrechnung einge­
führt. Es seien diese und viele
andere Detailregelungen, die
das Gesetz für die etwa 30 000
Betroffenen in Thüringen nicht
akzeptabel machten.
„Blinde, sehbehinderte und
taubblinde Menschen dürfen
nicht zu Verlierern des Bundes­
teilhabegesetzes werden“
heißt es in einer Resolution,
die der Verwaltungsrat des
Deutschen Blinden- und Sehbe­
hindertenverbandes (DBSV)
verabschiedet hat. Das Forde­
rungspapier nennt zehn The­
menbereiche, in denen der
­Verband massiven Nachbesse­
rungsbedarf sieht – vom völli­
gen Ausschluss sehbehinderter
Menschen von der Eingliede­
rungshilfe über Bildungsein­
schränkungen bis zu Benachtei­
ligungen bei der Blindenhilfe.
Diese und ähnliche Bedenken
stehen exemplarisch für Be­
fürchtungen, die von allen
Wohlfahrtsverbänden und Be­
hindertenbündnissen bundes­
weit geteilt werden. Kritische
Stellungnahmen zum Gesetz
haben neben anderen der Ar­
beiterwohlfahrt Bundesver­
band, der Deutsche Blindenund Sehbehindertenverband,
der Deutsche Olympische
Sportbund, der Deutsche
Schwerhörigenbund, der
­Deutsche Verein der Blinden
und Sehbehinderten in Studi­
um und Beruf, der Deutsche
Verein für öffentliche und pri­
vate Fürsorge, der Sozialver­
band Deutschland und der So­
zialverband VdK Deutschland
eingebracht.
<<
Schwerbehinderten­
vertretungen stärken
Auch der dbb hat Kritik am
BTHG geäußert. Bei einer Anhö­
rung zum Entwurf des Bundes­
teilhabegesetzes am 24. Mai
2016 in Berlin machte dies
Heinz Pütz, Vorsitzender der Ar­
beitsgruppe Behindertenpolitik
des dbb, deutlich. Zwar seien
einige mit der Reform des Sozi­
algesetzbuches (SGB) IX verbun­
dene Forderungen des dbb auf­
gegriffen worden. „So gibt es
beispielsweise Verbesserungen
beim Hinzuverdienst, und das
Schonvermögen wird erhöht“,
sagte Pütz. „Aber die Stärkung
der Rechte von Schwerbehin­
dertenvertretungen geht uns
nicht weit genug. Hier sieht der
dbb noch Handlungsbedarf.“ So
dürften bei Umorganisationen
auch im öffentlichen Dienst kei­
ne vertretungslosen Zeiten ent­
stehen. „Es gibt keine Rechtfer­
tigung dafür, die Beschäftigten
im öffentlichen Sektor dabei an­
ders zu behandeln als in der Pri­
vatwirtschaft.“
Der vorgelegte Referentenent­
wurf des Bundesteilhabegeset­
zes vereint erstmals das Rehaund Teilhaberecht sowie die aus
©Dan Race – Fotolia.com
©Jenny Sturm – Fotolia.com
dbb
<
< ...wie Menschen, deren Behinderung in bestimmten Situationen Assis­
tenzleistungen erfordert.
dbb
dem SGB XII herausgelöste Ein­
gliederungshilfe „unter ­einem
Dach“. Dies sei ebenso zu be­
grüßen wie der neue Behinde­
rungsbegriff, der jetzt um Sin­
nesbeeinträchtigungen ergänzt
wird und auch Wechselwirkun­
gen mit einstellungs- und um­
weltbedingten Bar­rie­ren be­
rücksichtigt. „Damit steht der
Begriff erstmals auch im Kon­
text gesellschaftlicher Entwick­
lungen. Regelungen zur sozia­
len Teilhabe können so besser
mit Leben erfüllt werden.“
Scharfe Kritik übt der dbb dar­
an, dass sich der Personenkreis,
der die Eingliederungshilfe in
Anspruch nehmen kann, ver­
kleinern könnte, weil der Ge­
setzentwurf das Erfordernis
­einer „erheblichen Teilhabe­
beeinträchtigung“ vorsieht.
„Sollte der entsprechende Ge­
setzespassus nicht geändert
werden, muss es zumindest
eine angemessene Vertrauens­
schutzregelung für derzeitige
Bezieher der Eingliederungshil­
fe geben“, forderte Pütz. Der
dbb begrüße, dass künftig
mehr Wert auf die individuelle
Beratung Betroffener und eine
verbesserte Koordinierung von
Leistungen gelegt werden soll.
<<
NAP 2.0 geht am öffent­
lichen Dienst vorbei
Auch zur parallel laufenden
Fortschreibung des Nationalen
Aktionsplans 2.0 der Bundesre­
gierung zur UN-Behinderten­
rechtskonvention hat der dbb
Stellung genommen. Grund­
sätzlich sei das Vorhaben po­
sitiv zu bewerten, sagte der
stellvertretende dbb Bundes­
vorsitzende Ulrich Silberbach
vor der Anhörung zu dem Ge­
setzentwurf am 20. Mai 2016
in Berlin. Dennoch mahne der
dbb weiterreichende Schritte
im Bereich des öffentlichen
Dienstes an: „Dem öffentlichen
Dienst als größtem Arbeitgeber
Deutschlands kommt aus unse­
rer Sicht eine Vorreiterrolle zu“,
so Silberbach. „Ziel muss es
sein, im ‚eigenen Haus‘ einen
vorbildlichen Umgang und ein
inklusives Zusammenarbeiten
selbstverständlich werden zu
lassen und zu einer Verbesse­
rung der beruflichen Teilhabe
betroffener Menschen gemäß
der UN-Behindertenrechtskon­
vention zu kommen.“
So sei der öffentliche Dienst
im Handlungsfeld Arbeit und
Beschäftigung in dem Entwurf
noch nicht ausreichend in den
Fokus gerückt. „Schließlich
kommt ihm faktisch eine Dop­
pelrolle zu: Der öffentliche
Dienst schafft einerseits die
Voraussetzungen, etwa durch
die Umsetzung gesetzlicher
Änderungen und die Steuerung
von Förderungsmaßnahmen.
Zum Anderen ist er selbst Ar­
beitgeber. Stärker als bislang
müssten Beschäftigungsmög­
lichkeiten für schwerbehinder­
te Menschen im öffentlichen
Dienst geschaffen werden.
„Auch für behinderte Auszubil­
dende wird im öffentlichen
Dienst noch lange nicht genug
getan oder in Aussicht gestellt,
um eine tatsächliche Inklusion
zu erreichen. Es müssen kon­
krete Maßnahmen entwickelt
werden, auch um vor dem Hin­
tergrund des demografischen
Wandels erfolgreich Nach­
wuchs zu gewinnen.“
Kritisch sehe der dbb auch,
dass im Nationalen Aktions­
plan 2 – wie bereits im NAP 1
– Interessen und Bedürfnisse
älterer Menschen nur unzurei­
chend berücksichtigt werden:
„Hinweise auf konkrete aktuel­
le Maßnahmen sucht man lei­
der vergebens“, so Silberbach.
Auch wenn es um eine verbes­
serte persönliche Mobilität von
Menschen mit Behinderung
geht, gebe es zwar zutreffende
Feststellungen. „Es werden
aber keine praktischen Konse­
quenzen daraus gezogen.“ Fer­
ner plädiert der dbb in seiner
Stel­lungnahme auch für eine
weitergehende Stärkung der
Rechte der Schwerbehinder­
tenvertretungen.
Das Bundesteilhabegesetz
wird voraussichtlich im Herbst
2016 in Bundesrat und Bundes­
tag behandelt. br
> dbb magazin | September 2016
dbb
Standpunkt:
fokus
20
Inklusion ist, wenn je­
der Mensch die gleiche
Chance bekommt. Was
für ein wohlklingender
Allgemeinplatz. Leider
wird er selten verstan­
den. Von Gleichmache­
rei ist dann die Rede,
davon, dass nun einmal
nicht jeder Mensch
gleich sei. Naja, außer
eben vor dem Gesetz
und, wie manch einer
anfügen würde, auch
vor Gott. Aber wir sind
hier ja weder das Ge­
setz noch Gott, und die
Schule ist erst recht kei­
nes von beiden. In der
Schule ginge es doch
eben gerade darum,
dass nicht alle gleich
sind; sonst könne man
einfach jedem Sechst­
klässler direkt sein Abi­
tur in die Hand drücken.
Solche Dinge sagt man mir. Die
Leute meinen das gar nicht
böse, allerdings sehr ernst.
Dass die gleiche Chance nicht
heißt, dass jeder sie gleicher­
maßen zu nutzen vermag, ist
offenbar ein schwer greifbares
Konzept. Dabei ist es ganz
leicht. Nehmen wir Peter und
Paul. Peter ist nicht behindert,
Paul ist blind. Sie gehen in die­
selbe Klasse. Ihre Lehrerin, Frau
Müller, möchte, dass alle Schü­
ler, auch Peter und Paul, eine
Hausaufgabe anfertigen. Dafür
sollen sie Goethes Faust lesen
und den Inhalt auf einer hal­
ben Seite zusammenfassen.
Frau Müller hasst das 21. Jahr­
hundert und entziffert in ihrer
Freizeit gern unlesbare Hand­
> dbb magazin | September 2016
©denys_kuvaiev – Fotolia.com
„Behinderte sind nicht automatisch doof“
schriften und möchte deswe­
gen, dass alle Schüler ihre Auf­
gabe per Hand erledigen.
Das ist weniger weit hergeholt,
als man meinen würde. Ich
hatte solche Lehrer. Peter setzt
sich nach der Schule hin, liest
brav seinen Faust und krakelt
mit seiner Sauklaue eine halbe
Seite aufs Papier. Paul hört sich
Goethes Meisterwerk als Hör­
buch an, hat vielleicht sogar
einen hellen Gedanken, even­
tuell sogar einen helleren als
Peter, kann ihn aber nicht auf­
schreiben, weil er zum Schrei­
ben seinen Computer braucht.
Peter und Paul haben nicht die­
selben Chancen, unabhängig
davon, was am Ende als Ergeb­
nis rumkäme.
Ich bin wirklich der letzte
Mensch auf Erden, der das Abi­
tur für alle fordert oder möch­
te, dass immer noch mehr
­Studenten in immer noch kür­
zeren Intervallen durch immer
noch leichtere Studiengänge
geprügelt werden. Nenne man
mich konservativ, aber ich
­fände es zielführender und zu­
kunftsweisender, wenn wir die
Haupt- und Realschulabschlüs­
se wieder attraktiver gestal­
ten, indem wir dafür sorgen,
dass auch jemand ohne Bache­
lor noch einen Job bekommt,
bei dem er nicht jeden Monat
am 15. anfangen muss, seine
Tischdecke zu essen.
Behinderte sind nicht automa­
tisch doof. Ich weiß, das kommt
für viele als Schock, und man­
che müssen es sicher kurz sa­
cken lassen. Nehmen Sie sich
die Zeit. Wir sind eine zutiefst
segregierte Gesellschaft. Wie
viele Behinderte kennen Sie?
Mit wie vielen waren Sie in ei­
ner Klasse, wie viele sind Ihre
Nachbarn, wie viele arbeiten in
Ihrem Büro? Die meisten Men­
schen, die ich das von Ange­
sicht zu Angesicht frage, erzäh­
len mir, dass die Tante der
besten Freundin ihrer Schwes­
ter im Rollstuhl sitzt. Und dass
ihr Nachbar ein Hörgerät trüge,
aber der sei über 80, man wisse
also nicht genau, ob der dann
trotzdem behindert oder ein­
fach nur alt sei.
Von 80,6 Millionen Deutschen
sind 10,2 Millionen behindert.
Das ist mehr als jeder Achte.
Das habe ich ganz fix ausge­
rechnet, obwohl ich behindert
bin. Fast 13 Prozent der Bürger
in diesem Land haben irgend­
eine Behinderung. Ist jeder
Achte in Ihrem Büro behindert?
In Ihrer Nachbarschaft? In Ih­
rem sonntäglichen Lesezirkel?
In der Schlange an der Super­
marktkasse? Beim Gottes­
dienst? Irgendwo? Nein!
Behinderte sind unsichtbar.
Wir werden, wenn wir Pech ha­
ben, von Kindesbeinen an weg­
geschoben, dahin, wo man uns
nicht ansehen muss. Auf unse­
re eigenen Schulen, in unsere
eigenen Wohnheime und in
unsere eigenen Werkstätten
und später dann in Altenhei­
me, in denen wir nicht auffal­
len, weil da keiner mehr so
richtig ganz und heil ist.
dbb
<< Die Autorin ...
... Jahrgang 1989, wurde in
Elmshorn bei Hamburg ge­
boren und lebt seit 2009 in
Berlin. Sie studierte Politik­
wissenschaft und Zeitge­
schichte in Berlin und Pots­
dam. Linke hat das A
­ sberger
Syndrom, eine Form des Au­
tismus, die die Fähigkeit ein­
schränkt, nicht sprachliche
Signale wie etwa Gestik, Mi­
mik oder Blickkontakt bei
anderen Personen zu erken­
nen und selbst auszusenden,
was das Kontakt- und Kom­
mu­nikationsverhalten der
­Betroffenen eingeschränkt
und stereotyp erscheinen
lassen. 2014 erschien das
erste Mal die von ihr gegrün­
dete Zeitschrift N#MMER für
Autisten, ADHSler und Inter­
essierte.
Es gibt sicherlich Behinderte,
die gern auf ihre eigenen Schu­
len gehen, in die sie mit ihren
eigenen Bussen gefahren wer­
den, und die freuen sich dann
auch, wenn sie in ihrer eigenen
Werkstatt ihre eigenen Dinge
tun können. Es gibt Behinder­
te, die nicht integriert werden
wollen oder können. Das kann
man diskutieren, bis man grün
im Gesicht wird. Das ändert
sich nicht.
Und dann gibt es uns. Behin­
derte, die gern einen Abschluss
wollen. Die ihren Platz auf dem
ersten Arbeitsmarkt sehen und
heiraten und allein wohnen
wollen, ohne dass jemand sie
bevormundet. Behinderte, die
das schaffen können. Wenn
man uns in eigene Schulen,
­eigene Busse, eigene Werk­
stätten sperrt, dann nimmt
man uns etwas weg. Und viel
schlimmer noch: Man nimmt
der Gesellschaft etwas weg.
Stellen Sie sich vor, Beethoven
wäre auf eine Sonderschule
gegangen. Oder Einstein. Tho­
mas Edison. George Washing­
ton. Sie alle waren auf die eine
oder andere Art behindert.
Und sie alle haben der Welt
Dinge beschert, die sie liebend
gern annahm. Aber vielleicht,
ganz vielleicht, sind auch Be­
hinderte, die nicht die Glüh­
birne erfunden haben, wert­
volle Mitmenschen. Genau
wie ein Nichtbehinderter auch
okay ist, wenn er noch keinen
Oscar gewonnen hat. Ganz
vielleicht sollten wir uns ein­
fach alle mit Menschlichkeit
und Wärme begegnen. Und
da ist Chancengleichheit und
Miteinander wirklich das ab­
solut Mindeste.
Denise Linke
Leserbrief
Betrifft: dbb magazin 6/2016, Seite 40–41:
­Internetwachen – direkter Draht zur Polizei
Dem Artikel über „Internet­
wachen“ muss ich aus mei­
ner Sicht diametral und in
Gänze widersprechen. Als
langjähriger Leiter eines
­Betrugskommissariats bin
ich täglich mit der Abwick­
lung einer Vielzahl von An­
zeigenvorgängen befasst.
Die reine Menge der „Inter­
netanzeigen“ hat mit der
Wertung als Erfolg über­
haupt nichts zu tun. Erfolg
kann nur bedeuten, dass ein
Straftäter ermittelt wird.
Eine qualifizierte Sachver­
haltsaufnahme mit einer
ordentlichen Vernehmung
ist nicht zu ersetzen. Tat­
sächlich ist es so, dass eine
Anzeige über diesen Kom­
munikationsweg für die
­Polizei grundsätzlich mehr,
teilweise vermeidbare
­Arbeit bedeutet. Meines
­Erachtens ist nicht ansatz­
weise hinnehmbar, dass für
sinnlose oder irrelevante
Sachverhalte Arbeitsstun­
den verpulvert werden.
Eine „normale“ Kommu­
nikation per Telefon oder
persönliche Vorsprache ist
immer effektiver. Eine
Falschaussage oder falsche
Verdächtigung ist bei einer
Vernehmung immer or­
dentlich dokumentiert und
Basis für die Gegenanzeige.
