„Eigene“ und das „Fremde“

1
Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Über das „Eigene“ und das „Fremde“
Lernen vom Psychoanalytiker Paul Parin
Autorin: Ursula Rütten
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion: Birgit Morgenrath
Produktion: DLF 2016
Erstsendung: Dienstag, 20. September 2016 , 19.15 Uhr
Autorin: Renate Fuhrmann
Christa Wolf: Ilse Strambowski
Parin: Thomas Pohn
Maier: Martin Schaller
Fakten: Matthias Hase
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt
und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein
privaten Zwecken genutzt werden.
Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige
Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz
geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
- unkorrigiertes Exemplar -
2
Musik/Atmo
O-Ton Parin (Telefon)
Parin, Salut Maja. Wie geht’s dir?
Autorin:
Paul Parin in seiner Wohnung am Utoquai 41 in Zürich im Jahr 2004. Wie üblich beim
Schreiben und im Gespräch mit einer Kollegin. Der weithin bekannte Schweizer
Psychoanalytiker, Pionier der Ethnopsychoanalyse und Schriftsteller hatte großen
Einfluss auf die Politisierung der Psychoanalyse und auf die 68erStudentenbewegung.
O-Ton Parin (2004)
Es hat jedes Volk die Tendenz, die eigene Identität, ihr So-Sein dadurch zu
markieren, zu legitimieren, zu bestätigen, dass die Fremden anders sind und häufig
minder. Auch in Europa, in unseren Kulturen weiß man, dass besonders die
Nachbarn, die sich ein wenig unterscheiden, immer spöttisch oder auch ernster, als
minderwertig angesehen werden. Gut, das ist eine sozialpsychologische
Erscheinung, die dient zur Identitätsfestigung und zur Abgrenzung.
Sprecher 3
Über das „Eigene“ und das „Fremde“
Lernen vom Ethnopsychoanalytiker Paul Parin
Ein Feature von Ursula Rütten
O-Ton Parin (2006)
Wir haben die Ethnopsychoanalyse nicht erfunden, aber als erste als Methode
angewandt.
Autorin
WIR hat Paul Parin immer gesagt, wenn es um sein wissenschaftliches Vermächtnis
ging. Und darum, dieses Wissen zu vermitteln: im Sinne radikaler Aufklärung,
politisch engagiert, für den Kampf gegen verinnerlichte Unterdrückung und gegen
3
herrschende Verhältnisse, gegen Verhältnisse von Herrschaft. WIR, das waren er
und Goldy Parin-Matthèy, seine geistes- und seelenverwandte Lebenspartnerin, fast
60 Jahre lang.
O-Ton Goldy (1995)
Es geht eigentlich über das Ich-Ideal, über die gleichsinnigen Wünsche und Ziele. Es
ist nicht Er, der Große, der mich also so beschützt - natürlich tut er das, aber es ist
vielmehr gemeinsam etwas zu unternehmen, wir haben alles gemeinsam gemacht,
das ist das wirklich Bindende.
Autorin
Gemeinsam für eine Psychoanalyse als Fortsetzung der Guerilla mit anderen Mitteln.
So eigenwillig definierte Goldy Parin-Matthèy ihre Wissenschaft. Und diesen
Anspruch löste sie in ihrem Leben ein. In ihrem Beruf und als Persönlichkeit: mit
Aktivismus und Kampfgeist, mit subversivem, gegen Erstarrung und mechanistische
Anpassung gerichtetem Eifer. Eine bekennende Anarchistin.
Sprecher 3
Nach einem Medizinstudium in Graz, Zagreb und Zürich, hatte der 27-jährige Paul
die Röntgenlaborantin Elisabeth Charlotte Matthèy-Guenet in Zürich kennengelernt.
Sie war gerade von ihrem Dienst in einer Sanitätseinheit der Internationalen
Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg zurückgekehrt. Gemeinsam mit ihr und ihrem
Bruder meldete sich der promovierte Chirurg Paul Parin 1944 zu einer freiwilligen
Ärztemission in der von Tito angeführten Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee.
In seinem viereinhalb Jahrzehnte später erschienenen Buch Es ist Krieg und wir
gehen hin schreibt Parin:
Sprecher 1
Goldy und ich hatten, bevor wir uns 1939 trafen, jeder für sich und seitdem
zusammen versucht, unsere Utopie zu entwerfen. Die gegenwärtige Lage sollte
durchschaubar werden, und wir wollten die Gesellschafts- und Weltordnung
verstehen, die in die Kriegskatastrophe führte. Es war damals einfach zu sehen, dass
4
Geschichte nicht passiert, (sondern) dass sie gemacht wird. Aus der dialektischmaterialistischen Theorie, aus unseren Erfahrungen und aus einer höchst
persönlichen kritischen Einstellung war das entstanden, was Goldy ihren
Anarchismus und ich meinen kritischen Sozialismus nannte.
Autorin
Beider Rüstzeug um bewusst an einem Stück revolutionärer Geschichte
teilzunehmen. Solange, bis sich mit dem Ende des bewaffneten Kampfes auch die
Utopie einer neuen Gesellschaft freier, gleichberechtigter, mündiger Bürger verlor
und die Brüdergemeinde der Partisanen zerfiel. Sie musste am erneuten Gefälle von
Macht und Herrschaft scheitern.
