Pfr. Winfried Hahner, Pilgerzell Morgenfeier in hr2-kultur am 11.09.2016 Gott geht dem verlorenen Schaf nach – immer und jedem? 9/11. Heute vor 15 Jahren geschahen die wahnwitzigen Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon vor den Toren Washingtons. Es gab vermutlich noch ein drittes Ziel, auf das ein Flugzeug gestürzt werden sollte: Das Kapitol in Washington. Wohl durch den beherzten Einsatz der Passagiere an Bord dieses Flugzeuges, die über Handy bereits mitbekommen hatten, was in New York Fürchterliches passiert war, kam es bereits auf freiem Feld zum Absturz. Rund 3000 Menschen starben in Folge dieser verknüpften Terrorakte. Ich weiß noch genau wo ich an diesem Dienstag im September 2001 war: in einem der Bildungshäuser unseres Bistums Fulda, im ehemaligen Franziskanerkloster Salmünster. Ich nahm an einer Fortbildungswoche teil. In einer Pause bekamen wir mit, was an Unvorstellbarem passiert war. Uns Teilnehmern der Fortbildungswoche war sehr schnell klar: Einfach weitermachen im Fortbildungstrott… das geht jetzt nicht. Wir gingen in die Hauskapelle. Zunächst blieben wir in der Stille – das tat gut – dann brachten wir das Unfassbare ins Gebet. Danach haben wir weitergemacht im Programm - irgendwie. Nach der Fortbildungswoche habe ich öfter „Kol Nidrei“, ein Adagio nach hebräischen Melodien von Max Bruch, in den CD-Player gelegt. Eine Musik, die mir nach den schrecklichen Terrorschlägen guttat. Der Komponist, er ist inzwischen fast 100 Jahre tot, bedient sich in diesem Stück der Stimme des Cellos. Das Cello kommt mit seiner Ausdrucksmöglichkeit der menschlichen Stimme sehr nahe. So wird dem nachdenklichen und melancholischen Charakter seiner Musik intensiv Ausdruck verliehen. Einen Ausschnitt aus dem Adagio von Max Bruch hören sie jetzt. - Musik 1 Ofra Harnoy, Bruch, Kol Nidrei, Dauer: 2´21´´ Durch den 11. September vor 15 Jahren hat sich die Welt verändert. Die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Reaktionen auf diesen Terroranschlag sind die eine Seite der Veränderung. Die leider zahlreichen Terrorakte, die weltweit bis heute nachfolgten, mit vielen unschuldigen Opfern, die andere Seite. Es wird uns immer wieder drastisch vor Augen geführt: Das Böse existiert. Davor warnte der christliche Glaube schon immer und tut es auch heute. Nur, das hört der moderne Mensch nicht so gerne. Denn die gewaltigen Fortschritte in Technik und Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten haben die Menschheit in eine maßlose Sicherheit geführt: Uns kann keiner! Mir fällt da die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel ein. Bis in den Himmel Türme bauen - kein Problem! Das können wir! Einen Gott? - So etwas brauchen wir doch nicht mehr! Damals wie heute: Unsere Sicherheiten suchen wir in irdischen Erfolgen. Diesem menschlichen Wahn hat der Terror in unserer Zeit ein Ende bereitet. Trotzdem! Wir müssen nicht verzagen. Wir haben das Evangelium Jesu. Es ist zwar rund 2000 Jahre alt, aber nach wie vor aktuell. Das belegt der Abschnitt aus dem 15. Kapitel des Evangeliums nach Lukas, der heute, weltweit, in den Gottesdiensten der katholischen Kirche vorgetragen wird. Mich hat aus diesem Abschnitt besonders das Gleichnis vom verlorenen Schaf angesprochen: (Lk 15, 4-7) „Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir; ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war.“ - Musik 2 Ofra Harnoy, Concerto for Cello, RV 411 in F II. Largo, Dauer: 1´48´´ Im von der Herde getrennten Schaf des Gleichnisses sehe ich als Christ ein Mitglied des Volkes Gottes. Gott, der Hirte, gibt es nicht verloren. Er geht ihm nach. Es ist ihm kostbar, wertvoll. Er will für das verlorene Schaf sowie für alle anderen das Leben und zwar in Fülle. Diese Fülle kann das Volk Gottes, seine Herde, in seiner Nähe jetzt schon ansatzweise erfahren. Denn er führt es auf grüne Auen und gute Weide. Auch wenn es durch finstere Wegstrecken geht, sein Stock und sein Stab geben Zuversicht. Mit solchen und noch mehr wunderschönen Bildern beschreibt Psalm 23 der Bibel den Hirten. Es sind Bilder der Hoffnung und Zuversicht auch für unsere Zeit mit all ihren Sorgen und Nöten. Gott geht mit uns Menschen durch „dick und dünn“. Fülle für das Leben der Menschen zu erreichen, haben sich die terroristischen Gotteskrieger auch auf die Fahnen