Eröffnungsansprache von Erzbischof Dr. Stefan Heße

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PRESSEMITTEILUNGEN
DER DEUTSCHEN
BISCHOFSKONFERENZ
Es gilt das gesprochene Wort!
Eröffnungsansprache
von Erzbischof Dr. Stefan Heße (Hamburg),
Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen
der Deutschen Bischofskonferenz,
beim zweiten Katholischen Flüchtlingsgipfel
am 29. September 2016 in Frankfurt a. M.
Gesellschaftliche Teilhabe und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Sehr herzlich darf ich Sie alle zum zweiten Katholischen Flüchtlingsgipfel
willkommen heißen. Ich bin dankbar, dass Sie trotz Ihrer zahlreichen
Aufgaben und Verpflichtungen in so großer Zahl erschienen sind. Die Vielfalt
der hier versammelten Akteure und Organisationen bringt deutlich zum
Ausdruck, dass Fragen von Flucht und Migration auf allen Ebenen des
kirchlichen Lebens eine herausgehobene Bedeutung haben.
1.
Als wir im vergangenen Jahr zu unserem ersten Katholischen
Flüchtlingsgipfel zusammengekommen sind, standen wir alle unter dem
Eindruck außergewöhnlicher Ereignisse und Erfahrungen: Allein im
November 2015 hat Deutschland etwa 200.000 schutzsuchende Menschen
aufgenommen. Die Mitarbeiter der zuständigen staatlichen Stellen und
kirchlichen Einrichtungen leisteten in dieser schwierigen Situation
Beeindruckendes, um die Neuankommenden unterzubringen und mit dem
Lebensnotwendigen zu versorgen. Als unverzichtbar erwies sich dabei der
Beitrag der vielen Ehrenamtlichen in Kirche und Zivilgesellschaft. Auch heute
noch ist es vor allem ihrem unermüdlichen Engagement zu verdanken, dass
Flüchtlinge und Asylbewerber bei uns nicht nur ein Dach über dem Kopf
erhalten, sondern auch persönliche Begleitung und Wertschätzung erfahren.
Vielen, die sich in der kirchlichen Flüchtlingshilfe engagieren, eröffnete der
erste Katholische Flüchtlingsgipfel die Möglichkeit zu einem breiten
überdiözesanen Austausch. Dabei ging es sowohl um die unmittelbar
anstehenden Herausforderungen als auch um die ethischen Grundlagen unseres
Handelns. Gemeinsam haben wir über „Leitsätze des kirchlichen Engagements
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Herausgeber
P. Dr. Hans Langendörfer SJ
Sekretär der Deutschen
Bischofskonferenz
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für Flüchtlinge“ beraten und sie erarbeitet. Auch im Nachgang des Flüchtlingsgipfels
erreichten meinen Arbeitsstab und mich zahlreiche wertvolle Anregungen. Allen, die sich an
diesem Prozess beteiligt haben, gilt mein herzlicher Dank. Es freut mich, dass die deutschen
Bischöfe die „Leitsätze“ im Februar 2016 schließlich beschlossen und somit gemeinsam ein
klares Signal ausgesandt haben: Die Sorge um Flüchtlinge und Migranten gehört zum
Selbstverständnis unseres Glaubens und unserer Kirche.
2.
Seit unserer letzten Zusammenkunft hat sich die Tonlage des öffentlichen Diskurses
deutlich verändert: Der pragmatische Austausch über handfeste Probleme und
Herausforderungen wird bisweilen durch abstrakte Symboldebatten verdrängt. Dabei dürfte
jedem, der sich auf die Fragen unserer Zeit ernsthaft einlässt, klar sein: Weder die Festlegung
von Obergrenzen noch die Einschränkung der Religionsfreiheit können als geeignete
Antworten gelten. Solche Forderungen lösen keine Probleme. Stattdessen drohen sie, die
freiheitlich-demokratische Rechtsordnung zu beschädigen.
Wir alle, die wir in Kirche und Gesellschaft Verantwortung tragen, stehen in der Pflicht, eine
offene Auseinandersetzung über drängende Fragen der Integration zu führen: Wie können wir
den Schutzsuchenden, die zu uns gekommen sind, Perspektiven auf eine echte
gesellschaftliche Teilhabe eröffnen – auf Bildungschancen, Zugang zum Arbeitsmarkt und
eine angemessene Wohnung? Und welche Perspektiven geben wir den vielen anderen
benachteiligten Menschen in unserer Gesellschaft – all jenen, die nicht von ihrem Lohn, ihrer
Rente oder ihrem Arbeitslosengeld leben können, all jenen, die keinen bezahlbaren
Wohnraum finden? Wie sorgen wir dafür, dass die zunehmende Pluralisierung unserer
Gesellschaft nicht zu wachsender Fragmentierung und Entsolidarisierung führt? Wie können
wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land dauerhaft sichern?
Wir stehen also vor Integrationsaufgaben im umfassenden Sinne: Letztlich geht es darum,
dass sich Neuankommende und Alteingesessene gleichermaßen mit unserem Gemeinwesen
identifizieren und aktiv an seiner Gestaltung mitwirken können. Sowohl von den
Zuwanderern als auch von der Aufnahmegesellschaft ist die Bereitschaft gefordert, sich auf
Neues und Ungewohntes einzulassen. Den Rahmen bilden dabei die Werte und Normen
unseres Grundgesetzes.