Sprecher 1
Brüderliche Solidarität war für uns der Gegensatz zu hierarchischer Organisation. Wir
waren diszipliniert, wenn wir selber es für richtig hielten; jeder Befehl verletzte unsere
Würde. Wir fühlten uns als Weltbürger, solidarisch mit allen, die unterdrückt und
ausgebeutet werden. Deshalb war für uns jede Heimat zu eng und die Verpflichtung
auf eine Linie eine Fessel.
Autorin
Zurück in Zürich entstand eine neue Gemeinschaft. „WIR“ – das war auch der enge
Freund und Kollege der Parins, Fritz Morgenthaler. Alle drei waren ausgebildete
Psychoanalytiker.
O-Ton: Goldy
Nur wir, das beste Wort dafür ist ... Brüdergemeinde, das heißt, dass man ganz
sicher weiß, dass man sich auf den anderen verlassen kann,.
Autorin
So auch beim intensiven Zusammenleben und -arbeiten der Parins mit Fritz
5
Morgenthaler und dessen Frau Ruth ab 1954. Ebendort, am Utoquai 41, in einer
weiträumigen Parterrewohnung mit Blick auf den Zürichsee.
In der Küche traf sich die Kommune auf ein gutes, meist von Goldy zubereitetes
Nachtmahl, einen guten Rotwein und diskutierte im Dunst schwarzer, filterloser
Zigaretten über alles Weltbewegende. Auch die heute 70-jährige Maja Nadig,
Schweizer Ethnologin, erinnert sich an viele gemeinsame Stunden. Ihr Interesse gilt
insbesondere der Kultur und der Situation von Frauen, aktuell in China.
O-Ton: Nadig
Es ging immer um so eine bestimmte Sicht auf die Welt, die da entstanden ist. Der
Paul hatte ja so eine Art dreifachen Blick auf die Welt, finde ich. Einerseits als
jüdisches Kind, wo man mit Skepsis auf alles guckt, was draußen läuft, und weiß, die
sind auch gegen uns. Und andererseits auch als Psychoanalytiker, dass er auch
immer die unbewussten Mechanismen gesehen hat. Und irgendwie auch immer das
Kulturelle hat er immer sehr stark in Betracht gezogen.
Goldy war durch ihre anarchistische Geschichte sehr stark mit einem bestimmten
politischen Blick guckend, der kam dann immer noch dazu. Das war sehr, sehr
erheiternd und erleichternd, immer wieder alles, was etabliert war, aufbrechen zu
sehen in diesen Gesprächen. Es entstand eine Art Leichtigkeit: die Verhältnisse
müssen nicht so sein, wie sie sind. (.) Es war immer eine Gruppe, diese
Brüdergemeinde, wie Goldy immer sagte. Das ist schon eine bestimmte Form des
sozialisierten Denkens und nicht des elitären Denkens.
Sprecher 3
Die Schriftstellerin Christa Wolf charakterisierte in ihrer Laudatio auf Paul Parin
anlässlich der Verleihung des Erich Fried-Preises 1992 die „Brüdergemeinde“ als „ein
konstituierendes Element in Parins Leben und Werk“.
Sprecherin 2
Die brüderlich-schwesterlich miteinander verbundene Gruppe Gleichgesinnter,
Gleichberechtigter, die gemeinsam „zugunsten besserer Verhältnisse“ kämpfen –
6
gegen den Faschismus – und arbeiten: als Ärzte bei den jugoslawischen Partisanen,
als Psychoanalytiker in Zürich, als Ethnopsychoanalytiker in Afrika: dies ist der
praktisch harte Kern von Parins Utopie.
Sprecher 1
Wenn wieder einmal alles kaputt ist, wofür wir gekämpft haben, kommen wir uns
überflüssig vor. Das ist jedem der unseren schon mehrmals passiert.
Autorin
sinniert Paul Parin in seinem Buch mit dem programmatischen Titel Es ist Krieg und
wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen. Es erschien ein Jahr vor
Verleihung dieses österreichischen Literaturpreises.
Sprecher 1
Es gibt einen Trost für die, denen es um ein besseres Leben der Menschen geht:
Wirklich überflüssig sind sie nicht, die Arbeit wird ihnen nicht ausgehen, man braucht
sie und wird sie bald wieder brauchen. Der „Neue Mensch“, auf den es doch
ankommt, wird nicht so bald entstehen und schon gar nicht ohne uns. „Hoffnung –
aktiv werdende Unzufriedenheit“, schreibt Ernst Bloch. Oder sind die, die nicht
aufgeben, die auf ihre Utopie gar nicht verzichten können, sind vielleicht sie alle –
ohne dass sie es wissen – bereits die Neuen Menschen?