Bei einer Internetanzeige
ist diese Hemmschwelle
meines Erachtens noch
nicht einmal mit dem Fern­
rohr zu sehen. Unvollstän­
dige oder falsche Personali­
en sind bei solchen Vorgängen eher die Regel als die
Ausnahme. Erfolgreiche
­Polizeiarbeit kann nur die
qualifizierte Bearbeitung
von Anzeigen bedeuten, so­
dass möglichst viele Tatver­
dächtige ermittelt werden.
Ulrich Heymann,
Leiter des Fachkommis­
sariats Vermögens- und
Wirtschaftskriminalität der
Kriminalpolizeiinpektion
­Coburg
©alphaspirit – Fotolia.com
dbb
Führungskräfte in der digitalen Arbeitswelt:
Führung im Wandel
Erfolgreiche Führung bedeutet, sich selbst und an­
dere mit klaren Zielen zu führen, unter hohem Er­
wartungsdruck authentisch zu kommunizieren und
immer wieder zu motivieren, „vertrautes Gelände”
zu verlassen. Das gilt für „alte Hasen“ wie auch für
den Führungskräftenachwuchs. Welche Fähigkeiten
brauchen Führungskräfte im digitalen Zeitalter?
<<
fokus
22
Führungskräfte fallen
nicht vom Himmel
Biss, Talent, Fleiß: Diese Eigen­
schaften können zu einer Be­
förderung führen – machen
aber noch keine „gute“ Füh­
rungskraft aus. Wer in eine
Führungsrolle schlüpft, muss
sich neu ausrichten, neu er­
finden – und lernen.
Denn die Vorstellung von der
geborenen Führungskraft hat
zwischenzeitlich ausgedient.
„Gute Führungskräfte fallen
nicht von Himmel“, so die
Quintessenz aus zahlreichen
Untersuchungen und vielen
Stunden Feldforschung. Der
Tenor heute lautet: Führung
kann man nicht nur lernen,
Führung sollte man lernen.
Die Fähigkeit zu führen, ist da­
her ein Handwerk, das man er­
lernen kann – wobei man nach
Expertenansicht zwei Voraus­
setzungen mitbringt: Nämlich
erstens die vier „M“ – „Man
muss Menschen mögen“ und
zweitens den Willen zu führen.
Denn wer andere führt, han­
delt immer im Spannungsfeld
widersprüchlicher Interessen.
<<
Kompetent führen
Eine Richtung vorgeben, Leis­
tung fordern, Zielvorgaben er­
füllen – die Liste der Führungs­
aufgaben war schon immer
lang. Nicht unbedingt leichter
werden auch die zukünftigen
Anforderungen: Knappe finan­
zielle Ressourcen, eine sich
> dbb magazin | September 2016
­ ynamisch vernetzende Ar­
d
beitswelt und zunehmende
Veränderungsdynamik setzen
Führungskräfte zunehmend
unter einen besonderen Druck.
Dabei hat diese Entwicklung
nicht nur gravierende Auswir­
kungen auf Führungskräfte
selbst, sondern auch auf die
­Beschäftigten, denn sie bleibt
nicht ohne Spuren für Abläufe
und Strukturen in den Verwal­
tungen und verändert die For­
men der Zusammenarbeit.
­Empathie, Menschlichkeit, fach­
liche Kompetenz, Durchset­
zungsfähigkeit, Teamfähigkeit
und Kommunikationsstärke
sind an dieser Stelle gegen­
wärtig die meist gewünschten
Eigenschaften, die eine Füh­
rungskraft haben sollte.
Gleichzeitig erwarten Kunden
und Partner optimale Zuver­
lässigkeit und Qualität, Mitar­
beiterinnen und Mitarbeiter
möchten Orientierung und Zu­
wendung, Vorgesetzte fordern
Effizienz, Umsetzungsstärke
und Realisierung von Zielen
und Strategien.
<<
Führen in der digitalen
Arbeitswelt
Wie kann unter diesen Rahmen­
bedingungen Führung über­
haupt funktionieren und was
macht Führung in der digitalen
Arbeitswelt heute aus? Die Digi­
talisierung verändert die Art
und Weise, wie wir leben und
arbeiten. Sie hat nicht nur ge­
waltige Auswirkungen auf die
Politik, Gesellschaft und Ar­
beitswelt, sondern prägt auch
die Führungskultur. War Füh­
rung im 20. Jahrhundert noch
eher hierarchisch angelegt, ist
heute Führen, Entscheiden und
Zusammenarbeit auf Augenhö­
he angesagt. Das lässt die not­
wendige Vielfalt und Flexibilität
zu, fördert die Kreativität und
setzt auf das Prinzip der Selbst­
verantwortung. „Gute“ Führung
stellt damit den Menschen in
den Mittelpunkt und entwickelt
die Fähigkeiten und Stärken des
Einzelnen gezielt weiter.
<<
Im Fokus: Nachwuchs­
führungskräfte
Gerade die nachwachsende Ge­
neration hat da noch weitere
Vorstellungen in Richtung zu­
künftiger Führung. Laut einer
Umfrage des Meinungsfor­
schungsinstituts TNS Infratest
im Auftrag von Microsoft
Deutschland unter 1 000 deut­
schen Arbeitnehmern (Juni
2016) hinken hiesige Führungs­
kräfte den Anforderungen an­
gesichts des digitalen Wandels
hinterher. So bemängeln 71
Prozent der Befragten eine un­
zureichende Flexibilität bei der
Gestaltung von Arbeitszeit und
-ort, rund 85 Prozent kritisieren
den fehlenden Zugang zu Infor­
mationen und wünschen ein
regelmäßigeres Feedback der
Führungskräfte. Nach diesen
Ergebnissen passt die Führungs­
kultur weder zu den Wünschen
der Arbeitnehmer noch zu den
Anforderungen der digitalen
Arbeitswelt. Um all das umzu­
setzen, muss die Leitungsebene
umdenken. Das gilt insbeson­
dere auch in Richtung Füh­
rungskräftenachwuchs: Jede
fünfte Nachwuchskraft hält
demnach das Führungsverhal­
ten des eigenen Vorgesetzten
für nicht zukunftsfähig – so ein
weiteres Ergebnis der izf Füh­
rungs-Studie 2016 (Institut für
Demoskopie Allensbach im Auf­
trag der Initiative Zukunftsfähi­
ge Führung, Herbst 2015). Be­
sonders bedenklich stimmt ein
weiterer Befund: Insbesondere
die mangelnde Sicherstellung
flexibler Arbeitszeiten sowie
die gute Vereinbarkeit von Pri­
vatleben und Beruf ist für junge
Nachwuchskräfte derzeit noch
ein zentrales Hemmnis, selbst
Führungsverantwortung zu
übernehmen.
Es gibt demnach viel zu tun
und zu lernen – packen wir es
an! Die dbb akademie bietet
Ihnen auch 2016 eine Reihe
von Seminarangeboten für
Führungskräfte an.
Neu in Führung – Führung Grundlagen
4. bis 6. Oktober 2016, Berlin (2016 Q270 DL)
Wertschätzende Führung
5. bis 6. Oktober 2016, Berlin (2016 Q271 DL)
Stärkenorientierte Führung
2. bis 3. November 2016, Berlin (2016 Q272 DL)
Psychologie und Führung
10. bis 11. November 2016, Königswinter (2016 Q273 DL)
Weitere Informationen zu den Veranstaltungen finden Sie auf
­unserer Homepage www.dbbakademie.de
Auskunft erteilt:
Daria Lohmar, Tel.: 0228.8193169, [email protected]
dbb
Fortbildungsangebot für kompetente Unterstützung vor Ort:
Einkommensrunde 2017
Aber wie bereitet man erfolg­
reiche Aktionen vor? Welche
Themen gilt es zu besetzen?
Was muss bei der Durchfüh­
rung beachtet werden? Wie
­sehen rechtliche Rahmenbe­
dingungen im Streikfall aus?
<<
Gewusst wie
Die dbb akademie hat sich in
Zusammenarbeit mit den zu­
ständigen Fachleuten aus dem
dbb dem umfangreichen The­
menfeld angenommen und
bietet für alle Interessierten
eine Fortbildungsreihe mit drei
Modulen an. Die Inhalte der
einzelnen Module vermitteln
wertvolles Hintergrundwissen
zu den Themen Kampagne, Be­
soldung und Versorgungsan­
passung und zum Umgang mit
Tarifkonflikten. Zahlreiche
Tipps für eine kompetente und
öffentlichkeitswirksame Be­
<< Einkommensrunde 2017
Modul 1:
Erfolgreiche Kampagnen planen und umsetzen
16. bis 18. November 2016 in Fulda (2016 G032 GB)
Modul 2:
Besoldung und Versorgungsanpassung
Einkommensrunde (TVL)
24. bis 25. November 2016 in Fulda (2016 G033 GB)
Modul 3:
Lösung von Tarifkonflikten
5. bis 6. Dezember 2016 in Fulda (2016 G034 GB)
Der Teilnehmerbeitrag für jedes Modul beträgt 210 Euro
(inklusive Ü/VP). Die Module können einzeln gebucht werden.
Ihre Ansprechpartnerin in der dbb akademie:
Gerlinde Brandt, Tel.: 0228.8193143, [email protected]
gleitung der Einkommens­
runde vor Ort schaffen einen
hohen praktischen Nutzen.
So gut vorbereitet kann die
nächste Einkommensrunde
kommen!
23
fokus
Einkommensrunden stellen
nicht nur Anforderungen an
die direkt Verhandelnden, son­
dern auch an die Funktionsträ­
ger vor Ort: Denn dort müssen
Einkommensrunden mit Sach­
verstand und öffentlichkeits­
wirksam begleitet werden.
Schließlich gilt es, die eigene
Position über die Meinung der
Öffentlichkeit und die Mobili­
sation der eigenen Mitglieder
zu stärken. Dafür braucht es
Hintergrundwissen und kreati­
ve, öffentlichkeitswirksame
und in der Praxis umsetzbare
Ideen.
> dbb magazin | September 2016
?
dbb
Eine Frage an ...
... Dr. Jürgen Schneider, Beauftragter des Landes Berlin für Menschen mit Behinderung:
Berlin hat noch viel zu tun
dbb magazin: Herr Dr. Schneider, Sie haben die Aufgabe, darauf hinzuwir­
ken, dass Menschen mit Behinderung im Land Berlin ohne Diskriminierung
leben und die städtische Infrastruktur vom ÖPNV bis zu Informations- und
Kommunikationseinrichtungen barrierefrei nutzen können. Ist Berlin tat­
sächlich eine barrierefreie Stadt, und vor allem: Ist sie das auch für die wach­
sende Zahl der behinderten Seniorinnen und Senioren?
Diese Frage lässt sich nicht ein­
fach mit Ja oder Nein beantwor­
ten. Das hängt zum einen von
dem zu betrachtenden Bereich
ab, und zum anderen muss man
sich die Weichenstellungen für
die Zukunft ansehen.
<<
Infrastrukturabbau ...
Oft müssen längere Wege zu­
rückgelegt werden, was ver­
stärkte Abhängigkeiten von
­einer guten Verkehrsinfrastruk­
tur, aber auch von öffentlichen
Toiletten zur Folge hat. Aktuell
wird überlegt, die rund 175 bar­
rierefrei zugänglichen und
ganzjährig durchgängig geöff­
neten City-WC-Anlagen stark
zu reduzieren. Während nicht
mobilitätseingeschränkte Men­
schen auf Alternativen auswei­
chen können, stellen die City-
> dbb magazin | September 2016
Im ÖPNV hingegen zahlen sich
die jahrzehntelangen Investiti­
onen in die Barrierefreiheit aus.
Mit der Rückkehr zum automa­
tischen Kneeling (moderne Bus­
se neigen den Einstieg automa­
tisch zur Seite, Anmerkung der
Redaktion) ist zumindest in der
Bustechnik ein Stand erreicht,
... gefährdet den
Bewegungsradius
Hindern bauliche oder sonstige
Barrieren Menschen mit Behin­
derung am Zugang zu Arztpra­
xen, kann das dazu führen, dass
eine notwendige medizinische
Versorgung nicht in Anspruch
genommen werden kann.
Überdies kann fehlende Barrie­
refreiheit einen Arztwechsel
erzwingen, wenn sich altersbe­
dingte Behinderungen einstel­
len; insgesamt schränkt sie die
freie Arztwahl faktisch ein.
der dem Teilhabe­anspruch mo­
bilitätseingeschränkter Men­
schen gerecht wird. Im Zuge der
demografischen Alterung wer­
den aber zum Beispiel verstärkt
Probleme mit der Mitnahme
von E-Rollstühlen und E-Scoo­
tern in öffentlichen Verkehrsmit­
teln an mich herangetragen.
Die gesundheitliche Versorgung
von Menschen mit Behinde­
rung weist trotz einer insge­
samt befriedigenden Gesund­
heitsinfrastruktur in Berlin
Auch wenn ich kleine und
­größere Fortschritte keinesfalls
in Abrede stellen will, bleibt in
Sachen Barrierefreiheit noch
viel zu tun.
<
< Dr. Jürgen Schneider
WC-Anlagen für Menschen mit
Behinderung oft die einzige
Möglichkeit dar, und ihr Weg­
fall kann ihren Bewegungsradi­
us sehr einschränken.
<<
Ein großes Problem sehe ich
auf dem Wohnungsmarkt.
Nach einer Schätzung des Ku­
ratoriums Deutsche Altershilfe
(KDA) fehlen bereits jetzt rund
41 000 barrierefreie Wohnun­
gen. Nach der Bevölkerungs­
prognose für Berlin vom Januar
2016 werden die hochaltrigen
Menschen über 80 Jahre um
rund 66 Prozent auf rund
266 000 Personen beziehungs­
weise circa 848 000 Personen
über 65 Jahren bis 2030 zuneh­
men. Bei dieser Personengrup­
pe ist der Anteil derjenigen, die
sich noch zu Hause versorgen
können und möchten, aber auf
eine barrierefreie Wohnung an­
gewiesen ist, besonders hoch.
Leider wurde die sich durch das
Zusammentreffen des derzeiti­
gen Baubooms und der diesjäh­
rigen Novellierung der Bauord­
nung ergebende Chance, einen
barrierefreien Wohnungsmarkt
zu schaffen, nicht ausreichend
genutzt.
Elke A. Jung-Wolff
spezial
24
Bezüglich der Infrastruktur im
nicht medizinischen Versor­
gungsbereich lässt sich eher
eine Verschlechterung beobach­
ten: Wegbrechende Dienstleis­
tungen wie zum Beispiel die
Konzentration von Einkaufs­
möglichkeiten auf Subzentren,
die Schließung von Post- und
Bankfilialen sowie die Reduzie­
rung von Briefkästen erschwe­
ren eine unabhängige und
selbstständige Lebensführung,
insbesondere von hochaltrigen
und anderen Menschen mit
Mobilitätseinschränkungen.
Die steigenden Mieten in den
Innenstadtbereichen führen zu
einem Rückzug einkommens­
schwacher Menschen aus den
infrastruk­turell besser versorg­
ten Wohngebieten.
Mängel auf und stellt alle Be­
troffenen vor große Heraus­
forderungen.
Hab und Gut sichern:
©oxie99 – Fotolia.com
dbb
Entfesselte Naturgewalten
können teuer werden
Ob es der globale Klimawandel
ist oder auch der örtliche Ein­
griff des Menschen in die Na­
tur, sei dahingestellt. Der Ein­
zelne kann auf die jeweilige
Ursache oder den Anlass ohne­
hin keinen Einfluss nehmen;
beeinflussbar ist hingegen die
individuelle Absicherung gegen
die finanziellen Auswirkungen
und Folgeschäden. Welche der
nachfolgend dargestellten Ver­
sicherungen dabei notwendig,
sinnvoll oder entbehrlich sind,
muss individuell beurteilt wer­
den, idealerweise unterstützt
durch fachkundige Beratung.
wenn das Haus kaputt ist oder
während es repariert wird?
Was ist mit Mietausfällen von
Untermietern oder Mietern?
Was ist mit Solarenergie-­
Installationen? Was mit dem
Grundstück und all seinen Be­
standteilen? Die Versicherer
haben in den letzten Jahren
hier viele sinnvolle Leistungs­
komponenten ergänzt und er­
weitert. Eine Prüfung der Ele­
mentarschaden-Deckung der
vorhandenen Tarife auf Aktua­
lität und natürlich Preisqualität
ist daher empfehlenswert.