3.
Als Christen sind wir aufgerufen, eine Ethik zu entwickeln, die – auch über das
rechtlich Festgeschriebene hinaus – einen verantwortungsvollen Umgang mit Fragen von
Migration und Integration ermöglicht. Dabei können die klassischen Prinzipien der
katholischen Soziallehre – Personalität, Solidarität, Subsidiarität – wichtige
Orientierungspunkte bieten.
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Das Personalitätsprinzip weist darauf hin, dass trotz der vielen Unterschiede, die zwischen
den Menschen bestehen, alle in einem entscheidenden Punkt gleich sind: in ihrer ohne
Vorbedingung von Gott verbürgten Würde. Für Christen ist die individuelle Würde eines
jeden Menschen der entscheidende Maßstab des politischen und gesellschaftlichen Handelns.
Diesem hohen Anspruch können wir letztlich nur dann gerecht werden, wenn in unserem
Gemeinwesen jeder Mensch die Möglichkeit hat, seine Persönlichkeit auf verantwortliche
Weise zu entfalten – unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seinem sozialen
Stand oder seiner religiösen Zugehörigkeit.
Eng damit verknüpft ist das Solidaritätsprinzip: Ebenso wie die Gemeinschaft Verantwortung
für den einzelnen trägt, muss auch der Einzelne auf das Wohlergehen der anderen achten.
Gelebte Solidarität setzt die Fähigkeit zur Empathie voraus: Die Etablierten und
Abgesicherten müssen die Perspektive der Marginalisierten und Besitzlosen einnehmen. Wer
nie zum Verlassen seiner Heimat gezwungen war, ist aufgerufen, die Welt mit den Augen der
Flüchtlinge und Vertriebenen zu betrachten. Und aus diesem Perspektivwechsel muss sich die
Bereitschaft ergeben, den bislang Ausgeschlossenen eine gerechte Teilhabe zu ermöglichen.
Das Solidaritätsprinzip ist in der aktuellen Situation noch in einer weiteren Hinsicht von
Relevanz: Als soziales Wesen kann der Mensch sich nur in Gemeinschaft entfalten. Da die
Familie die Grundform dieser Sozialisation ist, legt die Kirche einen besonderen Wert auf die
Einheit der Familie – auch und insbesondere in Fluchtsituationen. Wer die Möglichkeiten der
Familienzusammenführung weiter einschränkt, behindert die Integration.
Schließlich kann uns auch das Subsidiaritätsprinzip eine wichtige Orientierung bieten: In
Angelegenheiten, die Individuen oder kleinere Zusammenschlüsse am besten selbst regeln,
darf es keine Bevormundung durch übergeordnete Instanzen geben. Flüchtlinge und
Migranten sollten daher im Sinne eines echten „Empowerment“ dazu ermutigt werden, ein
selbstbestimmtes Leben zu führen. Wenn sie hingegen auf gesellschaftliche Ablehnung und
bürokratische Hürden stoßen, werden sie zu einem Leben in Abkapselung und Untätigkeit
gezwungen. Eine weitere Maxime, die sich auf das Subsidiaritätsprinzip zurückführen lässt,
betrifft unser kirchliches Handeln selbst: Die Flüchtlingsarbeit der Kirche folgt eben keinem
hierarchischen Top-down-Ansatz. Vielmehr lebt sie davon, dass sich von den
Kirchengemeinden, Ordensgemeinschaften, kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen, Gruppen
und Verbänden bis zu den Diözesen und der Deutschen Bischofskonferenz alle in ihrem
jeweiligen Zuständigkeitsbereich nach Kräften engagieren.
4.
Wir leben in Zeiten, in denen die Ängste und Verunsicherungen zunehmen. Überall
dort, wo Menschen ihre konkreten Sorgen zum Ausdruck bringen, müssen wir ein offenes Ohr
und ein offenes Herz haben. Als Christen dürfen wir uns jedoch niemals von Furcht und
Pessimismus überwältigen lassen. Und tatsächlich haben wir ja auch guten Grund zur
Zuversicht: Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen hat sich gezeigt, dass christliche
Wertvorstellungen nicht einfach nur ein historisches Fundament unserer Gesellschaftsordnung
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bilden. Nach wie vor setzen sich in beiden großen Kirchen weit über 200.000 Ehrenamtliche
regelmäßig für die Anliegen schutzsuchender Menschen ein. Unser Glaube entfaltet also
gerade in schwierigen Zeiten eine kreative und begeisternde Dynamik.
Zugleich müssen wir heute wieder darauf achten, dass die Betonung unserer christlichen
Identität nicht von der befreienden Botschaft des Evangeliums abgelöst wird. Wer die
christliche Prägung unserer Gesellschaft nur deshalb hochhält, um Menschen anderer
Herkunft und Religion auszuschließen, entwertet das Christentum. Jesus Christus ist in die
Welt gekommen, um den Menschen ein Leben in Freiheit, Würde und Gerechtigkeit zu
ermöglichen. Wenn wir im Verlauf des heutigen Tages gemeinsam über Fragen der
gesellschaftlichen Teilhabe und des gesellschaftlichen Zusammenhalts nachdenken, sollten
wir diesen Bezugspunkt unseres Glaubens nicht aus dem Blick verlieren.