Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Metamorphosen und andere
Verwandlungen (3)
Von Wolfgang Sandberger
Sendung:
Mittwoch, 21. September 2016 9.05 – 10.00 Uhr
Redaktion:
Ulla Zierau
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Mitschnitte auf CD
von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst
in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2
2
„Musikstunde“ mit Wolfgang Sandberger
Metamorphosen und andere Verwandlungen (3)
SWR 2, 19. September – 23. September 2016, 9h05 – 10h00
mit Wolfgang Sandberger, herzlich willkommen, einen schönen guten Morgen.
Auch heute geht es in der Musikstunde wieder um Metamorphosen und andere
musikalischen Verwandlungen…
Signet
Die kleine Raupe Nimmersatt lässt Kinderherzen höher schlagen – sie sieht
irgendwie besonders aus und bewegt sich so eigenartig fort. Irgendwann
verpuppt sie sich, die kleine Raupe, und hängt dann als hässliches Etwas gut
getarnt an einem Zweig. Doch plötzlich verwandelt sie sich zu einem
Schmetterling, farbenfroh und leicht wie eine Feder flattert der Falter in neuer
Gestalt durch die Lüfte…
Musik 1
Gabriel Faure
Papillon
Boris Pergamentschikoff, Cello
Pavel Gililov, Klavier
LC 08175, ORFEO C 349951 A
3.03
Wie lange hat ein Schmetterling zu leben? Höchstens 12 Monate – das sind drei
Minuten aus diesem kurzen Schmetterlingsleben gewesen. Papillon, der
Schmetterling, musikalisch eingefangen von Gabriel Faure - mit dem Cellisten
Boris Pergamentschikoff und dem Pianisten Pavel Gililov.
Die Metamorphose von der kleinen Raupe oder Puppe hin zum bewunderten
Schmetterling: diese Verwandlung fasziniert den Biologen, als Metapher aber
auch den Dichter und Künstler. Robert Schumann zum Beispiel hat sich selbst
gelegentlich als eine „Schmetterlingspuppe“ bezeichnet, und mehrere seiner
Werke im übertragenen Sinne dann als „Schmetterlinge“, das heißt: als
musikalische Schmetterlinge, die sich aus der Puppe eines inspirierenden
Gedankens entwickeln. An seinem 21. Geburtstag notiert Schumann in sein
Tagebuch: „Schmetterlinge. Drum zürne nicht der bildenden Natur! Was vorhin
träg am Boden kroch, Es flattert götterleicht im Aether.“
Ein knappes Jahr später hat Schumann sein op. 2 vollendet, die Papillons,
Tanzminiaturen, die meist im flatterhaften Dreiertakt vor unserem Ohr
3
vorbeihuschen. Kaum gehört und schon vorbei. Manche flattern sogar
prestissimo in wenigen Augenblicken dahin, was Schumann im Blick auf uns Hörer
durchaus als Problem gesehen hat. Der Wechsel zwischen den einzelnen
Nummern sei sehr rasch, die Farben bunt und der Zuhörer habe noch die vorige
Seite im Kopf, während der Spieler fast fertig sei – so Schumann, der deshalb
einen aparten Vorschlag unterbreitet: Man möge doch bitteschön zwischen den
einzelnen Stücken der Papillon ein Gläschen Champagner einschieben. Das
können Sie zu Hause jetzt gerne tun, der Wiener Pianist Stefan Vladar spielt aber
mit klarem Kopf: Die ersten vier Nummern aus den Papillons op. 2 von Robert
Schumann.
Musik 2
Robert Schumann
Papillons op. 2,1-4
Stefan Vladar, Klavier
HMC 901890 LC 7045
Track 1-4
3.03
Absage…
Am 8. Mai 1832 schreibt der junge Schumann an seine Frau Mama: „Nun flattern
die Papillons in die weite, herrliche Frühlingswelt; der Frühling steht vor der Türe
und sieht mich an - ein Kind mit blauen Himmelsaugen. - Und nun fange ich an
mein Dasein zu begreifen…“ Der junge Schumann indes ist alles andere als naiv.
Die Metamorphose des Schmetterlings im Frühling ist ein Abbild der eigenen
idealisierten Künstlerexistenz, sprich: aus der Raupe Robert ist ein voll entfalteter,
kunstvoller Schmetterling geworden, und die Papillon sind ein Spiegel dieser
Metamorphose.