<<
<<
Hausrat
Nicht nur das Eigenheim oder
die Eigentumswohnung, auch
die Mietwohnung kann betrof­
fen sein; zum Beispiel durch
aufgedrückte Fenster, durchsi­
ckerndes Wasser, Feuer nach
Kurzschluss oder Blitzschlag,
beschädigte elektronische
­Anlagen. Bei der Hausratversi­
cherung ist zu prüfen, ob der
– meistens vorhandene – Ver­
sicherungsschutz zum Beispiel
die sogenannten Elementar­
schäden abdeckt.
<<
Wohngebäude­
Die Auswirkungen von Natur­
gewalten auf Häuser sind nicht
nur optischer Natur – beson­
ders belastend sind die oft im­
mensen finanziellen Folgen der
dadurch verursachten unmit­
telbaren Sachschäden. Aber es
entstehen auch viele mittelba­
re Kosten, die häufig überse­
hen werden: Wo wohne ich,
Glas
Das sind nicht nur die teuren
Außenthermopane- oder Si­
cherheitsverglasungen, Glas­
tischplatten, Türfüllungen,
Schranktüren, teure Spiegel,
Zierverglasungen oder Glas­
bilder. Bei den Naturgewalten
gilt dann das alte Sprichwort:
„Glück und Glas, wie leicht
bricht das!“
<<
Unfall
Gesundheitsschäden mit kör­
perlichen und finanziellen
Langzeitfolgen sind bei Natur­
gewalten nicht die Ausnahme,
sondern leider eher die Regel.
Der Autounfall im Gewitter,
Stürze und Brüche bei Platzre­
genfluten und Sturm! Sicher­
lich trägt die private oder ge­
setzliche Krankenversicherung
die direkten Kosten. Was ist
aber mit den Folgewirkungen?
Lange Krankenhausaufent­
halte, berufliche Ausfälle, Be­
hinderungen und Invaliditäts­
folgen, Hausumbau oder
schlimmstenfalls der Tod des
Hauptverdieners mit einer zu
versorgenden Familie sind
ohne einen entsprechenden
Versicherungsschutz nicht
­abgesichert.
<<
Haftpflicht­
Die vielfältigen privaten oder
dienstlichen beziehungsweise
beruflichen Risiken, anderen
einen ersatzpflichtigen Scha­
den zuzufügen, deckt prinzipi­
ell eine passende Haftpflicht­
versicherung. Nun kommt bei
den Schäden durch Naturge­
walten vielleicht der Gedanke
auf, dass bei „höherer Gewalt“
gar keine Ersatzpflicht entste­
he. Genau das sieht aber ein
Geschädigter, der in diesem
Fall „auf seinem Schaden sit­
zen bleiben“ würde, gegebe­
nenfalls anders – er wird ver­
suchen, anderen eine Schuld
oder Mitschuld nachzuweisen.
Und just da setzt die Rechts­
schutzfunktion einer guten
Haftpflichtversicherung ein:
Diese trägt zunächst das Kos­
ten- und Prozessrisiko einer
Anschuldigung und dann erst
die möglichen Schadenskosten.
Das gilt auch für den dienstli­
chen Bereich – der Unfall im
Unwetter kann im Dienstwa­
gen so gut passieren wie im
Privat-Pkw. Auch hier gilt:
­Prüfung der Tarifbedingungen
und Einsparmöglichkeiten!
<<
Vorteile über das
dbb vorsorgewerk
Bei der Prüfung der vorhande­
nen Versicherungen und Tarife
und bei der Nutzung vorhande­
ner Einsparmöglichkeiten un­
terstützt das dbb vorsorge­
werk auf einmalige Weise. Als
bewährten dbb Mitgliedsvor­
teil räumt der langjährige Ko­
operationspartner des dbb vor­
sorgewerk, die DBV Deutsche
Beamtenversicherung, einen
dauerhaften Beitragsnachlass
von drei Prozent auf die hier
aufgeführten Versicherungen
ein. Bis zum 31. Oktober 2016
können dbb Mitglieder und An­
gehörige in häuslicher Gemein­
schaft über das dbb vorsorge­
werk zusätzlich 20 Prozent auf
die bereits rabattierten Tarife
einsparen. Voraussetzung für
diesen neuen Aktionsrabatt ist,
dass Beratungsanfragen und
Anträge direkt beim dbb vor­
sorgewerk in Berlin gestellt
werden – telefonisch, schrift­
lich oder auch per E-Mail. Die
Kolleginnen und Kollegen be­
raten fachkundig zum jeweili­
gen Versicherungsbedarf und
informieren auch über weitere
Sparmöglichkeiten, zum Bei­
spiel in Form von Bündelnach­
lässen beim Abschluss mehre­
rer Verträge von insgesamt
weiteren 15 Prozent.
jg
<< Info
Die Versicherungsexperten
des dbb vorsorgewerk sind
Montag bis Freitag von 8 bis
18 Uhr unter 030.4081-6444
erreichbar. Ihre Anfrage
können Sie auch per E-Mail
an [email protected]
oder per Post an dbb vorsor­
gewerk GmbH, Friedrich­
straße 165, 10117 Berlin
senden. Weitere Informa­
tionen erhalten Sie auf
der Internetseite unter
www.dbb-vorteilswelt.de
> dbb magazin | September 2016
25
spezial
Stürme, Überschwemmungen, Gewitter, Erdrut­
sche, Starkregen, Hagelschlag, kaputte Autos,
Wohnungen und Häuser, schlimmer noch, auch
Verletzte und Tote – nichts bleibt unbeeinflusst.
In den letzten Monaten häuften sich die Unwetter­
meldungen und damit die Schadensereignisse ...
dbb
Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“:
Zwischenbilanz im Bundesinnenministerium
Eine Zwischenbilanz zur Anti-Gewalt-Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher
Dienst“ (www.angegriffen.info), initiiert von der dbb jugend nrw und unter­
stützt von der dbb jugend, haben nach rund 100 Tagen Laufzeit Vertreter
der Jugendverbände und des BMI gezogen. Am 10. August 2016 traf man
sich in Berlin mit dem Leiter des Stabes Gesellschaftlicher Zusammenhalt
und Integration, Ulrich Weinbrenner, im BMI, erörterte die ersten Ergebnisse
der Kampagne und sprach über gemeinsamen Handlungsbedarf.
spezial
<<
dbb jugend
26
Herzstück der Kampagne ist
ein Onlinekummerkasten, bei
dem Beschäftigte aus dem öf­
fentlichen Dienst Übergriffe
schildern und darstellen kön­
nen. Knapp 300 gemeldete
­Angriffe, schockierende Schil­
derungen von Attacken und
bewegende Rückmeldungen
Angehöriger – wie aggressiv
die Stimmung und wie ernst
die Lage ist, zeigen Online­
kommentare wie dieser: „Er
hätte lieber vollkommen aus­
rasten sollen und die Alte zu
Tode prügeln müssen.“ Er steht
unter dem Video, mit dem die
dbb jugend nrw im April ihre
Internetkampagne startete.
Das Video mit dem Titel „Aus­
raster im Amt“, das eine reale
Szene aus dem Alltag einer Be­
schäftigten im öffentlichen
Dienst nachstellt, sollte wach­
rütteln. Öffentlichkeit und Poli­
tik sollten gleichermaßen ver­
stehen, dass die Berichte von
Beschäftigten in Sozial- oder
Arbeitsämtern, Ausländerbe­
<
< „Ausraster im Amt“ – mit einer nachgestellten, aber leider alltäglichen
Szene aus einer deutschen Verwaltung startete die Kampagne „Gefah­
renzone Öffentlicher Dienst“ im April 2016.
hörden oder Finanzämtern kei­
ne Einzelfälle sind, sondern
dass das Klima in deutschen
Amtsstuben, in Bahnen und
auf der Straße unfassbar rau
geworden ist. In allen Berei­
chen des öffentlichen Dienstes.
An allen Tagen.
<<
­Privatwirtschaft ab, denn be­
sonders Uniformen und Ein­
griffsverwaltungen stellen of­
fensichtlich eine besondere
Angriffsfläche für Aggressionen
dar“, erläuterte Markus Klügel,
zuständiger Referent der dbb
jugend nrw, bei dem Treffen im
BMI. Jan Falkenhagen, Beisitzer
der nrw-Jugendleitung, ergänz­
te: „Wir sind erschrocken darü­
ber, dass sogar Kolleginnen und
Kollegen in sozialen Berufen
Angriffsfläche Uniform
„Der öffentliche Dienst hebt
sich damit deutlich von der
dbb jugend magazin
Umfassende Statistik
Die dbb jugend strebt gleich­
wohl die vollumfängliche Er­
fassung der physischen und
psychischen Übergriffe gegen­
über Beschäftigten im öffentli­
chen Dienst an. Möglich wäre
das über die Aufnahme eines
gesonderten Statistikpunktes
bei der Erfassung von Strafta­
ten. Grundlage müsse indes
auch die Sensibilisierung der
Beschäftigten und Dienstvor­
gesetzten für die Wichtigkeit
sein, jeden Übergriff konse­
quent zur Anzeige zu bringen.
„Wir wollen, dass Beschäftigte
diese Übergriffe nicht mehr
einfach so hinnehmen und mit
Angst zur Arbeit gehen. Wir
zeigen Gewalt die rote Karte“,
sagte dbb jugend-Chefin San­
dra Kothe in Berlin. Eine ergän­
zende Möglichkeit bietet eine
flächendeckende Gefährdungs­
beurteilung von Behörden
und Verwaltungen nach dem
online
,Auf die Plätze, fertig, los!‘ – der t@cker-Titel für die Dop­
pelausgabe des dbb jugend magazin im August und Sep­
tember könnte auch das Motto für den Start in ein neues
Zeitalter der Personalpolitik im öffentlichen Dienst sein.
Denn nach dem ewigen Mantra des ‚10 Prozent weniger
Personal geht immer‘ scheint sich nun langsam, aber si­
cher die Erkenntnis durchzusetzen: Weniger geht wirk­
lich nicht“, schreibt dbb jugend-Chefin Sandra Kothe im
Editorial. Diesen Paradigmenwechsel schildern die Per­
sonalmanager der Bundesstadt Bonn, Andreas Leinhaas
und Ralf Bocks­hecker, sehr eindrucksvoll und zeigen
auf, wie sie die Strategien der Personalgewinnung und
-bindung der Zukunft sehen und umsetzen – „empfeh­
lenswert, spannend und vor allem eine Bestätigung all
dessen, was wir als dbb jugend und dbb seit Jahren
gebetsmühlenhaft wiederholen: Kümmert Euch um
Ausgabe
dbb jugend
magazin für
junge
8/9
2016
leute im öff
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Vater Staat
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fertig, los! tze,
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hier die Frage Das ist
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Jetzt wechsel
n, 100 Euro der BBBank –
Startguthabe
n! Seite 21
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Personal:
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27.07.2016
> dbb magazin | September 2016
– Krankenpfleger, Rettungs­
kräfte – immer häufiger Opfer
von Übergriffen werden.“ Die­
sen Eindruck teilten die Ge­
sprächsteilnehmer aufseiten
des BMI. Ulrich Weinbrenner
betonte, dass das Ministerium
das Problem erkannt habe. Das
Fehlen einer Statistik trübe da­
her nicht die Einsicht in die Er­
forderlichkeit zu handeln.
16:26:40
den Nachwuchs! Zeigt ihm, dass Ihr Euch für ihn
interessiert, dass Ihr ihm was zu bieten habt, und
bietet ihm dann auch tatsächlich was! Denn nur
mit qualifiziertem und motiviertem Personal wird
der öffentliche Dienst seine Leistungsfähigkeit auf
Dauer halten können“, so Kothe. Und Vater Staat
sucht dringend Nachwuchs, wie im t@cker-fokus
nachzulesen ist. Auf was es dann direkt beim Berufs­
start im öffentlichen Dienst ankommt, verraten die
START-Broschüren, die in den t@cker-tipps vorgestellt
werden. Für die Sommerpause des dbb jugend maga­
zin – die nächste Ausgabe erscheint im Oktober 2016
– gibt’s on top wie immer reichlich Neuigkeiten aus der
dbb jugend und ihren Mitgliedsverbänden. t@cker le­
sen lohnt sich also wie immer – einfach direkt reinsur­
fen unter www.tacker-online.de!
dbb
­Onlinekummerkasten immer
weiter. Beschäftigte schilder­
ten ihre teilweise erschüttern­
den Erfahrungen – und auch,
dass die Vorfälle seitens der Ar­
beitgeber oft „unter dem De­
ckel“ gehalten würden. „Genau
diesen Missstand haben wir
jetzt beendet“, sagte dbbj nrwChef Jano Hillnhütter. „Gewalt
gegen Beschäftigte ist trauriger
Alltag, das haben bereits die
ersten 100 Kampagnentage öf­
fentlich gemacht.“ Mittlerweile
liegen auch zwei Umfragen der
dbb jugend
­ achener Modell, welche die
A
Jugendvertreter im BMI vor­
stellten. Konsens bestand zwi­
schen den Gesprächsteilneh­
mern auch, dass es im Kampf
gegen Gewalt eine gemeinsa­
me Wertedefinition brauche.
Das BMI ist derzeit mit der Ent­
wicklung einer Kampagne be­
schäftigt, die darstellen soll,
welche wichtigen und wert­
vollen Aufgaben Staatsdiener
erfüllen und wie sie zu einem
sicheren, verlässlichen und
funktionierenden gesellschaft­
<
< Gemeinsam gegen Gewalt: Markus Klügel (dbbj nrw), BMI-Stabsleiter Ulrich
Weinbrenner, dbb jugend-Vorsitzende Sandra Kothe und Jan Falkenhagen
(dbbj nrw) vor dem Bundesinnenministerium in Berlin (von links)
lichen Miteinander beitragen
– „es geht um mehr Respekt“,
machte K
­ othe deutlich.
<<
Öffentliche Plattform
Auch im „Headquarter“ der
Anti-Gewalt-Kampagne bei
der dbb jugend nrw in Düs­
seldorf zogen die Initiatoren
eine positive Zwischenbilanz.
Gleich am ersten Tag wurde
die Seite über 7 600 Mal auf­
gerufen. Viele Anrufe und
E-Mails zeigen, dass eine öf­
fentliche Plattform für das
Thema längst überfällig war:
„Hallo, ich finde es klasse, dass
endlich mal darauf aufmerk­
sam gemacht wird, was alles
mit Mitarbeitern im öffentli­
chen Dienst passiert“, hieß es
beispielsweise.
Viele dbb Gewerkschaften auf
Jugend- und Erwachsenenebe­
ne in NRW und darüber hinaus
trugen die Kampagne weiter,
ebenso Parteienvertreter.
­Unterdessen füllte sich der
Kampagne vor, an denen sich
insgesamt rund 1 000 Beschäf­
tigte aus dem öffentlichen
Dienst im gesamten Bundesge­
biet beteiligt haben. „Beinahe
die Hälfte der Beschäftigten
hat bereits selbst Übergriffe
erlebt. Und in der zweiten Um­
frage berichtet die Hälfte der
Teilnehmer darüber, dass sich
in Notsituationen zwar die Kol­
legen untereinander helfen, es
aber keine festen Notfallabläu­
fe gibt“, fasst Jano Hillnhütter
die Ergebnisse zusammen. „Es
besteht also offenkundig drin­
gender Handlungsbedarf.“
In manchen Kommunen habe
man zwar beispielsweise
Grundsatzerklärungen gegen
Gewalt verabschiedet und diese
auch über die Medien bekannt
gegeben. Doch die Mitarbeiter
vor Ort wüssten zu berichten,
dass diese nur auf dem Papier
existieren und keine Relevanz
für die tägliche Arbeit hätten.
Auch Selbstverteidigungstrai­
nings für die Mitarbeiter brach­
ten einer Kommune zwar einen
guten Ruf ein, wurden tatsäch­
lich jedoch von den Beschäftig­
ten selbst in Sportvereinen or­
ganisiert und angeboten.
<<
­Hasskommentare
Schockiert zeigten sich die
Kampagnenmacher auch in
der dbbj nrw-Zentrale von den
zahlreichen Hasskommentaren,
die sie anlässlich der Kampagne
erreichten. Referent Markus
Klügel: „So mancher nutzte die
Anonymität des Netzes, um
noch einen draufzusetzen.“
Eine Kostprobe: „Ich könnte
euch Sachen aus dem Jobcen­
ter erzählen, die mir persönlich
nachweislich zugestoßen sind.
Ich habe eine sehr gute Erzie­
hung genossen und bin eigent­
lich gutbürgerlich aufgewach­
sen. Aber was dort abgeht,
rechtfertigt sogar körperliche
Gewalt gegen jeden einzelnen
Mitarbeiter! Wie gesagt, scha­
de, dass der Typ der Alten nicht
ein paar Mal vorn Kopf getre­
ten hat. Sie hätte es verdient.
