Leif Inselmann Missverständnis Es war still und dunkel. Vollkommen still und vollkommen dunkel. Darauf beschränkten sich Mircos Sinneswahrnehmungen. Meistens jedenfalls. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er ein leises Schaben gehört, vermutlich Mäuse oder irgendwelche Insekten. Noch waren sie nicht zu ihm hereingekommen. Aber wie lange würde das auf sich warten lassen? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Vielleicht lag er jetzt erst ein paar Stunden so da in der Finsternis. Vielleicht waren es Jahre. Das konnte er nicht beurteilen. Wie schon so viele Male zuvor hob er seine Arme, die ob der lange so steifen Haltung knackten. Mutlos fuhren seine Finger über das Holz über ihm. Gutes Holz war das, glatt und bisher nicht zusammengebrochen. Es störten nur die zahlreichen Kratzer und Dellen voller Splitter, die Mirco ihm bisher in seiner Verzweiflung zugefügt hatte. Irgendwo steckte auch ein kleines Stück Fingernagel, das ihm dabei abgebrochen war. Wahrlich ein verdammtes Missverständnis, das ihm das eingebrockt hatte. Der Arzt hätte besser sein müssen. Vielleicht war auch kein Arzt anwesend gewesen. Jetzt auch egal. Jedenfalls hatte man ihn augenscheinlich für tot gehalten und schnellstens begraben. Das wohl schrecklichste Schicksal, das einem Menschen zustoßen konnte. Er hätte gedacht, dass seine Verzweiflung größer sein müsste. Aber stattdessen war da nur die leise Erkenntnis, dass es das gewesen war. Und Hunger. Ja, er hatte tatsächlich Hunger. Und Durst, der Durst war noch größer. Es wunderte ihn, dass er das noch empfand. Hätte ihm nicht vorher die Luft ausgehen müssen? Anscheinend nicht, die Erde war wohl zu locker. Lautstark schrie er seinen Frust in die Welt hinaus. Doch diese Welt war klein, sie beschränkte sich auf eine sechseckige Kiste von solchen Ausmaßen, dass er gerade einmal darin liegen konnte. Wieder einmal prügelte er wütend mit seinen Fäusten auf die Sargdecke. Das Holz splitterte ein wenig, Erdkörner rieselten Mirco ins Gesicht. Er pustete sie weg und schlug weiter. Seine Hände wanderten durch den geringen Raum, auf der hoffnungslosen Suche nach einer Schwachstelle. Dann plötzlich spürte er es. Ein Luftzug. Ein feiner Luftzug. Deshalb wohl war ihm die Atemluft noch nicht ausgegangen. Die Hand, die am nächsten war, die linke, tastete sich vor – und erspürte ein Loch in der Sargwand! Seine Hand griff hindurch in einen Hohlraum, den er da niemals erwartet hatte. Etwas Feines streifte seine Haut. Ein Faden? Ein Faden! Jetzt erkannte er, was ihm bisher entgangen war. Bald würden Stille und Finsternis, Hunger und Durst der Vergangenheit angehören – die Freiheit war so nah! Seine Hand schloss sich um das dünne Seil und zog kräftig daran. Irgendwo in der Ferne erklang ein Glöckchen. *** Marius Radu zuckte zusammen, als der kühle Wind den hellen Klang herantrug. Fast schon gespenstisch läutete das kleine Glöckchen in der Stille des abendlichen Friedhofes. Sofort stieß er seinen Spaten in die Erde und lauschte, ob er sich auch nicht verhört hatte. Eben noch war der alte Friedhofsgärtner damit beschäftigt gewesen, zwei neue Büsche ein1 zupflanzen. Die Dämmerung war längst heran, schon warfen die Bäume lange Schatten über den Gottesacker. Er hatte die Arbeit heute noch fertigbekommen wollen, auch wenn es schon dunkel war – da hatte er aber nicht damit gerechnet. Die Büsche konnten warten, womöglich brauchte jemand seine Hilfe. Nun klingelte es permanent, kein Zweifel bestand mehr an dem Geräusch. Den Spaten in der rechten Hand, folgte Marius dem hellen Laut. Wenn das tatsächlich war, was