Beim Improvisieren am Klavier haben sich schon früh einzelne „Papillons“
entpuppt, doch im Hintergrund dieser Musik steht der Roman „Flegeljahre“ von
Jean Paul, er hat Robert Schumann letztlich zu den Papillons inspiriert. Wie
gründlich Schumann die Flegeljahre gelesen hat, sehen wir heute noch an
seinem persönlichen Hand-Exemplar dieses Romans, wo sogar ganz konkrete
Verweise auf einzelne Nummern aus den Papillon auftauchen. Die Papillons von
Schumann sind also kein Karneval der Falter mit Kohlweißling, Pfauenauge oder
Admiral - nein, es sind Tanzminiaturen inspiriert durch eine literarische Quelle. Im
Mittelpunkt steht die Schlussszene aus dem Roman. Die Zwillingsbrüder Walt und
Vult sind beide in das Mädchen Wina verliebt, und auf dem großen Maskenball
tritt nun Vult als sein Bruder verkleidet auf und erhält in dieser verkleideten,
verwandelten Gestalt das Jawort des Mädchens, auch so eine Metamorphose.
Doch was ist das für ein Ja-Wort, das ja eigentlich dem Bruder gilt? Irrungen und
Wirrungen auf dem Maskenball…
4
Musik 3
Robert Schumann
Nummer 12, Finale
Stefan Vladar, Klavier
HMC 901890 LC 7045
Track 12
1.59‘‘
Da ist der Maskenball vorbei, die Turmuhr hat 6 geschlagen:
Stefan Vladar mit dem Finale der Papillons von Robert Schumann. Und dieser
Maskenball führt uns zu weiteren magischen Verwandlungen, dem Zauber des
Karnevals. Da geht es darum, sich zu verkleiden, ja eine neue Existenz
anzunehmen, wenigstens einen Maskenball lang. Mit der nächsten Musik entführt
uns Schumann auf einen solchen Ball, alles wirbelt durcheinander, hie und da
erblicken wir eine Fratze oder Maske und fragen uns neugierig, ob wir die Person
vielleicht erkennen oder im Tumult irgendwo wieder sehen werden. Robert
Schumann hat diese Maskerade für Klavier geschrieben, im Karneval 1835. Und
schattenhaft treten da in dieser Musik einzelne Gestalten auf. Da sehen wir
Figuren aus der italienischen Commedia dell’arte: Pierrot und Arlequin oder:
Pantalon und Colombine, und besonders kapriziös: der Auftritt von Coquett. Aber
auch die beiden Seelen von Schumann huschen an uns vorüber: der
träumerische-melancholische Eusebius, und als unmittelbarer Kontrast der
leidenschaftliche Florestan. Und damit kommen auch die Davidsbündler an die
Reihe, Estrella, die damalige Verlobte von Schumann, Clara Wieck, maskiert als
Chiarina oder Frederic Chopin, portraitiert mit einem Nocturne ganz in der
verträumten Art des Polen. Ein wunderbarer Carnaval also - mit einem
besonderen Clou am Ende: mit dem jetzt folgenden Marsch der Davidsbündler
gegen die verzopften, spießigen Philister.
Ein kulturpolitisches Manifest, das Schumann da in Töne gesetzt hat. "Es klappert
die Mühle am rauschen Bach", diese Melodie aus dem Finale der Papillon hören
wir jetzt im Carnaval von Schumann noch einmal, in einer wundersamen
Metamorphose. Dieser altväterliche Tanz symbolisiert jetzt im Carnaval nämlich
die spießigen Philister, einer der faszinierendsten Momente in Schumanns Musik
überhaupt: die Metamorphose dieses Tanzes, der in den Karnevalstaumel der
Davidsbündler hineingerissen wird und untergeht…
Musik 4
Track 32 und 33
Robert Schumann
Marche des Davidsbündler contre les Philistins
Aus dem „Carnaval“ op. 9
Stefan Vladar, Klavier
HMC 901890 LC 7045
Absage…
3.39‘‘
5
Um Verwandlungen geht es heute in der SWR 2 Musikstunde - und der
Maskenball, die Maskerade ist ein solcher Ort der Verwandlung, auch der
Karneval natürlich, wo es immer schon dazu gehört hat, sich zu verkleiden, sich in
eine neue Gestalt zu verwandeln - möglichst perfekt maskiert.
