1 Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Über das „Eigene“ und das „Fremde“ Lernen vom Psychoanalytiker Paul Parin Autorin: Ursula Rütten Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Dienstag, 20. September 2016 , 19.15 Uhr Autorin: Renate Fuhrmann Christa Wolf: Ilse Strambowski Parin: Thomas Pohn Maier: Martin Schaller Fakten: Matthias Hase Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - 2 Musik/Atmo O-Ton Parin (Telefon) Parin, Salut Maja. Wie geht’s dir? Autorin: Paul Parin in seiner Wohnung am Utoquai 41 in Zürich im Jahr 2004. Wie üblich beim Schreiben und im Gespräch mit einer Kollegin. Der weithin bekannte Schweizer Psychoanalytiker, Pionier der Ethnopsychoanalyse und Schriftsteller hatte großen Einfluss auf die Politisierung der Psychoanalyse und auf die 68erStudentenbewegung. O-Ton Parin (2004) Es hat jedes Volk die Tendenz, die eigene Identität, ihr So-Sein dadurch zu markieren, zu legitimieren, zu bestätigen, dass die Fremden anders sind und häufig minder. Auch in Europa, in unseren Kulturen weiß man, dass besonders die Nachbarn, die sich ein wenig unterscheiden, immer spöttisch oder auch ernster, als minderwertig angesehen werden. Gut, das ist eine sozialpsychologische Erscheinung, die dient zur Identitätsfestigung und zur Abgrenzung. Sprecher 3 Über das „Eigene“ und das „Fremde“ Lernen vom Ethnopsychoanalytiker Paul Parin Ein Feature von Ursula Rütten O-Ton Parin (2006) Wir haben die Ethnopsychoanalyse nicht erfunden, aber als erste als Methode angewandt. Autorin WIR hat Paul Parin immer gesagt, wenn es um sein wissenschaftliches Vermächtnis ging. Und darum, dieses Wissen zu vermitteln: im Sinne radikaler Aufklärung, politisch engagiert, für den Kampf gegen verinnerlichte Unterdrückung und gegen 3 herrschende Verhältnisse, gegen Verhältnisse von Herrschaft. WIR, das waren er und Goldy Parin-Matthèy, seine geistes- und seelenverwandte Lebenspartnerin, fast 60 Jahre lang. O-Ton Goldy (1995) Es geht eigentlich über das Ich-Ideal, über die gleichsinnigen Wünsche und Ziele. Es ist nicht Er, der Große, der mich also so beschützt - natürlich tut er das, aber es ist vielmehr gemeinsam etwas zu unternehmen, wir haben alles gemeinsam gemacht, das ist das wirklich Bindende. Autorin Gemeinsam für eine Psychoanalyse als Fortsetzung der Guerilla mit anderen Mitteln. So eigenwillig definierte Goldy Parin-Matthèy ihre Wissenschaft. Und diesen Anspruch löste sie in ihrem Leben ein. In ihrem Beruf und als Persönlichkeit: mit Aktivismus und Kampfgeist, mit subversivem, gegen Erstarrung und mechanistische Anpassung gerichtetem Eifer. Eine bekennende Anarchistin. Sprecher 3 Nach einem Medizinstudium in Graz, Zagreb und Zürich, hatte der 27-jährige Paul die Röntgenlaborantin Elisabeth Charlotte Matthèy-Guenet in Zürich kennengelernt. Sie war gerade von ihrem Dienst in einer Sanitätseinheit der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg zurückgekehrt. Gemeinsam mit ihr und ihrem Bruder meldete sich der promovierte Chirurg Paul Parin 1944 zu einer freiwilligen Ärztemission in der von Tito angeführten Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee. In seinem viereinhalb Jahrzehnte später erschienenen Buch Es ist Krieg und wir gehen hin schreibt Parin: Sprecher 1 Goldy und ich hatten, bevor wir uns 1939 trafen, jeder für sich und seitdem zusammen versucht, unsere Utopie zu entwerfen. Die gegenwärtige Lage sollte durchschaubar werden, und wir wollten die Gesellschafts- und Weltordnung verstehen, die in die Kriegskatastrophe führte. Es war damals einfach zu sehen, dass 4 Geschichte nicht passiert, (sondern) dass sie gemacht wird. Aus der dialektischmaterialistischen Theorie, aus unseren Erfahrungen und aus einer höchst persönlichen kritischen Einstellung war das entstanden, was Goldy ihren Anarchismus und ich meinen kritischen Sozialismus nannte. Autorin Beider Rüstzeug um bewusst an einem Stück revolutionärer Geschichte teilzunehmen. Solange, bis sich mit dem Ende des bewaffneten Kampfes auch die Utopie einer neuen Gesellschaft freier, gleichberechtigter, mündiger Bürger verlor und die Brüdergemeinde der Partisanen zerfiel. Sie musste am erneuten Gefälle von Macht und Herrschaft scheitern. Sprecher 1 Brüderliche Solidarität war für uns der Gegensatz zu hierarchischer Organisation. Wir waren diszipliniert, wenn wir selber es für richtig hielten; jeder Befehl verletzte unsere