er dachte… Eine unschöne Vorstellung. So manche Leute hätten Probleme damit gehabt, sich bei Nacht auf dem Friedhof aufzuhalten. Marius gehörte nicht dazu. Seit über dreißig Jahren arbeitete er hier nun schon, kannte jeden Grabstein und jeden Baum. Er mochte diese Arbeit, wo er stets in Ruhe und ohne Hektik seinem Tagewerk nachging und dabei nur hin und wieder auf Menschen traf. Allzu gesellig war er nämlich nie gewesen. Je näher er dem Ursprung kam, desto lauter wurde das Bimmeln. War das tatsächlich…? Ja, wie er im nächsten Moment bemerkte. Eine dieser kleinen Glocken, die man mitunter an Gräbern anbrachte, damit eventuell lebendig Begrabene sich bemerkbar machen konnten. Bisher war das noch nie vorgekommen, seit Marius hier arbeitete. Aber der heutige Abend bewies wohl den Sinn der Vorrichtung. Kaum hatte er das Grab ausfindig gemacht, begann er zu graben. Wie gut, dass er den Spaten eh schon in der Hand hatte. Eine Fuhre Erde nach der anderen schmiss er über seine Schulter. Fast schon hatte ihn ein Wahn ergriffen, dem Armen dort unten zu helfen. Jeder Moment musste für diesen ein unbeschreibliches Grauen darstellen. „Halten Sie durch!“, rief er in den schmalen Schacht, wo das Glöckchen baumelte. „Ich helfe ihnen.“ Von unten tönte nur ein schwaches Stöhnen empor – vielleicht war es auch nur der Wind. Diese arme Seele musste schon ziemlich geschwächt sein. Marius grub wie ein Besessener. Hinter und neben ihm türmte sich die entfernte Erde längst zu kleinen Hügeln auf. Inzwischen war es noch dunkler geworden, das Grab selbst nur schwer zu erkennen. Einen kurzen Moment hielt der Friedhofsgärtner inne, um zu Atem zu kommen. Dann grub er weiter, ignorierte seinen rebellierenden Rücken. Schließlich musste er selbst in die ausgehobene Kuhle steigen, um weiter am Grund zu buddeln. Die Arbeit erschien ihm ewig – sie musste ja in der Tat ziemlich lange dauern. Nach wie vor bimmelte das Glöckchen immer wieder, wie um ihn an die Motivation seines Tuns zu erinnern. Wie um ihn daran zu erinnern, den Armen dort unten nicht allein zu lassen. Längst stand Marius der Schweiß auf der Stirn, trotz der kühlen Luft des Abends, da stieß sein Spaten endlich auf etwas Hartes. Der Sarg, kein Zweifel. Jeder Stein hätte sich anders angehört. Ein rasches Schaben des Spatens über die recht glatte Oberfläche bestätigte es. Endlich. „Gleich sind Sie frei!“, verkündete der Gärtner voller Inbrunst, während er die letzte Erde wegschaufelte. Eine Schippe Erde über die Schulter geworfen, noch eine, dann noch eine. Mehr und mehr legte er den Sarg frei. Endlich schien die Erde so weit entfernt, dass man an das Öffnen denken konnte. Es gelang Marius, die Spitze seines Spatens zwischen Kiste und Decke zu klem2 men, nun versuchte er das dunkle Gefängnis aufzuhebeln. Erstaunlich leicht gab der Widerstand nach, die Scharniere oder Nägel an den Seiten rissen auf. Sein Rücken schmerzte bereits, doch ein letztes Mal bückte er sich hinab, packte den Sargdeckel und hob ihn in die Höhe. Als er so wieder hochkam, fiel sein Blick auf den über ihm aufragenden Grabstein. Einen Moment schien der Mond hinter den Wolken hervor und enthüllte die verwitterte Inschrift: † Es ruht in Gott Mirco Parasca 14. März 1798 - 21. Oktober 1832 Als Marius die Bedeutung dieser Zahlen gewahr wurde, war es bereits zu spät. Ein dunkler Schatten schoss aus dem gerade geöffneten Sarg hervor, warf ihn mühelos in die aufgewühlte Erde. Der Grabstein war schon wieder verdunkelt, als sich die spitzen Zähne von Mirco Parasca in seinen Hals bohrten. 3
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