Wissen mit Gewissen

Süddeutsche Zeitung vom 21.09.2016
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15
Forum
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Tageszeitung
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Wissen mit Gewissen
Die jungen Akademiker in Heidelberg wollen vor allem eines: Technik für Menschen
Es sind die Großen ihrer Disziplin, die
am Sonntagnachmittag feierlich zur
Eröffnung des Heidelberg Laureate
Forum in die Aula der Neuen Universität einziehen. Etwa der britische Mathematiker Michael Francis Atiyah, Ivan
Sutherland, ein Visionär der Computergrafik, oder der Mathematiker Andrew
Wiles, der den großen Fermat’schen
Satz nach 350 Jahren bewiesen hat und
dieses Jahr dafür mit dem Abel-Preis
ausgezeichnet wurde. Die 20 Männer
und die eine Frau darunter, Barbara Liskov, haben viele von den Dingen
erdacht oder entwickelt, die heute jeder
in seinem Smartphone, in seinem Computer nutzt, ohne groß nachzudenken.
Aber es ist an der Zeit nachzudenken,
darin sind sich die Vorbilder wie auch
die Gäste und jungen Wissenschaftler
durchaus einig. Wer sollte wem nutzen?
Die Maschine dem Menschen oder
umgekehrt?
John E. Hopcroft bringt es gleich beim
ersten Vortrag der Woche auf den
Punkt: „Die Wissenschaft ändert sich,
wir stehen vor spannenden Problemen:
nämlich, wie diese Computer genutzt
werden.“ Gut 40 Jahre lang hätte man
sich auf das Entwickeln konzentriert,
jetzt stellten künstliche Intelligenz und
Deep Learning die Wissenschaft vor
neue Fragen. Hopcroft, zweimal ausgezeichnet als inspirierendster Lehrer an
der Cornell University, hofft dafür seinerseits auf viele inspirierende Arbeiten
der jungen Kollegen – denn Aufhören
mit dem Forschen und Lehren will er
trotz seiner 76 Jahre noch lange nicht.
Und sein jüngstes Buch gebe es auch
einfach zum Download, kündigt er an,
ebenfalls ein Unterschied zu früheren
Zeiten. Seine einfache Rechnung: mehr
Verbreitung, mehr Renommee, höheres
Gehalt.
Eigene Ideen bringen die jungen Kollegen, an die er appelliert, aber auch genügend mit, wie sie bei Gesprächen in den
Pausen erläutern. „Wir brauchen verantwortungsbewusste Systeme“, sagt der
Niederländer Tim Baarley, der in
Amsterdam seinen Postdoc absolviert.
Es sei an der Zeit, Algorithmen zu entwickeln, die den Leuten tatsächlich helfen. Momentan stehe allein der ökonomische Aspekt im Vordergrund – doch
für einen nachhaltigen Umgang mit all
den Daten, beispielsweise auf dem Energiemarkt, müssten viele weitere Faktoren eine Rolle spielen. Wann steht wo
Energie zur Verfügung, wer kann sie
gebrauchen? „Alleine geht das nicht,
aber miteinander.“
Big Data richtig zu sortieren, das ist das
Gebiet von Jefrey Lijffijt. Der 33-Jährige, der als Postdoc an der Universität
Gent arbeitet, will ebenso wie sein
Landsmann vorhandene Daten für die
Gesellschaft nutzbar machen. Sein jüngstes Projekt war eher historischer Natur:
Er arbeitete mit Linguisten, die die Veränderung der Sprache untersuchten.
Noch ganz am Anfang ihrer Karriere
stehen naturgemäß die jüngsten Teilnehmer: Dierk Schleicher, Professor an der
Jacobs-Universität Bremen und einer
derjenigen, die sich um die Auswahl der
jungen Akademiker für das Forum kümmern, hat drei sehr junge Leute dazu
motiviert, nach Heidelberg zu kommen.
Der älteste ist Steffen Maas mit 19 Jahren, der mittlere Jonathan Reimers mit
18, der jüngste, Raphael Steiner, ist 16.
Der junge Tuttlinger hat zwar noch kein
Abitur, doch in einem Jahr wird er vermutlich dank Fernuni Hagen seinen
Master in Mathematik in der Tasche
haben. Das Ziel der Jungmathematiker
ist erst einmal, Vorbilder zu treffen, die
führenden Vertreter des Fachs. Auch
wenn die Ehrfurcht noch groß ist: Die
Befürchtung, unpassende Randfigur zu
sein, hat sich schon am ersten Abend
zerstreut.
Aus den USA sind Jesse Dodge und
Mrinmaya Sachan gekommen. Beide
sind 29, beide sind an der Carnegie Mellon University, die mit Raj Reddy auch
einen Turing-Preisträger nach Heidelberg entsandt hat. „Wenn schon mal die
Leute in den USA von der Tagung wissen, bedeutet das schon was“, meint
Sachan. Beide arbeiten mit Spracherkennung. „Ich helfe den Computern,
Englisch zu verstehen – oder aber auch
jede andere Sprache“, sagt Jesse Dodge.
Trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit,
die das Thema mittlerweile genießt,
denken doch beide, dass noch ein langer Weg vor ihnen liegt – gleich, ob es
um Spracherkennung oder Übersetzung
geht. Aber volle Bestimmung seitens
des Computers? Die Vorstellung einer
kompletten Automatisierung weckt trotz
aller Begeisterung für die Möglichkeiten Unbehagen bei beiden.
Übrigens auch bei etablierten Wissenschaftlern. Rainer Malaka, Professor für
Digitale Medien an der Uni Bremen,
Träger des Klaus-Tschira-Preises für
verständliche Wissenschaft, ist als Gast
bei der Tagung. Ihn treibt dieselbe Frage
um, die auch die beiden Niederländer
beschäftigt: „Wie gestalten wir die Nutzung der Maschinen im Sinne der Menschen?“ Das bedeute, dass der Alltag
der Nutzer nicht – wie derzeit üblich –
von Apple oder Google gestaltet werde.
Auch das Ende des Privaten, das Mark
Zuckerberg schon vor einigen Jahren
voraussagte, auch das könne nicht das
Ziel sein, meint der Professor. Nein, die
Wissenschaft denke einige Jahre weiter.
Das sollte man auch durchaus erwarten,
sagt Malaka und hofft, dass die Kollegen ebenso viel Lust auf Debatten haben
wie er. „Ich wünsche mir mehr Diskussion über die Folgen der neuen Technologien.“
Die Einführung einer dieser Technologien, das selbstfahrende Auto, ist aber
nur noch eine Frage der Zeit, glauben
die beiden Niederländer Lijffijt und
Baarley. Spätestens in 20 Jahren werden die Autos eigenständig fahren. „Das
ist doch viel sicherer“, sagt Baarley.
Und wann übernehmen die Computer
komplett? Lange, lange nicht, schätzt
Jefrey Lijfijt. Doch eines sei auch jedem
Informatiker klar: Es ist keine Schwierigkeit, ein System zu bauen, das sich
nicht stoppen lässt.
JOHANNA PFUND
Das Ende der Privatsphäre sollte
nicht das Ziel der Entwicklung sein
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Algorithmen, Strukturen, Spracherkennung: Es gibt reichlich Themen, über die sich die jungen
Wissenschaftler diese Woche in Heidelberg unterhalten können. Foto: Heidelberg Laureate Forum
Foundation/Flemming 2016
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