Sprecher 3
Gesellschaftsanalyse im Deutungsprozess - Das innere und das äußere
Fremde
Autorin
Für die Freigeister erwies sich die in vielen Tabus, Restriktionen und in
Geschichtsklitterung erstarrte Nachkriegs-Schweiz bald als schwer erträglich. Sie
brachen auf und unternahmen zwischen 1955 und 1971 sechs Forschungsreisen
nach Westafrika. Dort meinte Parin ein Stück Utopie gefunden zu haben:
7
Sprecher 1
Während die abendländische Zivilisation unaufhaltsam die meisten anderen Kulturen
unterwandert, transformiert oder zerstört, wird das Unbehagen in unserer Kultur
immer unerträglicher. Man fragt sich, ob es nicht irgendwo auf der Welt bessere
sozialpsychologische Lösungen gibt, als wir sie haben: eine Erziehung zu freieren,
glücklicheren Menschen, die ihre Aggressionen nicht in mörderischen und
selbstmörderischen Kriegen abführen, die ihre Kinder nicht opfern, ihre Erzeuger
nicht hassen und ihr Liebesleben nicht verstümmeln müssen. Und man sucht nach
sozialen Einrichtungen, die dem Menschen weniger Zwang auferlegen und seiner
Natur angemessener sind als die unsere. Man wäre bereits für Hinweise dankbar,
wie wir unsere Kinder richtiger aufziehen oder unser Verhältnis zu den Mitmenschen
so bereinigen könnten, dass es nicht zu noch mehr Unglück und zum endgültigen
Untergang des Menschengeschlechts kommt. Ja, es wäre schon etwas geleistet,
wenn wir fremde Völker besser verstehen und wenn wir die gefährlichen
Nebenwirkungen des Kulturwandels, der Europäisierung afrikanischer und anderer
Völker, verhindern könnten.
Autorin
Schreibt Paul Parin rückblickend in einem seiner Standardwerke: Fürchte deinen
Nächsten wie dich selbst. Anders als in der psychoanalytischen Therapie, wo die
Neutralität der Analytiker gefordert ist, müssen die Ethnopsychoanalytiker sich in
ihrer Feldforschung offen und aktiv einbringen. Nicht sie werden von Klienten um das
Gespräch ersucht – sondern sie müssen umgekehrt ihnen fremde Menschen als
Partner für tiefgehende Gespräche gewinnen. Diese liegen auf keiner Couch,
sondern sitzen dem Forschenden gegenüber, oft unter Einbeziehung der lokalen
Öffentlichkeit. Der Analytiker wird nicht für seinen Einsatz bezahlt, sondern er muss
sorgsam abwägen, ob Gegenleistungen für seinen Gesprächswunsch angeboten
werden sollten oder sogar erwartet werden: etwa ein Entgelt oder ärztliche Hilfe.
Maja Nadig:
8
O-Ton Nadig
Insofern ist diese Kombination Ethnologie und Psychoanalyse, der Mario Erdheim hat
das auch geschrieben, dass da eine große Verwandtschaft ist, weil beide
beschäftigen sich mit dem Fremden, dem inneren Fremden und dem äußeren
Fremden. Und dass die Methoden eigentlich sogar ähnlich sein können: Zuhören
dem Anderen in der Ethnologie und Zuhören dem Anderen in der Psychoanalyse.
Gleichzeitig das Augenmerk auf beides richten: auf die fremden kulturellen Inhalte
aber auch auf die Psychodynamik, die gleichzeitig abläuft. Und verstehen wollen die
Bedeutung, die das psychisch kriegen kann, was da kulturell geformt ist und geformt
wird.
Autorin
Und was – so Parins Verständnis von Psychoanalyse – unabhängig vom Ort ihrer
Theoriebildung, also Wien, Europa, für alle Menschen gültig sein soll. Was er mit
seinem Team zeigen konnte:
O-Ton Parin (2006)
Unsere erste Frage war es: Gilt das, was so deutlich in der mitteleuropäischen Kultur,
eigentlich im Wien der Jahrhundertwende entstanden ist, für Menschen, die ganz
anders sich entwickelt haben, anders erzogen worden sind, in traditionellen
Kulturen? Nach der dritten Afrikareise haben wir die Frage beantwortet: Ja, es gilt
auch. Man muss ganz wenig erweitern die Freud’sche Theorie, sonst gelten diese
Erklärungen, die Freud gefunden hat für die unbewussten Anteile an der Kultur
durchaus auch für andere Völker.
Atmo
Autorin
Bei den Dogon in Mali und bei den Agni in der Elfenbeinküste machte sich das Trio
Parin / Morgenthaler auf die Suche nach Erkenntnissen, etwa über Familien- und
Clanstrukturen, zwischenmenschliche Beziehungen und ihre Gestaltung,
Erziehungsmuster, Traditionen und Mythen und wie diese auf das Unbewusste des
Individuums einwirken und es prägen. Und – für Psychoanalytiker gleichermaßen
9
bedeutend: wie sie das für sie Fremde in ihrem eigenen Unbewussten so
verarbeiten, dass es den Kontakt nicht behindert. Sie bezeichneten sich selbst als
Touristen mit den Ohren. Parins Credo:
Sprecher 1
Der Sinn der Untersuchung ist der, Afrikaner so zu uns sprechen zu lassen, wie sie
selber fühlen und denken, und sie dabei zu verstehen.
Atmo
Autorin
Nur ein 8-mm-Film über das Dorfleben der Agni in Bébou ist noch als Dokument
einer Reise von 1966 vorhanden, wenn auch in schlechter Qualität und ohne
Kommentar. Ein entsprechender Text, eine Art nachträgliches Drehbuch, fand sich
indes in Parins Nachlass:
Sprecher 1
Das Dorf Yosso ist sechs Kilometer von Bébou entfernt. M’Basso weitere sechs
Kilometer. Die drei Dörfer zusammen sind die soziale Einheit, in der wir arbeiten. Wir
haben mit zwei Frauen und fünf Männern Gespräche nach den Regeln der
Psychoanalyse geführt. Daneben machten wir etwa 35 psychiatrische Explorationen,
nahmen 130 Rorschachtests auf – die Deutung von Tintenklecks-Bildern durch die
Probanden, machten soziologische Erhebungen und beobachteten systematisch die
Bräuche und Gewohnheiten bei der Aufzucht der Kinder. Für die psychoanalytischen
Gespräche wählten wir Personen, die gut Französisch sprachen.
