Leseprobe (PDF 3.608 KB) - Maas | Impulse für ein erfülltes Leben

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maaS
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Liebe Leserin, lieber Leser!
Über mir wölbt sich ein gigantischer Sternenhimmel,
umrahmt von den Silhouetten der Baumkronen.
Es duftet nach Tannennadeln und feuchtem Laub.
Die Luft wird kühl und Tau senkt sich auf die Wiese.
Vor mir brennt ein wärmendes Feuer. Stille. Ich schaue abwechselnd in die
flackernde Glut und zu den blinkenden Sternen. Ich spüre meine Füße fest auf der
Erde und zugleich fliege ich mit meinem Körper und der Erde als Himmelskörper
durch das unendliche All.
In solchen Stunden ist Raum für die Fragen „Wo komme ich her und wo gehe ich
hin?“ Einige waren dem Himmel schon sehr nah und berichten von einem hellen
Licht oder einer Geborgenheit, auf jeden Fall von etwas viel Größerem, das uns
empfängt. Es scheint, irgendetwas in uns, ein goldener Kern, unsere Seele, sei
unsterblich. Etwas überdauert vielleicht, aber etwas wird ganz sicher sterben.
Das ist das Einzige, was bei unserer Geburt schon feststeht. Mit dem ersten Atemzug wird uns eine begrenzte Zeit geschenkt. Es liegt an uns, jeden Tag aufs Neue
zu entscheiden, wie und womit ich meine Zeit verbringe. John Strelecky hat dafür
ein Bild formuliert: „Stell‘ dir dein Leben wie ein Museum vor, in dem jeder Tag
deines Lebens einen Raum bildet. Alle Gefühle, jede Freude, jedes Leid, alles, was
du erlebt hast, jedes Abenteuer und jede Qual, wären in Bildern und Skulpturen
festgehalten. Wie sähe dein Museum aus?“ Er ist nicht der Einzige, der mahnt,
nichts auf die lange Bank zu schieben. Im Buddhismus stellt man sich in einer
täglichen Meditation vor, dass dieser Tag der letzte sein könnte. Was würdest du
dann heute tun?
Die Angst vor dem Tod beruht meistens darauf, dass wir auf dem Sterbebett
unweigerlich mit all dem konfrontiert werden, was wir noch erleben wollten.
Plötzlich ist es zu spät. Deswegen ist der Tod der beste Lehrmeister für das Leben.
Wie gut, wenn uns das nicht erst im hohen Alter, sondern schon in jungen Jahren
bewusst wird! Denn wenn du dein Leben jeden Tag genießt, blickst du auf ein
erfülltes Leben zurück. Wenn du im Leben gelernt hast anzunehmen und loszulassen, wird das Sterben zu einem abenteuerlichen Flug zu den Sternen.
Bis dahin werde ich noch viele Stunden in meinem Körper auf diesem wunderschönen Planeten genießen. Einige ganz bestimmt am Lagerfeuer unterm
Sternenhimmel.
Anita Maas
September2016
maaS | 4
I N H A LT
Christoph Klein |
Lebenshungrig bleiben
95
Holger Wolff | Lebe jeden Tag als wäre es der letzte
25
Dr. Daniela Tausch | Umgang mit
Sterbenden und Trauernden
47
Gisbert Löcher |
Gelingend altern 91
Heilhaus Kassel | Ein Ort für Geburt, Leben und Sterben
33
Martha Brookhart Halda | Einmal in den Himmel und zurück
62
Das Leben genießen
Umgang mit Tod und Trauer
7
20 Ja, ja ,ja | Eine wahre Geschichte vom
Sterben
75 Farbenfroh statt ungeschminkt | In Japan werden die Toten geschminkt
21 Es gibt keinen Tod! | Die Erkenntnis
der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross
77 Abschied feiern | Ein wertvolles
Ritual
23 Die letzten Schritte im Leben | Fünf
Phasen des Sterbens
83
33 Ein Ort für Geburt, Leben und Sterben | Im Heilhaus Kassel leben Jung und
Alt miteinander
99 Die letzte Station auf Erden | Wie ein
Hospiz zum Vorparadies werden kann
Lebensträume | Braucht man
Lebenskrisen, um auf Abenteuerreise zu
gehen?
17
Das wichtigste Ereignis des Lebens
ist der Tod | Leben heißt sterben lernen –
eine philosophische Betrachtung
25 Lebe jeden Tag als wäre er der letzte |
Eine Weisheit der buddhistische Sterbemeditation
29 Und solang du das nicht hast | … bist du nur ein trüber Gast
37 Was wirklich zählt im Leben | Interview mit John Strelecky über die Big
Five for Life
67 Vipassana Yoga – Die Kunst des
Lebens | Die Dinge so sehen wie sie sind
71 Die Welt in dir | Verantwortung
übernehmen für dein Leben
91 Gelingend altern | Schicksal oder
Chance?
5|
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45 Ja zur Vergänglichkeit | Der Tod verliert an Schrecken und das Leben gewinnt
an Freude
47 Umgang mit Sterbenden und Trauernden | Interview mit einer Psychotherapeutin und Hospizgründerin
Eine Ode an das Leben | Impulse zum
Umgang mit dem Tod
John Strelecky |
Was wirklich zählt im Leben 37
Anita Maas |
Der Efeu – Der Ewigwährende
Juliane Wothe |
Eine Ode an das Leben
83
Anja Hoff |
Die größte Erfahrung des Lebens
107
51
Elke Sohler |
Notausstieg aus dem Leben
Rüdiger Dahlke |
Lebensträume
Was kommt danach?