Würde. Wir fühlten uns als Weltbürger, solidarisch mit allen, die unterdrückt und ausgebeutet werden. Deshalb war für uns jede Heimat zu eng und die Verpflichtung auf eine Linie eine Fessel. Autorin Zurück in Zürich entstand eine neue Gemeinschaft. „WIR“ – das war auch der enge Freund und Kollege der Parins, Fritz Morgenthaler. Alle drei waren ausgebildete Psychoanalytiker. O-Ton: Goldy Nur wir, das beste Wort dafür ist ... Brüdergemeinde, das heißt, dass man ganz sicher weiß, dass man sich auf den anderen verlassen kann,. Autorin So auch beim intensiven Zusammenleben und -arbeiten der Parins mit Fritz 5 Morgenthaler und dessen Frau Ruth ab 1954. Ebendort, am Utoquai 41, in einer weiträumigen Parterrewohnung mit Blick auf den Zürichsee. In der Küche traf sich die Kommune auf ein gutes, meist von Goldy zubereitetes Nachtmahl, einen guten Rotwein und diskutierte im Dunst schwarzer, filterloser Zigaretten über alles Weltbewegende. Auch die heute 70-jährige Maja Nadig, Schweizer Ethnologin, erinnert sich an viele gemeinsame Stunden. Ihr Interesse gilt insbesondere der Kultur und der Situation von Frauen, aktuell in China. O-Ton: Nadig Es ging immer um so eine bestimmte Sicht auf die Welt, die da entstanden ist. Der Paul hatte ja so eine Art dreifachen Blick auf die Welt, finde ich. Einerseits als jüdisches Kind, wo man mit Skepsis auf alles guckt, was draußen läuft, und weiß, die sind auch gegen uns. Und andererseits auch als Psychoanalytiker, dass er auch immer die unbewussten Mechanismen gesehen hat. Und irgendwie auch immer das Kulturelle hat er immer sehr stark in Betracht gezogen. Goldy war durch ihre anarchistische Geschichte sehr stark mit einem bestimmten politischen Blick guckend, der kam dann immer noch dazu. Das war sehr, sehr erheiternd und erleichternd, immer wieder alles, was etabliert war, aufbrechen zu sehen in diesen Gesprächen. Es entstand eine Art Leichtigkeit: die Verhältnisse müssen nicht so sein, wie sie sind. (.) Es war immer eine Gruppe, diese Brüdergemeinde, wie Goldy immer sagte. Das ist schon eine bestimmte Form des sozialisierten Denkens und nicht des elitären Denkens. Sprecher 3 Die Schriftstellerin Christa Wolf charakterisierte in ihrer Laudatio auf Paul Parin anlässlich der Verleihung des Erich Fried-Preises 1992 die „Brüdergemeinde“ als „ein konstituierendes Element in Parins Leben und Werk“. Sprecherin 2 Die brüderlich-schwesterlich miteinander verbundene Gruppe Gleichgesinnter, Gleichberechtigter, die gemeinsam „zugunsten besserer Verhältnisse“ kämpfen – 6 gegen den Faschismus – und arbeiten: als Ärzte bei den jugoslawischen Partisanen, als Psychoanalytiker in Zürich, als Ethnopsychoanalytiker in Afrika: dies ist der praktisch harte Kern von Parins Utopie. Sprecher 1 Wenn wieder einmal alles kaputt ist, wofür wir gekämpft haben, kommen wir uns überflüssig vor. Das ist jedem der unseren schon mehrmals passiert. Autorin sinniert Paul Parin in seinem Buch mit dem programmatischen Titel Es ist Krieg und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen. Es erschien ein Jahr vor Verleihung dieses österreichischen Literaturpreises. Sprecher 1 Es gibt einen Trost für die, denen es um ein besseres Leben der Menschen geht: Wirklich überflüssig sind sie nicht, die Arbeit wird ihnen nicht ausgehen, man braucht sie und wird sie bald wieder brauchen. Der „Neue Mensch“, auf den es doch ankommt, wird nicht so bald entstehen und schon gar nicht ohne uns. „Hoffnung – aktiv werdende Unzufriedenheit“, schreibt Ernst Bloch. Oder sind die, die nicht aufgeben, die auf ihre Utopie gar nicht verzichten können, sind vielleicht sie alle – ohne dass sie es wissen – bereits die Neuen Menschen? Sprecher 3 Gesellschaftsanalyse im Deutungsprozess - Das innere und das äußere Fremde Autorin Für die Freigeister erwies sich die in vielen Tabus, Restriktionen und in Geschichtsklitterung erstarrte Nachkriegs-Schweiz bald als schwer erträglich. Sie brachen auf und unternahmen zwischen 1955 und 1971 sechs Forschungsreisen nach Westafrika. Dort meinte Parin ein Stück Utopie gefunden zu haben: 7 Sprecher 1 Während die abendländische Zivilisation unaufhaltsam die meisten anderen Kulturen unterwandert, transformiert oder zerstört, wird das Unbehagen in unserer Kultur immer unerträglicher. Man fragt sich, ob es nicht irgendwo auf der Welt bessere sozialpsychologische Lösungen gibt, als wir sie haben: eine Erziehung zu