3| maaS Foto: iStock Liebe Leserin, lieber Leser! Über mir wölbt sich ein gigantischer Sternenhimmel, umrahmt von den Silhouetten der Baumkronen. Es duftet nach Tannennadeln und feuchtem Laub. Die Luft wird kühl und Tau senkt sich auf die Wiese. Vor mir brennt ein wärmendes Feuer. Stille. Ich schaue abwechselnd in die flackernde Glut und zu den blinkenden Sternen. Ich spüre meine Füße fest auf der Erde und zugleich fliege ich mit meinem Körper und der Erde als Himmelskörper durch das unendliche All. In solchen Stunden ist Raum für die Fragen „Wo komme ich her und wo gehe ich hin?“ Einige waren dem Himmel schon sehr nah und berichten von einem hellen Licht oder einer Geborgenheit, auf jeden Fall von etwas viel Größerem, das uns empfängt. Es scheint, irgendetwas in uns, ein goldener Kern, unsere Seele, sei unsterblich. Etwas überdauert vielleicht, aber etwas wird ganz sicher sterben. Das ist das Einzige, was bei unserer Geburt schon feststeht. Mit dem ersten Atemzug wird uns eine begrenzte Zeit geschenkt. Es liegt an uns, jeden Tag aufs Neue zu entscheiden, wie und womit ich meine Zeit verbringe. John Strelecky hat dafür ein Bild formuliert: „Stell‘ dir dein Leben wie ein Museum vor, in dem jeder Tag deines Lebens einen Raum bildet. Alle Gefühle, jede Freude, jedes Leid, alles, was du erlebt hast, jedes Abenteuer und jede Qual, wären in Bildern und Skulpturen festgehalten. Wie sähe dein Museum aus?“ Er ist nicht der Einzige, der mahnt, nichts auf die lange Bank zu schieben. Im Buddhismus stellt man sich in einer täglichen Meditation vor, dass dieser Tag der letzte sein könnte. Was würdest du dann heute tun? Die Angst vor dem Tod beruht meistens darauf, dass wir auf dem Sterbebett unweigerlich mit all dem konfrontiert werden, was wir noch erleben wollten. Plötzlich ist es zu spät. Deswegen ist der Tod der beste Lehrmeister für das Leben. Wie gut, wenn uns das nicht erst im hohen Alter, sondern schon in jungen Jahren bewusst wird! Denn wenn du dein Leben jeden Tag genießt, blickst du auf ein erfülltes Leben zurück. Wenn du im Leben gelernt hast anzunehmen und loszulassen, wird das Sterben zu einem abenteuerlichen Flug zu den Sternen. Bis dahin werde ich noch viele Stunden in meinem Körper auf diesem wunderschönen Planeten genießen. Einige ganz bestimmt am Lagerfeuer unterm Sternenhimmel. Anita Maas September2016 maaS | 4 I N H A LT Christoph Klein | Lebenshungrig bleiben 95 Holger Wolff | Lebe jeden Tag als wäre es der letzte 25 Dr. Daniela Tausch | Umgang mit Sterbenden und Trauernden 47 Gisbert Löcher | Gelingend altern 91 Heilhaus Kassel | Ein Ort für Geburt, Leben und Sterben 33 Martha Brookhart Halda | Einmal in den Himmel und zurück 62 Das Leben genießen Umgang mit Tod und Trauer 7 20 Ja, ja ,ja | Eine wahre Geschichte vom Sterben 75 Farbenfroh statt ungeschminkt | In Japan werden die Toten geschminkt 21 Es gibt keinen Tod! | Die Erkenntnis der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross 77 Abschied feiern | Ein wertvolles Ritual 23 Die letzten Schritte im Leben | Fünf Phasen des Sterbens 83 33 Ein Ort für Geburt, Leben und Sterben | Im Heilhaus Kassel leben Jung und Alt miteinander 99 Die letzte Station auf Erden | Wie ein Hospiz zum Vorparadies werden kann Lebensträume | Braucht man Lebenskrisen, um auf Abenteuerreise zu gehen? 17 Das wichtigste Ereignis des Lebens ist der Tod | Leben heißt sterben lernen – eine philosophische Betrachtung 25 Lebe jeden Tag als wäre er der letzte | Eine Weisheit der buddhistische Sterbemeditation 29 Und solang du das nicht hast | … bist du nur ein trüber Gast 37 Was wirklich zählt im Leben | Interview mit John Strelecky über die Big Five for Life 67 Vipassana Yoga – Die Kunst des Lebens | Die Dinge so sehen wie sie sind 71 Die Welt in dir | Verantwortung übernehmen für dein Leben 91 Gelingend altern | Schicksal oder Chance? 