Lebenswege
In jedem Heft
53 Apfel der Erkenntnis | Eine schamanische Sicht auf unser Leben
11 Was mich das Leben lehrt | Eine
Reihe von Schicksalsschlägen wird zur
Einladung an das Leben
117
103
Totenbücher | Anleitungen für die
Anderswelt und die Wiederkehr ins Leben
105
Eine Seele wird geboren | Auszug aus
einem Roman
16
In Worte nicht zu fassen | Eine Nahtoderfahrung, die das Leben verändert
51
Die größte Erfahrung des Lebens |
Als es soweit ist, hast du sie im Arm …
59
Notausstieg aus dem Leben | Wie man
den Suizid der eigenen Tochter überlebt
65
Vom Burnout in die volle Lebensfreude | Spaß im Leben und bei der Arbeit
59
07
Poesie wie Brot: Friederike Mayröcker: mit Scardanelli
114
Kommt Zeit, kommt Raum:
La vita è bella
107
Heilpflanze:
Efeu – der Ewigwährende
62 Besondere Erfahrungen:
Einmal in den Himmel und zurück
115
Reise
Die Welt der Geister, Götter und
des ewigen Lächelns
65 Wenn nicht jetzt, wann dann? | Mit
dem Wohnmobil unterwegs
109
95 Lebenshungrig bleiben | trotz unheilbarer Krankheit
57
Filmtipps
89
Schwarzes Brett
81
Marktplatz
119
Impressum
Herzensprojekt:
Den Fremden umarmen - Lesbos
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Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben,
sondern den Tagen mehr Leben.
(Cicely Saunders)
Das größte Lebenshemmnis ist das Warten,
das sich an das Morgen klammert und
das Heute verliert.
(Seneca)
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Illustration: Blütencollage von Helga Henschel-Paar (†2009)
Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge,
würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen.
(Martin Luther)
Das Einzige, was von uns bleibt,
sind die Früchte unserer Gedanken, Worte und Taten.
(Thich Nath Hanh)
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Lebensträume
von Rüdiger Dahlke
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DER TOD IST DER BESTE LEHRMEISTER DES LEBENS. UND DOCH VERDRÄNGEN VIELE DEN TOD ALS DAS
EINZIG SICHERE IM LEBEN - MIT DER
KONSEQUENZ, DASS WIR SCHON ZU
LEBZEITEN QUASI GESTORBEN SIND.
OFT BRINGEN ERST SCHWERE KRANKHEITEN ODER DER BEVORSTEHENDE
TOD DIE UNGELEBTEN WÜNSCHE INS
BEWUSSTSEIN UND WIR BEREUEN
BITTERLICH, DASS ES DAFÜR ZU SPÄT
IST. ABER BRAUCHT MAN LEBENSKRISEN, UM UNERLEDIGTE LEBENSTRÄUME AUF EINE LISTE ZU SCHREIBEN
UND EINE ABENTEUERREISE ZU IHRER
ERFÜLLUNG ANZUTRETEN?
Wer die Spielregeln des Lebens gut
kennt und seinen Spielcharakter
durchschaut, ist auf dem besten
Weg - im Leben und beim Sterben.
Der Tod ist als Schlusspunkt des
Lebens der Übergang in die nächste
Dimension. Die beste Vorbereitung
ist ein erfülltes Leben. Wir verdanken es Elisabeth Kübler-Ross,
Sterben überhaupt als Thema der
Wissenschaft erkannt zu haben.
Laut Umfrage glaubt die große
Mehrheit der Deutschen gar nicht
mehr daran, sterben zu müssen. Bei
einer Umfrage, ob sie lieber Zuhause
oder in der Klinik sterben wollen,
antworteten über 90 % sinngemäß:
„Wenn schon, dann Zuhause!“
Das dürfte ein Zeichen kollektiver
Verdrängung sein. Es steht also
schlecht ums Bewusstsein der
Sterblichkeit. Dabei ist der Tod das
einzig Sichere im Leben. Wissenschaftlich betrachtet, ist jedes Leben
eine immer tödlich endende Geschlechtskrankheit, da bisher immer
durch Geschlechtsverkehr übertragen und tödlich endend.
Inzwischen wird Leben auch durch
künstliche Befruchtung eingeleitet, und der moderne Tod hat sich
gewandelt. Frühere Versuche, ihn
zu überlisten - wie im „Jedermann“
- schlugen jeweils fehl, heute freut
sich der fast 100-jährige letzte
Rockefeller über sein 7. Spenderherz.
Der Tod scheint längst nicht mehr,
was er einmal war: unumstößlich
und unbesiegbar. Aber selbst wenn
wir ihm in letzter Minute einige
Organe entreißen und sie anderen
Sterbenden einpflanzen, um diese
wiederum vor ihm zu bewahren,
bleibt seine Macht - in Wahrheit doch ungebrochen.
