Jesper Wung-Sung – Opfer. Lasst uns hier raus!

Jesper Wung-Sung – Opfer. Lasst uns hier raus!
Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger
2013 im Original erschienen unter dem Titel: Skolen [dt. die Schule]
Verlag: Carl Hanser Verlag 2016
Alter: 16+
ISBN: 978-3-446-25092-5
Taschenbuch, 142 Seiten // ca. € 14,30 [A] / ca. € 13,90 [D]
„[…] Ein großer schwarzer Vogel tauchte auf. […] Erst aus der Nähe konnte man erkennen,
dass es sich dabei um ein kleineres, mechanisches Fluggerät handelte, das ununterbrochen
hoch über der Schule kreiste. Es waren langsame Kreise, als wäre es gedankenverloren, kaputt
oder als würde es versuchen, seine Beute zu hypnotisieren.“ In „Opfer“ werden viele Themen
angesprochen. So zum Beispiel die Verzweiflung, die einen überkommt, wenn man das
eigene Schicksal nicht mehr bestimmen kann, der Umgang mit dem Tod, gefolgt von
Erstarrung und Abstumpfung, sowie die Infragestellung gesellschaftlicher Konventionen. Das
zentrale Thema ist jedoch die Fassungslosigkeit über das Erstarren der eigenen Emotionen.
Dargestellt am Beispiel einer Schule, die auf Grund einer noch unbekannten Krankheit unter
Quarantäne gestellt wurde. Ausbruchsursache – Regierung und Geheimdienst werden
verdächtigt – ist unwichtig, denn im Mittelpunkt steht der Umgang mit allgegenwärtigem
Tod. Dieser wird durch eine Drohne symbolisiert, die zur Überwachung ständig über der
Schule kreist. Jesper Wung-Sung bedient sich vieler Stilmittel, um dem Leser/der Leserin
einen Eindruck dieser Fassungslosigkeit innerhalb einer geschlossenen Welt vermitteln zu
können.
Die Handlung beginnt mit einer Binnenerzählung, die den späteren Handlungsverlauf durch
eine Außenperspektive symbolisch vorwegnimmt. Benjamin und seine Kommilitonen setzten
während des Unterrichts Spinnen in einen brennenden Ofen. Es ist ein Spiel: Es gewinnt
derjenige, dessen Spinne am längsten überlebt. „„Das ist Mord.“ […] „Ja, klar ist das Mord.
Aber wenn sie sich ferngehalten hätten, wäre sie gefangen worden.““ Das Spiel der Schüler
wird jedoch Realität und sie werden sprichwörtlich zu den Spinnen im Ofen. Denn
Schüler_innen und Lehrer_innen werden wie die Spinne, ihrem eigenen Schicksal überlassen.
„Eins, zwei, drei […]“. Ständig wird durchgezählt. Der Tod steht stets im Vordergrund. Auch
Benjamin zählt: Männer in schwarzen Anzügen, die plötzlich in der Schule auftauchen; er
zählt die Kranken und er zählt die Toten, die auf dem Sportplatz beerdigt werden. Durch das
Zählen versucht er die Situation zu verarbeiten, denn wie lange er schon in der Schule ist,
kann er irgendwann nicht mehr sagen. Die Zeit verschwindet. Die Zahlen sind ein Versuch
wieder ein Gefühl für die Zeit und folglich für die Realität, zu bekommen und vielleicht die
Drohne und somit den ständigen Begleiter, den Tod, zu verdrängen.
Das aber wohl auffälligste Stilmittel ist ein Visuelles. Das Verhältnis von Text zu leerem
Raum auf einer Seite ist ausgewogen. Der Rand vergrößert sich zwischenzeitlich und
schrumpft später wieder auf seine anfängliche Größe zurück. Als Erstes fällt dies auf, als
Benjamins Vater, der Schuldirektor, stirbt. Hier nimmt die Textfülle drastisch ab und der leere
Raum nimmt, fast drei Viertel der Seite ein. Gegen Ende des Buches intensiviert Jesper
Wung-Sung dieses Stilmittel. Eines der letzten Kapitel besteht lediglich aus dem Satz:
„Jemand sagt etwas.“. Immer dann, wenn etwas Drastisches passiert oder Benjamin ratlos
zurückbleibt, schrumpft der Text und hinterlässt eine Leere. Eine Leere, die entsteht, wenn
sich Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit breitmachen und man keine Worte mehr zur
Verfügung hat.
Wung-Sung umschließt die Handlung mit einer gedämpften und bedrückenden Stimmung. Es
gibt nur wenige Dialoge und oft sind es bloß Aussagen oder Fragen, die unbeantwortet
bleiben. Die eigentliche Handlung rutscht dadurch in den Hintergrund und hat lediglich die
Aufgabe, der Leere, der Verzweiflung und der Fassungslosigkeit einen Rahmen zu geben.
Antworten wie man mit dieser Last umgehen könnte, werden nicht angeboten. Die Schicksale
der einzelnen Charaktere sprechen für sich. Der dänische Autor hat eine fiktive Welt kreiert,
in der man selbst nicht leben möchte. Trotz einer nicht realen Situation, stellt sich aber die
Frage: Wie unrealistisch ist dieses Szenario? Blickt man heute auf verschiedene Länder dieser
Erde, findet man viele Orte, an denen Menschen gezwungenermaßen in Isolation leben
müssen. Ihr Leben wird dabei von Krieg bedroht, sie müssen gegen Hunger, Krankheiten und
den Tod kämpfen. Auch wir errichten um diese Menschen einen fiktiven Zaun, um nicht mit
ihnen in Kontakt treten zu müssen. Dieser ist mit jenem Zaun zu vergleichen, der um
Benjamins Schule gezogen wurde.
„Was wäre, wenn…“ Genau diese Frage kann einem nach dem Lesen öfters durch den Kopf
schießen. Was wäre, wenn so etwas wirklich passieren würde? Was wäre, wenn so etwas bei
uns passieren würde und wie würden wir reagieren? Vielleicht war dies nicht Wung-Sungs
Intention, dennoch ist dieser Gedanke eine mögliche Reaktion auf das Buch, denn „Opfer“
regt die Leser_innen mit seiner fiktiven Krisensituation zum Nachdenken und Reflektieren an.
Jan Mirbeth