Autorin
In einem neuen Vorwort einer späteren Ausgabe seines ersten Afrikabuches, Die
Weißen denken zuviel, zieht Parin ein Resumé dieser Forschungen:
Sprecher 1
Die psychoanalytische Methode kann geradeso auf Gesunde wie auf Menschen mit
10
seelischen Störungen angewandt werden. In täglich wiederholten einstündigen
Gesprächen und mit der besonderen Art, solche Gespräche zu führen, die man
psychoanalytische Technik nennt, ist es oft möglich, das Innenleben eines Menschen
in wenigen Wochen kennenzulernen. Die Deutungen, die ein Mensch den
Farbkleksen auf den zehn Kartontafeln des Rorschachtests gibt, lassen Züge seiner
Persönlichkeit erraten, die sonst nur eine lange Bekanntschaft und eine vertiefte
Beobachtung enthüllen würden.
Autorin
Auf diese Weise stellte Parin im Kulturvergleich Ähnlichkeiten bei psychischen
Krankheiten zum Beispiel bei der Depression fest – und korrigierte
Fehlinterpretationen aus westlichem Blickwinkel:
O-Ton Parin (2006)
Ein depressiver Zustand bei Europäern, Amerikanern, geht immer mit
Schuldgefühlen einher. Dann hat man daraus geschlossen, die gelehrte europäische
Psychiatrie, die armen Afrikaner haben keine Depressionen, weil sie keine
Schuldgefühle haben. Nun gibt es Gesellschaften wie die Agnis und die anderen
Akanvölker, die darüber wachen, dass sich bei einem Menschen keine
Schuldgefühle entwickeln. Sie haben traditionell einen Glauben, wenn ein Mensch
von einem bösen Rind, Stier oder Kuh verfolgt wird, ist das ein Zeichen, dass er
Gefahr läuft, sich schuldig zu fühlen. … Die haben eine Art psychologisches
Verfahren entwickelt, während die europäische Psychiatrie kurzschlüssig
geschlossen hat, sie haben keine Depressionen, weil die Schuldgefühle bei uns in
der Regel zu einer depressiven Verstimmung dazugehören. Sie haben natürlich
Depressionen, nur in einer etwas anderen Form.
Autorin
Damit erbrachte das Trio erstmals den Nachweis, dass sich die Psychoanalyse als
Forschungsmethode praktisch und theoretisch eignet, auch das Denken und
Handeln von Menschen einer nicht westlichen Kultur nachvollziehen und – mit
Abstrichen – verstehen zu können. Die Ergebnisse sind unter anderem in dem
berühmten Buch von 1963 mit dem Titel Die Weißen denken zuviel nachzulesen:
11
O-Ton Parin (2006)
Im Zusammenhang, wo es zitiert wurde, war es ein afrikanischer Dorfchef, der dem
Fritz Morgenthaler gegenüber gesagt hat: Die Weißen denken zuviel, weil sie immer
mehr an das Geld denken und wenn sie Geld haben, denken sie noch mehr an das
Geld. Dann kommen sie gar nicht mehr dazu, richtig zu leben. Natürlich denken sie
auch zuwenig, denn es ist ihnen sehr schwer möglich, sich in andere Lebensformen
hineinzudenken.
Autorin
Die Wahl dieses Ausspruchs als Buchtitel sollte, so Parin, die eurozentristische Sicht
auf die „anderen“ in Frage stellen. Im Gespräch auf Augenhöhe hörte Parin zu und
verband in seiner Forschung Elemente der Psychoanalyse, der Ethnologie, der
Soziologie und Kulturgeschichte. Maja Nadig fasst den Forschungsansatz Paul
Parins zusammen:
O-Ton Nadig
Er war sicher kein klassischer Ethnologe, der versuchte, so das Typische der Dogon
und das Typische der Agni herauszuarbeiten, sondern im Gegenteil: er versuchte,
das, was typisch erschien, als eine Funktionsweise aufzuschlüsseln, als eine
Überlebensstrategie auch, die sich manchmal verfestigt in kulturellen Bräuchen, die
dann wieder zurückwirken auf das Individuum. Insofern hatte er immer eine extrem
dynamische Blickweise gehabt auf das Fremde, auf die Fremden in Afrika. Nicht den
Blick des Weißen von oben nach unten, typisierend und kategorisierend. Das hat
sicher auch das psychoanalytische Denken gefördert. Er hat immer gesucht den
Menschen, den Kontakt zum anderen. Insofern ist er Persönlichkeiten begegnet, die
er versuchte, zu verstehen und nicht nur Repräsentanten von Kulturen.
Sprecher 1
Von den Agni an der Elfenbeinküste heißt es, ihnen fehle ein Zeitgefühl. Tatsächlich
haben sie ein Zeitgefühl, es ist nur ein anderes als das unsrige. Sie kennen den
Wochentag ihrer Geburt, nach dem Knaben ihren Vornamen erhalten. Eine junge
12
Mutter meint sechs Wochen nach der Geburt, ihr Jüngstes sei sechs Monate alt. Im
ewig gleichen Licht des Regenwaldes nahe dem Äquator ist eine Jahreszeit wie die
andere. Es gibt kein Register, in dem das Jahr der Geburt aufgezeichnet ist.