Je mehr wir ihn wegschieben, desto
mehr übersehen wir die großen
Chancen, die er uns als letzter Lebensübergang bieten könnte. Sobald
wir erkennen, dass er zum Leben gehört, brauchen wir ihn nicht mehr
zu verdrängen und sind vor seinen
Überfällen sicher.
WER DEN TOD ALS ZIEL DES LEBENS IN
DER POLAREN WELT DER GEGENSÄTZE
ERKENNT UND SOGAR ERWARTET,
KANN NICHT MEHR VON IHM ÜBERRASCHT WERDEN.
Wirklich gerecht werden wir ihm
erst, wenn wir ihn in seiner ganzen
Macht und als Ziel unseres Lebens
anerkennen. Er markiert nicht nur
den größten, sondern auch den
wichtigsten Lebensübergang und
zeigt uns die Macht der Schicksalsgesetze, an denen letztlich kein
Weg vorbeiführt. Und so wie wir
aus jedem Lebensübergang eine
Krise oder Chance machen können,
ist das auch beim Tod möglich. Er
könnte wieder zu jener Lösung
und Erlösung werden, die er auch
in unserer Kultur einmal war und
die er in Wirklichkeit auch immer
geblieben ist.
Wir müssten nur das Mantra der
bürgerlichen Welt „Hoffentlich
geschieht nichts“ aufgeben. Ob wir
zu einer Weltreise aufbrechen oder
zu einer Reise nach innen in eigene
Schattenwelten, wir werden mit
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dem gut gemeinten „Fluch“ verabschiedet: „Hoffentlich passiert
nichts.“ Und der geht natürlich
davon aus, dass alles, was passieren könnte, schlecht ist. Warum
sollten wir überhaupt auf Reisen in
die äußere oder innere Welt gehen,
wenn da nichts geschehen soll und
wir nur Negatives erwarten? Solch
absolute Entwicklungsfeindlichkeit
läuft unserem kulturellen Auftrag
diametral entgegen, erwartet doch
selbst Christus, dass wir „heiß oder
kalt leben“, d. h. uns in die Extreme
des Lebens hinein wagen, um ein erfülltes Leben zu verwirklichen, wie
er es ausdrücklich von uns erwartet.
DAS MANTRA „HOFFENTLICH GESCHIEHT NICHTS“ (VER)FÜHRT ZU
EINEM LAUWARMEN DURCHS-LEBENMOGELN, OHNE ANZUSTOSSEN ODER
GAR ANSTÖSSIG ZU WERDEN.
Auf dem Grabstein steht dann eine
Lüge. Geboren 1929 stimmt wohl,
aber verstorben 2016 stimmt meist
nicht mehr. Zu viele sterben heute
bereits Mitte ihrer 40er Jahre, lassen
sich aber erst in ihren 80ern eingraben. Die zweite Lebenshälfte ist
vor allem (Lebens-)Verweigerung,
was oft erst auf dem Totenbett
bereut wird. An erster Stelle bei
allen Untersuchungen, die sich mit
dem Sterben beschäftigen, rangiert
das tiefe und (zu) späte Bedauern
über ein ungelebtes Leben – ohne
es überhaupt versucht zu haben,
die eigenen Wünsche, Träume und
Visionen zu verwirklichen. Viele
klagen auch, zu viel gearbeitet, zu
wenig Zeit mit Freunden verbracht
und zu wenig Gefühle ausgedrückt
zu haben.
Wie wäre es im Gegensatz dazu, der
Anregung Paulo Coelhos zu folgen
und auf folgende Grabsteinaufschrift hin zu leben:
„Er lebte noch, als er starb.“
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Die wundervollste Steilvorlage
dafür vermittelt der Film „Das
Beste kommt zum Schluss“ mit
Morgan Freeman und Jack Nicholson, einem Automechaniker, der
sein Leben seiner Familie schenkte,
und einem Multimillionär, der fürs
Geldscheffeln lebte. Als beide die
Konsequenz ihrer Kommunikationsstörung mittels Lungenkrebsdiagnose erhalten, landen sie im selben
Krankenzimmer, in der Klinik des
Krankheitsunternehmers Nicholson.
Als beider Chemotherapie scheitert,
greift Nicholson die Idee Freemans
einer sogenannten „Eimer-Liste“
auf, einer Aufzählung aller noch
offenen, unerledigten Lebensträume. Angesichts ihres aus schulmedizinischer Sicht sicheren Todes,
beginnen beide zusammen eine
neue, vermeintlich letzte, mutige
Abenteuerreise zur Erfüllung ihrer
unerledigten Träume. So kommt
für beide das Beste wirklich zum
Schluss. Sie werden Freunde und
versuchen einander aus ihren jeweiligen Lebensfallen heraus zu helfen.
Freeman aber bleibt bei seinem
(Krebs) Muster und wagt nicht, sich
aus der Enge seines fremdbestimmten Lebens zu befreien. Er bleibt
seiner übergriffigen Frau und den
Medizinern treu und stirbt in der
von Letzteren vorgegebenen Zeit.
Nicholson aber wagt den Sprung
in eine für ihn neue Dimension,
öffnet sich der Welt der Gefühle
und beginnt eine Beziehung zu
seiner Tochter und zu deren kleiner
Tochter, seiner Enkelin. Er bricht aus
seinem Muster aus und findet zu
sich und seinen Gefühlen. So lebt er
noch viele Jahre als „verdammtes
Wunder“, wie er es selbst nennt.