Diese karnevaleske Metamorphose hat auch Johann Wolfgang Goethe
fasziniert, als er mit 40 das närrische Treiben in Rom beobachtet hat. Und Goethe
wäre nicht Goethe, wenn er dem römischen Karneval nicht mit einer detaillierten
Beschreibung ein Denkmal gesetzt hätte. In der ersten Ausgabe von Goethes
"Römischem Carneval" sehen wir übrigens zwanzig handkolorierte Zeichnungen
mit illustren Masken, die schon ein Jahr später eine breitere Leserschaft erfreut
haben - beim Wiederabdruck im "Journal des Luxus und der Moden", welch'
trefflicher Titel. Goethe hat die verschiedenen Masken des Karneval recht genau
beschrieben: "Der eine trägt eine Perücke, der andere eine Weiberhaube zu
seinem schwarzen Gesichte, der dritte hat statt der Mütze einen Käfig auf dem
Kopfe, in welchem ein Paar Vögel, als Abate und Dame gekleidet, auf den
Stängelchen hin und her hüpfen". - Mehr als von diesem Vogelkäfig auf dem
Kopfe ist Goethe allerdings von den römischen Frauen fasziniert gewesen,
wenngleich er da mitunter schon zweimal hat hinschauen müssen: "Die Frauen
hätten ebensoviel Lust, sich in Mannskleidern zu zeigen, wie die Männer sich in
Frauenskleidern sehen zu lassen“, viele Frauen seien als Pulcinell aufgetreten und
er - Goethe - müsse bekennen, daß es den Frauen gelingt, in dieser Zwittergestalt
oft höchst reizend zu sein".
Musik 5
Track 5
Hector Berlioz
Der römische Karneval op. 9
SWR SO Baden-Baden und Freiburg
Hänssler 93.201 LC 13312
8.56‘‘
Ausgelassene Stimmung auf der Piazza Colonna in Rom – eingefangen von
Hector Berlioz in seiner Konzert-Ouvertüre „Der römische Karneval“ op. 9. Und mit
aufgesetzten Pappnasen furios gespielt haben: die Musiker des SWR SO Baden
und Freiburg unter Sylvain Cambreling.
Goethe also ist vom Rollentausch im römischen Karneval fasziniert gewesen:
Frauen in Mannskleidern und Männer in Frauenkleidern. Auf der Opernbühne hat
es diese Travestie ja immer schon gegeben, schon bei der Uraufführung von
Claudio Monteverdis L’Orfeo sind beide Hauptrollen, die des Orfeo und die der
Euridice von Kastraten gesungen worden. Die männliche Hauptrolle, der primo
uomo ist oft mit Kastraten besetzt gewesen, doch in Gegenden, wo die Kirche
weibliche Darsteller auf der Bühne verboten hat, haben Kastraten eben auch
Frauenrollen in der Oper übernommen. Ein Beobachter der Szene, Johann
Wilhelm von Archenholz ist von der Raffinesse begeistert gewesen, mit der viele
6
Kastraten die weibliche Gestik, Mimik und ihren Habitus zu imitieren wussten:
„diese Geschöpfe“ - so schreibt unser Gewährsmann - „ haben es soweit in der
Nachahmung gebracht, dass der nicht unterrichtete Zuschauer aus der Ferne
unmöglich ihr Geschlecht erraten könnte. Da durch die Stimme das größte
Hindernis gehoben ist, so bemühen sie sich, das Übrige in Gang, Stellung,
Gebärden und Manieren auf das Vollkommenste nachzuahmen.“
Kein Wunder: So mancher Geblendete und Unwissende hat sich da gleich in
einen Kastraten verliebt. Was dem Unwissenden verborgen blieb: Am Anfang
dieser Travesti steht das „benedetto coltellino“, das gebenedeite Messerchen –
mit dem einst hunderte von Knaben kastriert worden sind, vor allem in Neapel
und der Region drum herum. Ja im Dienste der heiligen Tonkunst sind diese
Jungen zur Kastration gezwungen worden, mit der Chirurgenschere sind die
Samenstränge der sieben- oder achtjähriger Knaben durchschnitten worden
oder man hat gleich die Hoden entfernt: eben mit dem „benedetto coltellino“,
dem gebenedeiten Messerchen. Inzwischen gibt es keine Kastraten mehr, Gott
sei Dank, aber „was nun?“ diese heikle Frage hat der Sänger Rene Jacobs vor
Jahrzehnten schon gestellt.