Jahreszahlen haben keinerlei Bedeutung. Vergangenheit heißt „vorgestern“ oder „viel
früher“, die Zukunft „morgen“ oder „übermorgen“. Auch mir rücken, wie den Agni,
Ereignisse, die Jahre oder Jahrzehnte auseinander liegen, zusammen und gehören
in einen Rahmen, der sie mit neueren Erfahrungen verbindet.
Zeit und Raum sind in unserem Denken objektive, physikalische Begriffe, von denen
wir ableiten, ob etwas real, wirklich, ist oder nicht. Sehr alte Menschen befinden sich
gleichsam auf einer Reise in ein Land, in dem diese Definition der Realität nicht gilt.
Sprecher 3:
Nähe und Distanz - Wahn und Wirklichkeit
Autorin
Diese Art zu denken und sich auf den Anderen einzulassen, die Parin, Parin-Matthèy
und Morgenthaler praktizierten, nahm bereits viele Ideen und Ansätze postkolonialer
Theorie vorweg.
Sprecher 3
Die geht davon aus, dass sich Kulturen, nicht zuletzt durch Migration, Flucht und
Vertreibung, immer in Bewegung und in Veränderung befinden. Längst seien
Anschauungen überholt, die von klar abgrenzbaren kulturellen Einheiten, zum
Beispiel Ethnien oder Nationen, ausgehen. Mit jeweils angeblich eigenen
charakteristischen Merkmalen.
Autorin
Parin dachte postkolonial als noch viele Staaten der Welt unter Kolonialherrschaft
standen und die Ethnologie noch „Völkerkunde“ genannt wurde. Nicht nur die
Weißen Herren in Afrika und Ozeanien, auch namhafte Völkerkundler waren vielfach
gefangen in einem Bewusstsein, das zwischen sogenannten Hoch- und
13
Primitivkulturen unterschied, zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften.
Die einen innovativ, fortschrittlich, die anderen stagnierend, rückständig. Christian
Maier, Psychiater und Psychoanalytiker in Bonn, schätzt Paul Parin ebenfalls als
Vorkämpfer für eine fortschrittliche Ethnopsychoanalyse.
O-Ton Maier
Ich habe Paul Parin kennengelernt als meinen Supervisor während der
psychoanalytischen Ausbildung, und er war derjenige, der mich in zweierlei Hinsicht
sehr beeindruckt hat: das erste, und das geht eigentlich immer unter, ist dass er ein
ausgesprochen wohlwollender Mensch war. Seine Interventionen, die Deutungen,
die er machte als Analytiker, und das ist auch heute noch fast selten, waren so, dass
der Patient sich eigentlich sehr angenommen und verstanden gefühlt hatte.
Autorin
Maier erinnert an eine Begebenheit aus einer Zeit, Anfang der 1970er-Jahre, in der
von inter- und transkultureller Psychotherapie und Psychiatrie, heute im engen
Verbund mit Migrations- und Exilforschung, noch nicht die Rede war.
O-Ton Maier
Als der Paul Parin seine Arbeiten über die Agni vorgetragen hatte in Zürich, in einem
Vortrag, da saß Manfred Bleuler im Zuhörersaal. Manfred Bleuler ist in den 80erJahren einer der drei großen Schizophrenie-Forscher überhaupt in der Welt
gewesen. Und Paul Parin hat seine Ergebnisse vorgetragen von den Agni, die ja
sehr viel projizieren und auch ein Hexenparanoid haben. Die stellen sich vor, dass
draußen Hexen sind, es können auch Frauen im Dorf sein. Die Agni und die
Trobriander, die haben beide so eine Hexenvorstellung. Paul hatte seinen Vortrag
beendet, und Manfred Bleuler stand auf und sagte: Ich weigere mich zu glauben,
dass alle Agni schizophren sind. Womit er sagen wollte, er bezweifle, dass die
Berichte von Paul zutreffend seien. Da macht Manfred Bleuler den typischen Fehler
des europäischen Psychiaters: er überträgt die diagnostischen Kategorien, die für die
westliche Welt gelten, auf diese Völker.
14
Autorin
Christian Maier weiß aus seiner Praxis als Analytiker und Psychiater, dass solche
Befunde über angebliche Wahnvorstellungen nach wie vor ihre Gültigkeit haben.
Zum Beispiel in der Arbeit mit Migranten und Flüchtlingen:
O-Ton Maier
Wenn Sie z. B., was heute wirklich vorkommt, in Deutschland einen Afrikaner
psychoanalytisch behandeln, dann helfen mir z. B. die Agni-Bücher vom Paul sehr,
weil dort nämlich etwas ganz ähnliches vorkommt und beschrieben wird, was eben
sich auch noch bei den jetzigen jungen Afrikanern zeigt: nämlich bei Angst
verfolgende Gestalten in der Außenwelt zu entdecken. Wenn man das tatsächlich
diagnostiziert nach westlichen, deutschen Kategorien, hätte der Mann eine
Psychose. Was überhaupt nicht stimmt.