Schade, dass er sich noch halb­
wegs im Griff hatte, er hätte
lieber vollkommen ausrasten
sollen und die Alte zu Tode prü­
geln müssen!“ „Solche und
ähnliche Gewaltaufrufe sind
immer wieder auch unter Bei­
trägen über ­Angriffe auf Be­
schäftigte zu lesen, von denen
die Medien berichten. Sie doku­
mentieren öffentlich, wie hoch
die Gewaltbereitschaft man­
cher Bürger ist. Sie zeigen, wel­
ches Kopfkino sich bei man­
chen Menschen abspielt und
bei anderen in Wutausbrüchen,
Beleidigungen, Drohungen und
Angriffen auf Beschäftigte im
öffentlichen Dienst entlädt“,
konstatiert Markus Klügel.
Dieser aggressiven Grundstim­
mung gegenüber den Beschäf­
tigten des Staats wollen sich
die dbb Jugendverbände und
ihr Dachverband dbb weiterhin
entgegenstellen, auf die Tatsa­
chen aufmerksam machen und
besseren Schutz und wirksa­
mere Prävention fordern. Die
Kampagne geht weiter – unter
www.angegriffen.info.
> dbb magazin | September 2016
© underworld - Fotolia.com
dbb
Geldpolitik:
Mehr Schein als Sein?
spezial
28
Brave Bürger, die den Banken nicht mehr vertrauen,
horten ihr Erspartes am liebsten in 500-Euro-Scheinen
in den eigenen vier Wänden. Sie vermeiden mit den großen
Scheinen ein „Volumenproblem“, denn je wertvoller der Schein,
desto mehr Euros lassen sich auf kleinstem Raum unterbringen. Das
haben aber auch die Kriminellen erkannt, die aus denselben Gründen die
500er seit Langem ebenfalls für ihre krummen Geschäfte bevorzugen. Zur
Bekämpfung der Geldwäsche wird der violette Riese nun abgeschafft. Bringt das
wirklich etwas im Kampf gegen den Terrorismus und das organisierte Verbrechen,
oder stecken noch andere Gründe hinter dieser Entscheidung?
Etwa 614 Millionen 500-EuroNoten sind zurzeit im Umlauf.
Die Summe ist einfach ausge­
rechnet: Mit etwa 307 Milliar­
den Euro entspricht das fast
einem Drittel des Wertes aller
im Verkehr befindlichen EuroBanknoten. Dabei machen die
großen Scheine allerdings nur
etwas mehr als drei Prozent
aller Euro-Banknoten aus.
Schätzungen zufolge befinden
sich rund 72 Mil­liarden Euro in
500er-Scheinen im Ausland.
<<
500er als Terrorhelfer
Die meisten Bundesbürger ha­
ben den violetten Geldschein
nie gesehen, geschweige denn
je besessen. Es „passt“ zu die­
sem Phänomen, dass die auf
der Banknote abgebildete Ar­
chitektur des 20. Jahrhunderts
keine realen Gebäude zeigt,
sondern Stil­epochen der Mo­
derne le­diglich symbolisieren
soll. Zum Bezahlen an der Tank­
stelle oder im Supermarkt eig­
> dbb magazin | September 2016
net sich der Schein kaum. Die
meisten Händler weigern sich,
500er-Banknoten anzuneh­
men. Dazu sind sie berechtigt,
wenn sie die Kunden, etwa
durch einen Aushang am
Laden­eingang, davon in Kennt­
nis setzen, oder der Wert des
Einkaufs in Relation zum Wert
des Geldscheins unangemes­
sen ist. Im Klartext heißt das:
Der Bäcker muss einen 500-­
Euro-Schein nicht wechseln,
wenn der Kunde damit fünf
Brötchen bezahlen möchte.
Doch für die Barzahlung größe­
rer Rechnungen, etwa beim
Gebrauchtwagenhändler, beim
Juwelier oder bei Handwerkern
für Renovierungsarbeiten, eig­
nen sich die großen Scheine
sehr wohl. Und das ist seit Lan­
gem nicht nur Finanzminister
Wolfgang Schäuble, sondern
auch der EU-Kommission und
vor allem der Europäischen
­Zentralbank (EZB) ein Dorn im
Auge. Der Generalverdacht, der
in vielen Fällen nicht von der
Hand zu weisen ist: Wer größe­
re Summen bar bezahlt, zahlt
am Fiskus vorbei.
Im Interview mit dem dbb
­magazin bezeichnete Wolf­
gang Schäuble im Juli/August
2015 die Abschaffung des Bar­
geldes zwar noch als Theorie,
doch sei er offen „für neue
technologische Entwicklungen,
die einen Mehrwert für Ver­
braucher und auch für Verwal­
tungen schaffen“. In der Euro­
zone sinke der Bargeldumlauf
zugunsten unbarer Zahlungs­
mittel, nur in Deutschland neh­
me der Bargeldumlauf zu. Die
ersten Gegenmaßnahmen sind
mit der Abschaffung der 500Euro-Scheine und der Decke­
lung der Bargeschäfte auf
5 000 Euro inzwischen getrof­
fen. Steuerbetrügern und
Schwarzarbeitern soll so das
Leben schwerer gemacht wer­
den. Die Banken melden zudem
auf der Grundlage des Geldwä­
schegesetzes jede Finanztrans­
aktion dem Finanzamt, die über
15 000 Euro liegt. Und Hand­
werkerrechnungen, die bar be­
zahlt werden, können nicht
von der Steuer ab­gesetzt wer­
den.
Ob Mafia und Co. sich vom Aus
des 500er-Scheins beeindru­
cken lassen werden, mag da­
hingestellt bleiben. Als Begrün­
dung für die tiefen Eingriffe in
die bürgerliche Freiheit des Ein­
zelnen mag der mit der Maß­
nahme angeblich erleichterte
Kampf gegen den Terrorismus
herhalten. Experten sind sich
indes sicher, dass weder das or­
ganisierte Verbrechen noch der
Ter­rorismus ohne 500-EuroBanknoten künftig ihre Finanz­
basen verlieren werden. Die
Kriminellen werden verstärkt
auf Gold und Diamanten set­
zen und auf die nächst kleinere
Bargeldeinheit umstellen, die
ihre Kuriere mit kaum größe­
ren Koffern auf den Weg brin­
<<
Rückzug in Raten
500er-Scheine mehr ausgege­
ben werden, und mit den gro­
ßen Banknoten keine Geschäf­
te mehr getätigt werden
können.
Mit dieser eher sanften als
drastischen Entscheidung
kommt die EZB nicht nur den
seriösen Kunden entgegen,
sondern spart auch eine Men­
ge Geld. Denn je schneller die
500er-Banknote vom Markt
genommen wird, desto mehr
kleinere Scheine müssten bin­
©hppd – Fotolia.com
Am 1. Juni 2016 hat der Rat der
Europäischen Zentralbank als
alleiniger Hüter der europäi­
schen Währung entschieden,
die Ausgabe der 500-EuroScheine Ende 2018 einzustel­
len. Dass diese Maßnahme
nicht zuletzt auch dem Zinsver­
fall geschuldet ist, bleibt un­
ausgesprochen. Aus Angst vor
Negativzinsen, die sie für ihre
Guthaben zahlen müssen, ha­
ben zahlreiche Sparer und An­
leger ihre Konten leergeräumt
und ihre Vermögen in Form
von 500-Euro-Scheinen in so­
genannte „Matratzen-Depots“
umgelagert. Ab Januar 2019
müssen Sparer diese Art der
Geldanlage zwar nicht abstel­
len, aber sie wird ihnen er­
schwert, weil die Banken keine
<
< Nur in Deutschland gab es vor der Euro-Einführung mit dem 1 000-Mark-Schein eine ähnlich wertvolle Banknote
wie die 500-Euro-Note. In Spanien endete die Stückelung mit dem 10 000-Peseten-Schein, der etwa 60 Euro wert
war. In Frankreich war der größte Schein die 500-Franc-Note im Wert von etwa 76 Euro. Ab Januar 2019 ist der
500-Euro-Schein Geschichte. Der größte der sieben Euro-Geldscheine wird vom Markt genommen und durch
­kleinere Banknoten ersetzt.
nem Kurzen als Ersatz nachge­
druckt werden, damit die um­
laufende Bargeldmenge nicht
schrumpft. Die EZB rechnet al­
lein d
­ afür mit Druckkosten in
­Höhe von mindestens 500 Mil­
lionen Euro. Bislang unbeziffer­
te Lo­gistikkosten in viel­facher
Millionenhöhe kommen hinzu.
Für die Kunden ändert ich
­zunächst einmal nichts. Alle
500-Euro-Scheine werden un­
begrenzt ihren Wert behalten
und auch künftig von allen
Geldinstituten in kleinere
Scheine eingetauscht oder
dem Konto gutgeschrieben.
Das gilt auch über den Stichtag h
­ inaus. Ab 2019 kann der
violette Schein allerdings von
niemandem mehr als gesetz­
liches Zahlungsmittel einge­
setzt werden – weder vom
­einfachen Sparer noch vom
Mafiaboss. Bis zu diesem
­Zeitpunkt will die EZB zudem
ausreichend überarbeitete
100er- und 200er-Noten der
sogenannten Europa-Serie aus­
geliefert haben, die verbesser­
te Sicherheitsmerkmale auf­
weisen werden. Es steht zu
erwarten, dass der Umtausch
„am Schalter“ ohne Weiteres
nur bis zu einer relativ kleinen
Summe möglich sein wird. Wer
beispielsweise 500 000 Euro in
500er-Scheinen bar einwech­
seln möchte, sollte nicht nur
seinen Personalausweis dabei
haben, sondern den Bankbe­
such vorher anmelden.
sm
> dbb magazin | September 2016
29
spezial
gen werden: Eine Million in
500-Euro-Scheinen wiegt
2,2 Kilogramm; in 200er-­
Scheinen sind es auch nur
5,4 Kilogramm.
dbb
Der Fall des Monats
Erwerb von Urlaubsansprüchen:
spezial
30
Das Dienstleistungszentrum
Nord vertrat einen Beamten,
der strafrechtlich zu einer
Geldstrafe von 300 Tagessät­
zen unter anderem wegen Ver­
stoßes gegen das Betäubungs­
mittelgesetz verurteilt wurde.
In einem Zeitraum von 2009
bis 2015 war dieser Beamte
suspendiert. Der Dienstherr
beantragte beim zuständigen
Verwaltungsgericht die Entfer­
nung des Beamten aus dem
Dienst. Dieser Antrag scheiter­
te. Der Beamte wird seit Ende
2015 wieder amtsangemessen
beschäftigt und versieht seit­
dem wieder aktiven Dienst.
Er beantragte die Gewährung
des während der Suspendie­
rung angesparten Jahresur­
laubs. Der Dienstherr verwei­
gerte dies.
Mithilfe des Dienstleistungs­
zentrums Nord wurde dem
­Beamten im Wege des einst­
weiligen Rechtsschutzes der be­
antragte (Alt-)Urlaub schließlich
gewährt. Zur Begründung führ­
te das Verwaltungsgericht Bre­
men aus: Die entsprechende
Landesurlaubsverordnung ver­
binde zwar grundsätzlich den
Erholungsurlaubsanspruch mit
einer Dienstleistungspflicht des
Beamten. Es liege hierin jedoch
keine unbedingte Verknüpfung
zwischen Dienstleistungspflicht
und Erholungsurlaub. Das Ver­
waltungsgericht Bremen stellte
> dbb magazin | September 2016
fest, dass die Urlaubsverord­
nung explizit Regelungen für
bestimmte Fälle enthalte, in de­
nen die Dienstleistungspflicht
des Beamten bereits aus ande­
ren Gründen (als der vorläufi­
gen Dienstenthebung) ruhe.
Für den Anspruch von Erho­
lungsurlaub während Zeiten
einer vorläufigen Dienstenthe­
bung spreche, dass dem Sus­
pendierten zwar keine Dienst­
leistungspflicht, wohl aber eine
Verpflichtung zur ständigen
Dienstbereitschaft treffe. Der
Erholungsurlaub während der
Dauer einer solchen suspendie­
renden Maßnahme würde dem
Zweck dienen, den Beamten
zeitweilig zu Erholungszwecken
von dieser Dienstbereitschafts­
pflicht zu befreien (Verwal­
tungsgericht der Freien Hanse­
stadt Bremen, Az.: 6 V 2267/16,
Beschluss vom 19. August 2016;
nicht rechtskräftig).
ak
<< Info
Der dbb gewährt den Einzel­
mitgliedern seiner Mitglieds­
gewerkschaften berufsbezo­
genen Rechtsschutz.
Zuständig dafür sind die
­Juristen in den dbb Dienst­
leistungs­zen­tren in Berlin,
Bonn, Hamburg, Nürnberg
und Mannheim. Das dbb
­magazin dokumentiert den
„Fall des Monats“.
Zahlreiche Versicherte und Rentner fühlen sich in den
­Fachgewerkschaften und Verbänden unter dem Dach des
dbb gut vertreten. Damit ihre Interessen auch in den Selbst­
verwaltungsorganen der Sozialversicherungsträger mit
Nachdruck geltend gemacht werden, tritt der dbb bei der
kommenden Sozialwahl im Mai 2017 wieder mit eigenen
Kandidaten an. Das dbb magazin wird bis zum Wahltermin
in loser Folge Bewerber vorstellen, die mit eigenen Worten
über die Beweggründe für ihre Kandidatur Auskunft geben.
Vorgestellt:
Marlis von Saß-Ihnken aus Wiefelstede/
Nieder­sachsen, Jahrgang 1959, ist Versichertenberaterin
und seit den Sozialwahlen 2011 im Verwaltungsrat der
AOK Niedersachsen aktiv.
©Fosan Photography
©Bjrn Wylezich – Fotolia.com
Auch während einer
Suspendierung
„
Grund für meine Kandidatur 2011 war die He­
rausforderung, das Unterschriftenquorum von
1 000 Unterschriften zu erfüllen und meiner Fach­
gewerkschaft GdS und damit dem dbb den Weg für
die Mitarbeit in der Selbstverwaltung der AOK Nie­
dersachsen zu öffnen. Inzwischen bin ich mit einem
Kollegen aus dem Ehrenamt ständiges Mitglied im
Verwaltungsrat. Damit sind wir gut aufgestellt und
möchten unsere Fachkompetenz auch nach der
­Sozialwahl 2017 einbringen. Es macht Spaß, sich
­sowohl für die Anliegen der Versicherten als auch
der M
­ itarbeiterinnen und Mitarbeiter der
AOK Niedersachsen zu engagieren.
“
dbb
Europäische Säule sozialer Rechte:
Bessere Behindertenrechte in Europa
Die Europäische Union treibt mit der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ ein Prestigeprojekt voran,
das auch für Menschen mit Behinderung in Europa Verbesserungen bringen könnte. Allerdings sind
die Zuständigkeiten geteilt, Europa hat im Sozialrecht deutlich weniger Einfluss als die Mitgliedstaaten.
Die Unterschiede sind groß: Einige Länder haben umfangreiche Programme, die gleiche Chancen
­ermöglichen sollen, in anderen Staaten gibt es noch großen Nachholbedarf.
falls weiterzuentwickeln, hat
die Europäische Kommission
im März eine offene Konsulta­
tion zur „Europäischen Säule
sozialer Rechte“ gestartet.
Noch bis zum Ende des Jahres
können sich sowohl Interes­
sensverbände, Sozialpartner,
aber auch einzelne Interessier­
te daran beteiligen. In einem
Unterkapitel werden mögliche
Maßnahmen und Verbesserun­
gen für Menschen mit Behin­
derungen abgefragt. Der Fokus
liegt hier vor allem auf der Be­
teiligung am Arbeitsmarkt.
©Olesia Bilkei – Fotolia.com
spezial
32
Bereits 2008 trat das Überein­
kommen über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen,
die sogenannte UN-Behinder­
tenrechtskonvention, in Kraft.
Sie soll dazu beitragen, die
­Lebensbedingungen von Men­
schen mit Behinderung zu
­verbessern. Die Europäische
Union ist dem Abkommen be­
reits vor seinem Inkrafttreten
2007 beigetreten. Mittlerweile
haben auch fast alle EU-Mit­
gliedstaaten das Abkommen
gezeichnet und in Kraft ge­
setzt, als Letztes plant Irland,
die UN-Behindertenrechtskon­
> dbb magazin | September 2016
vention bis zum Ende dieses
Jahres zu ratifizieren.
