Süddeutsche Zeitung vom 21.09.2016 Seite: Ressort: 15 Forum Gattung: Auflage: Ausgabe: Hauptausgabe Reichweite: Tageszeitung 429.394 (gedruckt) 382.050 (verkauft) 391.894 (verbreitet) 1,13 (in Mio.) Wissen mit Gewissen Die jungen Akademiker in Heidelberg wollen vor allem eines: Technik für Menschen Es sind die Großen ihrer Disziplin, die am Sonntagnachmittag feierlich zur Eröffnung des Heidelberg Laureate Forum in die Aula der Neuen Universität einziehen. Etwa der britische Mathematiker Michael Francis Atiyah, Ivan Sutherland, ein Visionär der Computergrafik, oder der Mathematiker Andrew Wiles, der den großen Fermat’schen Satz nach 350 Jahren bewiesen hat und dieses Jahr dafür mit dem Abel-Preis ausgezeichnet wurde. Die 20 Männer und die eine Frau darunter, Barbara Liskov, haben viele von den Dingen erdacht oder entwickelt, die heute jeder in seinem Smartphone, in seinem Computer nutzt, ohne groß nachzudenken. Aber es ist an der Zeit nachzudenken, darin sind sich die Vorbilder wie auch die Gäste und jungen Wissenschaftler durchaus einig. Wer sollte wem nutzen? Die Maschine dem Menschen oder umgekehrt? John E. Hopcroft bringt es gleich beim ersten Vortrag der Woche auf den Punkt: „Die Wissenschaft ändert sich, wir stehen vor spannenden Problemen: nämlich, wie diese Computer genutzt werden.“ Gut 40 Jahre lang hätte man sich auf das Entwickeln konzentriert, jetzt stellten künstliche Intelligenz und Deep Learning die Wissenschaft vor neue Fragen. Hopcroft, zweimal ausgezeichnet als inspirierendster Lehrer an der Cornell University, hofft dafür seinerseits auf viele inspirierende Arbeiten der jungen Kollegen – denn Aufhören mit dem Forschen und Lehren will er trotz seiner 76 Jahre noch lange nicht. Und sein jüngstes Buch gebe es auch einfach zum Download, kündigt er an, ebenfalls ein Unterschied zu früheren Zeiten. Seine einfache Rechnung: mehr Verbreitung, mehr Renommee, höheres Gehalt. Eigene Ideen bringen die jungen Kollegen, an die er appelliert, aber auch genügend mit, wie sie bei Gesprächen in den Pausen erläutern. „Wir brauchen verantwortungsbewusste Systeme“, sagt der Niederländer Tim Baarley, der in Amsterdam seinen Postdoc absolviert. Es sei an der Zeit, Algorithmen zu entwickeln, die den Leuten tatsächlich helfen. Momentan stehe allein der ökonomische Aspekt im Vordergrund – doch für einen nachhaltigen Umgang mit all den Daten, beispielsweise auf dem Energiemarkt, müssten viele weitere Faktoren eine Rolle spielen. Wann steht wo Energie zur Verfügung, wer kann sie gebrauchen? „Alleine geht das nicht, aber miteinander.“ Big Data richtig zu sortieren, das ist das Gebiet von Jefrey Lijffijt. Der 33-Jährige, der als Postdoc an der Universität Gent arbeitet, will ebenso wie sein Landsmann vorhandene Daten für die Gesellschaft nutzbar machen. Sein jüngstes Projekt war eher historischer Natur: Er arbeitete mit Linguisten, die die Veränderung der Sprache untersuchten. Noch ganz am Anfang ihrer Karriere stehen naturgemäß die jüngsten Teilnehmer: Dierk Schleicher, Professor an der Jacobs-Universität Bremen und einer derjenigen, die sich um die Auswahl der jungen Akademiker für das Forum kümmern, hat drei sehr junge Leute dazu motiviert, nach Heidelberg zu kommen. Der älteste ist Steffen Maas mit 19 Jahren, der mittlere Jonathan Reimers mit 18, der jüngste, Raphael Steiner, ist 16. Der junge Tuttlinger hat zwar noch kein Abitur, doch in einem Jahr wird er vermutlich dank Fernuni Hagen seinen Master in Mathematik in der Tasche haben. Das Ziel der Jungmathematiker ist erst einmal, Vorbilder zu treffen, die führenden Vertreter des Fachs. Auch wenn die Ehrfurcht noch groß ist: Die Befürchtung, unpassende Randfigur zu sein, hat sich schon am ersten Abend zerstreut. Aus den USA sind Jesse Dodge und Mrinmaya Sachan gekommen. Beide sind 29, beide sind an der Carnegie Mellon University, die mit Raj Reddy auch einen Turing-Preisträger nach Heidelberg entsandt hat. „Wenn schon mal die Leute in den USA von der Tagung wissen, bedeutet das schon was“, meint Sachan. Beide arbeiten mit Spracherkennung. „Ich helfe den Computern, Englisch zu verstehen – oder aber auch jede andere Sprache“, sagt Jesse Dodge. Trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit, die das Thema mittlerweile genießt, denken doch beide, dass noch ein langer Weg vor ihnen liegt – gleich, ob es um Spracherkennung oder Übersetzung geht. Aber volle Bestimmung seitens des Computers? Die Vorstellung einer kompletten Automatisierung weckt trotz aller Begeisterung für die Möglichkeiten Unbehagen bei beiden. Übrigens auch bei etablierten Wissenschaftlern. Rainer Malaka, Professor für Digitale Medien an der Uni Bremen, Träger des Klaus-Tschira-Preises für verständliche Wissenschaft, ist als Gast bei der Tagung. Ihn treibt dieselbe Frage um, die auch die beiden Niederländer beschäftigt: „Wie gestalten wir die Nutzung der Maschinen im Sinne der Menschen?“ Das bedeute, dass der Alltag der Nutzer nicht – wie derzeit üblich – von Apple oder Google gestaltet werde. Auch das Ende des Privaten, das Mark Zuckerberg schon vor einigen Jahren voraussagte, auch das könne nicht das Ziel sein, meint der Professor. Nein, die Wissenschaft denke einige Jahre weiter. Das sollte man auch durchaus erwarten, sagt Malaka und hofft, dass die Kollegen ebenso viel Lust auf Debatten haben wie er. „Ich wünsche mir mehr Diskussion über die Folgen der neuen Technologien.“ Die Einführung einer dieser Technologien, das selbstfahrende Auto, ist aber nur noch eine Frage der Zeit, glauben die beiden Niederländer Lijffijt und Baarley. Spätestens in 20 Jahren werden die Autos eigenständig fahren. „Das ist doch viel sicherer“, sagt Baarley. Und wann übernehmen die Computer komplett? Lange, lange nicht, schätzt Jefrey Lijfijt. Doch eines sei auch jedem Informatiker klar: Es ist keine Schwierigkeit, ein System zu bauen, das sich nicht stoppen lässt. JOHANNA PFUND Das Ende der Privatsphäre sollte nicht das Ziel der Entwicklung sein Abbildung: Wörter: Urheberinformation: © 2016 PMG Presse-Monitor GmbH Algorithmen, Strukturen, Spracherkennung: Es gibt reichlich Themen, über die sich die jungen Wissenschaftler diese Woche in Heidelberg unterhalten können. Foto: Heidelberg Laureate Forum Foundation/Flemming 2016 871 DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
© Copyright 2024 ExpyDoc