5| maaS 45 Ja zur Vergänglichkeit | Der Tod verliert an Schrecken und das Leben gewinnt an Freude 47 Umgang mit Sterbenden und Trauernden | Interview mit einer Psychotherapeutin und Hospizgründerin Eine Ode an das Leben | Impulse zum Umgang mit dem Tod John Strelecky | Was wirklich zählt im Leben 37 Anita Maas | Der Efeu – Der Ewigwährende Juliane Wothe | Eine Ode an das Leben 83 Anja Hoff | Die größte Erfahrung des Lebens 107 51 Elke Sohler | Notausstieg aus dem Leben Rüdiger Dahlke | Lebensträume Was kommt danach? Lebenswege In jedem Heft 53 Apfel der Erkenntnis | Eine schamanische Sicht auf unser Leben 11 Was mich das Leben lehrt | Eine Reihe von Schicksalsschlägen wird zur Einladung an das Leben 117 103 Totenbücher | Anleitungen für die Anderswelt und die Wiederkehr ins Leben 105 Eine Seele wird geboren | Auszug aus einem Roman 16 In Worte nicht zu fassen | Eine Nahtoderfahrung, die das Leben verändert 51 Die größte Erfahrung des Lebens | Als es soweit ist, hast du sie im Arm … 59 Notausstieg aus dem Leben | Wie man den Suizid der eigenen Tochter überlebt 65 Vom Burnout in die volle Lebensfreude | Spaß im Leben und bei der Arbeit 59 07 Poesie wie Brot: Friederike Mayröcker: mit Scardanelli 114 Kommt Zeit, kommt Raum: La vita è bella 107 Heilpflanze: Efeu – der Ewigwährende 62 Besondere Erfahrungen: Einmal in den Himmel und zurück 115 Reise Die Welt der Geister, Götter und des ewigen Lächelns 65 Wenn nicht jetzt, wann dann? | Mit dem Wohnmobil unterwegs 109 95 Lebenshungrig bleiben | trotz unheilbarer Krankheit 57 Filmtipps 89 Schwarzes Brett 81 Marktplatz 119 Impressum Herzensprojekt: Den Fremden umarmen - Lesbos maaS | 6 Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben. (Cicely Saunders) Das größte Lebenshemmnis ist das Warten, das sich an das Morgen klammert und das Heute verliert. (Seneca) 7| maaS Illustration: Blütencollage von Helga Henschel-Paar (†2009) Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen. (Martin Luther) Das Einzige, was von uns bleibt, sind die Früchte unserer Gedanken, Worte und Taten. (Thich Nath Hanh) maaS | 8 Lebensträume von Rüdiger Dahlke Foto: iStock DER TOD IST DER BESTE LEHRMEISTER DES LEBENS. UND DOCH VERDRÄNGEN VIELE DEN TOD ALS DAS EINZIG SICHERE IM LEBEN - MIT DER KONSEQUENZ, DASS WIR SCHON ZU LEBZEITEN QUASI GESTORBEN SIND. OFT BRINGEN ERST SCHWERE KRANKHEITEN ODER DER BEVORSTEHENDE TOD DIE UNGELEBTEN WÜNSCHE INS BEWUSSTSEIN UND WIR BEREUEN BITTERLICH, DASS ES DAFÜR ZU SPÄT IST. ABER BRAUCHT MAN LEBENSKRISEN, UM UNERLEDIGTE LEBENSTRÄUME AUF EINE LISTE ZU SCHREIBEN UND EINE ABENTEUERREISE ZU IHRER ERFÜLLUNG ANZUTRETEN? Wer die Spielregeln des Lebens gut kennt und seinen Spielcharakter durchschaut, ist auf dem besten Weg - im Leben und beim Sterben. Der Tod ist als Schlusspunkt des Lebens der Übergang in die nächste Dimension. Die beste Vorbereitung ist ein erfülltes Leben. Wir verdanken es Elisabeth Kübler-Ross, Sterben überhaupt als Thema der Wissenschaft erkannt zu haben. Laut Umfrage glaubt die große Mehrheit der Deutschen gar nicht mehr daran, sterben zu müssen. Bei einer Umfrage, ob sie lieber Zuhause oder in der Klinik sterben wollen, antworteten über 90 % sinngemäß: „Wenn schon, dann Zuhause!“ Das dürfte ein Zeichen kollektiver Verdrängung sein. Es steht also schlecht ums Bewusstsein der Sterblichkeit. Dabei ist der Tod das einzig Sichere im Leben. Wissenschaftlich betrachtet, ist jedes Leben eine immer tödlich endende Geschlechtskrankheit, da bisher immer durch Geschlechtsverkehr übertragen und tödlich endend. Inzwischen wird Leben auch durch künstliche Befruchtung eingeleitet, und der moderne Tod hat sich gewandelt. Frühere Versuche, ihn zu überlisten - wie im „Jedermann“ - schlugen jeweils fehl, heute freut sich der fast 100-jährige letzte Rockefeller über sein 7. Spenderherz. Der Tod scheint längst nicht mehr, was er einmal war: unumstößlich und unbesiegbar. Aber selbst wenn wir ihm in letzter Minute einige Organe entreißen und sie anderen Sterbenden einpflanzen, um diese wiederum vor ihm zu bewahren, bleibt seine Macht - in Wahrheit doch ungebrochen. Je mehr wir ihn wegschieben, desto mehr übersehen wir die großen Chancen, die er uns als letzter Lebensübergang bieten könnte. Sobald wir erkennen, dass er zum Leben gehört, brauchen wir ihn nicht mehr zu verdrängen und sind vor seinen Überfällen sicher. WER DEN TOD ALS ZIEL DES LEBENS IN DER POLAREN WELT DER GEGENSÄTZE ERKENNT UND SOGAR ERWARTET, KANN NICHT MEHR VON IHM ÜBERRASCHT WERDEN. Wirklich gerecht werden wir ihm erst, wenn wir ihn in seiner ganzen Macht und als Ziel unseres Lebens anerkennen. Er markiert nicht nur den