Erst Jahrzehnte später bringt sein
treuer Assistent auch seine Asche
auf den Gipfel eines Himalaya-Riesen. Als beider Asche in zwei KaffeeDosen nebeneinander ruht, hakt
der Assistent den letzten Punkt auf
der Eimer-Liste ab, etwas Majestätisches zu erleben. So ist Nicholsons
Liste mit seinem Ableben abgelebt,
und wir als Zuschauer bleiben mit
hoffnungsvollem Gefühl zurück:
WIR BRAUCHEN NICHT AUF EINE
KREBSDIAGNOSE ZU WARTEN ODER
AUF DAS SCHEITERN EINER CHEMOTHERAPIE. WIR KÖNNEN SOFORT LEBEN.
Dabei ist es eine wundervolle Hilfe,
seine noch offenen Wünsche, Träume und Visionen auf eine EimerListe zu schreiben, um auch kühnste
und mutigste Träume und Visionen
zu verwirklichen.
Man kann seine Liste nicht früh
genug beginnen und ihre Punkte
umsetzen. Je früher wir anfangen,
desto besser und umso mehr Energie und Zeit bleibt uns für die Liste
bis zur Kiste.
Rüdiger Dahlke
www.dahlke.at
Illustration: iStock (Kompass), © Gabo (Hintergrund)
5 Dinge , die Sterbende am meisten bereuen
ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE DEN MUT GEHABT, MIR SELBST TREU ZU BLEIBEN.
ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE NICHT SO VIEL GEARBEITET.
ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE DEN MUT GEHABT, MEINEN GEFÜHLEN AUSDRUCK ZU VERLEIHEN.
ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE DEN KONTAKT ZU MEINEN FREUNDEN GEHALTEN.
ICH WÜNSCHTE, ICH HÄTTE MIR MEHR FREUDE GEGÖNNT.
(nach Bronnie Ware)
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Der Tod hat mich immer begleitet. Als ich 11 Jahre jung
war, verstarb mein Onkel, der nebenan bei uns im
Haus gewohnt hat. Ganz plötzlich, von einem Tag auf
den anderen, war er nicht mehr da und sollte auch
nicht mehr wiederkommen. Niemand sprach darüber,
nur meine Tante Erna strich mir nach Beendigung
des Leichenschmauses mitleidsvoll über das Gesicht
und murmelte etwas von „verstehen, wenn ich älter
bin“. Meine Eltern wollten uns nicht mit zum Begräbnis nehmen, was ich bis heute nicht verstehe. Und so
fanden es meine kleine Schwester und ich mehr als
aufregend, uns im Wald gegenüber dem Friedhof zu
verstecken und der Beisetzung so auf unsere Weise
beizuwohnen. Als sie sich dem Ende näherte, rannten
wir wie angestochen nach Hause, immer in der Annahme etwas Verbotenes getan zu haben.
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Text: N.N. (Name der Redaktion
Text: | Fotos:
bekannt) | Fotos: iStock
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Text: | Fotos:
„Dann stirb doch endlich !“
Ein paar Jahre später wurde meine Oma väterlicherseits in unserem Haus
sehr krank. Altersbedingt versagte ihr Körper jegliche Nahrungsaufnahme,
was sie vor unseren Augen zu einem Skelett werden ließ. Ihr Sterbeprozess dauerte 2 Jahre, in denen mein Vater verzweifelt alles tat, was in seiner
Macht stand, um sie am Leben zu erhalten. Sie wollte nicht im Krankenhaus
sterben, also behielten wir sie zu Hause. Und obwohl sie schon seit Jahren
von ihrem Wunsch zu sterben sprach, fiel ihr das Loslassen im Augenblick des
Todes sehr schwer. Auch mein Vater konnte nicht loslassen. Für ihn war der
Verlust dieses geliebten Menschen so unfassbar, dass er begann, seinen Kummer im Alkohol zu ertränken. Ein Jahr lang vegetierte er so lamentierend in
seinem Schmerz, dann nahm er sich das Leben. Auch er wollte nicht sterben
und ich weiß, dass ihm sein Selbstmord nur zufällig gelang. Als ich ihn fand,
sah er aus, als schliefe er. Der Alkohol hat ihn so betäubt, dass er nicht einmal
mehr merkte, wie er sich im Schlaf strangulierte.
Es hat ein weiteres Jahr gedauert, bis ich meinen Frieden damit machen
konnte. Es gab zwischen meinem Vater und mir keinen Abschied, sondern
nur harte Worte. Ein Jahr des alkoholgetünchten Lamentierens hatte unsere
noch nie sehr gut funktionierende Beziehung auf sehr dünnes Eis verfrachtet. Es gab kaum Worte zwischen uns, nur routinemäßige Handlungen. Ich
kochte, er aß, ich ging zur Schule, er trank. Ich kam nach Hause, er weinte,
wollte, dass ich sein Leben wieder hinbiege. Aber mit 19 Jahren ist man
damit überfordert. Ich schloss mich ein und versteckte mich im Dunkeln
vor dem, was ich damals Psychoterror nannte. Meine letzten Worte waren:
„Dann stirb doch endlich!“ und am nächsten Tag konnte ich sie nicht mehr
zurücknehmen. Mit 19 Jahren empfand ich es als große Erleichterung, dass
mein Vater starb. Die Endlichkeit des Todes hatte damit eine Tür geschlossen,
die ich nie wieder öffnen brauchte. Und die Gefühle um Schuld, Scham und
den Verlust eines Teils meiner selbst brachen erst viele Jahre später aus ihrem
Versteck, als ich zu begreifen begann, wie groß und wichtig die Beziehung
zwischen Eltern und Kindern ist.