freieren, glücklicheren Menschen, die ihre Aggressionen nicht in mörderischen und selbstmörderischen Kriegen abführen, die ihre Kinder nicht opfern, ihre Erzeuger nicht hassen und ihr Liebesleben nicht verstümmeln müssen. Und man sucht nach sozialen Einrichtungen, die dem Menschen weniger Zwang auferlegen und seiner Natur angemessener sind als die unsere. Man wäre bereits für Hinweise dankbar, wie wir unsere Kinder richtiger aufziehen oder unser Verhältnis zu den Mitmenschen so bereinigen könnten, dass es nicht zu noch mehr Unglück und zum endgültigen Untergang des Menschengeschlechts kommt. Ja, es wäre schon etwas geleistet, wenn wir fremde Völker besser verstehen und wenn wir die gefährlichen Nebenwirkungen des Kulturwandels, der Europäisierung afrikanischer und anderer Völker, verhindern könnten. Autorin Schreibt Paul Parin rückblickend in einem seiner Standardwerke: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Anders als in der psychoanalytischen Therapie, wo die Neutralität der Analytiker gefordert ist, müssen die Ethnopsychoanalytiker sich in ihrer Feldforschung offen und aktiv einbringen. Nicht sie werden von Klienten um das Gespräch ersucht – sondern sie müssen umgekehrt ihnen fremde Menschen als Partner für tiefgehende Gespräche gewinnen. Diese liegen auf keiner Couch, sondern sitzen dem Forschenden gegenüber, oft unter Einbeziehung der lokalen Öffentlichkeit. Der Analytiker wird nicht für seinen Einsatz bezahlt, sondern er muss sorgsam abwägen, ob Gegenleistungen für seinen Gesprächswunsch angeboten werden sollten oder sogar erwartet werden: etwa ein Entgelt oder ärztliche Hilfe. Maja Nadig: 8 O-Ton Nadig Insofern ist diese Kombination Ethnologie und Psychoanalyse, der Mario Erdheim hat das auch geschrieben, dass da eine große Verwandtschaft ist, weil beide beschäftigen sich mit dem Fremden, dem inneren Fremden und dem äußeren Fremden. Und dass die Methoden eigentlich sogar ähnlich sein können: Zuhören dem Anderen in der Ethnologie und Zuhören dem Anderen in der Psychoanalyse. Gleichzeitig das Augenmerk auf beides richten: auf die fremden kulturellen Inhalte aber auch auf die Psychodynamik, die gleichzeitig abläuft. Und verstehen wollen die Bedeutung, die das psychisch kriegen kann, was da kulturell geformt ist und geformt wird. Autorin Und was – so Parins Verständnis von Psychoanalyse – unabhängig vom Ort ihrer Theoriebildung, also Wien, Europa, für alle Menschen gültig sein soll. Was er mit seinem Team zeigen konnte: O-Ton Parin (2006) Unsere erste Frage war es: Gilt das, was so deutlich in der mitteleuropäischen Kultur, eigentlich im Wien der Jahrhundertwende entstanden ist, für Menschen, die ganz anders sich entwickelt haben, anders erzogen worden sind, in traditionellen Kulturen? Nach der dritten Afrikareise haben wir die Frage beantwortet: Ja, es gilt auch. Man muss ganz wenig erweitern die Freud’sche Theorie, sonst gelten diese Erklärungen, die Freud gefunden hat für die unbewussten Anteile an der Kultur durchaus auch für andere Völker. Atmo Autorin Bei den Dogon in Mali und bei den Agni in der Elfenbeinküste machte sich das Trio Parin / Morgenthaler auf die Suche nach Erkenntnissen, etwa über Familien- und Clanstrukturen, zwischenmenschliche Beziehungen und ihre Gestaltung, Erziehungsmuster, Traditionen und Mythen und wie diese auf das Unbewusste des Individuums einwirken und es prägen. Und – für Psychoanalytiker gleichermaßen 9 bedeutend: wie sie das für sie Fremde in ihrem eigenen Unbewussten so verarbeiten, dass es den Kontakt nicht behindert. Sie bezeichneten sich selbst als Touristen mit den Ohren. Parins Credo: Sprecher 1 Der Sinn der Untersuchung ist der, Afrikaner so zu uns sprechen zu lassen, wie sie selber fühlen und denken, und sie dabei zu verstehen. Atmo Autorin Nur ein 8-mm-Film über das Dorfleben der Agni in Bébou ist noch als Dokument einer Reise von 1966 vorhanden, wenn auch in schlechter Qualität und ohne Kommentar. Ein entsprechender Text, eine Art nachträgliches Drehbuch, fand sich indes in Parins Nachlass: Sprecher 1 Das Dorf Yosso ist sechs Kilometer von Bébou entfernt. M’Basso weitere sechs Kilometer. Die drei Dörfer zusammen sind die soziale Einheit, in der wir arbeiten. Wir haben mit zwei Frauen und fünf Männern Gespräche nach den Regeln der Psychoanalyse geführt. Daneben machten wir etwa 35 psychiatrische Explorationen, nahmen 130 Rorschachtests auf – die Deutung