29.09.2016 187a PRESSEMITTEILUNGEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ Es gilt das gesprochene Wort! Eröffnungsansprache von Erzbischof Dr. Stefan Heße (Hamburg), Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen der Deutschen Bischofskonferenz, beim zweiten Katholischen Flüchtlingsgipfel am 29. September 2016 in Frankfurt a. M. Gesellschaftliche Teilhabe und gesellschaftlicher Zusammenhalt Sehr herzlich darf ich Sie alle zum zweiten Katholischen Flüchtlingsgipfel willkommen heißen. Ich bin dankbar, dass Sie trotz Ihrer zahlreichen Aufgaben und Verpflichtungen in so großer Zahl erschienen sind. Die Vielfalt der hier versammelten Akteure und Organisationen bringt deutlich zum Ausdruck, dass Fragen von Flucht und Migration auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens eine herausgehobene Bedeutung haben. 1. Als wir im vergangenen Jahr zu unserem ersten Katholischen Flüchtlingsgipfel zusammengekommen sind, standen wir alle unter dem Eindruck außergewöhnlicher Ereignisse und Erfahrungen: Allein im November 2015 hat Deutschland etwa 200.000 schutzsuchende Menschen aufgenommen. Die Mitarbeiter der zuständigen staatlichen Stellen und kirchlichen Einrichtungen leisteten in dieser schwierigen Situation Beeindruckendes, um die Neuankommenden unterzubringen und mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Als unverzichtbar erwies sich dabei der Beitrag der vielen Ehrenamtlichen in Kirche und Zivilgesellschaft. Auch heute noch ist es vor allem ihrem unermüdlichen Engagement zu verdanken, dass Flüchtlinge und Asylbewerber bei uns nicht nur ein Dach über dem Kopf erhalten, sondern auch persönliche Begleitung und Wertschätzung erfahren. Vielen, die sich in der kirchlichen Flüchtlingshilfe engagieren, eröffnete der erste Katholische Flüchtlingsgipfel die Möglichkeit zu einem breiten überdiözesanen Austausch. Dabei ging es sowohl um die unmittelbar anstehenden Herausforderungen als auch um die ethischen Grundlagen unseres Handelns. Gemeinsam haben wir über „Leitsätze des kirchlichen Engagements Kaiserstraße 161 53113 Bonn Postanschrift Postfach 29 62 53019 Bonn Tel.: Fax: E-Mail: Home: 0228-103 -214 0228-103 -254 [email protected] www.dbk.de Herausgeber P. Dr. Hans Langendörfer SJ Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz 29.09.2016 187a -2- PRESSEMITTEILUNGEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ für Flüchtlinge“ beraten und sie erarbeitet. Auch im Nachgang des Flüchtlingsgipfels erreichten meinen Arbeitsstab und mich zahlreiche wertvolle Anregungen. Allen, die sich an diesem Prozess beteiligt haben, gilt mein herzlicher Dank. Es freut mich, dass die deutschen Bischöfe die „Leitsätze“ im Februar 2016 schließlich beschlossen und somit gemeinsam ein klares Signal ausgesandt haben: Die Sorge um Flüchtlinge und Migranten gehört zum Selbstverständnis unseres Glaubens und unserer Kirche. 2. Seit unserer letzten Zusammenkunft hat sich die Tonlage des öffentlichen Diskurses deutlich verändert: Der pragmatische Austausch über handfeste Probleme und Herausforderungen wird bisweilen durch abstrakte Symboldebatten verdrängt. Dabei dürfte jedem, der sich auf die Fragen unserer Zeit ernsthaft einlässt, klar sein: Weder die Festlegung von Obergrenzen noch die Einschränkung der Religionsfreiheit können als geeignete Antworten gelten. Solche Forderungen lösen keine Probleme. Stattdessen drohen sie, die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung zu beschädigen. Wir alle, die wir in Kirche und Gesellschaft Verantwortung tragen, stehen in der Pflicht, eine offene Auseinandersetzung über drängende Fragen der Integration zu führen: Wie können wir den Schutzsuchenden, die zu uns gekommen sind, Perspektiven auf eine echte gesellschaftliche Teilhabe eröffnen – auf Bildungschancen, Zugang zum Arbeitsmarkt und eine angemessene Wohnung? Und welche Perspektiven geben wir den vielen anderen benachteiligten Menschen in unserer Gesellschaft – all jenen, die nicht von ihrem Lohn, ihrer Rente oder ihrem Arbeitslosengeld leben können, all jenen, die keinen bezahlbaren Wohnraum finden? Wie sorgen wir dafür, dass die zunehmende Pluralisierung unserer Gesellschaft nicht zu wachsender Fragmentierung und Entsolidarisierung führt? Wie können wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land dauerhaft sichern? Wir stehen also vor Integrationsaufgaben im umfassenden Sinne: Letztlich geht es darum, dass sich Neuankommende und Alteingesessene gleichermaßen mit unserem Gemeinwesen identifizieren und aktiv an seiner Gestaltung mitwirken können. Sowohl von den Zuwanderern als auch von der Aufnahmegesellschaft ist die Bereitschaft gefordert, sich auf Neues und Ungewohntes einzulassen. Den Rahmen bilden dabei die Werte und Normen unseres Grundgesetzes. 