Autorin
Wie Maier selbst bei den Trobriandern im westpazifischen Papua-Neuguinea
erforschen konnte:
O-Ton Maier
Bei den Trobriandern ist es so, da fliegen dann die Hexen nachts herum, die gucken
auf Leute, die nicht richtig achten, und die werden dann auch bestraft, durch Hexerei
etc. Die Hexen sind immer mächtiger als die mächtigsten Zauberer. Die Zauberer
sind männlich, die Hexen weiblich. Es ist eine matrilineare Gesellschaft. Die Hexen
sind eigentlich ein regulierendes System, das darauf achtet, dass die Regeln
eingehalten werden. Wenn man da eine Psychose diagnostizierte, läge man völlig
falsch. Gleichzeitig gibt es trotzdem auch Psychosen auf Trobriand. Und zwar sagen
die dann: der oder die Betreffende ist long-long. Das ist der Papua-Ausdruck für
verrückt. Das ist, wenn jemand verwirrt ist und Gedanken hat, die überhaupt nicht zu
dieser Gruppe passen. Bei uns ist ja auch ein Wahn eine Privatwirklichkeit, die der
Betreffende hat, die nur dieser Einzelne teilt. Während, wenn ein Kollektiv bestimmte
Glaubens- oder Vorstellungen hat und daran festhält, dann ist es ja kein Wahn. Man
könnte sogar so weit gehen, manche religiösen Verbindungen so einzuschätzen.
15
Autorin:
Christian Maier hat vor allem auf Papua-Neuguinea, in Thailand, Sumatra und Burma
einschlägige Erfahrungen mit fremden Kulturen gemacht. Seine Erlebnisse bei den
Trobriandern hat er 1996 in dem Buch Das Leuchten der Papaya veröffentlicht.
O-Ton Maier
Es war eine ganz merkwürdige Situation. Zuerst, das ist in ganz Melanesien üblich,
man wird gefragt, woher kommst du, was wachsen für Früchte in deiner Region,
kennst du die und die Frucht von uns hier, etc. Dann sagte der Dorfchef: ‚Du kannst
bei mir in der Hütte schlafen.‘ Da war ich ganz aufgeregt, denn das waren noch die
richtigen Trobriander, sahen noch aus wie die Fotos, die in Malinowskis Büchern
sind. Ich konnte vor Aufregung nicht schlafen. Da kamen plötzlich, so gegen
Mitternacht, vier Männer herein, setzten sich vor mich hin, ich richtete mich auf, da
auf meiner Liege. Dann sagte der eine nur: ‚Kannst du uns Fußball lehren?‘ Da war
ich ziemlich platt, ich hab als junger Mann tatsächlich Fußball gespielt aber schon
etliche Jahre nicht mehr, aber ich kann euch, wenn ihr wollt, morgen trainieren. Dann
hab ich mit denen trainiert, und dann wollten sie mich nicht mehr von der Insel
lassen.
Autorin
Maier nahm dieses Ansinnen sehr ernst, denn damit vermochte er die kulturelle Kluft
zwischen sich und den Inselbewohnern gut zu überbrücken. Zwei Jahre lang
trainierte er bei einem Bonner Fußballverein und kehrte dann zu den Trobriandern
zurück. Im Vorwort zu Maiers Buch schreibt Paul Parin:
Sprecher 1
Für einen Forscher der Ethnopsychoanalyse kann es keine bessere Gelegenheit
geben, mit Menschen einer fremden Kultur in den intensiven Dialog einzutreten, als
wenn sie seine Anwesenheit wünschen und er für das, was er an Erfahrungen aus
ihrer Gemeinschaft mitnehmen wird, im Austausch selber etwas hergeben, ihnen
etwas Wertvolles bringen kann, in diesem Fall: Fußballtraining. … War es einem
16
Europäer, einem Psychoanalytiker, einem mit den nötigen ethnologischen
Kenntnissen ausgestatteten Arzt möglich, das Leben und die Gesellschaft der
Trobriander endlich „von innen her“ zu sehen? Ja und nein. Natürlich behielt Maier
seinen Blick „des Fremden“; „verstand“ also Trobriander, von außen auf sie
schauend. Gleichzeitig nahm er aber an kulturellen Geschehen teil, das
gleichermaßen zu seiner und zu ihrer Kultur, zum emotionell bedeutsamen Leben
ihres Volkes gehörte und Teil seines eigenen Lebens als junger Mann in
Deutschland gewesen war. Die Fußball-Kultur ist dem Prinzip des Tausches
vergleichbar.
Atmo
Autorin
Manche Analytiker sind über Umwege zu Parin gekommen, zum Beispiel Gerhard
Kubik aus Wien. Mit gerade mal zwanzig Jahren durchquerte Kubik zunächst Europa
und später als Musikethnologe und Kulturanthropologe vor allem afrikanische
Länder. Sein anthropologisches Hauptinteresse gilt der Erforschung individueller
Ausdrucksformen: Musik, Initiationsriten, Tabus, Mythen. Dabei hatte er immer auch
den Kulturkontakt zwischen Europäern und Afrikanern bzw. deren einst als Sklaven
nach Brasilien und in die USA verschleppten Nachkommen im Fokus. Und er
bediente sich auch der psychoanalytischen Methode und Technik. Parins Werke las
der heute 82-Jährige zunächst sehr kritisch:
O-Ton Kubik
Mein erster Kontakt mit den Schriften von Paul Parin war im Januar 1964. Das Buch
war neu, „Die Weißen denken zu viel“. Damals war meine Reaktion zunächst sehr
negativ. Ich hab gesagt: übelster Kolonialismus. Ich war gerade in der Zeit
sozusagen Fighter, ich war in fighting mood gegen diese ganzen Europäer, die sich
da etabliert hatten. Ich sagte, dass man eine ethnische Gruppe gegenüberstellen will
dem europäischen Denken einerseits und dem afrikanischen Denken andererseits,
damit war ich nicht einverstanden.