von Tintenklecks-Bildern durch die Probanden, machten soziologische Erhebungen und beobachteten systematisch die Bräuche und Gewohnheiten bei der Aufzucht der Kinder. Für die psychoanalytischen Gespräche wählten wir Personen, die gut Französisch sprachen. Autorin In einem neuen Vorwort einer späteren Ausgabe seines ersten Afrikabuches, Die Weißen denken zuviel, zieht Parin ein Resumé dieser Forschungen: Sprecher 1 Die psychoanalytische Methode kann geradeso auf Gesunde wie auf Menschen mit 10 seelischen Störungen angewandt werden. In täglich wiederholten einstündigen Gesprächen und mit der besonderen Art, solche Gespräche zu führen, die man psychoanalytische Technik nennt, ist es oft möglich, das Innenleben eines Menschen in wenigen Wochen kennenzulernen. Die Deutungen, die ein Mensch den Farbkleksen auf den zehn Kartontafeln des Rorschachtests gibt, lassen Züge seiner Persönlichkeit erraten, die sonst nur eine lange Bekanntschaft und eine vertiefte Beobachtung enthüllen würden. Autorin Auf diese Weise stellte Parin im Kulturvergleich Ähnlichkeiten bei psychischen Krankheiten zum Beispiel bei der Depression fest – und korrigierte Fehlinterpretationen aus westlichem Blickwinkel: O-Ton Parin (2006) Ein depressiver Zustand bei Europäern, Amerikanern, geht immer mit Schuldgefühlen einher. Dann hat man daraus geschlossen, die gelehrte europäische Psychiatrie, die armen Afrikaner haben keine Depressionen, weil sie keine Schuldgefühle haben. Nun gibt es Gesellschaften wie die Agnis und die anderen Akanvölker, die darüber wachen, dass sich bei einem Menschen keine Schuldgefühle entwickeln. Sie haben traditionell einen Glauben, wenn ein Mensch von einem bösen Rind, Stier oder Kuh verfolgt wird, ist das ein Zeichen, dass er Gefahr läuft, sich schuldig zu fühlen. … Die haben eine Art psychologisches Verfahren entwickelt, während die europäische Psychiatrie kurzschlüssig geschlossen hat, sie haben keine Depressionen, weil die Schuldgefühle bei uns in der Regel zu einer depressiven Verstimmung dazugehören. Sie haben natürlich Depressionen, nur in einer etwas anderen Form. Autorin Damit erbrachte das Trio erstmals den Nachweis, dass sich die Psychoanalyse als Forschungsmethode praktisch und theoretisch eignet, auch das Denken und Handeln von Menschen einer nicht westlichen Kultur nachvollziehen und – mit Abstrichen – verstehen zu können. Die Ergebnisse sind unter anderem in dem berühmten Buch von 1963 mit dem Titel Die Weißen denken zuviel nachzulesen: 11 O-Ton Parin (2006) Im Zusammenhang, wo es zitiert wurde, war es ein afrikanischer Dorfchef, der dem Fritz Morgenthaler gegenüber gesagt hat: Die Weißen denken zuviel, weil sie immer mehr an das Geld denken und wenn sie Geld haben, denken sie noch mehr an das Geld. Dann kommen sie gar nicht mehr dazu, richtig zu leben. Natürlich denken sie auch zuwenig, denn es ist ihnen sehr schwer möglich, sich in andere Lebensformen hineinzudenken. Autorin Die Wahl dieses Ausspruchs als Buchtitel sollte, so Parin, die eurozentristische Sicht auf die „anderen“ in Frage stellen. Im Gespräch auf Augenhöhe hörte Parin zu und verband in seiner Forschung Elemente der Psychoanalyse, der Ethnologie, der Soziologie und Kulturgeschichte. Maja Nadig fasst den Forschungsansatz Paul Parins zusammen: O-Ton Nadig Er war sicher kein klassischer Ethnologe, der versuchte, so das Typische der Dogon und das Typische der Agni herauszuarbeiten, sondern im Gegenteil: er versuchte, das, was typisch erschien, als eine Funktionsweise aufzuschlüsseln, als eine Überlebensstrategie auch, die sich manchmal verfestigt in kulturellen Bräuchen, die dann wieder zurückwirken auf das Individuum. Insofern hatte er immer eine extrem dynamische Blickweise gehabt auf das Fremde, auf die Fremden in Afrika. Nicht den Blick des Weißen von oben nach unten, typisierend und kategorisierend. Das hat sicher auch das psychoanalytische Denken gefördert. Er hat immer gesucht den Menschen, den Kontakt zum anderen. Insofern ist er Persönlichkeiten begegnet, die er versuchte, zu verstehen und nicht nur Repräsentanten von Kulturen. Sprecher 1 Von den Agni an der Elfenbeinküste heißt es, ihnen fehle ein Zeitgefühl. Tatsächlich haben sie ein Zeitgefühl, es ist nur ein anderes als das unsrige. Sie kennen den Wochentag ihrer Geburt, nach dem Knaben ihren Vornamen erhalten. Eine junge 12 Mutter meint sechs Wochen nach der Geburt, ihr Jüngstes sei