Die Spezies des Countertenors oder Sopranisten ist die Antwort der historischen
Aufführungspraxis auf den Kastraten - hier der junge deutsche Countertenor
Valer Sabadus, der federleicht in eine Frauenrolle schlüpft: wir hören ihn in der
Partie der Semira aus der Opera seria Artaserse von Leonardo Vinci: Torna
innocente…
Musik 6
4.20
Leonardo Vinci
Torna innocente, Arie der Semira aus der Opera seria „Artaserse“
Valer Barda-Sabadus, Countertenor
Concerrto Köln, Diego Fasolis
LC 07873 VIRGIN CLASSICS 50999 6028692
Ein Countertenor in einer Frauenrolle: Valer Sabadus ist das gewesen mit dieser
Arie der Semira aus der Opera seria Artaserse von Leonardo Vinci. Und wir
bleiben in der SWR 2 Musikstunde bei den Verwandlungen des Rollentausches mit Herkules, seit der Antike ja einer der männlichsten aller Superhelden, doch mit
der Männlichkeit ist es schnell vorbei, als die Götter Herkules bestrafen:
An sich scheint die Strafe zunächst nicht schlimm, Herkules verliebt sich halt. Doch
er verfällt der schönen Omphale so sehr, dass er sich von ihr sogar in
Frauenkleider stecken lässt. Ovid erzählt uns von dieser mythologischen Travestie.
Widerstandslos überlässt Herkules der lydischen Königin auch gleich noch seine
phallische Keule, nomen est omen: Om-phale. Herkules bekommt dafür den
Spinnrocken und nun hat er für seine Angebetete Näharbeiten zu verrichten,
klingt eigentlich ziemlich emanzipiert, aus der Perspektive der Götterwelt aber ist
7
das Spinnrad reine Frauensache. Herkules und Omphale, eine mythologische
Travestie, die Camille Saint Saens in der Musik „Das Spinnrad der Omphale“
bildhaft in Szene gesetzt hat:
Natürlich hören wir in dieser sinfonischen Dichtung gleich das mechanische
Drehen des Spinnrades und diese Drehfigur wird alsbald zur Begleitung des
Omphale-Themas und so nimmt das Stück seinen Lauf: Kern des Ganzen ist der
Sieg weiblicher Verführungskunst, der Triumph des vermeintlich schwachen
Geschlechts über das Starke. Das Spinnrad der Omphale von Camille Saint
Saens. Seiji Ozawa leitet das Orchestre National de France.
Musik 7
Camille Saint Saens
Das Spinnrad der Omphale, sinfonische Dichtung
Orchestre National de France/Seiji Ozawa
LC 00542 EMI 747477-2
8.05‘‘
Das Spinnrad der Omphale, die sinfonische Dichtung op.31 von Camille Saint
Saens - in der SWR 2 Musikstunde mit dem Orchestre National de France unter
Seiji Ozawa.
Omphale und Herkules. Die Verwandlung vom Supermann in einen Spinner, der
Frauenkleider trägt: das wird meist als ultimative Erniedrigung des großen Helden
verstanden, Herkules, der damit ja von den Göttern bestraft wird. Doch in diesem
Rollentausch können wir nicht nur eine Strafe erkennen, nein schon Ovid hat in
dieser Geschichte auch eine Metamorphose zur Lust geschildert, der
Rollenwechsel von Herkules und Omphale ist ganz sicher auch ein erotisches
Spiel. Immerhin haben die beiden zusammen mindestens einen Sohn gezeugt.
Kann also nicht ganz so furchtbar gewesen sein, diese Beziehung.
Zum Finale heute bleiben wir noch bei der schönen lydischen Königen mit drei
Sätzen aus der Omphale-Suite von Georg Philipp Telemann, eine e-moll-Suite aus
dem Jahr 1723 - mit elegant-galanten Stücken wie Bourée, Passepied und „Les
Jeux“. Ich bin Wolfgang Sandberger und freu mich, wenn sie morgen dann bei
unseren Verwandlungen in der SWR 2 Musikstunde wieder dabei sind…
Musik 8
Track 3-5
2.38‘‘
Georg Philipp Telemann
Drei Sätze aus der Orchestersuite (Ouvertüre) „L’Omphale“ e-moll
Elbipolis Barockorchester Hamburg
Raumklang RK 2703 LC 05068