17
Autorin
Seit Ende der 1970er-Jahre arbeitet Gerhard Kubik hauptsächlich in einem
Forschungszentrum in Malawi. Damals wollte er anders als die Parins vorgehen:
O-Ton Kubik
Ich hatte einen ganz anderen Ansatz in dem Sinn, dass ich eigentlich keinen
wesentlichen Unterschied fand zwischen den Leuten in Afrika und mir. Das ist ganz
persönlich gewesen. Dieser Fremdheitsbegriff in Europa ist ja pauschal. Fremde sind
die, die eine andere Sprache sprechen, angeblich haben sie eine andere Mentalität.
Ich kann wissenschaftlich keinen Beweis dafür finden. Ich bin davon ausgegangen,
jemandem zu begegnen, der oder die ähnliche Interessen hat wie ich und eine
ähnliche Anschauung usw. Solche Personen habe ich in jeder Gesellschaft
gefunden.
Musik
Autorin
Wenn die Ethnologie eine Wissenschaft vom kulturell Fremden sein soll, so Kubiks
Kritik Jahrzehnte später, werde damit zugleich eine hierarchische Trennungslinie
zwischen den Kulturen der Welt gezogen, unterteilt und festgeschrieben in Insider
und Outsider. Transkulturelle Prozesse, also Entwicklungen durch Überlagerungen
und Vermischungen quer durch verschiedene Kulturen, würden ausgeschlossen.
Das „Eigene“ und das „Fremde“ sei nichts weiter als ein Konstrukt, das die
gegenwärtige Bedrängnis des europäischen EGO vorzüglich beschriebe, erläutert
Gerhard Kubik in einem 2009 erschienenen Fachbeitrag.
Sprecher
Viele junge Forscher gehen dann ins Feld mit der Vorstellung, dort dem Fremden zu
begegnen oder irgendwelchen Identitäten und Strukturen mit der schicken
Verpflichtung, sich ihm doch annähern zu müssen oder gar in einen Dialog mit ihm
einzutreten. Dies sind nur einige der vielen Prämissen, mit denen schon ein
Initialklima überheblichen Besserwissens geschaffen wird.
18
Autorin
Und postkoloniales Denken durch eine solche Festschreibung eines
unveränderlichen Eigenen und Fremden als Bedrängnis empfunden werden müsste.
Schließlich ist es gerade dessen Anliegen, der Legitimierung von Hierarchien der
Macht und entsprechenden Übergriffen den Boden zu entziehen. Auch Paul Parin
konnte feststellen, dass psychische Prozesse in afrikanischen Gesellschaften zwar
andere Ausdrucksweisen haben, im Prinzip aber allgemein menschliche
Eigenschaften aufweisen. Maja Nadig:
O-Ton Nadig
Mich hat es immer besonders beeindruckt, wie er auch mit dem Hexenglauben
umging, der in den Gesprächen mit den Dogon und Agni auftauchte oft als eine
Stimme, die auch das Verhalten leitet. In seinem Buch kann man nachvollziehen, wie
er die Vielschichtigkeit der Situation und den Kontext, in dem die Hexenerwähnung
auftauchte, alles gleichzeitig beachtet hat. Also: was war das Thema, was war der
Konflikt, in dem der Erzählende gerade stand, mit dem Schwiegervater und der Frau,
und dem Rivalen usw. Und was für Festivitäten sind im Dorf gerade gewesen mit
Todesritualen usw. Daraus konnte Paul langsam verstehen, welche psychische
Funktion der Hexenglauben übernimmt und was für Konflikte besänftigt werden
konnten durch die Delegation von Aggression, zum Beispiel auf die Hexe oder durch
die Projektion von eigenen heftigen Rivalitätsgefühlen auf die Aktionen der Hexe. So
hat er auch Hexen-Rituale begleitet. Und einmal hat er auch einen Hexer besucht
und sehr schön analysiert, wie der ihn empfängt und wie der Hexer versucht, sich als
Spezialist zu stilisieren, also ein ganz besonderer Mann, und wie der Paul ihn
schließlich verführt zu einem ganz normalen Gespräch unter zwei Spezialisten, die
sich austauschen und am Schluss sich fast wie Freunde trennen.
Sprecher 1
Bei Man im Westen der Elfenbeinküste erhebt sich der Berg Tonkoui, den ich Nimbia
nenne. Der Berg ist dicht bewaldet bis hinauf zu den Felsen, die ihn krönen. Der
Blick, der an der grünen Wand stumpf geworden ist, bricht durch die Lücken und
Spalten der üppigen Kronen. Farben, Schluchten und Gipfel tauchen aus dem Dunst,
19
die Luft wird leicht, rote Blüten zittern im Windhauch, und der große Nashornvogel
schwingt sich im Wippflug über den Weg.