größten, sondern auch den wichtigsten Lebensübergang und zeigt uns die Macht der Schicksalsgesetze, an denen letztlich kein Weg vorbeiführt. Und so wie wir aus jedem Lebensübergang eine Krise oder Chance machen können, ist das auch beim Tod möglich. Er könnte wieder zu jener Lösung und Erlösung werden, die er auch in unserer Kultur einmal war und die er in Wirklichkeit auch immer geblieben ist. Wir müssten nur das Mantra der bürgerlichen Welt „Hoffentlich geschieht nichts“ aufgeben. Ob wir zu einer Weltreise aufbrechen oder zu einer Reise nach innen in eigene Schattenwelten, wir werden mit maaS | 10 dem gut gemeinten „Fluch“ verabschiedet: „Hoffentlich passiert nichts.“ Und der geht natürlich davon aus, dass alles, was passieren könnte, schlecht ist. Warum sollten wir überhaupt auf Reisen in die äußere oder innere Welt gehen, wenn da nichts geschehen soll und wir nur Negatives erwarten? Solch absolute Entwicklungsfeindlichkeit läuft unserem kulturellen Auftrag diametral entgegen, erwartet doch selbst Christus, dass wir „heiß oder kalt leben“, d. h. uns in die Extreme des Lebens hinein wagen, um ein erfülltes Leben zu verwirklichen, wie er es ausdrücklich von uns erwartet. DAS MANTRA „HOFFENTLICH GESCHIEHT NICHTS“ (VER)FÜHRT ZU EINEM LAUWARMEN DURCHS-LEBENMOGELN, OHNE ANZUSTOSSEN ODER GAR ANSTÖSSIG ZU WERDEN. Auf dem Grabstein steht dann eine Lüge. Geboren 1929 stimmt wohl, aber verstorben 2016 stimmt meist nicht mehr. Zu viele sterben heute bereits Mitte ihrer 40er Jahre, lassen sich aber erst in ihren 80ern eingraben. Die zweite Lebenshälfte ist vor allem (Lebens-)Verweigerung, was oft erst auf dem Totenbett bereut wird. An erster Stelle bei allen Untersuchungen, die sich mit dem Sterben beschäftigen, rangiert das tiefe und (zu) späte Bedauern über ein ungelebtes Leben – ohne es überhaupt versucht zu haben, die eigenen Wünsche, Träume und Visionen zu verwirklichen. Viele klagen auch, zu viel gearbeitet, zu wenig Zeit mit Freunden verbracht und zu wenig Gefühle ausgedrückt zu haben. Wie wäre es im Gegensatz dazu, der Anregung Paulo Coelhos zu folgen und auf folgende Grabsteinaufschrift hin zu leben: „Er lebte noch, als er starb.“ 11 | maaS Die wundervollste Steilvorlage dafür vermittelt der Film „Das Beste kommt zum Schluss“ mit Morgan Freeman und Jack Nicholson, einem Automechaniker, der sein Leben seiner Familie schenkte, und einem Multimillionär, der fürs Geldscheffeln lebte. Als beide die Konsequenz ihrer Kommunikationsstörung mittels Lungenkrebsdiagnose erhalten, landen sie im selben Krankenzimmer, in der Klinik des Krankheitsunternehmers Nicholson. Als beider Chemotherapie scheitert, greift Nicholson die Idee Freemans einer sogenannten „Eimer-Liste“ auf, einer Aufzählung aller noch offenen, unerledigten Lebensträume. Angesichts ihres aus schulmedizinischer Sicht sicheren Todes, beginnen beide zusammen eine neue, vermeintlich letzte, mutige Abenteuerreise zur Erfüllung ihrer unerledigten Träume. So kommt für beide das Beste wirklich zum Schluss. Sie werden Freunde und versuchen einander aus ihren jeweiligen Lebensfallen heraus zu helfen. Freeman aber bleibt bei seinem (Krebs) Muster und wagt nicht, sich aus der Enge seines fremdbestimmten Lebens zu befreien. Er bleibt seiner übergriffigen Frau und den Medizinern treu und stirbt in der von Letzteren vorgegebenen Zeit. Nicholson aber wagt den Sprung in eine für ihn neue Dimension, öffnet sich der Welt der Gefühle und beginnt eine Beziehung zu seiner Tochter und zu deren kleiner Tochter, seiner Enkelin. Er bricht aus seinem Muster aus und findet zu sich und seinen Gefühlen. So lebt er noch viele Jahre als „verdammtes Wunder“, wie er es selbst nennt. Erst Jahrzehnte später bringt sein treuer Assistent auch seine Asche auf den Gipfel eines Himalaya-Riesen. Als beider Asche in zwei KaffeeDosen nebeneinander ruht, hakt der Assistent den letzten Punkt auf der Eimer-Liste ab, etwas Majestätisches zu erleben. So ist Nicholsons Liste mit seinem Ableben abgelebt, und wir als Zuschauer bleiben mit hoffnungsvollem Gefühl zurück: WIR BRAUCHEN NICHT AUF EINE KREBSDIAGNOSE ZU WARTEN ODER AUF DAS SCHEITERN EINER CHEMOTHERAPIE. WIR KÖNNEN SOFORT LEBEN. Dabei ist es eine wundervolle Hilfe, seine noch offenen Wünsche, Träume und Visionen auf eine EimerListe zu schreiben, um auch kühnste und mutigste Träume und Visionen zu verwirklichen. Man kann seine Liste nicht früh genug beginnen und ihre Punkte umsetzen. Je früher wir anfangen, desto besser und umso mehr Energie und Zeit bleibt uns für die Liste bis zur Kiste. Rüdiger Dahlke www.dahlke.at Illustration: iStock (Kompass), © Gabo (Hintergrund) 5 Dinge , die Sterbende am meisten bereuen ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE DEN MUT GEHABT, MIR SELBST TREU ZU BLEIBEN. ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE NICHT SO VIEL GEARBEITET. ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE DEN MUT GEHABT, MEINEN GEFÜHLEN AUSDRUCK ZU VERLEIHEN. ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE DEN KONTAKT ZU MEINEN FREUNDEN GEHALTEN. ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE MIR MEHR FREUDE GEGÖNNT. (nach Bronnie Ware) maaS | 12 Der Tod hat mich immer begleitet. Als ich 11 Jahre jung war, verstarb mein Onkel, der nebenan bei uns im Haus gewohnt hat. Ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen, war er nicht mehr da und sollte auch nicht mehr wiederkommen. Niemand sprach darüber, nur meine Tante Erna strich mir nach Beendigung des Leichenschmauses mitleidsvoll über das Gesicht und murmelte etwas von „verstehen, wenn ich älter bin“. Meine Eltern wollten uns nicht mit zum Begräbnis nehmen, was ich bis heute nicht verstehe. Und so fanden es meine kleine Schwester und ich mehr als aufregend, uns im Wald gegenüber dem Friedhof zu verstecken und der Beisetzung so auf unsere Weise beizuwohnen. Als sie sich dem Ende näherte, rannten wir wie angestochen nach Hause, immer in der Annahme etwas Verbotenes getan zu haben. 13 | maaS Text: N.N. (Name der Redaktion Text: | Fotos: bekannt) | Fotos: iStock h c i t m r s h e a l n W e b e L s a d Text: | Fotos: „Dann stirb doch endlich !“ Ein paar Jahre später wurde meine Oma väterlicherseits in unserem Haus sehr krank. Altersbedingt versagte ihr Körper jegliche Nahrungsaufnahme, was sie vor unseren Augen zu einem Skelett werden ließ. Ihr Sterbeprozess dauerte 2 Jahre, in denen mein Vater verzweifelt alles tat, was in seiner Macht stand, um sie am Leben zu erhalten. Sie wollte nicht im Krankenhaus sterben, also behielten wir sie zu Hause. Und obwohl sie schon seit Jahren von ihrem Wunsch zu sterben sprach, fiel ihr das Loslassen im Augenblick des Todes sehr schwer. Auch mein Vater konnte nicht loslassen. Für ihn war der Verlust dieses geliebten Menschen so unfassbar, dass er begann, seinen Kummer im Alkohol zu ertränken. Ein Jahr lang vegetierte er so lamentierend in seinem Schmerz, dann nahm er sich das Leben. Auch er wollte nicht sterben und ich weiß, dass ihm sein Selbstmord nur zufällig gelang. Als ich ihn fand, sah er aus, als schliefe er. Der Alkohol hat ihn so betäubt, dass er nicht einmal mehr merkte, wie er sich im Schlaf strangulierte. Es hat ein weiteres Jahr gedauert, bis ich meinen Frieden damit machen konnte. Es gab zwischen meinem Vater und mir keinen Abschied, sondern nur harte Worte. Ein Jahr des alkoholgetünchten Lamentierens hatte unsere noch nie sehr gut funktionierende Beziehung auf sehr dünnes Eis verfrachtet. Es gab kaum Worte zwischen uns, nur routinemäßige Handlungen. Ich kochte, er aß, ich ging zur Schule, er trank. Ich kam nach Hause, er weinte, wollte, dass ich sein Leben wieder hinbiege. Aber mit 19 Jahren ist man damit überfordert. Ich schloss mich ein und versteckte mich im Dunkeln vor dem, was ich damals Psychoterror nannte. Meine letzten Worte waren: „Dann stirb doch endlich!“ und am nächsten Tag konnte ich sie nicht mehr zurücknehmen. Mit 19 Jahren empfand ich es als große Erleichterung, dass mein Vater starb. Die Endlichkeit des Todes hatte damit eine Tür geschlossen, die ich nie wieder öffnen brauchte. Und die Gefühle um Schuld, Scham und den Verlust eines Teils meiner selbst brachen erst viele Jahre später aus ihrem Versteck, als ich zu begreifen begann, wie groß und wichtig die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist. Ein dünner Schleier zwischen den Welten Ein Jahr nach meinem Vater starb der Mann, den ich liebte, bei einem Autounfall. So wie sein Leben damals in Stücke gerissen wurde, zerbrach auch mein Herz, und ich wusste nicht, ob ich je wieder davon genesen würde. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, was Schmerz ist, und Traurigkeit war in der gefühllosen Welt meines Alltags ein Novum. Tränen kannten wir kaum bei uns zu Hause. Damals bin ich zum ersten Mal meinem eigenen Tod begegnet, denn leben wollte ich nicht mehr. Ich erfuhr, wie dünn der Schleier zwischen dieser und jener Welt sein kann, vor allem in der Übergangsphase zwischen Leben und Tod, in der Phase des Sterbens, davor und danach: Eine Woche nach seinem Tod war er jeden Tag bei mir. Er sprach zu mir und erzählte mir Dinge von der anderen Seite, vom Kreislauf des Lebens, wie es niemals stehen bleibt, sondern sich immer endlos weiterbewegt und sich verändert, wie der Fluss der Zeit niemals anhält, auch wenn wir die einzelnen Sandkörner festhalten und für immer konservieren wollen, rinnen sie uns doch haltlos durch unsere Finger und werden zu nichts als Geschichte, Erinnerungen im Buch des Lebens. Für einen kurzen Augenblick hatte ich damals die Chance, mit ihm zu gehen. Ich sah mich außerhalb meines Körpers über dem Boden schweben und in mir war endloser Friede und die vollkommene Gewissheit der Perfektion von Allem, was ist. Es gab keine Worte oder sonst irgendetwas Weltliches zur Erklärung, sondern reines Erfahren, ja fast schon Erwachen und das Wissen, um das Alles, den Atman, das, wo jede Seele herkommt und eines Tages hingehen wird. Geschulte Yogis können den Zeitpunkt bestimmen, wann sie ihren Körper verlassen und sterben. Verlust bedeutet immer Leben, weil ein potentieller Raum für etwas Neues geschaffen wird. Doch als Menschen mit gebrochenem Herzen klammern wir uns an das, was uns übrig bleibt: unsere Trauer. Ein Loslassen und die erneute Bejahung des Lebens grenzt fast schon an einen unverzeihlichen Betrug dem geliebten Menschen gegenüber. So kreieren wir mit unserer Trauer ein ewiges Band, das uns an den Menschen fesselt, dessen Lebenszeit so kurz war im Vergleich zur unsrigen. Ich hielt fest und glorifizierte eine Beziehung, die im Glanz ihrer neu entdeckten Perfektion besser nicht hätte sein können. Ich verdrängte große Gefühle von Schuld und Wut und erinnerte mich nicht an gewesene Streitigkeiten im neuen Liebeswahn. maaS | 14 Mein Leben wurde oftmals von etwas Höherem geleitet, einer Macht, die ich bis heute nicht beim Namen nennen kann und dennoch tief respektiere. Das Wort Schicksal kommt dem wohl am allernächsten: In jener Nacht, in der ich ein weiteres Fotoalbum erstellte und meine Augen rotgeweint waren vom Lesen der letzten Briefe, brannte mein Haus ganz plötzlich und unerwartet in der damals allerkältesten Nacht des Jahres. Hilflos stand ich vor dem Flammenmeer in dem Wissen, mit einem einzigen Schlag alles verloren zu haben, was ich jemals besaß und noch mehr: Meine Erinnerungen brannten. Das physische Band meiner Trauer, manifestiert in Briefen, Alben und Tagebüchern, wurde in nur wenigen Stunden zu Asche. Es schneite zwei Tage später, als ich zum ersten Mal die Trümmer meines Hauses betreten durfte. Und fast magisch lag weißer Schnee auf schwarzem Grund, als ob er das Ausmaß der Zerstörung verdecken und unwirklich erscheinen lassen wollte. Unter dem metallenen Kerzenständer in der Mitte meines Zimmers, in dem ich einen letzten Rosenstrauß getrocknet aufbewahrt hatte, lag ein Foto des Mannes, der 7 Monate zuvor ums Leben gekommen war. Weißer Schnee, schwarze Asche und ein Foto, das schien wie ein Gruß aus einer anderen Welt. Ein Gruß, der mir zurief. „Lebe! Geh und lebe!“ Ich verstand die Worte, die mir sagten, ich solle aufhören, mich Tag für Tag mit Erinnerungen zu quälen, deren Ausmaß ich mit der Wiederholung der immer gleichen Gedankengänge weiter und weiter vergrößerte. Und auch wenn es mir schwer fiel, aber ich folgte der Botschaft und nahm den Rat an. Ich lebte mehr und intensiver und ignorierte den Tod, der weiterhin an meine Tür klopfte. Die Kraft, die ich im Tod fand, fand meine kleine Schwester nicht. Sie begann eine kurze, aber ebenso intensive Lebensreise, nur mit Heroin als ihrem täglichen Begleiter. Ich ahnte Schlimmes und es wurde schlimm. Nach einem Jahr angespannter Entzugsversuche versagte ihr junger Körper