Ein dünner Schleier
zwischen den Welten
Ein Jahr nach meinem Vater starb der Mann, den ich liebte, bei einem Autounfall. So wie sein Leben damals in Stücke gerissen wurde, zerbrach auch mein
Herz, und ich wusste nicht, ob ich je wieder davon genesen würde. Bis dahin
hatte ich keine Ahnung, was Schmerz ist, und Traurigkeit war in der gefühllosen
Welt meines Alltags ein Novum. Tränen kannten wir kaum bei uns zu Hause.
Damals bin ich zum ersten Mal meinem eigenen Tod begegnet, denn leben
wollte ich nicht mehr. Ich erfuhr, wie dünn der Schleier zwischen dieser und
jener Welt sein kann, vor allem in der Übergangsphase zwischen Leben und Tod,
in der Phase des Sterbens, davor und danach:
Eine Woche nach seinem Tod war er jeden Tag bei mir. Er sprach zu mir und
erzählte mir Dinge von der anderen Seite, vom Kreislauf des Lebens, wie es niemals stehen bleibt, sondern sich immer endlos weiterbewegt und sich
verändert, wie der Fluss der Zeit
niemals anhält, auch wenn wir die
einzelnen Sandkörner festhalten
und für immer konservieren wollen,
rinnen sie uns doch haltlos durch
unsere Finger und werden zu nichts
als Geschichte, Erinnerungen im
Buch des Lebens. Für einen kurzen
Augenblick hatte ich damals die
Chance, mit ihm zu gehen. Ich sah
mich außerhalb meines Körpers über
dem Boden schweben und in mir war
endloser Friede und die vollkommene Gewissheit der Perfektion von
Allem, was ist. Es gab keine Worte
oder sonst irgendetwas Weltliches
zur Erklärung, sondern reines Erfahren, ja fast schon Erwachen und das
Wissen, um das Alles, den Atman,
das, wo jede Seele herkommt und eines Tages hingehen wird. Geschulte
Yogis können den Zeitpunkt bestimmen, wann sie ihren Körper verlassen
und sterben.
Verlust bedeutet immer Leben, weil
ein potentieller Raum für etwas
Neues geschaffen wird. Doch als
Menschen mit gebrochenem Herzen klammern wir uns an das, was
uns übrig bleibt: unsere Trauer. Ein
Loslassen und die erneute Bejahung
des Lebens grenzt fast schon an einen
unverzeihlichen Betrug dem geliebten Menschen gegenüber. So kreieren
wir mit unserer Trauer ein ewiges
Band, das uns an den Menschen fesselt, dessen Lebenszeit so kurz war im
Vergleich zur unsrigen.
Ich hielt fest und glorifizierte eine
Beziehung, die im Glanz ihrer neu
entdeckten Perfektion besser nicht
hätte sein können. Ich verdrängte
große Gefühle von Schuld und Wut
und erinnerte mich nicht an gewesene Streitigkeiten im neuen Liebeswahn.
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Mein Leben wurde oftmals von etwas Höherem geleitet, einer Macht, die ich
bis heute nicht beim Namen nennen kann und dennoch tief respektiere. Das
Wort Schicksal kommt dem wohl am allernächsten: In jener Nacht, in der ich
ein weiteres Fotoalbum erstellte und meine Augen rotgeweint waren vom
Lesen der letzten Briefe, brannte mein Haus ganz plötzlich und unerwartet in
der damals allerkältesten Nacht des Jahres. Hilflos stand ich vor dem Flammenmeer in dem Wissen, mit einem einzigen Schlag alles verloren zu haben, was
ich jemals besaß und noch mehr: Meine Erinnerungen brannten. Das physische
Band meiner Trauer, manifestiert in Briefen, Alben und Tagebüchern, wurde in
nur wenigen Stunden zu Asche.
Es schneite zwei Tage später, als ich zum ersten Mal die Trümmer meines Hauses
betreten durfte. Und fast magisch lag weißer Schnee auf schwarzem Grund, als
ob er das Ausmaß der Zerstörung verdecken und unwirklich erscheinen lassen
wollte. Unter dem metallenen Kerzenständer in der Mitte meines Zimmers, in
dem ich einen letzten Rosenstrauß getrocknet aufbewahrt hatte, lag ein Foto
des Mannes, der 7 Monate zuvor ums Leben gekommen war. Weißer Schnee,
schwarze Asche und ein Foto, das schien wie ein Gruß aus einer anderen Welt.
Ein Gruß, der mir zurief. „Lebe! Geh und lebe!“ Ich verstand die Worte, die mir
sagten, ich solle aufhören, mich Tag für Tag mit Erinnerungen zu quälen, deren
Ausmaß ich mit der Wiederholung der immer gleichen Gedankengänge weiter
und weiter vergrößerte. Und auch wenn es mir schwer fiel, aber ich folgte der
Botschaft und nahm den Rat an.