3. Als Christen sind wir aufgerufen, eine Ethik zu entwickeln, die – auch über das rechtlich Festgeschriebene hinaus – einen verantwortungsvollen Umgang mit Fragen von Migration und Integration ermöglicht. Dabei können die klassischen Prinzipien der katholischen Soziallehre – Personalität, Solidarität, Subsidiarität – wichtige Orientierungspunkte bieten. 29.09.2016 187a -3- PRESSEMITTEILUNGEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ Das Personalitätsprinzip weist darauf hin, dass trotz der vielen Unterschiede, die zwischen den Menschen bestehen, alle in einem entscheidenden Punkt gleich sind: in ihrer ohne Vorbedingung von Gott verbürgten Würde. Für Christen ist die individuelle Würde eines jeden Menschen der entscheidende Maßstab des politischen und gesellschaftlichen Handelns. Diesem hohen Anspruch können wir letztlich nur dann gerecht werden, wenn in unserem Gemeinwesen jeder Mensch die Möglichkeit hat, seine Persönlichkeit auf verantwortliche Weise zu entfalten – unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seinem sozialen Stand oder seiner religiösen Zugehörigkeit. Eng damit verknüpft ist das Solidaritätsprinzip: Ebenso wie die Gemeinschaft Verantwortung für den einzelnen trägt, muss auch der Einzelne auf das Wohlergehen der anderen achten. Gelebte Solidarität setzt die Fähigkeit zur Empathie voraus: Die Etablierten und Abgesicherten müssen die Perspektive der Marginalisierten und Besitzlosen einnehmen. Wer nie zum Verlassen seiner Heimat gezwungen war, ist aufgerufen, die Welt mit den Augen der Flüchtlinge und Vertriebenen zu betrachten. Und aus diesem Perspektivwechsel muss sich die Bereitschaft ergeben, den bislang Ausgeschlossenen eine gerechte Teilhabe zu ermöglichen. Das Solidaritätsprinzip ist in der aktuellen Situation noch in einer weiteren Hinsicht von Relevanz: Als soziales Wesen kann der Mensch sich nur in Gemeinschaft entfalten. Da die Familie die Grundform dieser Sozialisation ist, legt die Kirche einen besonderen Wert auf die Einheit der Familie – auch und insbesondere in Fluchtsituationen. Wer die Möglichkeiten der Familienzusammenführung weiter einschränkt, behindert die Integration. Schließlich kann uns auch das Subsidiaritätsprinzip eine wichtige Orientierung bieten: In Angelegenheiten, die Individuen oder kleinere Zusammenschlüsse am besten selbst regeln, darf es keine Bevormundung durch übergeordnete Instanzen geben. Flüchtlinge und Migranten sollten daher im Sinne eines echten „Empowerment“ dazu ermutigt werden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wenn sie hingegen auf gesellschaftliche Ablehnung und bürokratische Hürden stoßen, werden sie zu einem Leben in Abkapselung und Untätigkeit gezwungen. Eine weitere Maxime, die sich auf das Subsidiaritätsprinzip zurückführen lässt, betrifft unser kirchliches Handeln selbst: Die Flüchtlingsarbeit der Kirche folgt eben keinem hierarchischen Top-down-Ansatz. Vielmehr lebt sie davon, dass sich von den Kirchengemeinden, Ordensgemeinschaften, kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen, Gruppen und Verbänden bis zu den Diözesen und der Deutschen Bischofskonferenz alle in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich nach Kräften engagieren. 4. Wir leben in Zeiten, in denen die Ängste und Verunsicherungen zunehmen. Überall dort, wo Menschen ihre konkreten Sorgen zum Ausdruck bringen, müssen wir ein offenes Ohr und ein offenes Herz haben. Als Christen dürfen wir uns jedoch niemals von Furcht und Pessimismus überwältigen lassen. Und tatsächlich haben wir ja auch guten Grund zur Zuversicht: Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen hat sich gezeigt, dass christliche Wertvorstellungen nicht einfach nur ein historisches Fundament unserer Gesellschaftsordnung 29.09.2016 187a -4- PRESSEMITTEILUNGEN DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ bilden. Nach wie vor setzen sich in beiden großen Kirchen weit über 200.000 Ehrenamtliche regelmäßig für die Anliegen schutzsuchender Menschen ein. Unser Glaube entfaltet also gerade in schwierigen Zeiten eine kreative und begeisternde Dynamik. Zugleich müssen wir heute wieder darauf achten, dass die Betonung unserer christlichen Identität nicht von der befreienden Botschaft des Evangeliums abgelöst wird. Wer die christliche Prägung unserer Gesellschaft nur deshalb hochhält, um Menschen anderer Herkunft und Religion auszuschließen, entwertet das Christentum. Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um den Menschen ein Leben in Freiheit, Würde und Gerechtigkeit zu ermöglichen. Wenn wir im Verlauf des heutigen Tages gemeinsam über Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe und des gesellschaftlichen Zusammenhalts nachdenken, sollten wir diesen Bezugspunkt unseres Glaubens nicht aus dem Blick verlieren.
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