im Kampf gegen die Droge und fiel in ein Koma. Wenige Tage später ließen wir die Maschinen abstellen. Zehn Jahre nach meinem ersten Nahtoderlebnis verließ ich meinen Körper nach einer schweren Krankheit ein zweites Mal. Wieder schwebte ich angstlos über mir selbst. Ich konnte beobachten, wie sich meine Begleiter über mich beugten und mit mir sprachen, mich schüttelten und versuchten, mich aufzuwecken. Ich jedoch war vollkommen still, reines Bewusstsein voller Gleichmut. Es gab nichts Falsches und nichts Richtiges an dem, was gerade passierte, nur ein unendliches Wundern und eine kindlich-freudige Neugier. Alles war losgelöst in der Unendlichkeit des Seins, ja, des Lebens selbst. 15 | maaS Text: N.N. (Name der Redaktion bekannt) | Fotos: iStock „Lebe ! Geh und lebe !“ Wie ich heute zum Thema Tod stehe Wir haben keine Angst vor dem Tod sondern vor dem Leben Ich glaube, dass der Tod in unserer Gesellschaft seine Bedeutung verloren hat. In einer Gemeinschaft, die das Schöne und Junge predigt, wird das Alte und Kranke verdrängt und missachtet. Wir leben in einer Gesellschaft, die den Tod mehr als alles andere fürchtet. Doch warum? Meiner Meinung nach ist es nicht der Tod, vor dem wir Angst haben, sondern das Leben. Wäre uns die Endlichkeit unseres Daseins immerzu bewusst, würde der Tod zu einem Lehrer und einem Begleiter und Berater in Fragen und Situationen, denen wir sonst aus dem Weg gehen oder die wir aushalten. Sich mit dem Tod zu konfrontieren, birgt eine enorme Lebenskraft, denn nichts birgt mehr Schönheit als der Moment, in dem wir uns bewusst werden, dass wir atmen, dass die Sonne scheint und dass in den grünen Blättern der uns umgebenden Bäume ein paar kleine Vögel zwitschern. Der Tod wird uns Gleichheit lehren, denn dort, wo wir hingehen, sind wir alle gleich. Der Atem, den wir jetzt teilen, eint uns und die Erde, die unsere Körper aufnehmen wird, behandelt jeden von uns in derselben Weise. Und damit findet sich das Geheimnis des Todes genau in der Mitte des pochenden Herzens des Lebens. Eine Einladung an das Leben Jeder von uns wird eines Tages sterben. Die letzte Initiation des Lebens kommt unaufhaltsam auf uns zu und niemand kann sich dem entziehen. Das unausweichliche Ende soll uns jedoch nicht verzweifeln lassen, sondern spricht die Einladung aus, jetzt und hier mehr zu fühlen und intensiver jeden einzelnen Moment zu genießen, der uns bleibt. Denn das Leben wird sich verändern. Garantiert. Die Einladung schließt auch das Sterben mit ein und die bewusste Auseinandersetzung damit. Sich mit der Angst vor dem Sterben zu befassen, wird Ruhe in unser Leben bringen, mehr Zufriedenheit, mehr Gleichmut und auch viel mehr Gelassenheit. Was wäre, wenn wir im Moment des Todes lange genug anhalten könnten, um vollständig auf unser Leben zurückzublicken? Welche Dinge würden wir von unserem Sterbebett aus bereuen? Was würden wir ändern? Was wäre, wenn wir uns in den letzten Stunden unseres Lebens plötzlich aller Konsequenzen unserer Handlungen bewusst würden? Wie würden wir heute anders handeln? maaS | 16 Diese Fragen stellt der Tod Die Auseinandersetzung mit dem Tod braucht Stille, Geduld und Zeit und ist eine sehr persönliche Angelegenheit. So wie wir allein geboren werden, sterben wir auch ganz individuell. Nur was liegt dazwischen? Können wir wirklich sagen, dass das Leben, was nur uns gegeben wurde, auch uns gehört? Dass wir es frei und selbstbestimmt leben? Was wäre, wenn uns jemand genau dafür bezahlen würde, das zu tun, wozu wir geboren sind? Würden wir dann alle unsere Berufung leben? Unsere inneren Träume und unser gesamtes Potential? Diese Fragen stellt der Tod. Die Akzeptanz der Endlichkeit beginnt mit der Auseinandersetzung des Unabwendbaren. Und dem Leben kann man kein größeres Geschenk machen als das bewusste Genießen der Gegenwart. Hier und jetzt in jedem Augenblick. Der Tod hat mir das Geschenk von größtmöglicher Freiheit gegeben. Das Erkennen meiner eigenen Endlichkeit ist wie ein Schrei, der laut Ja zum Leben ruft. Ja zum Tanzen, Ja zum Lachen, Ja zum Lieben. Ja dazu, mir selbst reiche und wunderbare Erlebnisse zu schaffen und nicht Mauern aus Bedenken und Angst um mich zu bauen, die mich daran hindern auch nur einen Schritt nach vorn zu gehen. Ja zur Ruhe und den Momenten, die immer wieder zu mir selbst zurückführen, die mich meinen Atem spüren lassen und das Hier und Jetzt, in dem meine gesamte Glückseligkeit geborgen liegt. 