Ich lebte mehr und intensiver und ignorierte den Tod, der weiterhin an meine
Tür klopfte. Die Kraft, die ich im Tod fand, fand meine kleine Schwester nicht. Sie
begann eine kurze, aber ebenso intensive Lebensreise, nur mit Heroin als ihrem
täglichen Begleiter. Ich ahnte Schlimmes und es wurde schlimm. Nach einem
Jahr angespannter Entzugsversuche versagte ihr junger Körper im Kampf gegen
die Droge und fiel in ein Koma. Wenige Tage später ließen wir die Maschinen
abstellen.
Zehn Jahre nach meinem ersten Nahtoderlebnis verließ ich meinen Körper nach
einer schweren Krankheit ein zweites Mal. Wieder schwebte ich angstlos über
mir selbst. Ich konnte beobachten, wie sich meine Begleiter über mich beugten
und mit mir sprachen, mich schüttelten und versuchten, mich aufzuwecken. Ich
jedoch war vollkommen still, reines Bewusstsein voller Gleichmut. Es gab nichts
Falsches und nichts Richtiges an dem, was gerade passierte, nur ein unendliches Wundern und eine kindlich-freudige Neugier. Alles war losgelöst in der
Unendlichkeit des Seins, ja, des Lebens selbst.
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maaS
Text: N.N. (Name der Redaktion bekannt) | Fotos: iStock
„Lebe ! Geh und lebe !“
Wie ich heute zum
Thema Tod stehe
Wir haben keine Angst vor dem Tod
sondern vor dem Leben
Ich glaube, dass der Tod in unserer Gesellschaft seine Bedeutung verloren hat.
In einer Gemeinschaft, die das Schöne und Junge predigt, wird das Alte und
Kranke verdrängt und missachtet. Wir leben in einer Gesellschaft, die den Tod
mehr als alles andere fürchtet. Doch warum? Meiner Meinung nach ist es nicht
der Tod, vor dem wir Angst haben, sondern das Leben. Wäre uns die Endlichkeit
unseres Daseins immerzu bewusst, würde der Tod zu einem Lehrer und einem
Begleiter und Berater in Fragen und Situationen, denen wir sonst aus dem
Weg gehen oder die wir aushalten. Sich mit dem Tod zu konfrontieren, birgt
eine enorme Lebenskraft, denn nichts birgt mehr Schönheit als der Moment,
in dem wir uns bewusst werden, dass wir atmen, dass die Sonne scheint und
dass in den grünen Blättern der uns umgebenden Bäume ein paar kleine Vögel
zwitschern.
Der Tod wird uns Gleichheit lehren, denn dort, wo wir hingehen, sind wir alle
gleich. Der Atem, den wir jetzt teilen, eint uns und die Erde, die unsere Körper
aufnehmen wird, behandelt jeden von uns in derselben Weise. Und damit
findet sich das Geheimnis des Todes genau in der Mitte des pochenden Herzens
des Lebens.
Eine Einladung an das Leben
Jeder von uns wird eines Tages sterben. Die letzte Initiation des Lebens kommt
unaufhaltsam auf uns zu und niemand kann sich dem entziehen. Das unausweichliche Ende soll uns jedoch nicht verzweifeln lassen, sondern spricht die
Einladung aus, jetzt und hier mehr zu fühlen und intensiver jeden einzelnen
Moment zu genießen, der uns bleibt. Denn das Leben wird sich verändern.
Garantiert. Die Einladung schließt auch das Sterben mit ein und die bewusste
Auseinandersetzung damit. Sich mit der Angst vor dem Sterben zu befassen,
wird Ruhe in unser Leben bringen, mehr Zufriedenheit, mehr Gleichmut und
auch viel mehr Gelassenheit. Was wäre, wenn wir im Moment des Todes lange
genug anhalten könnten, um vollständig auf unser Leben zurückzublicken?
Welche Dinge würden wir von unserem Sterbebett aus bereuen? Was würden
wir ändern? Was wäre, wenn wir uns in den letzten Stunden unseres Lebens
plötzlich aller Konsequenzen unserer Handlungen bewusst würden? Wie würden wir heute anders handeln?
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Diese Fragen stellt der Tod
Die Auseinandersetzung mit dem Tod braucht Stille, Geduld und Zeit und ist
eine sehr persönliche Angelegenheit. So wie wir allein geboren werden, sterben wir auch ganz individuell. Nur was liegt dazwischen? Können wir wirklich
sagen, dass das Leben, was nur uns gegeben wurde, auch uns gehört? Dass
wir es frei und selbstbestimmt leben? Was wäre, wenn uns jemand genau
dafür bezahlen würde, das zu tun, wozu wir geboren sind? Würden wir dann
alle unsere Berufung leben? Unsere inneren Träume und unser gesamtes
Potential? Diese Fragen stellt der Tod. Die Akzeptanz der Endlichkeit beginnt
mit der Auseinandersetzung des Unabwendbaren. Und dem Leben kann man
kein größeres Geschenk machen als das bewusste Genießen der Gegenwart.
Hier und jetzt in jedem Augenblick.