sechs Monate alt. Im ewig gleichen Licht des Regenwaldes nahe dem Äquator ist eine Jahreszeit wie die andere. Es gibt kein Register, in dem das Jahr der Geburt aufgezeichnet ist. Jahreszahlen haben keinerlei Bedeutung. Vergangenheit heißt „vorgestern“ oder „viel früher“, die Zukunft „morgen“ oder „übermorgen“. Auch mir rücken, wie den Agni, Ereignisse, die Jahre oder Jahrzehnte auseinander liegen, zusammen und gehören in einen Rahmen, der sie mit neueren Erfahrungen verbindet. Zeit und Raum sind in unserem Denken objektive, physikalische Begriffe, von denen wir ableiten, ob etwas real, wirklich, ist oder nicht. Sehr alte Menschen befinden sich gleichsam auf einer Reise in ein Land, in dem diese Definition der Realität nicht gilt. Sprecher 3: Nähe und Distanz - Wahn und Wirklichkeit Autorin Diese Art zu denken und sich auf den Anderen einzulassen, die Parin, Parin-Matthèy und Morgenthaler praktizierten, nahm bereits viele Ideen und Ansätze postkolonialer Theorie vorweg. Sprecher 3 Die geht davon aus, dass sich Kulturen, nicht zuletzt durch Migration, Flucht und Vertreibung, immer in Bewegung und in Veränderung befinden. Längst seien Anschauungen überholt, die von klar abgrenzbaren kulturellen Einheiten, zum Beispiel Ethnien oder Nationen, ausgehen. Mit jeweils angeblich eigenen charakteristischen Merkmalen. Autorin Parin dachte postkolonial als noch viele Staaten der Welt unter Kolonialherrschaft standen und die Ethnologie noch „Völkerkunde“ genannt wurde. Nicht nur die Weißen Herren in Afrika und Ozeanien, auch namhafte Völkerkundler waren vielfach gefangen in einem Bewusstsein, das zwischen sogenannten Hoch- und 13 Primitivkulturen unterschied, zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften. Die einen innovativ, fortschrittlich, die anderen stagnierend, rückständig. Christian Maier, Psychiater und Psychoanalytiker in Bonn, schätzt Paul Parin ebenfalls als Vorkämpfer für eine fortschrittliche Ethnopsychoanalyse. O-Ton Maier Ich habe Paul Parin kennengelernt als meinen Supervisor während der psychoanalytischen Ausbildung, und er war derjenige, der mich in zweierlei Hinsicht sehr beeindruckt hat: das erste, und das geht eigentlich immer unter, ist dass er ein ausgesprochen wohlwollender Mensch war. Seine Interventionen, die Deutungen, die er machte als Analytiker, und das ist auch heute noch fast selten, waren so, dass der Patient sich eigentlich sehr angenommen und verstanden gefühlt hatte. Autorin Maier erinnert an eine Begebenheit aus einer Zeit, Anfang der 1970er-Jahre, in der von inter- und transkultureller Psychotherapie und Psychiatrie, heute im engen Verbund mit Migrations- und Exilforschung, noch nicht die Rede war. O-Ton Maier Als der Paul Parin seine Arbeiten über die Agni vorgetragen hatte in Zürich, in einem Vortrag, da saß Manfred Bleuler im Zuhörersaal. Manfred Bleuler ist in den 80erJahren einer der drei großen Schizophrenie-Forscher überhaupt in der Welt gewesen. Und Paul Parin hat seine Ergebnisse vorgetragen von den Agni, die ja sehr viel projizieren und auch ein Hexenparanoid haben. Die stellen sich vor, dass draußen Hexen sind, es können auch Frauen im Dorf sein. Die Agni und die Trobriander, die haben beide so eine Hexenvorstellung. Paul hatte seinen Vortrag beendet, und Manfred Bleuler stand auf und sagte: Ich weigere mich zu glauben, dass alle Agni schizophren sind. Womit er sagen wollte, er bezweifle, dass die Berichte von Paul zutreffend seien. Da macht Manfred Bleuler den typischen Fehler des europäischen Psychiaters: er überträgt die diagnostischen Kategorien, die für die westliche Welt gelten, auf diese Völker. 14 Autorin Christian Maier weiß aus seiner Praxis als Analytiker und Psychiater, dass solche Befunde über angebliche Wahnvorstellungen nach wie vor ihre Gültigkeit haben. Zum Beispiel in der Arbeit mit Migranten und Flüchtlingen: O-Ton Maier Wenn Sie z. B., was heute wirklich vorkommt, in Deutschland einen Afrikaner psychoanalytisch behandeln, dann helfen mir z. B. die Agni-Bücher vom Paul sehr, weil dort nämlich etwas ganz ähnliches vorkommt und beschrieben wird, was eben sich auch noch bei den jetzigen jungen Afrikanern zeigt: nämlich bei Angst verfolgende Gestalten in der Außenwelt zu entdecken. Wenn man das tatsächlich diagnostiziert nach westlichen, deutschen Kategorien, hätte der Mann eine Psychose. Was überhaupt nicht stimmt. Autorin Wie Maier selbst bei den