In der Walpurgisnacht tanzen die Hexen auf dem Brocken im deutschen Harz. Um
den Berg Nimbia, der aus dem Regenwald ragt, dreht sich in zeitlosen tropischen
Tagen und Nächten der Tanz schwarzer und brauner Gestalten. Sie mischen sich mit
den Ängsten und Sehnsüchten der Fremden, die müde von schwüler Pflanzendichte
hier gelandet sind, weiße Götter und weißliches Strandgut. Aus morschen Stämmen
alter Mythen sprossen gleich Orchideen die neuen Märchen.
Musik
Sprecher 3
Die Macht der Verhältnisse
Autorin
Längst hat sich die Ethnopsychoanalyse vom Exotik-Nimbus verwegener
Abenteuerreisender emanzipiert. Aber auch davon, Erklärungsmodelle für viele
Fragen liefern zu müssen, von deren Beantwortung das Schicksal der Menschheit
abhängig zu sein scheint. Etwa: Warum Krieg? Worüber sich bereits Sigmund Freud,
mitten im Ersten Weltkrieg, 1915, schon vergeblich den Kopf zerbrach, unter
anderem im Briefwechsel mit Albert Einstein. Warum handeln Menschen gegen ihre
eigenen Interessen?
Sprecher 1
Die Ethnopsychoanalyse betreibt eine Aufklärung, die den Wirkungen der
Machtverhältnisse nachgeht. Sie lehnt es ab, einer Ideologie zu dienen, die die
Macht freispricht, indem sie ihre Opfer psychologisch anklagt.
Autorin:
Was bleibt von einem derartigen Aufklärungsanspruch? Vom herrschaftskritischen,
von Freud und Marx inspirierten Denkansatz eines Paul Parin, vom anarchistischen
20
Querdenken einer Goldy Parin-Matthèy? Sie starb 1997, er im Jahr 2009. Was bleibt
von ihren konkreten Vorstellungen einer anderen, freieren Kultur und Gesellschaft,
die keinen mehr erdrückt? Stimmen wie die ihren zu brennenden Zeitfragen lassen
sich heute aus Psychoanalytikerkreisen weltweit kaum vernehmen.
Sprecher 3
Umso mehr sind ethnopsychoanalytische Erfahrungen und Methoden und auch eine
Parin’sche Gesinnung in der psychosozialen Beratungsarbeit mit Vertriebenen und
Immigranten gefragt. In der klinischen Praxis vor allem bei der
psychotherapeutischen Behandlung von Migranten und Asyl-Suchenden mit
psychischen Beeinträchtigungen.
Autorin
Im Gespräch in Zürich 2004 mäßigte Paul Parin allzu große Erwartungen an die
Ethnopsychoanalyse. Sie sei eben vor allem eine Grundlagenforschung:
O-Ton Parin (2004)
… einen Einfluss auf den Gang der Organisation menschlicher Verhältnisse hat es
noch nicht genommen und da kann man nicht psychoanalytisch, sondern
wirtschaftlich sagen: die Ökonomie, die Wirtschaft, hat sich noch nicht untergeordnet
den neuen Einsichten, unter denen auch die psychoanalytisch erforschten
unbewussten Antriebe, eine solche Politik zu betreiben, längst bekannt sind.
Durchgesetzt haben sie sich nicht. Man kann ganz gut mit einem Zitat aus einem
Brief von Freud antworten, als er gedrängt war zu sagen, man wisse doch jetzt alles,
wie das entstanden ist, in der Seele des Menschen, ob sich das nicht endlich in eine
friedliche, auf die Zukunft hin orientierte Gesellschaft auswirken werde, hat Freud
geantwortet, ich weiß es fast wörtlich: Gewiss ist der Fortschritt, die Kenntnisse über
die Seele des Menschen, wichtig. Wir sollten für eine menschenfreundliche Politik
längst gerüstet sein, doch Gottes Mühlen mahlen auch da langsam. Wir wissen nicht,
ob wir nicht längst verhungert sind, bis wir das Mehl, um uns zu ernähren, erhalten
haben.
21
Autorin
Parins Laudatorin bei der Vergabe des Erich-Fried Preises 1992, Christa Wolf,
bewertete Paul Parins Werk deutlich einflussreicher:
Sprecherin 2
Er, der sich scherzhaft einen „moralischen Anarchisten“ nennt, möglichst wenig
Macht institutionalisiert sehen will, bleibt, als einem Gebot „radikaler Menschenliebe“,
seiner dickköpfigen Überzeugung treu, dass es sich lohne, durch den
Zusammenschluss Gleichgesinnter, durch Zivilcourage, unerschrockenes, an die
Wurzeln der Widersprüche und Konflikte gehendes Denken „Inseln von Vernunft in
einer irrsinnig selbstgefährdeten Welt“ zu schaffen. – Übrigens: Was sollte man denn
sonst auch tun?
Sprecher 1
Über das „Eigene“ und das „Fremde“
Lernen vom Ethnopsychoanalytiker Paul Parin
Ein Feature von Ursula Rütten
Es sprachen:
Renate Fuhrmann, Thomas Pohn, Matthias Hase, Ilse Strambowski und Martin
Schaller
Ton und Technik: Michael Morawietz und Roman Weingardt
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion: Birgit Morgenrath
Sie hörten eine Sendung des Deutschlandfunks 2016.