17 | maaS Text: | Fotos: Ja zum Leben ! In tiefer Dankbarkeit Mein Sterben bereichert mein Leben und inzwischen frage ich mich, wie das Leben wohl wäre ohne den Tod. Der Tod selbst hat sehr viel Dankbarkeit, Geduld und bedingungslose Liebe in mein Leben gebracht. Heute weiß ich, dass es meine Entscheidung ist, wie ich ganz persönlich mein Dasein gestalten will: Ich habe die Wahl zwischen Kummer und Depression und Akzeptanz und dem Mut, Dankbarkeit in dem zu sehen, was ich erlebt habe, und vor allem, den Tod als Lehrmeister anzunehmen. Für mich hat der Tod eine unbedingte Bedeutung für das Leben gewonnen. Jetzt gibt mir mein Sterben die Kraft, jeden Tag intensiv zu leben, ohne aufgrund der Endlichkeit meiner Existenz zu verzweifeln. In Gedanken frage ich mich nicht, warum so viel Leid passieren musste, sondern warum mein Dasein so reich und vollkommen ist. Warum ausgerechnet ich all das erfahren durfte. Das Leben wird niemals enden, auch nicht, wenn meine eigene Lebenszeit um ist. Das ist es, was das Leben groß macht und den Tod sehr klein. Und wenn wir unser Leben in jedem kostbaren Moment so wichtig nehmen würden, wie den Tod, wenn er an unsere Tür klopft, dann wären wir wohl bereit zu gehen, weil wir auf ein Leben in Fülle und Zufriedenheit zurückblicken könnten, ein Leben, das einen Sinn erkennen lässt und unsere Herzen in Dankbarkeit berührt. Text: Sylvia Nourney |Text: Illustration: | Fotos: fotolia | Fotos: iStock In Worte nicht zu fassen Sylvia Nourney hat bei der Entbindung ihrer Tochter eine Nahtoderfahrung gemacht, die ihr Leben veränderte. „Nach vielen schmerzhaften Stunden war mir klar, dass nur ein Kaiserschnitt mein Leben und das meiner Tochter retten konnte. Ich bekam eine Vollnarkose. Mein Körper war schon so geschwächt, dass ich mich einfach verabschiedet habe. Ich schwebte über dem Türrahmen und sah unter mir eine Frau, die wiederbelebt wurde. Ich dachte nur: „Lasst die Frau in Ruhe!“ Und gleichzeitig: „Mein armer Mann, jetzt ist er ganz allein mit dem Baby.“ Von oben kam ein großes Licht, hell und schön und eine Hand, die mich aufnahm. Es war ein Gefühl, wie nach Hause zu gehen. Plötzlich ließ mich die Hand fallen und ich war mit einem Schlag wieder in meinem schmerzenden Körper. Ich war entsetzt und fühlte mich verlassen von Gott und der Welt. Ich habe geweint vor Verzweiflung: „Warum habt ihr mich nicht geholt?“ Mein Leben war von diesem Moment an sehr ambivalent. Ich hatte viel Lebensfreude in mir, aber genauso eine tiefe Traurigkeit. Eine Seite in mir wollte immer zurück ins Licht. Dieses Gefühl des Friedens, das ich in meiner Umwelt nicht finden konnte, hat mich immer wieder zurückgezogen von der Welt. Erst 18 Jahre später traf ich einen Therapeuten, der mir geholfen hat, eine andere Sicht auf diese Situation zu bekommen. „Menschen treffen nicht allein die Entscheidung über ihr Leben“, hat er gesagt. „So lange der Seelenplan noch nicht erfüllt ist, bleiben wir auf der Erde.“ Und meine Seele wollte zurück wegen meines Mannes und meiner Tochter. Später habe ich in einem Buch von Peter A. Levine gelesen, dass man von der Schöpfung eine große Kraft bekommt, die hilft, alles zu überwinden, wenn die Zeit noch nicht abgelaufen ist. Ich habe diese Überlebensenergie wie eine große Spannung in meinem Körper wahrgenommen. Das war ein Gefühl, als wenn man den Finger in die Steckdose steckt. Ich habe über dem Bett geschwebt. Meine Botschaft: Du brauchst keine Angst vor dem Tod zu haben. Es erwartet dich kein Höllenfeuer, sondern es ist eine sehr schöne Erfahrung. Und es gibt etwas viel Größeres !“ maaS | 18 von Harald Koisser 19 | maaS Foto: iStock DAS WICHTIGSTE EREIGNIS DES LEBENS IST DER TOD So sieht Sterben heute aus. „Kaum verstorben, wird der, der noch einen Augenblick zuvor ein achtbarer Mensch war, nun als armer Toter wie ein Bandit aufgefordert, gefälligst zu verschwinden“, alteriert sich die französische Essayistin Christiane Singer, „keine Totenwachen, kein Abschied. Die einzige Schilderung, die von Mund zu Mund fliegen wird, ist der Krankenbericht der physischen Dysfunktionen, der biologischen Pannen, die ihn das Leben gekostet haben. [...] Eine völlig pervertierte [...], unfreiwillig komische Sprache zieht vor das große Ereignis des Todes den Vorhang eines Herzinfarkts.