Junge, alleinerziehende Mütter im Rechtsbereich des SGB II – Die soziale Konstruktion einer neuen Familienform?1 Hermann Müller, Hildesheim, September 2016 Einleitung In der Cafeteria eines Jobcenters sprachen zwei Mitarbeiterinnen über eine Gerichtsentscheidung. Eine junge Frau und Mutter war sanktioniert worden, weil sie zu einem Termin nicht erschienen war. Sie entschuldigte sich damit, dass ihr Kind krank gewesen sei, legte aber keine Bescheinigung des Kinderarztes vor. Der Richter gab der Klage der Mutter dennoch statt. Eine Mutter könne wissen, wann ihr Kind krank sei. Auch in Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Jugendberufshilfe wurde auf Probleme mit der Zielgruppe der jungen Mütter hingewiesen. Wenn sie nicht von sich aus motiviert seien, könne man sie kaum verpflichten, regelmäßig an bestimmten Maßnahmen teilzunehmen. Sie würden dann zwar Hilfeleistungen von Sozialarbeiterinnen annehmen, aber ansonsten ihre Verpflichtungen vernachlässigen. Dies sind Eindrücke aus Gesprächen, die nicht typisch für die sozialpädagogische Arbeit mit dieser Zielgruppe sein müssen. Sie können aber ein Anlass sein für eine Forschungsfragestellung. In wissenschaftlichen Untersuchungen und in der Praxis der Jugendberufshilfe sind junge Mütter im Rechtsbereich des SGB II eine besondere Zielgruppe. Meist geht es dabei darum, die Benachteiligung dieser Personengruppe aufzuzeigen, den Müttern zu helfen, sich in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren oder den Müttern bei der Erziehung der Kinder zu helfen. Ich möchte hier eine andere Perspektive vorschlagen. Durch den gesellschaftlichen Wandel und durch gesetzliche Anreize entstehen neue Familienformen. Im Fokus stehen hier Frauen unter 25 Jahren mit einem oder mehreren Kindern, die nicht mit einem Partner zusammen leben und von ALG II abhängig sind. Sie weichen damit deutlich vom traditionellen Familienmodel ab. Danach müssen Mütter nicht berufstätig sein, dann aber sollte der Ehemann und Vater „eine Familie ernähren“ können. Sie weichen aber auch von der modernen Vorstellung ab, wonach Männer und Frauen gleichberechtigt sind und berufstätig sein sollten. Die jungen Frauen wurden Mutter in einem Alter, in dem man häufig seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen hat. Wie kommt es nun zu solchen Familienformen? Zu den Motivlagen und biographischen Ausgangsbedingen liegen kaum gesicherte Erkenntnisse vor. Lois (2014) zeigte Zusammenhänge auf zwischen eine frühen Ablösung vom Elternhaus und Kohabitation einerseits und bestimmten Familienstrukturen andererseits. Kinder aus Familien Alleinerziehender und aus Stieffamilien trennen sich danach öfters früher von ihrer Herkunftsfamilie als Kinder aus Kernfamilien. Dass dies aber auch auf die Personengruppe der jungen alleinerziehenden Mütter zutrifft, kann man nur vermuten. Aus Beobachtungen ergibt sich, dass die frühe Mutterschaft eine Alternative zu einer Berufskarriere mit schlechten Chancen sein könnte. Aber auch diese Annahme ist nicht gesichert. Rechtliche Rahmenbedingungen können zu den Bedingungen gehören, die die Familienform ermöglichen. Darauf wird in Kapitel 1 eingegangen. Kapitel 2 befasst sich dann mit der sozialen Situation der Frauen. 1 Die Skizze beruht auf einer Studie im Rahmen einer Evaluation ( vgl. Müller u.a. 2014) auf Beobachtungen in einem Projekt zu Gesprächspraktiken in Jobcentern ( vgl. Böhringer u.s. 2012) und Vorarbeiten zu einem Projektantrag, an denen Andreas Oehme, Wolfgang Schröer, Gunter Graßhoff und Daniela Böhringer beteiligt waren. 