<<
Europa mit eigener Be­
hindertenrechtsstrategie
Um sicherzustellen, dass die
Konvention in allen Mitglied­
staaten der EU umgesetzt
wird, hat die EU 2010 eine „Eu­
ropäische Strategie zugunsten
von Menschen mit Behinde­
rungen 2010–2020: Erneuertes
Engagement für Europa“ auf­
gelegt. Die einschlägigen Poli­
tikbereiche sollen dahingehend
überprüft werden, ob die Be­
lange behinderter Menschen
ausreichend berücksichtigt
werden. Vor allem acht Berei­
che werden von der Strategie
abgedeckt: Zugänglichkeit,
Teilhabe, Gleichstellung, Be­
schäftigung, allgemeine und
berufliche Bildung, sozialer
Schutz, Gesundheit und Maß­
nahmen im Außenbereich.
<<
Offene Konsultation
gestartet
Um die sozialpolitischen Maß­
nahmen in Europa besser zu
koordinieren und gegebenen­
Nach Angaben der Europäi­
schen Kommission liegt die
­Beschäftigungsquote von
Menschen mit Behinderung
EU-weit bei etwa 47,9 Prozent
gegenüber 71,5 Prozent bei
Menschen ohne Behinderung.
Dieser Unterschied ergebe sich
zum einen daraus, dass Men­
schen mit Behinderung mögli­
cherweise nicht in der Lage
sind, eine Beschäftigung auf­
zunehmen, zum anderen aber
auch aus negativen Beschäf­
tigungsanreizen und dem
­Fehlen angemessener Unter­
stützungsmaßnahmen, die
Menschen mit Behinderung
den Zutritt zum Arbeitsmarkt
ermöglichen sollen.
<<
Chancengleichheit für
Behinderte schaffen
Auch insgesamt seien Men­
schen mit Behinderung weit­
aus stärker von Armut und so­
zialer Ausgrenzung bedroht als
die Gesamtbevölkerung. Prob­
lematisch sei, dass es an barrie­
refreien Arbeitsplätzen fehle
und Menschen mit Behinde­
dbb
rung mit Diskriminierungen
und negativen steuerlichen
Anreizen konfrontiert seien.
Zudem könnten schlecht kon­
zipierte Leistungen für Men­
schen mit Behinderung zu
‚Leistungsfallen‘ führen, bei­
spielsweise wenn den Betrof­
fenen Zahlungen vollständig
gestrichen werden, sobald sie
erstmals oder wieder ins Er­
werbsleben eintreten. Die
­Verfügbarkeit von Unterstüt­
zungsleistungen könne auch
die Fähigkeit zur Teilnahme am
Arbeitsmarkt und am Gemein­
schaftsleben beeinflussen.
Einen besonderen Fokus legt
die Kommission zudem auf
Leistungen bei Erwerbsunfähig­
keit. Diese sollen „Menschen
mit Behinderung einen ange­
messenen und vergleichbaren
Lebensstandard gewährleisten,
indem sie einen sozialen Schutz
garantieren und die Gefahr von
Armut und sozialer Ausgren­
zung mindern. Sie ­können ein
sicheres Grund­einkommen bie­
ten und einen Ausgleich für
fehlende Beschäftigung(smög­
lichkeiten), für Einkommens­
ausfälle und für zusätzliche
Kosten im Zusammenhang mit
einer Behinderung schaffen“.
Diese Leistungen müssten gut
konzipiert sein, um keine zu­
sätzlichen Beschäftigungshin­
dernisse zu schaffen. Vielmehr
müssten sie in Verbindung mit
Rehabilitationsleistungen und
gezielten aktiven Arbeitsmarkt­
maßnahmen die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben und
am A
­ rbeitsmarkt begünstigen.
Um diese Ziele zu erreichen,
besteht aus Sicht der Kommis­
sion eine zentrale Herausfor­
derung in der Konzeption von
Leistungen bei Erwerbsunfä­
higkeit, die die aktive Teilhabe,
die soziale Inklusion und den
sozialen Schutz fördern: „Des­
halb muss der Ausgleich für
eine eingeschränkte Erwerbs­
beteiligung ergänzt werden,
insbesondere um einen Aus­
gleich der Mehrkosten im Zu­
sammenhang mit der Erwerbs­
unfähigkeit selbst, die sich auf
bis zu 50 Prozent des persönli­
chen Einkommens belaufen
können.“
<<
EU mit eingeschränkten
Kompetenzen
Allerdings kann die EU in die­
sem Zusammenhang größten­
teils nur beratend tätig wer­
den, da die Konzeption von
Leistungen bei Erwerbsunfä­
higkeit maßgeblich in die nati­
onale Zuständigkeit fällt. Die
EU-Kompetenz beschränkt sich
auf die Koordinierung der Sys­
teme der sozialen Sicherheit.
Ein weiterer Hebel ist zudem
das EU-Antidiskriminierungs­
<< Webtipp
Konsultation zur
­„Europäischen Säule“:
http://goo.gl/upC7Mh
EU-Strategie zugunsten
von Menschen mit Behin­
derungen 2010–2020:
http://goo.gl/6BbuKR
recht, das sich auch konkret
auf Diskriminierungen beim
Zugang zur Arbeit bezieht.
Der Fortgang der Diskussion
über die „Europäische Säule“
ist angesichts der vielfältigen
Verwerfungen innerhalb der
Europäischen Union – Brexit,
Flüchtlingskrise und wirt­
schaftliche Ungleichheiten sind
hierfür Beispiele – ungewiss.
Die öffentliche Konsultation ist
nur ein Anfang eines Prozesses,
der sich über mehrere Jahre er­
strecken könnte. sy
CESI-Sozialkommission:
„Europa muss einen sozialpolitischen Konsens finden“
„Kaum ein Thema birgt so viel
Sprengstoff wie ein großes sozi­
ales Gefälle. Die Initiative der
EU-Kommission kann hier einen
wichtigen Beitrag leisten und
Lösungen aufzeigen“, erklärte
Siglinde Hasse, Bundesge­
schäftsführerin der Gewerk­
schaft der Sozialversicherung
und stellvertretende Vorsitzen­
de des Beschäftigungs- und
­Sozialausschusses der CESI. „So­
zialpolitik ist und bleibt grund­
sätzlich Sache der Mitglied­
staaten, aber in Zeiten großer
Mobilität der EU-Bürger muss
es auch einen sozialpolitischen
Konsens in Europa geben.“
Die langanhaltende wirt­
schaftliche Krise in einigen
©alphaspirit – Fotolia.com
Noch bis zum Ende des Jahres fragt die Europäische Kommission in einer öffentlichen Konsultation,
wie sich Europas Bürger eine mögliche Europäische Säule Sozialer Rechte vorstellen. Auch der dbb und
sein europäisches Dach, die Europäische Union Unabhängiger Gewerkschaften (CESI), werden sich an
der Konsultation beteiligen.
Mitgliedstaaten seit 2008
habe verdeutlicht, dass Euro­
pa zumindest wirtschaftlich
noch geteilt sei. „Mobilität
ist ein hohes Gut und muss
geschützt werden. Aber die
Auswanderung von EU-Bür­
gern aus wirtschaftlich
schwachen in wirtschaftlich
starke Staaten kann auf Dauer
nicht die einzige Lösung sein“,
erläutert Hasse. „Die Europäi­
sche Union kann hier als wich­
tiger Impulsgeber für nationa­
le Reformen im Sinne eines
europäischen Arbeitsmarktes
wirken. Sie kann klare Pers­
pektiven für eine Anpassung
der Standards, orientiert am
höchsten Schutzniveau, auf­
zeigen.“
> dbb magazin | September 2016
spezial
33
dbb
Arbeiten 4.0:
Digitaler Wandel – Chance oder Risiko
für Frauen in der Arbeitswelt?
Wie lässt sich die Qualität der Arbeit dauerhaft sichern? Und wie wirkt sich
der digitale Wandel auf Frauenkarrieren aus? Mit diesen Fragen beschäftigt
sich Dr. Kira Marrs, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial­
wissenschaftliche Forschung e. V. (ISF) München, in ihrer Forschung. Die dbb
bundesfrauenvertretung sprach mit ihr über die zunehmende Entgrenzung
von Arbeit sowie über die Chancen und Risiken der Digitalisierung, denen
Frauen in der Arbeitswelt begegnen.
?
Wie kann der Entgrenzung von
Arbeit, die durch neue mobile
und flexible Arbeitsmodelle
droht, Einhalt geboten wer­
den?
seits: Man kann so viel regulie­
ren wie man möchte, und das
werden Sie aus dem öffentli­
chen Dienst sicherlich auch
kennen, aber das, was die Be­
schäftigten tatsächlich tun,
steht auf einem anderen Blatt
geschrieben. Und da sind wir
der Ansicht, dass es hier um
mehr geht, als die Menschen
freundlich darauf hinzuweisen,
dass ihr Smartphone auch ei­
?
Die digitale Revolution soll
­Beschäftigten mehr Arbeits­
zeitsouveränität und eine stär­
kere räumliche Unabhängig­
<
< Dr. Kira Marrs, Wissenschaftlerin am Institut
für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V.
(ISF) München. Sie studierte Soziologie, Psy­
chologie und Kriminologie an der Ludwig-­
Maximilians-Universität München und pro­
movierte an der TU Darmstadt zum Thema
neue Leistungskonzepte in der Dienstleis­
tungswirtschaft. Sie beschäftigt sich seit
mehreren Jahren intensiv mit dem digitalen
Wandel und seinen Folgen für die Arbeitswelt.
Aktuelle Ergebnisse aus ihrer Forschungs­
arbeit hatte sie am 12. April 2016 auf der
Frauenpolitischen Fachtagung vorgestellt.
Businessfotografie Inga Haar
spezial
34
Kira Marrs: Durch ein Füh­
rungsverhalten, das sensibi­
lisiert ist für die möglichen
­Risiken und zusätzlichen Belas­
tungen, die diese Modelle mit
sich bringen können. Das zeigt
sich auch in den Unterneh­
men. Hier erleben wir, dass
neue ­ ­Betriebsvereinbarungen
getroffen werden, die mobiles
Arbeiten verbindlich regeln.
Sie klären ganz zentrale Fra­
gen: Was ist denn heutzutage
eigentlich Arbeitszeit? Kann
sie auch außerhalb des Be­
triebs erfasst werden und wie
regulieren wir das Recht auf
Nichterreichbarkeit? Anderer­
nen Ausknopf hat, den sie
doch bitte bedienen sollen.
Vielmehr müssen Unterneh­
men und Führungskräfte sich
auch damit auseinanderset­
zen, warum ihre Beschäftigten
in solchen Situationen so han­
deln und der Entgrenzung Tür
und Tor öffnen. Da spielen
existenzielle Unsicherheiten
mit hinein: Wann kann ich es
mir erlauben, einem Vorge­
setzten nicht zu antworten?
Wir müssen Menschen dazu
befähigen, zu sagen: „Nein,
das möchte ich jetzt nicht, das
möchte ich nicht auf diese
Weise machen.“
> dbb magazin | September 2016
dbb
Kira Marrs: Dazu müssen wir
Teilzeit und die Beurteilung
von Teilzeitarbeit in den Blick
nehmen. Hier treffen zwei
Sachverhalte aufeinander, die
ganz spannend sind. Einmal die
Frage der Versachlichung von
Personalbewertungssystemen
in dem Sinne, dass versucht
wird, verallgemeinernde Krite­
rien anzusetzen, um bestehen­
de Rekrutierungsmuster zu
durchbrechen. Wenn man über
Frauenkarrieren nachdenkt, ist
diese Versachlichung von zent­
raler Bedeutung. Das Zweite ist
die Verfügbarkeit als Erwar­
tungshaltung. Und da sind wir
ganz nah bei den nach wie vor
prägenden Präsenzkulturen.
Das Problem ist, und das gilt
für Teilzeit ja erst recht, dass
Unternehmen Präsenz mit
Leistung verwechseln und von
Karriereaspirantinnen erwar­
ten, dass sie eine gewisse Hin­
gabe zur Organisation pflegen.
Diese Hingabe messen die
meisten Unternehmen – auch
heute noch – an der Bereit­
schaft zur Aufgabe der indivi­
duellen Zeitsouveränität, also
an der Botschaft „Ich bin ver­
fügbar“. Das heißt, der Verzicht
auf die eigene Zeitsouveränität
wird zum Einstiegsticket für
hochwertige Arbeitsaufgaben
und Führungsrollen.
?
Aber durch diese neue „Flexi­
bilität“ verändern sich doch
auch unsere Arbeitsmethoden
und die Art, wie wir innerhalb
eines Unternehmens kommu­
nizieren. Liegt hierin nicht eine
ganz große Chance für Frauen,
mit sozialen und kommunika­
tiven Kompetenzen zu punk­
ten?
Kira Marrs: Ja, das stimmt.
­Kollaboratives und vernetztes
Arbeiten ist die Antwort auf
die Herausforderungen der di­
gitalen Arbeitswelt. Denn mit
der Digitalisierung nehmen
Komplexität und Geschwindig­
keit erst einmal enorm zu und
lassen sich nicht mehr im Rah­
men der traditionellen Silo­
strukturen bewältigen – also
im Rahmen einer divisionalen
Gliederung und funktionalen
Separation. Alle Zukunftsthe­
men sind vernetzt und weder
einzelne Bereiche noch einzel­
ne Expertinnen und Experten
können hier alleine Lösungen
finden. In diesem Kontext ver­
ändert sich hoch qualifizierte
Arbeit sehr grundlegend. Hier­
in sehen wir eine große Chance
für Frauen. Denn in vernetzten
Arbeitsstrukturen erfahren
kommunikative und soziale
Kompetenzen eine enorme
Aufwertung. Sie werden von
einem weichen zu einem har­
ten Faktor. Und damit werden
Fähigkeiten immer wichtiger,
die bislang vor allem Frauen
zugeschrieben werden.
<< Fachbroschüre
Jetzt bestellen: Fachbroschüre „Digitalisierte
Welt: Frauen 4.0 – rund um die Uhr vernetzt?“
Wegweisende For­
schungsergebnisse und
den aktuellen Stand
der gewerkschaftspoli­
tischen Debatte zur
geschlechtergerechten
Ausgestaltung des digi­
talen Wandels im öf­
fentlichen Dienst lie­
fert die Fachbroschüre
„Digitalisierte Welt:
Frauen 4.0 – rund um
die Uhr vernetzt? Chan­
Digitalisierte Welt:
cen erkennen, Risiken
Mit dieser Broschüre präsentiert die dbb bundesfrauenvertretung ausgewählte
Ergebnisse der . Frauenpolitischen Fachtagung Digitalisierte Welt: Frauen . –
Frauen 4.0 –
benennen!“.
Darindie amver­
rund um die Uhr vernetzt?
Chancen erkennen, Risiken benennen!,
. April
im dbb forum berlin stattfand. Mit Beiträgen unter anderem von Helene
Wildfeuer (Vorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung), Klaus Dauderstädt
mittelt
die
dbb
bun­
rund
um die Uhr
(dbb Bundesvorsitzender), Christine Morgenstern (Abteilungsleiterin Gleichstellung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Dr. Kira
desfrauenvertretung
Marrs (Institut für Sozialwissenschaftliche
Forschung München e. V.) und Klaus
vernetzt?
Hurrelmann (Hertie School of Governance).
die zentralen Erkennt­
Chancen erkennen, Risiken benennen!
nisse der 12. Frauenpo­
5
litischen Fachtagung,
die am 12. April 2016
im dbb forum berlin stattfand. Mit Beiträgen von Dr. Kira Marrs
(Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. München),
Klaus Hurrelmann (Hertie School of Governance), Christine Mor­
Das Weltwirtschaftsforum
genstern (Abteilungsleiterin Gleichstellung im Bundesministerium
prognostiziert: Die zunehmen­
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Helene Wildfeuer (Vor­
de Technisierung von Arbeits­
sitzende der dbb bundesfrauenvertretung) und Klaus Dauderstädt
prozessen droht, Arbeitsplätze
(dbb Bundesvorsitzender).
– gerade die von Frauen – zu
12
12
2016
40
dbb_umschlag_12. fpft_01.indd 1
02.06.16 10:21
?
vernichten. Wie ernst müssen
wir diese Prognosen nehmen?