Trobriandern im westpazifischen Papua-Neuguinea erforschen konnte: O-Ton Maier Bei den Trobriandern ist es so, da fliegen dann die Hexen nachts herum, die gucken auf Leute, die nicht richtig achten, und die werden dann auch bestraft, durch Hexerei etc. Die Hexen sind immer mächtiger als die mächtigsten Zauberer. Die Zauberer sind männlich, die Hexen weiblich. Es ist eine matrilineare Gesellschaft. Die Hexen sind eigentlich ein regulierendes System, das darauf achtet, dass die Regeln eingehalten werden. Wenn man da eine Psychose diagnostizierte, läge man völlig falsch. Gleichzeitig gibt es trotzdem auch Psychosen auf Trobriand. Und zwar sagen die dann: der oder die Betreffende ist long-long. Das ist der Papua-Ausdruck für verrückt. Das ist, wenn jemand verwirrt ist und Gedanken hat, die überhaupt nicht zu dieser Gruppe passen. Bei uns ist ja auch ein Wahn eine Privatwirklichkeit, die der Betreffende hat, die nur dieser Einzelne teilt. Während, wenn ein Kollektiv bestimmte Glaubens- oder Vorstellungen hat und daran festhält, dann ist es ja kein Wahn. Man könnte sogar so weit gehen, manche religiösen Verbindungen so einzuschätzen. 15 Autorin: Christian Maier hat vor allem auf Papua-Neuguinea, in Thailand, Sumatra und Burma einschlägige Erfahrungen mit fremden Kulturen gemacht. Seine Erlebnisse bei den Trobriandern hat er 1996 in dem Buch Das Leuchten der Papaya veröffentlicht. O-Ton Maier Es war eine ganz merkwürdige Situation. Zuerst, das ist in ganz Melanesien üblich, man wird gefragt, woher kommst du, was wachsen für Früchte in deiner Region, kennst du die und die Frucht von uns hier, etc. Dann sagte der Dorfchef: ‚Du kannst bei mir in der Hütte schlafen.‘ Da war ich ganz aufgeregt, denn das waren noch die richtigen Trobriander, sahen noch aus wie die Fotos, die in Malinowskis Büchern sind. Ich konnte vor Aufregung nicht schlafen. Da kamen plötzlich, so gegen Mitternacht, vier Männer herein, setzten sich vor mich hin, ich richtete mich auf, da auf meiner Liege. Dann sagte der eine nur: ‚Kannst du uns Fußball lehren?‘ Da war ich ziemlich platt, ich hab als junger Mann tatsächlich Fußball gespielt aber schon etliche Jahre nicht mehr, aber ich kann euch, wenn ihr wollt, morgen trainieren. Dann hab ich mit denen trainiert, und dann wollten sie mich nicht mehr von der Insel lassen. Autorin Maier nahm dieses Ansinnen sehr ernst, denn damit vermochte er die kulturelle Kluft zwischen sich und den Inselbewohnern gut zu überbrücken. Zwei Jahre lang trainierte er bei einem Bonner Fußballverein und kehrte dann zu den Trobriandern zurück. Im Vorwort zu Maiers Buch schreibt Paul Parin: Sprecher 1 Für einen Forscher der Ethnopsychoanalyse kann es keine bessere Gelegenheit geben, mit Menschen einer fremden Kultur in den intensiven Dialog einzutreten, als wenn sie seine Anwesenheit wünschen und er für das, was er an Erfahrungen aus ihrer Gemeinschaft mitnehmen wird, im Austausch selber etwas hergeben, ihnen etwas Wertvolles bringen kann, in diesem Fall: Fußballtraining. … War es einem 16 Europäer, einem Psychoanalytiker, einem mit den nötigen ethnologischen Kenntnissen ausgestatteten Arzt möglich, das Leben und die Gesellschaft der Trobriander endlich „von innen her“ zu sehen? Ja und nein. Natürlich behielt Maier seinen Blick „des Fremden“; „verstand“ also Trobriander, von außen auf sie schauend. Gleichzeitig nahm er aber an kulturellen Geschehen teil, das gleichermaßen zu seiner und zu ihrer Kultur, zum emotionell bedeutsamen Leben ihres Volkes gehörte und Teil seines eigenen Lebens als junger Mann in Deutschland gewesen war. Die Fußball-Kultur ist dem Prinzip des Tausches vergleichbar. Atmo Autorin Manche Analytiker sind über Umwege zu Parin gekommen, zum Beispiel Gerhard Kubik aus Wien. Mit gerade mal zwanzig Jahren durchquerte Kubik zunächst Europa und später als Musikethnologe und Kulturanthropologe vor allem afrikanische Länder. Sein anthropologisches Hauptinteresse gilt der Erforschung individueller Ausdrucksformen: Musik, Initiationsriten, Tabus, Mythen. Dabei hatte er immer auch den Kulturkontakt zwischen Europäern und Afrikanern bzw. deren einst als Sklaven nach Brasilien und in die USA verschleppten Nachkommen im Fokus. Und er bediente sich auch der psychoanalytischen Methode und Technik. Parins Werke las der heute 82-Jährige zunächst sehr kritisch: O-Ton Kubik Mein erster Kontakt mit den Schriften von Paul Parin war im Januar 1964. Das Buch war neu, „Die Weißen denken zu viel“. Damals war meine Reaktion zunächst sehr negativ. Ich hab gesagt: übelster Kolonialismus. Ich war gerade in der Zeit sozusagen Fighter, ich war in fighting mood gegen diese ganzen Europäer, die sich da etabliert hatten. Ich sagte, dass man eine ethnische Gruppe gegenüberstellen will dem europäischen Denken einerseits und dem afrikanischen Denken andererseits, damit war ich nicht einverstanden. 