1 1. Rechtliche Anreize im SGB II Nach dem SGB II sollen arbeitsfähige Hilfebedürftige aktiviert werden. Fehlverhalten soll negativ sanktioniert werden (vgl. Karl, Müller, Wolff 2012) Gegen Personen unter 25 Jahren können härtere Strafen verhängt werden. Anders ist die Situation Alleinerziehender unter 25 Jahren. Frauen mit unter 25 Jahren mit Kindern unter drei Jahren müssen nicht an Maßnahmen teilnehmen, wenn sie dies nicht wollen. Aber auch die Sanktionierung von Müttern mit etwas älteren Kindern kann schwierig werden. Eine Erkrankung des Kindes kann leicht als Entschuldigung angeführt werden. Das Jobcenter kann kaum beweisen, dass das Kind nicht krank war. Eine „Aktivierung“ dieser Frauen ist daher nur auf freiwilliger Grundlage möglich. Berichte von Sozialarbeiterinnen zeigen, dass Versuche, „Druck“ auszuüben, häufig ins Leere laufen. Im Jahre 2006 wurde das SGB II verändert, was zu einem tiefgreifenden Eingriff in die Biographie junger Menschen im ALG II Bezug und ihrer Eltern führte. „Das SGB II- Änderungsgesetz hat für erwerbslose junge Menschen, die volljährig und noch nicht 25 Jahre alt sind, durch ein sogenanntes Auszugsverbot und die erweiterte Unterhaltsverpflichtung der mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Eltern(teile) die Lebensbedingungen erheblich und meist zusätzlich belastet“ (Schruth 2008,3). Die Intention des Gesetzgebers war, Kosten für die Kommunen einzusparen. Hier geht es mir nun weniger um die Frage, ob so Freiheitsrechte der Eltern eingeschränkt werden oder ob der Gesetzgeber indirekt Ablöseprozesse Jugendlicher regulierte.2 Schwangerschaft ist ein wichtiger Grund, der einen Auszug aus dem Elternhaus ermöglicht. Dadurch entsteht ein Anreiz für eine neue Familienform. Zur sozialen und psycho-sozialen Situation Alleinerziehender Offen bleibt die Frage, ob es sich um eine neue Familienform oder mehrere neue Formen handelt. Erfasst wird nur die offizielle „Bedarfsgemeinschaft“. Für einen berufstätigen Mann besteht zum Beispiel kein Anreiz, offiziell Partner und Vater bzw. Stiefvater in einer „Bedarfsgemeinschaft“ zu werden. Man kann daher nicht wissen, wie viele offizielle Bedarfsgemeinschaften Alleinerziehender inoffiziell Familien sind. Auch wenn der Vater nicht mit der jungen Mutter in einem Haushalt lebt, muss dies nicht bedeuten, dass er sich nicht an der Erziehung der Kinder beteiligt und die Mutter „alleinerziehend“ ist. Unter diesem Vorbehalten müssen daher auch Untersuchungen zu alleinerziehenden Frauen gesehen werden. Dennoch kann man feststellen, dass die finanzielle und soziale Situation vieler dieser Familie prekär ist. Von den alleinerziehenden Müttern unter 25 Jahren im ALG-II Bezug haben 72,5 % keinen Berufsabschluss (vgl. Aschatz u.a. 2013, 76). Alleinerziehende sind in besonderem Maße armutsgefährdet. Lenze (2014,75) folgert aus ihrer rechtswissenschaftlichen Studie: „Die prekären Lebenslagen von Alleinerziehenden sind immer wieder Gegenstand der öffentlichen Debatte und es ist unbestritten, dass dringender Handlungsbedarf besteht, um die Armut von Ein-Eltern-Familie zu reduzieren. Umso erstaunlicher sind die Entwicklungen in den verschiedenen Rechtsbereichen, die in dieser Studie aufgezeigt wurden und die nahezu alle zu einer Verschlechterung der finanziellen Lage von Alleinerziehenden geführt haben.“ Nach einer Studie von Franz sind Alleinerziehende öfters depressiv. „In der Düsseldorfer Alleinerziehenden-Studie (Franz & Lensche 2003, Franz et al. 2003) in der Mütter im Vorschulalter untersucht wurden, war die erhöhte Depressivität alleinerziehender Mütter stark mit 2 In einem Fall, den wir ( vgl. Böhringer u.a. 2012), beobachteten, ging es um einen Zielkonflikt zwischen Hilfen nach dem SGB VIII und einer möglichen Sanktionierung. Das Jugendamt hatte den Auszug des Jugendlichen aus dem Elternhaus befürwortet. Eine zweite Sanktionierung hätte bedeuten können, das der Jugendliche ins Elternhaus hätte zurück müssen. 