Kira Marrs: Ich glaube, dass
sehr viele Menschen Angst vor
der Digitalisierung und vor den
Risiken haben. Sie haben Angst
davor, dass sie ihren Job verlie­
ren, dass ihre Qualifikation in
Zukunft nichts mehr wert ist,
und sie haben Angst davor, mit
dieser immer schnelleren Tech­
nologie nicht mehr mitzukom­
men. Und ich finde, dass wir
diese Ängste sehr ernst neh­
men müssen. Ich glaube aber
auch, dass es wichtig ist, an
der Stelle weiterzudenken. Wir
müssen mit diesen Menschen
in einen Gestaltungsprozess
kommen. In der aktuellen Dis­
kussion ist es nach wie vor so,
dass wir sehr viele Technikopti­
misten auf der einen Seite ha­
ben, die überzeugt davon sind,
dass wir mit den Apples und
Googles dieser Welt alle Prob­
leme lösen können. Ihnen ge­
genüber stehen ganz viele
Menschen, die geplagt sind
von ganz natürlichen Ängsten
Der Leitfaden steht unter www.frauen.dbb.de im Bereich
­„Publikationen“ als kostenfreier Download zur Verfügung.
und einem Gefühl von Ohn­
macht, dass sie ohnehin nichts
ändern können. Wir müssen
dafür sorgen, dass wir das Zep­
ter – zumindest in Teilen – in
der Hand behalten. Ich finde
die Einschätzung von Profes­
sorin Shoshana Zuboff (Anmer­
kung der Redaktion: emeritier­
te Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Harvard
Business School) hier sehr hilf­
reich, sie sagt, dass es nicht die
Roboter sind, die die Arbeits­
plätze vernichten, sondern
dass es Menschen mit Ge­
schäftsinteressen sind.
?
Wie sieht unsere Arbeitswelt
in zehn Jahren aus?
Kira Marrs: Wir stehen ja erst
am Beginn der digitalen Trans­
formation und die Frage ist na­
türlich: Wo geht die Reise hin?
Diese Frage ist noch nicht ge­
klärt und die gesellschaftlichen
Konsequenzen sind auch erst
in Ansätzen fassbar. Unsere
Gesellschaft sollte vor diesem
Hintergrund über eine neue
Arbeitszeitinitiative nachden­
ken, wenn wir nicht wirklich
einen „Tsunami am Arbeits­
markt“ erleben wollen. Lassen
Sie uns also einen Schritt wei­
terdenken. Was könnte es für
partnerschaftliche Arbeitszeit­
modelle geben, die neue Chan­
cen bieten, damit wir nicht im­
mer nur über die berufliche
Vereinbarkeit bei Frauen nach­
denken müssen, sondern auch
die Männer der Generation Y
ihre Verantwortung für die Fa­
milie wahrnehmen können?
Denn auch sie warten darauf,
dass ihr Wunsch von der Ver­
einbarkeit von Privatleben und
Familie, über den wir schon so
lange diskutieren, gelebte Rea­
lität wird.
> dbb magazin | September 2016
35
spezial
keit ermöglichen. Vor allem
Frauen sollen davon profitie­
ren – etwa um Beruf und Kar­
riere besser zu vereinbaren.
Bedeutet dies das Ende der
„Präsenzkultur“?
dbb
BGH-Beschluss zur Patientenverfügung:
Kein Grund zur Panik
spezial
38
Der BGH hat ausgeführt, dass
eine Patientenverfügung nur
dann eine unmittelbare Bin­
dungswirkung für den oder die
Bevollmäch­tigte(n) entfaltet,
wenn ihr konkrete Entschei­
dungen der oder des Betroffe­
nen über die Einwilligung oder
Nichteinwilligung in bestimm­
te ärztliche Maßnahmen ent­
nommen werden könnten. Kon­
kret ging es um den Abbruch
der künstlichen Ernährung ei­
ner 75-jährigen Frau, die nach
einem Schlaganfall und mehre­
ren epileptischen Anfällen zu
einer verbalen Kommunikation
nicht mehr in der Lage ist.
Die Betroffene hatte in den Jah­
ren 2003 und 2011 eine Patien­
tenverfügung unterzeichnet, in
der es unter anderem heißt:
„Dagegen wünsche ich, dass
lebensverlängernde Maßnah­
© Jeanette Dietl – Fotolia.com
In einem Mitte August 2016 veröffentlichten Beschluss vom 6. Juli hat sich
der Bundesgerichtshof (BGH) zu den Anforderungen an den Inhalt von Pati­
entenverfügungen und Vorsorgevollmachten im Hinblick auf einen Abbruch
von lebenserhaltenden Maßnahmen geäußert – und für Verunsicherung ge­
sorgt. Die dbb bundesseniorenvertretung empfiehlt, die Ruhe zu bewahren
und bereits unterschriebene Patientenverfügungen darauf überprüfen zu
lassen, ob sie den Anforderungen des BGH entsprechen.
men unterbleiben, wenn medi­
zinisch eindeutig festgestellt
ist, dass ich mich unabwendbar
im unmittelbaren Sterbepro­
zess befinde, bei dem jede le­
benserhaltende Therapie das
Sterben oder Leiden ohne Aus­
sicht auf Besserung verlängern
würde, oder dass keine Aussicht
auf Wiedererlangung des Be­
wusstseins besteht, oder dass
aufgrund von Krankheit oder
Unfall ein schwerer Dauerscha­
den des Gehirns zurückbleibt,
oder dass es zu einem nicht be­
handelbaren, dauernden Aus­
fall lebenswichtiger Funktionen
meines Körpers kommt.“
Die drei Töchter sind unter­
schiedlicher Meinung darüber,
ob der Abbruch der künstlichen
Ernährung dem in der Patien­
tenverfügung geäußerten Wil­
len der Betroffenen entspricht.
Hierbei wurde auf das Vorlie­
gen der in der Patientenverfü­
gung an dritter Stelle genann­
ten Behandlungssituation
abgestellt. Nach Auffassung
des BGH ist die diesbezügliche
Formulierung in der Patienten­
verfügung so unpräzise, dass
sie keinen Rückschluss auf den
gegen die künst­liche Ernäh­
rung gerichteten Willen der
Betroffenen erlaube. Die Sache
wurde zur Ermittlung des mut­
maßlichen Willens der Betrof­
fenen, gegebenenfalls durch
ihre persönliche Anhörung,
an das Landgericht zurück­
verwiesen.
„Es wäre hilfreich gewesen,
wenn die BGH-Richter konkret
gesagt hätten, welche For­mu­
lierungen bestimmt, klar und
konkret genug sind“, kommen­
tierte dbb Seniorenchef Wolf­
gang Speck das Urteil, „dann
bliebe besonders den äl­teren
Menschen die Un­sicher­heit
erspart, die jetzt entstanden
ist.“
Aufstockung der Mütterrente und Rente mit 69:
Testballons im Sommerloch oder ernst gemeinte Vorschläge?
„Das wäre nur gerecht!“, stellte der Vorsitzende
der dbb bundesseniorenvertretung, Wolfgang
Speck, zum Vorschlag der CSU, Zeiten der Erzie­
hung von vor 1992 geborenen Kindern künftig im
Umfang von drei Jahren bei der Rente anzurech­
nen, fest. Zugleich äußerte er Zweifel, ob dieser
Vorschlag tatsächlich ernst gemeint sei.
Der Chef der dbb Senioren wies
darauf hin, dass es für die Un­
terscheidung zwischen Müt­
tern und Vätern von vor 1992
> dbb magazin | September 2016
und nach 1991 geborenen Kin­
dern ohnehin keinen sachlichen
Grund gebe. Auch sei dies ein
guter Anlass, den 2014 bei der
Anrechnung des zweiten Jahres
der Kindererziehung gemach­
ten Fehler, diese aus Mitteln
der Rentenversicherung zu fi­
nanzieren, zu korrigieren. „Die
Mütterrente ist eine gesamtge­
sellschaftliche Aufgabe und
muss daher aus Steuermitteln
finanziert werden!“, so Speck.
Außerdem fordert die dbb bun­
desseniorenvertretung die wir­
kungsgleiche Übertragung der
Mütterrente in das Beamten­
versorgungsrecht.
Zur Forderung der Bundes­
bank, schrittweise bis zum Jahr
2064 das Renteneintrittsalter
auf 69 Jahre zu erhöhen, er­
klärte Speck, er könne nur hof­
fen, dass der Vorschlag nicht
ernst gemeint sei. „Zurzeit ver­
geht ja kaum ein Tag ohne
mehr oder weniger diskussi­
onswürdige Vorschläge zur
Rente. Über die Verunsiche­
rung der Menschen muss sich
niemand wundern“, stellte der
Vorsitzende fest.
dbb
Die Jury ist prominent besetzt:
Dieter B. ist selbstverständlich
ebenso dabei wie Motsi M.
Der Dritte im Bunde ist der
­Präsident, denn es wird ja kein
08/15-Casting veranstaltet,
bei dem zweitklassige Sänger/
-innen gesucht werden, son­
dern angehende Polizeibeamte.
Die Behörde hat sich zu ­dieser
Maßnahme eingedenk der Er­
folge bei den legendären Berli­
ner Lehrercastings entschlos­
sen. Die Lifeübertragung im
Regionalprogramm stellt zu­
dem die ansonsten fehlende
Entscheidungstransparenz für
oder wider einen Bewerber
­sicher. Der erste Kandidat be­
tritt das Studio. Motsi: „Zeigen
Sie mal ein Paar Quicksteps,
schließlich müssen Sie als Poli­
zist blitzschnell sein.“ Der junge
©Denys Kurbatov – Fotolia.com
Fulltime-Jobsharing
Mann legt
sofort los.
Dieter:
„Du quick­
stepst wie
ein Elefant
im Porzellan­
laden.“ Bewer­
ber: „Kennen wir
uns? Oder warum
duzen Sie mich?“ Die­
ter: „So nicht, Freundchen“
und senkt den Daumen. Auch
Motsi ist nicht angetan. „Ich
glaube, blau steht ihm nicht.“
Der Präsident nickt beifällig.
Sein Wunschkandidat ist der
junge Mann ohnehin nicht.
Als nächste Job-Aspiranten
­betreten zwei junge Frauen
den Raum. Motsi: „Uih, das
sind ja Zwillinge.“ Der Quick­
step-Test klappt wunderbar.
Dieter: „Der Llambi würde
zehn Punkte geben.“ Der Prä­
sident fragt Hintergründiges.
Alles bestens: keine Partner,
keine Kinder, keine zu pfle­
genden Angehörigen, keine
Freunde, keine Hobbys. Froh­
locken bei den Juroren: „Die
nehmen wir.“ Der Präsident
fasst zusammen:
„Die Einstellung
erfolgt nach ei­
nem innovativen
Konzept: Einer
wird eingestellt,
zwei arbeiten.
Fulltime-Job­
sharing heißt das
heute. Rund um
die Uhr arbeiten
ohne Ermüdungs­
erscheinungen und da­
für nur die halbe Gage
zahlen, schont die Staats­
kasse. Ist einer krank oder hat
Urlaub, kommt der andere.“
Motsi kullert verzückt mit den
Augen ob dieser Perspektiven:
„Wow! Gratuliere! Einmal im
Dienst, immer im Dienst, suupär.“ „Watt für’n neuer An­
satz?“, fragt derweil POM
­Jürgen ­Klawuttke vor dem
Fernseher sitzend seine besse­
re Hälfte. „Rund um die Uhr uff
Streife für wenig Gage geh ick
sm
schon seit Jahren …“
39
finale
Glosse:
> dbb magazin | September 2016
dbb
Digitale Infrastruktur:
Beim Zukunftsthema Digitalisierung hinkt Deutschland anderen Ländern
seit Jahren hinterher. Dabei ist der schnelle und flächendeckende Netzausbau
unabdingbar für wirtschaftliches Wachstum. Gründe für das digitale Defizit
liegen unter anderem in der föderalen Zersplitterung der IT-Strukturen des
Bundes und der Länder. Als wäre das nicht hemmend genug, kümmern sich
auf Bundesebene gleich drei Minister um die Digitalisierung – nicht immer
mit deckungsgleichen Ideen. Der Ruf nach einem „Digitalminister“ wird laut.
Fällt damit der Startschuss zur digitalen Aufholjagd?
finale
40
Die Idee eines Digitalministers
oder gar eines entsprechenden
Bundesministeriums ist nicht
neu. Sie wurde allerdings bei
den Koalitionsverhandlungen
2013 aufgegeben – zugunsten
einer Verteilung der Zuständig­
keiten nach Mehrheitsverhält­
nissen der Parteien. Seither
kümmert sich Bundesverkehrs­
minister Alexander Dobrindt
um den Breitbandausbau,
Wirtschaftsminister Sigmar
Gabriel befeuert den digitalen
Wandel in der Wirtschaft und
Innenminister Thomas de Mai­
zière ist für Sicherheit und EGovernment zuständig. Dass
die Entwicklung allen Bemü­
hungen zum Trotz seit drei Jah­
ren stockt, belegt unter ande­
rem eine neue Studie, die IW
Consult, eine Tochtergesell­
schaft des Instituts der Deut­
schen Wirtschaft, für Vodafo­
ne erstellt hat.
„Der Weg in die Gigabit-Gesell­
schaft – Wie Netzausbau zu­
künftige Investitionen sichert“
stellt deutliche Defizite fest.
Trotz steigendem Datenhunger
sei Deutschland bei der Breit­
bandversorgung nur Mittel­
maß. Der Studie zufolge wird
bis 2019 ein weltweiter An­
stieg des Datenvolumens auf
51 794 Gigabyte pro Sekunde
(Gb/s) prognostiziert – mehr
als dreimal so viel wie heute.
Wettbewerber wie Südkorea,
Schweden oder Portugal haben
bereits verstärkt in den Ausbau
> dbb magazin | September 2016
von Glasfasernetzen investiert,
während Deutschland hinter­
herhinkt. Zukunftssichere rei­
ne Glasfaseranschlüsse sind in
Deutschland demnach kaum
vorhanden: Nur 1,3 Prozent al­
ler Anschlüsse empfangen und
senden Daten über schnelle
Glasfaser. In Südkorea sind es
70 Prozent, Schweden hält
46 Prozent Glasfaseranschlüs­
se vor, Norwegen 31 Prozent
und Portugal 24 Prozent. Darin
liege in Zukunft ein erheblicher
Standortnachteil für die deut­
sche Wirtschaft.
<<
Ausbau bringt Geld
Ende 2015 verfügten lediglich
59 Prozent der hiesigen Unter­
nehmen über Breitbandan­
schlüsse mit mindestens 50
Megabit pro Sekunde (Mbit/s),
auf dem Land waren es nur
29 Prozent. IW Consult rechnet
vor, dass Investitionen in den
Breitbandausbau durchaus loh­
nen: Wenn die Anzahl der Glas­
faseranschlüsse um ein Prozent
steigt, erhöht sich das Bruttoin­
landsprodukt (BIP) um 0,02 bis
0,04 Prozent – für Deutschland
hätte dies einen BIP-Zuwachs
zwischen 600 Millionen und
1,2 Milliarden Euro zur Folge.
Auch die Leistungsfähigkeit der
Breitbandnetze korreliert nach
dieser Rechnung positiv mit
dem Wirtschaftswachstum: Im
Durchschnitt der betrachteten
Länder geht eine Erhöhung der
Durchschnittsgeschwindigkeit
um ein Prozent mit einer Stei­
gerung des BIP von 0,07 Pro­
zent einher. Umgerechnet be­
deutet dies, dass eine Erhöhung
der derzeitigen Geschwindig­
keit in Deutschland um ein Pro­
zent zu einer Erhöhung des BIP
um knapp zwei Milliarden Euro
führen würde.
Um mit der exponentiell
­wachsenden Digitalisierung
in Schlüsselbereichen der Tech­
nologie wie zum Beispiel bei
selbstfahrenden Autos, Virtual
Reality, Kartendiensten und
der digital gesteuerten Strom­
versorgung mitzuhalten, sind
Investitionen in Datenge­
schwindigkeit unabdingbar:
„Die Entwicklung hin zu Giga­
bit-Netzen ist nicht zuletzt
durch einen immensen Anstieg
des zu verarbeitenden Daten­
volumens getrieben, der sich
weiter fortsetzen wird. Deswe­
gen wäre mit dem Erreichen
des Ausbauziels der Bundesre­
gierung im Jahr 2018 von min­
destens 50 Mbit/s in der Fläche
in Deutschland allenfalls ein
Etappenziel erreicht. Auf die­
sem Niveau eine Ruhepause
einzulegen, käme im interna­
tionalen digitalen Standort­
wettbewerb einem Rückschritt
gleich. Eine zukunftsfähige
Breitbandausbaustrategie soll­
te sich daher zumindest mittel­
fristig an den Bedürfnissen der
Power-User im Business-Be­
reich orientieren und die Netze
nach deren Bedürfnissen aus­
© envfx - Fotolia.com
Wann beginnt die Aufholjagd?