“ Ihr eigenes Sterben hat die an Krebs erkrankte Essayistin später literarisch dokumentiert, das Buch ist posthum unter dem Titel „Alles ist Leben“ erschienen. Für sie war der Tod, zumal der eigene, sehr wohl Ereignis des Lebens, das wichtigste überhaupt. Sterben üben schafft Freiheit. „Wenn wir uns vor ihm [dem Tod] ängstigen, wird er zum Quell unaufhörlicher Qualen“, meinte im 16. Jahrhundert Michel de Montaigne. „Das Ziel unserer Laufbahn ist der Tod.“ Daher sollten wir das Sterben einfach üben, weil ja doch alles darauf hinausläuft. Montaigne schlug vor, den Tod seiner stärksten Trumpfkarte zu berauben – der Unheimlichkeit! Das macht man, indem man Umgang mit ihm pflegt, sich an ihn gewöhnt, kleine Tode ausprobiert. „Es ist ungewiss, wo der Tod uns erwartet – erwarten wir ihn überall! Das Vorbedenken des Todes ist Vorbedenken der Freiheit. Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt.“ Ich selbst erinnere mich, wie schmerzhaft es für mich als 14-jähriger Bub gewesen ist, mich nicht von meiner geliebten Großmutter verabschieden zu können. Wir waren in das Krankenhaus gefahren, wo sie, vom Krebs verzehrt und wundgelegen, lebend aufgebahrt lag. Ich gierte danach, sie zu sehen und zu umarmen. Meine Eltern hießen mich jedoch, vor dem Krankenzimmer zu warten. Ich hörte, wie meine Oma sagte: „Harald soll mich so nicht sehen.“ Ich sah, wie sie ihren Kopf zu mir wandte, und für einen Sekundenbruchteil trafen sich unsere Blicke. Zum letzten Mal. Dann fiel die Tür ins Schloss. Ich musste draußen bleiben. Ein paar Tage danach wurde sie beerdigt. Es war schrecklich für mich. Nicht der Tod an sich, sondern die Unmöglichkeit, mich zu verabschieden. Mir schien ein essenzielles Gebot des Lebens verletzt: Das Recht, die ganze Wahrheit zu schauen. „Alles – ob Gebrechen, Krankheit, Wahnsinn oder Tod – hat für das Kind seinen Platz in der Fülle der Schöpfung. Bevor man ihm ihn einprägt, kennt das Kind nicht einmal den Ekel.“ (Christiane Singer) Wir veröden seelisch, wenn wir vom Schatten nichts sehen und den Tod nicht wahrhaben wollen. Wenn der Tod des Menschen kein Ereignis des Lebens ist, wie sollen dann der Tod von Ideen und lieben Gewohnheiten, die Trennung von Menschen und Gütern, die Umschichtung von Werten und Glauben je möglich sein? John Donne, ein Zeitgenosse von William Shakespeare, erklärt im Liebesgedicht mit dem Titel „Song“ seiner Liebsten, dass er durch die Trennung von ihr den Tod einübe. „Da er sterblich sei, sei das sehr angemessen. „Da ich ja doch einmal sterben muss, üb’ ich im Scherz den Tod zum Schein.“ Und an anderer Stelle des Poems erinnert Donne: „Wie schwach ist doch die Menschenkraft: Sie verlängert keine Stunde und bringt auch nicht Verflossenes zurück.“ Wir können also nur im Hier und Jetzt sein und unablässig das Sterben üben, indem wir im Leben durch optionale Tode gehen. Erst wenn wir zu sterben verstehen, können wir leben! Wenn wir imstande sind, alles gehen zu lassen, können wir auch alles leben, weil es uns nicht mehr bindet. Wenn wir nicht wirklich hingebungsvoll Ja! sagen können zum Loslassen, wird jede Veränderung zum Gaukelspiel. Plus ça change, plus c‘est la même chose, wie ein französisches Sprichwort sagt. Je mehr wir etwas ändern, desto mehr bleibt es dasselbe. Was soll auch sonst passieren, wenn wir uns zwar kraftvoll ändern wollen, zugleich aber mit selber Kraft am Bisherigen festhalten? Wir finden uns erschöpft im immer Selben. maaS | 20 I M P U L S E F Ü R E I N E R F Ü L LT E S L E B E N int ersche r im Jah 4x No.1 Beruf und Berufung No.2 Männer und Frauen No.3 Leben und Sterben Schenke dir oder einem lieben Menschen Impulse für ein erfülltes Leben! JAHRES-ABO | 4 Ausgaben für 35,60 € * • • • • Keine Ausgabe verpassen! Kann nach Ablauf eines Jahres gekündigt werden Kostenlose Zustellung Auch als Geschenk-Abo (endet automatisch) PROBE-ABO | 2 Ausgaben für 17,80 € * • Endet automatisch • Kostenlose Zustellung EINZELHEFT | 8,90 € *zzgl. 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