2 Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder korreliert“ (Franz 2008, S. 19)3 Eine weitere Frage ist, wie sich ein solches Familienmodell auf die psychische Entwicklung von Kindern auswirkt. Elemente einer psycho-analytischen Theorie zu alleinerziehenden Müttern skizzierte Oliver (1994, 159 ff.) Weitere psychologische Studien und Familienstudien hierzu könnten sinnvoll sein. An einem Fallbeispiel kann man zeigen, wie Sanktionsmöglichkeiten des Jobcenters zur Munition in der Auseinandersetzung zwischen einem männlichen Jugendlichen und seiner alleinerziehenden Mutter werden können ( vgl. Müller 2016, 188 - 194) Vor dem Hintergrund der allgemeinen Feminisierung der Erziehung im privaten und öffentlichen Bereich stellt sich die Frage, ob sich dadurch die Sozialisation von Jungen und Mädchen verändert. Fazit Viele Fragen bleiben offen und müssten durch quantitative und qualitative Untersuchungen geklärt werden. Aber es bleibt der Eindruck, dass hier neue Familienformen entstehen, die nicht dem politische Mainstream-Modell einer emanzipierten Familie entspricht. Ob dieses Model nicht intendiert oder stillschweigend gefördert wird, ist eine offene Frage. Fraglich ist auch, ob dieses Modell in Sinne der Mehrheit der Betroffenen ist. Es mag sein, dass sich ein Teil der Betroffenen mit ihrer Situation arrangiert hat. Möglich ist aber auch, dass viele Betroffene später unter den Belastungen, die sie anfangs nicht antizipiert hatten, leiden. Wir sehen hier eine große Forschungslücke der sozialpädagogischen Forschung und auch für die Genderforschung. Die gesellschaftlichen Anreize sind widersprüchlich. Einerseits wird die Entstehung dieser Familienform, bei denen „Vater Staat“ zu einem, wenn auch geizigen, Ernährer wird, gefördert. Andererseits sollen diese Frauen möglichst schnell wieder aktiviert werden. Die Praxis von „Fördern und Fordern“ kann in dieser Zielgruppe problematisch sein. Sie können ein Anreiz zur Informationskontrolle auf Seiten der Klientinnen sein, was ein von Vertrauen geprägtes Arbeitsbündnis zu den Mitarbeiterinnen der Jugendberufshilfe unterminiert. Sinnvoll wäre daher eine Schweigepflicht der Mitarbeiterinnen und eine Arbeit mit den Klientinnen auf rein freiwilliger Grundlage. Die Integration in Ausbildung muss nicht immer ein kurzfristiges Ziel der sozialpädagogischen Arbeit sein. In einigen Fällen kann die Hilfe bei Überschuldung, die Hilfe im Haushalt und bei der Erziehung dringender sein. Sinnvoll wäre eine langfristige Fallarbeit, die nicht von kurzfristigen Förderungen abhängig ist. Eine Förderung kann zum Beispiel davon abhängig sein, ob eine Arbeitslose Mitglied einer „Bedarfsgemeinschaft“ nach dem SGB II ist. Wenn zum Beispiel eine junge Mutter mit einem Partner zusammenzieht, der ein Einkommen hat, kann die Möglichkeit wegfallen, an einer bestimmten Maßnahme teilzunehmen. Aber nicht jede junge Arbeitslose wünscht sich auch immer als Nur-Hausfrau und Mutter in einem traditionellen Familienmodell zu verbleiben. Das SGB II kann dann den Anreiz bieten, nicht offiziell eine Familie zu gründen. Ein Problem kann auch die „Verzettelung der Verantwortung“ (vgl. Balint 1980, 104 ff.), die an unterschiedliche Einzelproblemen( z.B. Verschuldung, Hilfen zur Erziehung, Integration in Ausbildung) ansetzt. Für eine Klientin können gleichzeitig und nacheinander mehrere sozialpädagogische Institutionen zuständig sein, ohne dass sich eine davon ganz verantwortlich fühlt. 3 Dies darf nicht als pauschale Stigmatisierung missverstanden werden. Der Einschätzung „ dass „einem überraschend großen Teil der jugendlichen Mütter und Paare gelingt, einzelne Aspekte ihres Lebens für sich und ihre Kinder positiv und zukunftsorientiert zu gestalten“ (Friederich und Remberg 2005,S353, zitiert nach Chamakalayil 2010, S. 5) wollen wir nicht widersprechen. Man darf aber auch nicht ausblenden, dass derartige Risiken bestehen. 3 Literatur Achatz, Juliane; Hirseland, Andreas; Lietzmann, Torsten; Zabel, Cordula (2013) IAB Forschungsbericht 8/2013, Alleinerziehende Mütter im Bereich des SGB II online verfügbar doku.iab.de/forschungsbericht/2013/fb0813.pdf Arbeitsmarkt Aktuell DGB (2010): Junge Frauen am Arbeitsmarkt, Gut qualifiziert, oft aber schlecht bezahlt, in Arbeitsmarkt aktuell Nov. 2010 online verfügbar, letzter Zugriff 27.2.2014 www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=7&ved=0CEwQFjAG&url=http%3A%2F%2Fwww.d gb.de%2Fthemen Arendt, Hannah (1994) Vita Aktiva oder vom tätigen Leben, 8. Auflage, München: Piper Balint, M. 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