17 Autorin Seit Ende der 1970er-Jahre arbeitet Gerhard Kubik hauptsächlich in einem Forschungszentrum in Malawi. Damals wollte er anders als die Parins vorgehen: O-Ton Kubik Ich hatte einen ganz anderen Ansatz in dem Sinn, dass ich eigentlich keinen wesentlichen Unterschied fand zwischen den Leuten in Afrika und mir. Das ist ganz persönlich gewesen. Dieser Fremdheitsbegriff in Europa ist ja pauschal. Fremde sind die, die eine andere Sprache sprechen, angeblich haben sie eine andere Mentalität. Ich kann wissenschaftlich keinen Beweis dafür finden. Ich bin davon ausgegangen, jemandem zu begegnen, der oder die ähnliche Interessen hat wie ich und eine ähnliche Anschauung usw. Solche Personen habe ich in jeder Gesellschaft gefunden. Musik Autorin Wenn die Ethnologie eine Wissenschaft vom kulturell Fremden sein soll, so Kubiks Kritik Jahrzehnte später, werde damit zugleich eine hierarchische Trennungslinie zwischen den Kulturen der Welt gezogen, unterteilt und festgeschrieben in Insider und Outsider. Transkulturelle Prozesse, also Entwicklungen durch Überlagerungen und Vermischungen quer durch verschiedene Kulturen, würden ausgeschlossen. Das „Eigene“ und das „Fremde“ sei nichts weiter als ein Konstrukt, das die gegenwärtige Bedrängnis des europäischen EGO vorzüglich beschriebe, erläutert Gerhard Kubik in einem 2009 erschienenen Fachbeitrag. Sprecher Viele junge Forscher gehen dann ins Feld mit der Vorstellung, dort dem Fremden zu begegnen oder irgendwelchen Identitäten und Strukturen mit der schicken Verpflichtung, sich ihm doch annähern zu müssen oder gar in einen Dialog mit ihm einzutreten. Dies sind nur einige der vielen Prämissen, mit denen schon ein Initialklima überheblichen Besserwissens geschaffen wird. 18 Autorin Und postkoloniales Denken durch eine solche Festschreibung eines unveränderlichen Eigenen und Fremden als Bedrängnis empfunden werden müsste. Schließlich ist es gerade dessen Anliegen, der Legitimierung von Hierarchien der Macht und entsprechenden Übergriffen den Boden zu entziehen. Auch Paul Parin konnte feststellen, dass psychische Prozesse in afrikanischen Gesellschaften zwar andere Ausdrucksweisen haben, im Prinzip aber allgemein menschliche Eigenschaften aufweisen. Maja Nadig: O-Ton Nadig Mich hat es immer besonders beeindruckt, wie er auch mit dem Hexenglauben umging, der in den Gesprächen mit den Dogon und Agni auftauchte oft als eine Stimme, die auch das Verhalten leitet. In seinem Buch kann man nachvollziehen, wie er die Vielschichtigkeit der Situation und den Kontext, in dem die Hexenerwähnung auftauchte, alles gleichzeitig beachtet hat. Also: was war das Thema, was war der Konflikt, in dem der Erzählende gerade stand, mit dem Schwiegervater und der Frau, und dem Rivalen usw. Und was für Festivitäten sind im Dorf gerade gewesen mit Todesritualen usw. Daraus konnte Paul langsam verstehen, welche psychische Funktion der Hexenglauben übernimmt und was für Konflikte besänftigt werden konnten durch die Delegation von Aggression, zum Beispiel auf die Hexe oder durch die Projektion von eigenen heftigen Rivalitätsgefühlen auf die Aktionen der Hexe. So hat er auch Hexen-Rituale begleitet. Und einmal hat er auch einen Hexer besucht und sehr schön analysiert, wie der ihn empfängt und wie der Hexer versucht, sich als Spezialist zu stilisieren, also ein ganz besonderer Mann, und wie der Paul ihn schließlich verführt zu einem ganz normalen Gespräch unter zwei Spezialisten, die sich austauschen und am Schluss sich fast wie Freunde trennen. Sprecher 1 Bei Man im Westen der Elfenbeinküste erhebt sich der Berg Tonkoui, den ich Nimbia nenne. Der Berg ist dicht bewaldet bis hinauf zu den Felsen, die ihn krönen. Der Blick, der an der grünen Wand stumpf geworden ist, bricht durch die Lücken und Spalten der üppigen Kronen. Farben, Schluchten und Gipfel tauchen aus dem Dunst, 19 die Luft wird leicht, rote Blüten zittern im Windhauch, und der große Nashornvogel