<
Der koordinierte Ausbau der
deutschen Datenautobahn ist
unabdingbar für Zukunftsprojekte ...
legen. Denn gerade von dieser
Avantgarde der Unternehmen
gehen die entscheidenden
­Innovationsimpulse zur Ent­
wicklung digitaler Geschäfts­
modelle und zur digitalen
Transformation der Wirtschaft
aus“, heißt es in der Studie.
Die Unternehmen würden nur
dann in vernetzte Echtzeitge­
schäftsmodelle investieren,
wenn sie sich sicher sein kön­
nen, dass die Netze in der not­
wendigen Leistungsfähigkeit
und Dichte vorhanden seien.
Erst das Angebot an GigabitNetzen befeuere auf der An­
wendungsseite eine steigende
Nachfrage. Damit habe der
­Gigabit-Netzaufbau auch eine
marktschaffende Funktion. Da­
zukommen müssten geeignete
Rahmenbedingungen in Politik,
Staat und Gesellschaft, welche
die digitale Transformation er­
möglichen, erleichtern und
flankieren.
<<
Der zaudernde Staat
Dass die notwendigen Rahmen­
bedingungen beim Staat noch
nicht existieren, stellte Klaus
Vitt, Staatssekretär und Beauf­
tragter der Bundesregierung für
Informationstechnik (BfIT), in
einem Grußwort zur Computer­
messe CeBIT im März 2016 fest.
Für die öffentliche Verwaltung
bleibe in Sachen Digitalisierung
einiges zu tun: „Es gibt auf allen
Ebenen der Verwaltung viele
„In knapp 200 Einrichtungen
der unmittelbaren Bundesver­
waltung ist die IT auf über
1 300 Rechenzentren und
Standorte verteilt. Hinzu
kommt die stetig steigende
Komplexität der IT, die uns im­
mer wieder vor neue Heraus­
forderungen stellt.“ Kleine und
mittlere Rechenzentren wür­
den qualitativ und quantitativ
nicht mehr in der Lage sein, die
Anforderungen abzudecken.
Nicht zuletzt sei es erforder­
lich, die IT-Fachkräfte in einem
großen und vor allem attrakti­
ven IT-Dienstleister zusam­
menzuführen und so auch die
nötige Spezialisierung zu er­
möglichen. „Zum 1. Juli 2015
haben wir hierfür ein vom BMI
geleitetes Projekt ,IT-Konsoli­
dierung Bund‘ aufgesetzt.“
41
<
... wie zum Beispiel intelligente Stromnetze.
<<
Wirtschaft
im Hintertreffen
Wer nun glaubt, lediglich die
Verwaltung schwächele bei der
Digitalisierung, während die
Wirtschaft längst die Nase
vorn habe, irrt. Eine aktuelle
Studie der Fokusgruppe Digital
Commerce im Bundesverband
Digitale Wirtschaft (BVDW)
hat ergeben, dass auch Unter­
nehmen aus den Bereichen
Handel, Produktion und Her­
stellung überwiegend nicht für
die Digitalisierung gerüstet
sind: „Die Selbstwahrnehmung
deutscher Handelsunterneh­
men ist mitunter deutlich zu
optimistisch und schönt die
Wirklichkeit“, kritisiert BVDWVizepräsident Achim Himmel­
reich. „Deutsche Handelsun­
ternehmen werden sich im
globalisierten Wettbewerb nur
dann behaupten können, wenn
sie sich der digitalen Transfor­
mation stellen, alle Bereiche
und Facetten ihrer Strategie
der Digitalisierung unterord­
nen und eine entsprechende
Kultur im Unternehmen veran­
kern.“ Doch die in Deutschland
auch durch die Politik vorge­
lebte Kultur der Skepsis stehe
notwendigen und mutigen
Entscheidungen nicht selten
im Weg.
Ist die Zeit also reif für einen
Digitalminister, der Versäum­
nisse rigoros aufarbeitet und
Deutschland fit für die Zukunft
im Digitalzeitalter macht?
Geht es nach den Netzpoliti­
kern der Parteien, muss spä­
testens in der kommenden
­Legislaturperiode ein entspre­
chendes Amt geschaffen wer­
den. Während Lars Klingbeil,
netzpolitischer Sprecher der
SPD-Fraktion, ein entsprechen­
des neues Ministerium oder
die Angliederung der Aufgabe
an das Bundeswirtschaftsmi­
nisterium fordert, favorisiert
der netzpolitische Sprecher der
CDU/CSU einen Staatsminister
für Digitales, der die Digitali­
sierungsbemühungen aller
­Ministerien zusammenführt.
Auch Konstantin von Notz,
netzpolitischer Sprecher der
Grünen, möchte die Digitalisie­
rung der Bundesrepublik in ei­
ner Person gebündelt sehen,
die Einfluss am Kabinettstisch
geltend macht. Darauf habe
sich die Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesell­
schaft“, die der Bundestag
2010 eingesetzt hat, eigentlich bereits vor drei Jahren ver­
ständigt, sagte von Notz der
Wirtschaftswoche im August
2016. Die Bundesregierung
habe das allerdings nicht um­
gesetzt.
Dringender Handlungsbedarf
also für die kommende Bun­
desregierung. Insbesondere
vor dem Hintergrund, dass
sich Deutschland auch im
­Digitalranking der Europäi­
schen Kommission mittler­
weile zwar auf Platz neun
­verbessert hat, gerade aber
im Bereich der Schlüsseltech­
nologie Breitbandnetze weit
abgeschlagen hinter anderen
EU-Ländern rangiert. br
> dbb magazin | September 2016
finale
gute Fachverfahren, sie sind je­
doch häufig nicht flächende­
ckend vorhanden und zu wenig
miteinander ­vernetzt. Mit an­
deren Worten: Die digitale Rei­
fe der deutschen Verwaltung
ist noch zu gering ausgeprägt.“
Um hier zu Erfolgen zu kom­
men, müsse zunächst jeder,
auch der Bund, seine eigene In­
formationstechnik zukunftsfest
machen. Für den Bund seien die
Konsolidierung der Rechenzent­
ren des Bundes sowie der ITNetze und die Gewährleistung
der IT-Sicher­heit Schwerpunkte.
Zudem sei die IT-Landschaft der
Bundesverwaltung stark zer­
splittert.
© Cozyta – Fotolia.com
dbb
dbb
<< GDL
Bekenntnis zur Schiene fehlt
„Was fehlt, ist das Bekenntnis
zur Schiene.“ Mit diesen Wor­
ten kommentierte der Bundes­
vorsitzende der Gewerkschaft
Deutscher Lokomotivführer
(GDL) und dbb Vize Claus We­
selsky den Bundesverkehrswe­
geplan (BVWP) 2030 sowie die
Ausbaugesetze für die Bundes­
> Claus Weselsky,
Bundesvorsitzender der GDL
finale
42
schienen- und Bundesfernstra­
ßen, die das Bundeskabinett
am 4. August 2016 beschlossen
hat. Lediglich 41,6 Prozent der
fast 270 Milliarden Euro gingen
an die Schiene, während nahe­
zu die Hälfte der Mittel in Bun­
desstraßen und Autobahnen
fließen. Die meisten Staus in
Deutschland könnten jedoch
beseitigt werden, wenn mehr
Verkehr auf die Schiene verla­
gert wird. Auch die klimaschäd­
lichen Treibhausgase könnten
verringert werden. Positiv sei
zu bewerten, dass bei der Bahn
auf 800 Kilometern Nadelöhre
verschwinden und Bestandser­
haltung vor Neubau gehen sol­
len. Dafür seien 69 Prozent des
Geldes vorgesehen – nach 56
Prozent im Verkehrswegeplan
von 2003. „Die Leuchtturmpro­
jekte müssen beendet und die
Schieneninfrastruktur in der
Fläche ertüchtigt werden“, sag­
te Weselsky. Die GDL fordert
einen integralen Taktfahrplan
mit festen Zeitintervallen, der
die Planung erleichtert und den
Kunden ein merkbares und zu­
verlässiges Angebot bietet, bei
dem Nah- und Fernverkehr ab­
gestimmt sind. Außerdem müs­
se die gesamte Infrastruktur
mit DB Netz, DB Energie sowie
> dbb magazin | September 2016
DB Station und Service in ein
gemeinnütziges Unternehmen
überführt und somit aus der
Pflicht zur Gewinnerzielung
­he­rausgenommen werden. << dbb sachsen anhalt
Politische
­Ohnmachts­erklärung
Während Innenminister Holger
Stahlknecht (CDU) nach dem
Amoklauf in München den
­Einsatz der Bundeswehr im In­
neren bei akuten Terrorlagen
bekräftigt hat, lehnt dbb Lan­
des­chef Wolfgang Ladebeck den
Einsatz der Streitkräfte im Lan­
desinneren ab und fordert die
Landesregierung auf, mehr für
die innere Sicherheit in Sach­
sen-Anhalt zu tun. „Nachdem
die Landesregierung über viele
Jahre massiven Raubbau beim
Personal betrieben und Hunder­
te Stellen bei der Polizei abge­
baut hat, rufen Politiker jetzt
nach der Bundeswehr zur Be­
wältigung von Terrorlagen im
Inneren. Das ist eine politische
Ohnmachtserklärung“, sagte
Ladebeck, der auch Landesvor­
sitzender der Deutschen Polizei­
gewerkschaft ist, am 4. August
2016 in Magdeburg. SachsenAnhalt sei das Bundesland, das
in den letzten Jahren das meiste
> Wolfgang Ladebeck, Vorsitzender
des dbb sachsen-anhalt
Personal bei der Polizei abgebaut
habe. Dieser Raubbau räche sich
jetzt. „Trotzdem gewährleistet
die Polizei in Sachsen-Anhalt
ihre Aufgaben. Polizisten sind
und bleiben die Profis für die
innere Sicherheit“, betont Lade­
beck. Um möglichen terroris­
tischen Anschlägen entgegen­
zuwirken, fordert der dbb
Landesvorsitzende ausreichend
Personal und eine bessere Aus­
rüstung: „Bei Terrorlagen sind
es die Polizisten, die als erste
vor Ort sind. Sie benötigen drin­
gend kugelsichere ­Helme, bes­
sere ballistische Schutzwesten
und gepanzerte Fahrzeuge.“
<< dbb Hessen
Beamte sollen zusätzliches
Personal mitfinanzieren
Der dbb Hessen hat den Haus­
haltsentwurf 2017 der Landes­
regierung kritisiert: Zwar sei
dort vorgesehen, zusätzliche
Stellen in der Bildung, der Steu­
erverwaltung, der Justiz und der
> Heini Schmitt,
Vorsitzender des dbb Hessen
Polizei zu schaffen. Man vermis­
se in der Planung aber eine an­
gemessene, verfassungskonfor­
me Teilhabe der Beamtinnen
und Beamten an der Lohnent­
wicklung. „Für uns ist dies der
Knackpunkt des Haushaltes“,
sagte der Landesvorsitzende
Heini Schmitt am 21. Juli 2017.
Man erkenne die Pläne für die
zusätzlichen Stellen durchaus
an. „Das begrüßen wir, wenn­
gleich es nicht ausreichen wird.
Wir werden auch sehr genau
hinsehen, in welchen anderen
Bereichen der Landesverwal­
tung dafür weiter zusätzliche
Stellen gestrichen werden“, so
Schmitt. Die geplante Besol­
dungserhöhung um 0,5 bis etwa
0,8 Prozent (beziehungsweise
um den Mindestbetrag von
17,50 Euro) brutto sei dagegen
„beschämend“. Zudem habe die
Landesregierung angekündigt,
die Verkürzung der Wochenar­
beitszeit der Beamten um acht
Monate nach hinten zu ver­
schieben. Das Fazit des Landes­
vorsitzenden: „Wir geben deut­
lich mehr Geld für zusätzliches
Personal aus, aber nicht für eine
anständige Bezahlung!“
<< dbb schleswig-holstein
Landesbeamtenrecht wird
modernisiert
Der Landtag von Schleswig-Hol­
stein hat grünes Licht für die
Modernisierung des Landesbe­
amtenrechts gegeben. Das teil­
te der dbb schleswig-holstein
(dbb s-h) am 1. August 2016
mit. Die Möglichkeiten von El­
ternzeit und Familienpflegezeit
werden demnach erweitert. Da­
bei handele es sich aber „nicht
um eigene A
­ kzente, sondern um
die überfällige Anpassung an
die für Tarifbeschäftigte bereits
geltende Rechtslage“, so Lan­
desvorsitzende Anke Schwitzer.
Ferner seien zwar 40- und auch
50-jährige Dienstjubiläen – ge­
gebenenfalls auch rückwirkend
zum 1. Mai 2011 – wieder mit
einer Jubiläumszulage verbun­
den. 25-jährige Jubiläen würden allerdings ignoriert. Die vor­
gesehenen Regelungen für
> Anke Schwitzer, Vorsitzende des
dbb schleswig-holstein
Sonderzuschläge zur Sicherung
der Funktions- und Wettbe­
werbsfähigkeit zeigten eben­
falls „Gerechtigkeitslücken und
sind nicht überall praktikabel“.
Auch die Einführung einer wei­
teren Form der Altersteilzeit
(„63 plus“) kann den dbb schles­
wig-holstein mangels „konkre­
ten Nutzungsmöglichkeiten und
Rechtsansprüchen für alle Inter­
essierten“ nicht überzeugen.
Gleiches gelte für die Auswei­
tung der Arbeitszeitflexibilität,
da „ein großer Wurf wie die Er­
möglichung von Langzeitkon­
ten“ ausbleibe.
dbb
<< BBW
Nebenabsprachen zum
­Koalitionsvertrag erörtern
Mit Gelassenheit hat der BBW
– Beamtenbund Tarifunion auf
das Bekanntwerden einer zwei­
ten Liste mit Nebenabsprachen
zum grün-schwarzen Koaliti­
onsvertrag der Landesregierung
reagiert, obwohl auch diese Lis­
te Sparmaßnahmen zulasten
des öffentlichen Dienstes, dar­
unter Stellenstreichungen im
finale
44
> Volker Stich, Vorsitzender des
BBW – Beamtenbund ­Tarifunion
vierstelligen Bereich, enthält.
„Wir gehen davon aus, dass sich
sowohl der Ministerpräsident
als auch die Finanzministerin
und der Innenminister an ihre
Zusagen halten, wonach keine
Entscheidungen fallen, bevor
man mit uns geredet hat“, er­
klärte BBW-Chef Volker Stich,
der zugleich dbb Vize ist, am
22. August 2016 in Stuttgart.
Der BBW ist überzeugt, dass in­
haltlich noch nicht ­festgelegt
ist, welche in den Nebenab­
sprachen fixierten Sparmaß­
nahmen in die Tat umgesetzt
werden sollen. Schließlich sei,
als der Koalitionsvertrag aus­
gehandelt wurden noch kein
genauer Einblick in die tatsäch­
liche Finanzlage des Landes
möglich gewesen, erinnerte
BBW-Chef Stich. Inzwischen
stehe fest, dass das Land 380
Millionen Euro an zusätzlichen
Steuern einnehme, die jetzt ein­
gepreist werden könnten: Vor
diesem Hintergrund wäre die
Regierung schlecht beraten,
wenn sie Stellen beim „Fuß­
volk“ des Personals spare, nach­
dem sie beim Spitzenpersonal
bereits zugelegt habe, gab Stich
zu bedenken. Mit Blick auf
> dbb magazin | September 2016
mögliche Sparmaßnahmen bei
der Besoldungsanpassung
warnte Stich, dass der BBW
nicht vergessen habe, dass es in
der vergangenen Legislatur die
SPD gewesen sei, die die Beam­
tinnen und Beamten vor einer
Deckelung der Besoldungsan­
passung oder gar einer Nullrun­
de bewahrt habe. Sollte jetzt
Grün-Schwarz diese Sparinstru­
mente auspacken, werde sich
der BBW dagegen mit aller Ent­
schiedenheit zur Wehr setzen.
Das Bekanntwerden der zwei­
ten Nebenabsprachenliste hat
der grün-schwarzen Landesre­
gierung heftige Kritik beschert.
Auch der BBW spart nicht mit
Kritik am Verfahren. Stich
spricht von einer Missachtung
des Parlaments. Für den BBWVorsitzenden steht fest, dass
die Angelegenheit parlamenta­
risch aufgearbeitet werden
muss, und er hofft, dass die
Mitglieder der Regierungsfrak­
tionen Richtungsentscheidun­
gen über ihre Köpfe hinweg
nicht stillschweigend hinneh­
men werden.