Der Tod hat mir das Geschenk von
größtmöglicher Freiheit gegeben. Das
Erkennen meiner eigenen Endlichkeit
ist wie ein Schrei, der laut Ja zum
Leben ruft. Ja zum Tanzen, Ja zum
Lachen, Ja zum Lieben. Ja dazu, mir
selbst reiche und wunderbare Erlebnisse zu schaffen und nicht Mauern
aus Bedenken und Angst um mich
zu bauen, die mich daran hindern
auch nur einen Schritt nach vorn zu
gehen. Ja zur Ruhe und den Momenten, die immer wieder zu mir selbst
zurückführen, die mich meinen Atem
spüren lassen und das Hier und Jetzt,
in dem meine gesamte Glückseligkeit
geborgen liegt.
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maaS
Text: | Fotos:
Ja zum Leben !
In tiefer Dankbarkeit
Mein Sterben bereichert mein Leben und inzwischen frage ich mich, wie
das Leben wohl wäre ohne den Tod. Der Tod selbst hat sehr viel Dankbarkeit, Geduld und bedingungslose Liebe in mein Leben gebracht. Heute
weiß ich, dass es meine Entscheidung ist, wie ich ganz persönlich mein
Dasein gestalten will: Ich habe die Wahl zwischen Kummer und Depression und Akzeptanz und dem Mut, Dankbarkeit in dem zu sehen, was
ich erlebt habe, und vor allem, den Tod als Lehrmeister anzunehmen. Für
mich hat der Tod eine unbedingte Bedeutung für das Leben gewonnen.
Jetzt gibt mir mein Sterben die Kraft, jeden Tag intensiv zu leben, ohne
aufgrund der Endlichkeit meiner Existenz zu verzweifeln. In Gedanken
frage ich mich nicht, warum so viel Leid passieren musste, sondern warum
mein Dasein so reich und vollkommen ist. Warum ausgerechnet ich all
das erfahren durfte.
Das Leben wird niemals enden, auch nicht, wenn meine eigene Lebenszeit
um ist. Das ist es, was das Leben groß macht und den Tod sehr klein. Und
wenn wir unser Leben in jedem kostbaren Moment so wichtig nehmen
würden, wie den Tod, wenn er an unsere Tür klopft, dann wären wir wohl
bereit zu gehen, weil wir auf ein Leben in Fülle und Zufriedenheit zurückblicken könnten, ein Leben, das einen Sinn erkennen lässt und unsere
Herzen in Dankbarkeit berührt.
Text: Sylvia Nourney |Text:
Illustration:
| Fotos: fotolia | Fotos: iStock
In Worte
nicht zu fassen
Sylvia Nourney hat bei der Entbindung ihrer Tochter
eine Nahtoderfahrung gemacht, die ihr Leben veränderte.
„Nach vielen schmerzhaften Stunden war mir klar,
dass nur ein Kaiserschnitt mein Leben und das meiner
Tochter retten konnte. Ich bekam eine Vollnarkose. Mein
Körper war schon so geschwächt, dass ich mich einfach
verabschiedet habe. Ich schwebte über dem Türrahmen
und sah unter mir eine Frau, die wiederbelebt wurde.
Ich dachte nur: „Lasst die Frau in Ruhe!“ Und gleichzeitig: „Mein armer Mann, jetzt ist er ganz allein mit dem
Baby.“ Von oben kam ein großes Licht, hell und schön
und eine Hand, die mich aufnahm. Es war ein Gefühl,
wie nach Hause zu gehen. Plötzlich ließ mich die Hand
fallen und ich war mit einem Schlag wieder in meinem
schmerzenden Körper. Ich war entsetzt und fühlte mich
verlassen von Gott und der Welt. Ich habe geweint vor
Verzweiflung: „Warum habt ihr mich nicht geholt?“
Mein Leben war von diesem Moment an sehr ambivalent. Ich hatte viel Lebensfreude in mir, aber genauso
eine tiefe Traurigkeit. Eine Seite in mir wollte immer
zurück ins Licht. Dieses Gefühl des Friedens, das ich in
meiner Umwelt nicht finden konnte, hat mich immer
wieder zurückgezogen von der Welt. Erst 18 Jahre später
traf ich einen Therapeuten, der mir geholfen hat, eine
andere Sicht auf diese Situation zu bekommen. „Menschen treffen nicht allein die Entscheidung über ihr
Leben“, hat er gesagt. „So lange der Seelenplan noch
nicht erfüllt ist, bleiben wir auf der Erde.“ Und meine
Seele wollte zurück wegen meines Mannes und meiner Tochter. Später habe ich in einem Buch von Peter
A. Levine gelesen, dass man von der Schöpfung eine
große Kraft bekommt, die hilft, alles zu überwinden,
wenn die Zeit noch nicht abgelaufen ist. Ich habe diese
Überlebensenergie wie eine große Spannung in meinem
Körper wahrgenommen. Das war ein Gefühl, als wenn
man den Finger in die Steckdose steckt. Ich habe über
dem Bett geschwebt.
Meine Botschaft:
Du brauchst keine Angst vor dem Tod zu haben. Es erwartet dich kein Höllenfeuer,
sondern es ist eine sehr schöne Erfahrung. Und es gibt etwas viel Größeres !“
maaS | 18
von Harald Koisser
19 |
maaS
Foto: iStock
DAS
WICHTIGSTE
EREIGNIS
DES
LEBENS
IST
DER
TOD
So sieht Sterben heute aus.