schwingt sich im Wippflug über den Weg. In der Walpurgisnacht tanzen die Hexen auf dem Brocken im deutschen Harz. Um den Berg Nimbia, der aus dem Regenwald ragt, dreht sich in zeitlosen tropischen Tagen und Nächten der Tanz schwarzer und brauner Gestalten. Sie mischen sich mit den Ängsten und Sehnsüchten der Fremden, die müde von schwüler Pflanzendichte hier gelandet sind, weiße Götter und weißliches Strandgut. Aus morschen Stämmen alter Mythen sprossen gleich Orchideen die neuen Märchen. Musik Sprecher 3 Die Macht der Verhältnisse Autorin Längst hat sich die Ethnopsychoanalyse vom Exotik-Nimbus verwegener Abenteuerreisender emanzipiert. Aber auch davon, Erklärungsmodelle für viele Fragen liefern zu müssen, von deren Beantwortung das Schicksal der Menschheit abhängig zu sein scheint. Etwa: Warum Krieg? Worüber sich bereits Sigmund Freud, mitten im Ersten Weltkrieg, 1915, schon vergeblich den Kopf zerbrach, unter anderem im Briefwechsel mit Albert Einstein. Warum handeln Menschen gegen ihre eigenen Interessen? Sprecher 1 Die Ethnopsychoanalyse betreibt eine Aufklärung, die den Wirkungen der Machtverhältnisse nachgeht. Sie lehnt es ab, einer Ideologie zu dienen, die die Macht freispricht, indem sie ihre Opfer psychologisch anklagt. Autorin: Was bleibt von einem derartigen Aufklärungsanspruch? Vom herrschaftskritischen, von Freud und Marx inspirierten Denkansatz eines Paul Parin, vom anarchistischen 20 Querdenken einer Goldy Parin-Matthèy? Sie starb 1997, er im Jahr 2009. Was bleibt von ihren konkreten Vorstellungen einer anderen, freieren Kultur und Gesellschaft, die keinen mehr erdrückt? Stimmen wie die ihren zu brennenden Zeitfragen lassen sich heute aus Psychoanalytikerkreisen weltweit kaum vernehmen. Sprecher 3 Umso mehr sind ethnopsychoanalytische Erfahrungen und Methoden und auch eine Parin’sche Gesinnung in der psychosozialen Beratungsarbeit mit Vertriebenen und Immigranten gefragt. In der klinischen Praxis vor allem bei der psychotherapeutischen Behandlung von Migranten und Asyl-Suchenden mit psychischen Beeinträchtigungen. Autorin Im Gespräch in Zürich 2004 mäßigte Paul Parin allzu große Erwartungen an die Ethnopsychoanalyse. Sie sei eben vor allem eine Grundlagenforschung: O-Ton Parin (2004) … einen Einfluss auf den Gang der Organisation menschlicher Verhältnisse hat es noch nicht genommen und da kann man nicht psychoanalytisch, sondern wirtschaftlich sagen: die Ökonomie, die Wirtschaft, hat sich noch nicht untergeordnet den neuen Einsichten, unter denen auch die psychoanalytisch erforschten unbewussten Antriebe, eine solche Politik zu betreiben, längst bekannt sind. Durchgesetzt haben sie sich nicht. Man kann ganz gut mit einem Zitat aus einem Brief von Freud antworten, als er gedrängt war zu sagen, man wisse doch jetzt alles, wie das entstanden ist, in der Seele des Menschen, ob sich das nicht endlich in eine friedliche, auf die Zukunft hin orientierte Gesellschaft auswirken werde, hat Freud geantwortet, ich weiß es fast wörtlich: Gewiss ist der Fortschritt, die Kenntnisse über die Seele des Menschen, wichtig. Wir sollten für eine menschenfreundliche Politik längst gerüstet sein, doch Gottes Mühlen mahlen auch da langsam. Wir wissen nicht, ob wir nicht längst verhungert sind, bis wir das Mehl, um uns zu ernähren, erhalten haben. 21 Autorin Parins Laudatorin bei der Vergabe des Erich-Fried Preises 1992, Christa Wolf, bewertete Paul Parins Werk deutlich einflussreicher: Sprecherin 2 Er, der sich scherzhaft einen „moralischen Anarchisten“ nennt, möglichst wenig Macht institutionalisiert sehen will, bleibt, als einem Gebot „radikaler Menschenliebe“, seiner dickköpfigen Überzeugung treu, dass es sich lohne, durch den Zusammenschluss Gleichgesinnter, durch Zivilcourage, unerschrockenes, an die Wurzeln der Widersprüche und Konflikte gehendes Denken „Inseln von Vernunft in einer irrsinnig selbstgefährdeten Welt“ zu schaffen. – Übrigens: Was sollte man denn sonst auch tun? Sprecher 1 Über das „Eigene“ und das „Fremde“ Lernen vom Ethnopsychoanalytiker Paul Parin Ein Feature von Ursula Rütten Es sprachen: Renate Fuhrmann, Thomas Pohn, Matthias Hase, Ilse Strambowski und Martin Schaller Ton und Technik: Michael Morawietz und Roman Weingardt Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Birgit Morgenrath Sie hörten eine Sendung des Deutschlandfunks 2016.
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