<< BBB
Abgasaffäre schadet
­bayerischem Pensionsfonds
Der Chef des Bayerischen
­Beamtenbundes (BBB), Rolf
­Habermann, unterstützt die
Klage auf Schadensersatz von
Bayern gegen Volkswagen, wie
aus einem Bericht auf merkur.
de vom 3. August 2016 hervor­
geht. Es gehe dabei um die
­Aktienkursverluste, die dem
bayerischen Pensionsfonds in
Folge der „Abgasaffäre“ ent­
standen seien. Dieser Fonds
werde derzeit aufgebaut, um
langfristig die Pensionskosten
abzufedern, die auf den Frei­
staat zukommen. Bis 2018 sol­
le der Fonds auf 2,8 Milliarden
Euro aufgestockt werden, ab
2022 werde eine erste Auszah­
lung angepeilt. Angelegt ist
das Geld demnach bei der
Deutschen Bundesbank und
dort zu rund einem Viertel in
Aktien. Im Portfolio seien un­
ter anderem alle Dax-Werte,
> Rolf Habermann,
Vorsitzender des Bayerischen
Beamtenbundes (BBB)
also auch Volkswagen. Eine Gefahr für die Pensionszahlungen
sehen laut des Berichtes aber
weder der bayerische Finanz­
minister Markus Söder noch
Habermann. Der BBB-Chef
­sagte, es gebe „keinen Grund
zur Panikmache“. Es laufe rund,
es sei aber „richtig, dass Bayern
versucht, seine Rechte zu wah­
ren“.
Betriebsprüfer, sagt Thomas
Eigenthaler, Bundesvorsitzen­
der der Deutschen Steuer-­
Gewerkschaft und dbb Vize:
„Mittelgroße Betriebe werden
im Schnitt nur alle 15 Jahre ge­
prüft, kleine und Kleinstbetrie­
be sogar nur alle 70 bis 100
Jahre.“ Jeder Arbeitnehmer
und inzwischen auch jeder
Rentner müsse jährlich seine
Einkünfte gegenüber dem Fis­
kus offenlegen, während sich
mittelgroße Betriebe 14 Jahre
lang selbst besteuern und erst
im Folgejahr geprüft werden.
„Ich empfinde das als Lücke in
der Steuergerechtigkeit“, so
­Eigenthaler. Dabei liegt der
­Zusammenhang zwischen
dem Personaleinsatz der Län­
der und ihren Ergebnissen auf
der Hand: je mehr Prüfer, desto
mehr Einnahmen. Und die Fi­
nanzbeamten sorgen quasi
<< DSTG
Steuerprüfer in NRW treiben
6,3 Milliarden Euro ein
Immer wieder versuchen deut­
sche Betriebe und Einzelperso­
nen, etwa durch Abschreibun­
gen oder Verlustmeldungen,
ihre Steuerlast zu drücken –
und das im großen Umfang,
wie die jährlichen Ergebnisse
der Betriebsprüfungen zeigen:
Rund 6,3 Milliarden Euro zu­
sätzliche Steuern haben allein
die Außenprüfer in NordrheinWestfalen (NRW) im vergange­
nen Jahr festgesetzt, 600 Milli­
onen Euro mehr als im Vorjahr.
Um alle deutschen Betriebe re­
gelmäßig untersuchen zu kön­
nen, fehlen bundesweit 15 000
> Thomas Eigenthaler,
Bundesvorsitzender der DSTG
selbst für ihre Bezüge. Eigen­
thaler erklärt, dass ein Be­
triebsprüfer jährlich etwa
75 000 Euro koste – aktives
­Gehalt, Altersversorgung und
Büroausstattung eingerechnet.
Durch seine Arbeit kommen
allerdings im Bundesdurch­
schnitt 1,5 Millionen Euro pro
Jahr in die Landeskassen.
<< BLBS – VLW – VBM
Am 29./30. September 2016 findet in Berlin der „Führungskräfte­
Kongress 2016 – Berufliche Schulen 4.0“ statt. Er wird vom Bun­
desverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen
(BLBS), dem Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirt­
schaftsschulen (VLW) und dem Verband Bildungsmedien (VBM)
veranstaltet. Damit sollen die Führungskräfte der beruflichen
Schulen und jene, die es werden wollen, die Möglichkeit bekom­
men, im Expertenkreis über die Herausforderungen im Bereich
der beruflichen Bildung zu diskutieren. Der Vorsitzende des BLBS,
Eugen Straubinger, wies darauf hin, dass es zu den wesentlichen
Aufgaben der beiden Verbände gehöre, „einen Beitrag dafür zu
leisten, dass die beruflichen Schulen zukunftsfähig sind“.
dbb
<< tbb
Thüringer Lehrer sollen
­Beamte werden
„Es ist zu begrüßen, dass sich
nunmehr auch die Thüringer
Finanzministerin Heike Taubert
(SPD) für die Verbeamtung von
Lehrerinnen und Lehrern in
Thüringen ausgesprochen hat.
Thüringen ist nun mal keine In­
sel und hat im bundesweiten
Länderwettbewerb das Nach­
sehen, solange es diesbezüglich
andere Wege geht als es bun­
finale
46
> Helmut Liebermann,
Vorsitzender des tbb
desdeutscher Standard ist“,
kommentierte der tbb-Vorsit­
zende Helmut Liebermann am
18. August 2016 die entspre­
chende Presseverlautbarung
der Ministerin. Der tbb forderte
Bildungsministerin Birgit Klau­
bert auf, das Verbeamtungs­
angebot umgehend zu unter­
breiten. Darüber hinaus solle
das Bildungsministerium jetzt
beginnen, die nötigen Vorbe­
reitungen zu treffen, dass Ein­
stellungen zum 1. Februar 2017
in der Regel im Beamtenver­
hältnis vorgenommen werden,
so wie in den Nachbarländern
Sachsen-Anhalt, Bayern, Hes­
sen und Niedersachsen auch.
Zu dem von der Finanzministe­
rin vorgestellten Nachhaltig­
keitsmodell forderte Lieber­
mann, dass die durch Verbeamtung entstandene Haushalts­
entlastung sowie die Höhe der
Tilgungen einschließlich nicht
mehr zu zahlender Schuldzin­
sen jährlich der Öffentlichkeit
vorgestellt und als fiktiver Vor­
sorgefonds gebucht werden
muss. Gleichzeitig ist sicherzu­
stellen, dass bei Veränderung
der Zinslage die bisher indirekt
> dbb magazin | September 2016
angesparten Gelder dann di­
rekt in einen Vorsorgefonds
eingezahlt werden und für die
Pen­sionsverpflichtungen zur
Verfügung stehen.
<< BPolG
Mehr Tarifkräfte gefordert
Angesichts der politischen Dis­
kussion um ein Burkaverbot
und die doppelte Staatsbür­
gerschaft hat die DPolG Bun­
despolizeigewerkschaft am
19. August 2016 erneut davor
gewarnt, dass die Polizeiarbeit
als wesentlicher Aspekt der in­
neren Sicherheit in den Hinter­
grund gerät. „Vielen scheint
immer noch nicht klar gewor­
den zu sein, dass Polizisten
nicht auf Bäumen wachsen
und dass man die aktuellen
Probleme kurzfristig nicht al­
lein mit zusätzlichen Polizis­
tenstellen lösen kann“, stellte
BPolG-Chef Ernst Walter klar.
„Die Blauäugigkeit mancher
Politiker, die meinen, mit ein
paar Ad-hoc-Maßnahmen alle
Probleme lösen zu können, ist
gefährlich. Die traurige Wahr­
heit ist: In den nächsten drei
Innenminister ernsthaft
­verfolgt.“ Die DPolG Bundes­
polizeigewerkschaft ist über­
zeugt, dass durch die Polizei­
lichen Einsatzassistenten viele
Bundespolizisten von Aufga­
ben im administrativen Be­
reich, wie bei der Eingabe von
Anzeigen und Berichten im
­Ermittlungsdienst, bei statisti­
schen Erhebungen und Stun­
denerfassungen oder sonsti­
gen Aufgaben in Leitstellen
und Führungsstäben für den
echten Polizeidienst freige­
setzt und auch bei operativen
Routineaufgaben wie Durch­
suchungen, ED-Behandlungen
und Personentransporten ent­
lastet werden könnten. Wal­
ter: „Nur so wird es auch mög­
lich sein, die bislang wegen
Personalmangels geschlosse­
nen Polizeireviere wieder zu
besetzen, für die Bürger vor
Ort wieder ansprechbar zu
sein und dem Rückzug der
Bundespolizei aus der Fläche
und der Grenzregion endlich
Einhalt zu gebieten.“
<< DBB NRW
An der neuen Laufbahnverordnung (LVO) lässt der DBB NRW Be­
amtenbund und Tarifunion (DBB NRW) kaum ein gutes Haar. Das
Ziel, mit der LVO neue Strukturen zu schaffen, die Personalentwicklung gesetzlich zu verankern sowie den öffentlichen Dienst
für Spezialisten attraktiver zu machen, sei verfehlt worden. Statt­
dessen serviere die Landesregierung alten Wein in neuen Schläu­
chen und „garniere das Ganze mit wohlklingenden Worthülsen“,
teilte der DBB NRW am 2. August 2016 mit.
<< dbb mecklenburg-vorpommern
In Rostock haben 20 Jugendliche während eines Hilfseinsatzes die
Rettungskräfte mit Steinen beworfen und mit Glasflaschen be­
droht. Die Polizei konnte 14 Verdächtige im Alter zwischen 13 und
18 Jahren festnehmen. „Dieser Angriff ist schlicht skandalös und
inakzeptabel“, sagte der Vorsitzende des dbb mecklenburg-vor­
pommern, Dietmar Knecht. „Hier darf es null Toleranz geben, und
der Strafrahmen sollte ausgeschöpft werden.“
<< GDL
> Ernst G. Walter, Bundesvor­
sitzender der Bundespolizei­
gewerkschaft BPolG in der DPolG Jahren wird nicht ein Polizist
mehr auf unseren Straßen, an
Bahnhöfen oder Grenzen zu
sehen sein“, so Walter weiter.
Nur die sofortige zusätzliche
Einstellung von tariflich be­
schäftigten Polizeilichen Ein­
satzassistenten und deren
­Einsatz nach einer drei- bis
sechsmonatigen Ausbildung
bei attraktiver Bezahlung,
­könne kurzfristig Entlastung
bringen: „Leider wird das aber
immer noch nicht durch alle
Die Umfrage „Mit Sicherheit“ der Gewerkschaft Deutscher Loko­
motivführer (GDL) hat ergeben, dass es viel mehr Übergriffe auf
Beschäftigte der Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) gibt als
es beispielsweise die offiziellen Statistiken der Deutschen Bahn
­besagen. Mehr als 82 Prozent der befragten GDL-Mitglieder gaben
demnach an, im Dienst schon einmal verbal beleidigt worden zu
sein. Über die Hälfte sei verbal bedroht worden und jeweils ein
Viertel berichtete von körperlichen Angriffen. Die Betreuung durch
den Arbeitgeber nach Übergriffen bewerteten 72 Prozent der Be­
fragten als ungenügend oder mangelhaft und nur sechs Prozent
als gut oder sehr gut.
<< BBW
Der BBW Baden-Württemberg und die Landesregierung bemühen
sich weiter um bessere Beziehungen zueinander. Nach einem VierAugen-Gespräch zwischen BBW-Chef Volker Stich, der zugleich dbb
Vize ist, und Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Vor­
woche trafen sich am 18. Juli 2016 BBW-Vertreter mit Finanzmi­
nisterin Edith Sitzmann. Sie erklärte, dass die Landesregierung die
Absenkung der Eingangsbesoldung bis 2022 schrittweise zurück­
nehmen werde. Noch offen sei, wie man diese mit Kosten von
55 Millionen Euro veranschlagte Maßnahme angehe, es seien
­mehrere Alternativen im Gespräch.
Ein Kinderfahrrad – wurde ei­
nem flüchtigen Verkehrssün­
der zum Verhängnis. Ein Mofa­
fahrer machte sich bei einer
Verkehrskontrolle aus dem
Staub, die Polizisten vermute­
ten Kriminelles und nahmen
mit dem Streifenwagen seine
Verfolgung auf. Doch die ende­
te abrupt vor dem schmalen
Eingang einer Kleingarten­
kolonie. Einer der Beamten
schnappte sich spontan ein
nicht abgesperrtes Kinderfahr­
rad und schaffte es, den Flüch­
tigen ­einzuholen und dingfest
zu ­machen. Im Rucksack des
27-Jährigen fand sich nicht nur
Rauschgift und -zubehör, au­
ßerdem war der Mann betrun­
ken und besaß keinen Führer­
schein. Das Fahrrad brachten
die Polizisten nach der Verfol­
gungsjagd unbeschädigt zu­
rück.
Ein(e) Milchtütenmaß – hat der
2. Bürgermeister Münchens,
Josef Schmid, in seiner eigen­
schaft als Wiesn-Chef erfun­
den: die gemeine Milchtüte in
den Standardmaßen 20 x 6 x 9
Zentimeter. In diesem Jahr sol­
len auf dem Oktoberfest vom
17. September bis zum 3. Okto­
ber vorsichtshalber besondere
Sicherheitsvorkehrungen ge­
troffen werden, die unter an­
derem bereits auf der Berliner
Fußball-Fanmeile Standard
sind. Rucksäche sind künftig
beim Gaudi ebenso verboten
wie Handtaschen ab einem
­Volumen von drei Litern.
­Anschaulich verdeutlichte
Schmid die neue Größenord­
nung: „Eine Tasche, in die
mehr als drei Milchtüten
­passen, ist bereits zu groß.“
Eine Hautallergie – kann durch­
aus Folge eines Dienstunfalls
sein; nicht aber, wenn Toner­
staub in der Büroluft die Ursa­
che sein soll. Das hat das Ver­
waltungsgericht Münster
festgestellt und die Klage eines
Finanzbeamten aus Lüdinghau­
sen (NRW) zurückgerwiesen.
Der Mann hatte geltend ge­
macht, dass der Staub aus den
Laserdruckern die Raumluft
kontaminiere und sich auch auf
den Akten niederlasse, ­deshalb
sei er an einer sogenannten
Kontaktdermatitis ­erkrankt.
Nachdem der Arbeitgeber die
Anerkennung als Dienstunfall
abgelehnt hatte, reichte der
Beamte Klage ein – und schei­
terte. Das Gericht entschied,
dass er keinesfalls stärker dem
Tonerstaub ausgesetzt sei als
die übrige Bevölkerung und
­andere Berufsgruppen, etwa
im Friseurhandwerk, deutlich
höhere Risiken hätten, eine
Hautallergie zu entwickeln.
Eine Amtskette – symbolisiert
in vielen Städten die Oberbür­
germeisterwürde. In Gera
musste Stadtchefin Viola Hahn
drei Wochen lang ohne diesen
Schmuck auskommen. Dreiste
Diebe waren gezielt in das
Amtszimmer der Oberbürger­
meisterin eingebrochen und
hatten das 100 Jahre alte
Prunkstück und zwei Dienst­
siegel gestohlen. Die Polizei
fand die Beute bei einer Razzia
im Drogenmilieu zufällig wie­
der. Offenbar hatten die Täter
angenommen, das schwere
Schmuckstück bestehe aus rei­
nem Gold, doch das ist nicht
der Fall. Die Amtskette stelle
lediglich einen ideellen, histori­
schen Wert dar, so die Stadt­
verwaltung. Ob sich die eben­
falls entwendete Kaffeetasse
der Rathauschefin ebenfalls
wieder eingefunden hat, ist
nicht bekannt.
sm
> dbb magazin | September 2016
47
finale
Eine Fress-Strafgebühr – für
nicht leer gegessene Teller in
Restaurants, die Büfetts oder
„All you can eat“-Gerichte zu
einem Festpreis anbieten, setzt
sich langsam, aber sicher auch
in Deutschland durch. Wer
­seinen Teller vollschaufelt, im
Essen stochert und es stehen
lässt, um sich die nächste La­
dung zu holen, muss für jede
verschmähte Portion zwischen
einem und fünf Euro Strafe
zahlen. Damit wollen die Res­
taurants ein Zeichen gegen die
Lebensmittelverschwendung
setzen – und sie haben Erfolg
damit. Die meisten Gäste sind
einsichtig, gehen sogar öfter
zum Büfett als vor Einführung
der Strafgebühr, nehmen aber
jeweils weniger. In den betei­
ligten China-Restaurants in
Düsseldorf, Stuttgart oder
Menden ist seitdem die Le­
bensmittelvernichtung deut­
lich zurückgegangen. Deutsch­
landweit landen übrigens
jährlich 18 Millionen Tonnen
Essensreste auf dem Müll.
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dbb