NOCH WAS … | 29 F ehler in der physischen Realität sind nicht ohne weiteres korrigierbar – ganz anders als im Virtuellen. Wenn man in Handarbeit etwas falsch macht, ist das meistens irreversibel. Die physische Realität kennt kein »Undo«. Aber gerade darin liegt das große Plus des Haptischen, denn Fehler bergen das Potenzial zur kreativen Erfolgsstory. In der digitalen Produktentwicklung ist das Fehlermachen mittlerweile sogar eine probate Arbeitsmethode geworden, die der Start-up-Mentalität entspricht. Die Rede ist davon, »Minimum Viable Products« (MVP) über direktes Userfeedback in schrittweisen Beta- und PrototypingStadien zu verbessern. Dazu stellt man ein minimal ausgearbeitetes, möglicherweise fehlerhaftes Produkt potenziellen Kunden zur Verfügung, um es mit Hilfe ihres Verhaltens und Feedbacks zu optimieren. So entsteht mit Unterstützung der User ein Produkt, das ihren Bedürfnissen tatsächlich entspricht. Die Bildercommunity Flickr beispielsweise war ursprünglich als Online-Game geplant. Die Nutzer formen sich die Produkte, bis sie auf ihre Bedürfnisse passen. Der Fehler ist Zeitgeist. Die OFFF, das International Festival for the Post-Digital Creation Culture, machte ihn zu ihrem Konferenzthema 2009: »This isn’t flying, this is falling with style. Fall gracefully«. Auf einem Panel der Konferenz South by Southwest (SXSW) 2012 in Austin, Texas debattierte man einen Paradigmenwechsel in der Rezeption visueller Medien: Die Diskutanten labelten postdigitale Hiccups, also etwa durch Datenkompression erzeugte Bildverfälschungen, grobe 3D-PolygonPrints, generative Designfraktale oder Twitter-Bot-Data mit dem Begriff: »The New Aesthetic«. Modell für die Kommunikationsbranche Der britische Schriftsteller und Technologe James Bridle beschreibt solche Phänomene als Eruption des Digitalen ins Physische. Die Übersetzungsfehler der Maschinen werden von ihm als Emanzipation Die physische Realität kennt kein »Undo«. Das ist gut so, denn Fehler bergen Kreativpotenzial, findet Jan Pautsch, Unitleiter Kreation bei Aperto Berlin. und erster Gehversuch künstlicher Intelligenz geoutet. Satellitenbilder, Google Street View und Videoüberwachung konfrontieren uns mit einer neuen Ästhetik. Über den Blick der Roboter entdecken wir eine zweite Realität. Diese von Emotionalität befreiten Bilder wirken bisher noch wie Fehler in unserem Wahrnehmungssystem. Als Methodik um zu neuen, kreativen Lösungen zu kommen, ist das Fehlerma- chen aber eigentlich nichts Neues. Spätestens seit der Moderne ist der Misserfolg ein essenzieller Treiber für künstlerische Produktion. Dadaisten, Surrealisten und Fluxus-Leute nutzten Fehler und Zufall für provokanten Output. Künstler wie Bruce Nauman oder Matthew Barney haben das Fehlermachen stilisiert und zum Energiezentrum ihrer Arbeiten gemacht. Methodisch zu scheitern, um aus gewohn- ten (Denk-)Strukturen auszubrechen, ist kreations- und innovationsimmanent. Die Kreativ- und Kommunikationsbranche lernt die Methodik des Fehlermachens von den Produktentwicklungsstrategien der Start-ups und den Kreativmethoden der Designindustrie, wie beispielsweise »Design Thinking«. Denn auch Kommunikation ist ein fluides, formbares, lenkbares und anpassbares Produkt. Um aber Kommunikationsmaßnahmen über Fehltritte neu zu justieren, bedarf es Selbstbewusstsein, Vertrauen und Verbündeter. Und es bedarf einer sauberen Planung, die umso zielgenauer sein muss, je flexibler der Prozess ist. Kreativpotentiale für Teams Auch die Herausforderung für die Kommunikationsbranche wird größer, weil ihre Arbeit fast immer im Teamwork entsteht – zwischen Marketing und Pressestelle, Marketer und Agentur, mehreren Agenturen untereinander, im eigenen Team. Wie gelingt es, im eigenen Unternehmen das Potenzial des kreativen Fehlermachens zu nutzen? Man muss Raum schaffen, um diese Methodik auszuprobieren; und Mitarbeiter darauf sensibilisieren, die (vermeintlichen) Fehler des anderen nicht einfach zu eliminieren, sondern sie in ihr eigenes Konzept einzubeziehen. Man könnte diesen Prozess ›Do-It-Yourself-With-Others‹ nennen, die Multiplikation des DIY mit dem kollaborativen Teamgedanken. Umgesetzt können dabei Workshopserien wie Apertos DECODER entstehen, bei dem es um das Dechiffrieren von Kreativmustern, Kommunikationssystemen und Arbeitsmethoden geht. Das Projekt provoziert einen »Clash« unterschiedlicher Unternehmenswelten und -kulturen von Werbern, Digitalexperten, Campaignern, PR- und Mobile-Spezialisten sowie Markenstrategen. Dabei stehen das gemeinsame, physische Machen und damit auch Fehlermachen fernab vom Rechner – das Denken mit den Händen – im Vordergrund. Unter der Leitung von kreativen Köpfen wie Van Bo Le-Mentzel, Designer, Architekt und Erfinder der Hartz-IVMöbel und Eike König (HORT), einem der wichtigsten deutschen Kommunikationsdesigner, wird die Komfortzone durch sensorische Erfahrungen verlassen. Eike ließ seine Teilnehmer instinktiv ihren eigenen Weg suchen – ohne jegliches Briefing. Mit Van Bo bauten Teilnehmer zu seinem Projekt »One-SQM-House« ein Quadratmeter große Häuser aus Holz und befüllten sie mit Geschichten. Warum? Weil sie Van Bos Vision vom Extra-Raum in einer überbevölkerten Welt repräsentieren und deren Interpretation spannend ist. Weil dabei etwas Nachhaltiges, Bleibendes entsteht. Und weil reale Objekte Projektionsfläche für Träume und Ideen sein können. Der Ausgang dieser und aller folgenden DECODER Unternehmungen ist offen – Fehlermachen inklusive.
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