„Kaum verstorben, wird der, der
noch einen Augenblick zuvor ein
achtbarer Mensch war, nun als armer
Toter wie ein Bandit aufgefordert,
gefälligst zu verschwinden“, alteriert sich die französische Essayistin
Christiane Singer, „keine Totenwachen, kein Abschied. Die einzige
Schilderung, die von Mund zu Mund
fliegen wird, ist der Krankenbericht
der physischen Dysfunktionen, der
biologischen Pannen, die ihn das
Leben gekostet haben. [...] Eine völlig
pervertierte [...], unfreiwillig komische Sprache zieht vor das große
Ereignis des Todes den Vorhang eines
Herzinfarkts.“ Ihr eigenes Sterben
hat die an Krebs erkrankte Essayistin
später literarisch dokumentiert, das
Buch ist posthum unter dem Titel
„Alles ist Leben“ erschienen. Für sie
war der Tod, zumal der eigene, sehr
wohl Ereignis des Lebens, das wichtigste überhaupt.
Sterben üben schafft Freiheit.
„Wenn wir uns vor ihm [dem Tod]
ängstigen, wird er zum Quell unaufhörlicher Qualen“, meinte im 16.
Jahrhundert Michel de Montaigne.
„Das Ziel unserer Laufbahn ist der
Tod.“ Daher sollten wir das Sterben
einfach üben, weil ja doch alles
darauf hinausläuft. Montaigne
schlug vor, den Tod seiner stärksten Trumpfkarte zu berauben – der
Unheimlichkeit! Das macht man,
indem man Umgang mit ihm pflegt,
sich an ihn gewöhnt, kleine Tode
ausprobiert. „Es ist ungewiss, wo
der Tod uns erwartet – erwarten wir
ihn überall! Das Vorbedenken des
Todes ist Vorbedenken der Freiheit.
Wer sterben gelernt hat, hat das
Dienen verlernt.“
Ich selbst erinnere mich, wie schmerzhaft es für mich als
14-jähriger Bub gewesen ist, mich nicht von meiner geliebten
Großmutter verabschieden zu können. Wir waren in das
Krankenhaus gefahren, wo sie, vom Krebs verzehrt und wundgelegen, lebend aufgebahrt lag. Ich gierte danach, sie zu sehen
und zu umarmen. Meine Eltern hießen mich jedoch, vor dem
Krankenzimmer zu warten. Ich hörte, wie meine Oma sagte:
„Harald soll mich so nicht sehen.“ Ich sah, wie sie ihren Kopf
zu mir wandte, und für einen Sekundenbruchteil trafen sich
unsere Blicke. Zum letzten Mal. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Ich musste draußen bleiben. Ein paar Tage danach wurde sie
beerdigt. Es war schrecklich für mich. Nicht der Tod an sich,
sondern die Unmöglichkeit, mich zu verabschieden. Mir schien
ein essenzielles Gebot des Lebens verletzt: Das Recht, die
ganze Wahrheit zu schauen. „Alles – ob Gebrechen, Krankheit,
Wahnsinn oder Tod – hat für das Kind seinen Platz in der Fülle
der Schöpfung. Bevor man ihm ihn einprägt, kennt das Kind
nicht einmal den Ekel.“ (Christiane Singer) Wir veröden seelisch, wenn wir vom Schatten nichts sehen und den Tod nicht
wahrhaben wollen. Wenn der Tod des Menschen kein Ereignis
des Lebens ist, wie sollen dann der Tod von Ideen und lieben
Gewohnheiten, die Trennung von Menschen und Gütern, die
Umschichtung von Werten und Glauben je möglich sein?
John Donne, ein Zeitgenosse von
William Shakespeare, erklärt im
Liebesgedicht mit dem Titel „Song“
seiner Liebsten, dass er durch die
Trennung von ihr den Tod einübe.
„Da er sterblich sei, sei das sehr
angemessen. „Da ich ja doch
einmal sterben muss, üb’ ich im
Scherz den Tod zum Schein.“ Und
an anderer Stelle des Poems erinnert Donne: „Wie schwach ist doch
die Menschenkraft: Sie verlängert
keine Stunde und bringt auch nicht
Verflossenes zurück.“ Wir können
also nur im Hier und Jetzt sein und
unablässig das Sterben üben, indem
wir im Leben durch optionale Tode
gehen.
Erst wenn wir zu sterben verstehen,
können wir leben! Wenn wir imstande sind, alles gehen zu lassen,
können wir auch alles leben, weil
es uns nicht mehr bindet. Wenn wir
nicht wirklich hingebungsvoll Ja!
sagen können zum Loslassen, wird
jede Veränderung zum Gaukelspiel.
Plus ça change, plus c‘est la même
chose, wie ein französisches Sprichwort sagt. Je mehr wir etwas ändern,
desto mehr bleibt es dasselbe. Was
soll auch sonst passieren, wenn wir
uns zwar kraftvoll ändern wollen,
zugleich aber mit selber Kraft am
Bisherigen festhalten? Wir finden
uns erschöpft im immer Selben.
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Vorschau No.4
Individuum und Gemeinschaft
ab 16. Dezember 2016
Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei.
Es bilden sich neue Strukturen des Zusammenwirkens und - lebens.
Aber starke Gemeinschaften brauchen starke Individuen mit Bewusstsein.
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