Das Wort, das es nicht gibt - RZ

Kolumne
Das Wort, das es nicht gibt
Ein brasilianischer Musiker erklärte bei der Zugabe bei einem Konzert: „Das Stück hat
einen portugiesischen Titel, ein Wort, das es auf Deutsch nicht gibt. Es meint das Gefühl,
etwas zu vermissen, von dem man nicht einmal weiss, was es ist.“ Es ist eine Art von
leiser Sehnsucht, ein Gefühl von „ich bin nicht da, wo ich hingehöre“.
Obwohl wir kein explizites Wort dafür haben, kennen die meisten dieses Gefühl. Im
Privatleben wie im Berufsleben. Wird dieses Gefühl nicht ernst genommen, breitet sich
eine diffuse Sehnsucht aus. Ein schwer definierbares Gefühl, das sich durch alle Ritzen
der Seele zwängt und auf jeden Nervenstrang kleine Gewichte legt, was sich in leichter
Unzufriedenheit äussert. Leichtigkeit und Lebensfreude werden immer mehr blockiert.
Man sagt noch immer: „Es geht mir gut“ – und weiss, dass es nicht wirklich stimmt.
Eigentlich schon, aber…
Irgendwann verdichtet sich die unerfüllte Sehnsucht zu dumpfer Unzufriedenheit - und
kann mit der Zeit chronisch werden. Denn mit der Zeit nimmt die Seele die Farbe der
Gedanken an.
Sehnsüchte poltern selten durchs Seelenleben. Sie schweben leise, wie Wolken, die sich
verdichten und dabei unterschiedlichste Formen annehmen – und sich manchmal auch
wieder verflüchtigen. Es sind Botschafter mit einer eigenen Sprache, die sich in Gefühlen
und Bildern manifestieren. Es sind Vermittler aus dem Innern, die den Lebensstil, das
Lebenskonzept neu definieren wollen – uns zuliebe. Schade, wenn man sie überhört,
bagatellisiert. Traurig, wenn sie wie Samen, die eine wunderbare Pflanze in sich tragen,
vertrocknen und nicht spriessen und wachsen dürfen.
Sehnsüchte sind Wegweiser. Aus Sehnsüchten lassen sich Wünsche herausschälen. Und
aus Wünschen lassen sich Ziele definieren.
Antoine de Saint Exupéry formuliert es so: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann
trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die
Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen
Meer.“
Viele Arbeitnehmende kennen dieses Phänomen, für das die Portugiesen ein Wort haben
und wir nicht. Sie „funktionieren“ meistens. Sie fallen nicht auf, sind angepasst. Nur
Begeisterung und Freude für den Beruf haben sich verflüchtigt.
Es gilt, einen Boxenstopp im Ameisenrennen einzulegen und die Sehnsüchte auf den
Tisch zu bringen. Sie zu respektieren. Erst wenn man sie benennt, kann man sie
bearbeiten. Welche Werte kann man zu wenig leben? Welche Träume rumoren, wollen
erkannt und realisiert werden? Welche Wünsche werden ignoriert?
Das Leben ist zu kurz und zu wertvoll, um Sehnsüchten nicht Raum zu geben.
Regula Zellweger, www.rz-laufbahn.ch