geschrieben. Aber Leben in Fülle mit brutalster Gewalt, Terror und Bomben zu erreichen, da liegen sie falsch, total falsch. Da stimmt etwas nicht in ihren Köpfen. Das kann nie und nimmer gelingen. Da reicht ein Blick in die Geschichte, auch die des Christentums. Da gab es leider auch immer wieder Zeiten, in denen Gewalt als Heilmittel propagiert wurde. Gott-sei-Dank haben wir diese Zeiten hinter uns. Auch wenn den Selbstmordattentätern angeblich das Paradies winkt, sich ins Paradies hineinbomben zu können, das will ich mir nicht vorstellen. Wer so menschenverachtend handelt, kann sich auch nicht auf eine Religion berufen. Richtig verstandene Religion sucht das Leben. Wer solche Blutspuren hinterlässt, hat sich von seinen Brüdern und Schwestern im Glauben und von seinem Gott entfernt. Wenn es einen Gott gibt, und daran glaube ich, kann es nur einen geben. Menschen geben ihm unterschiedliche Namen. Für Christen ist es der Gott, der in Jesus Mensch geworden ist. Ob er wie dem verlorenen Schaf auch Terroristen und Mördern nachgeht? Wahrscheinlich sträubt sich bei dieser Vorstellung bei vielen das Nackenhaar. Aber er tut es, davon bin ich überzeugt. Er geht jedem nach, der sich von ihm getrennt hat. Nur, er kann als Hirte niemanden zwingen, sich von ihm auf die Schultern nehmen zu lassen. So bleibt Gott womöglich öfters erfolglos. Aber um der Freiheit willen muss er auch das Nein zu seiner Liebe zulassen. - Musik 3 Ofra Harnoy, Vivaldi, Concerto for Cello, RV 404 in D II. Affetuoso, Dauer: 1´25´´ Wenn ein Mensch in seinem Tod vor Gottes Angesicht kommt, wie wird er sich da verhalten? Ich stelle mir das so vor: In meinem Tod begegne ich meinem Gott in seiner ganzen Liebesfülle und Vollkommenheit. Da spüre ich, in der Rückschau auf mein Leben, wo es mir an Liebe gemangelt hat. Das wird mir so machen heißen und kalten Schauer den Rücken runterjagen. Es wird mir sicher leidtun, wo ich gefehlt habe an Liebe, und ich werde bereuen. Das ist für mich das, was die kirchliche Sprache als Fegefeuer bezeichnet. Dann aber werde ich mich in diese Fülle der Liebe Gottes fallen lassen können. Das ist für mich der Himmel. Ob Terroristen sich in ihrem Tod auch so verhalten werden? Ob auch sie überwältigt sein werden von der Liebe und Vollkommenheit Gottes? Ob es ihnen wegen ihrer Terroraktionen viele Schauer heiß und kalt den Rücken runterjagen wird? Werden Ihnen die angerichteten Gräueltaten und mangelnde Liebe leidtun? Werden sie bereuen? Auf die Barmherzigkeit Gottes können sie setzen. Wenn sie bereuen, dann können auch terroristische Gotteskrieger in den Himmel kommen – auch wenn ich es mir nicht vorstellen will. Lieber wäre es mir, sie würden sich in diesem Augenblick der Liebe Gottes verschließen. Dann hätten sie sich die Hölle geschaffen. Aber da denke ich eben menschlich und damit zu kleinlich von Gott. - Musik 4 Yo Yo Ma, Concerto f. Viola d'amore, Lute and Orchestra, RV 540 - 2 Largo, Dauer: 2´31´´ Menschlich von Gott denken - das ist ein Problem von uns Menschen. Aber anders können wir ja nicht von ihm denken. Das war auch Jesus klar. Deswegen bedient er sich auch menschlicher Bilder von Gott und lädt ein ihn „Vater“ zu nennen und uns als seine „Kinder“ zu sehen. Auch für das Himmelreich verwendet Jesus menschliche Bilder, zum Beispiel: das des Festmahles. Damit bringt er zum Ausdruck: Gott und der Himmel sind etwas Wunderschönes. Und unsere Bilder und Redeweisen vom Himmel sagen ja auch nichts anderes. Aber das sind und bleiben Bilder. Bestenfalls Facetten dessen, was Gott ist. Tatsächlich ist Gott ganz anders. Die göttliche Dimension können wir mit unserem menschlichen Verstand nicht fassen. Wie wir uns den Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Dimension vorstellen können, bringt die Bilderbucherzählung „Fisch ist Fisch“ von Leo Lionni gut zum Ausdruck: In einem Teich freunden sich eine Kaulquappe und ein kleiner Fisch an. Eines Tages wird aus der Kaulquappe ein Frosch und der springt an Land. Als er wieder zurückkommt erzählt er seinem Freund, dem Fisch, seine Erlebnisse. Vögel hat er gesehen. „Sie haben Flügel und zwei Beine und viele, viele Farben“. Während der Frosch redete, stellte sein Freund sich die Vögel vor: Er sah sie durch seinen Kopf fliegen wie große gefiederte Fische. „Was noch?“ fragte der Fisch ungeduldig. „Kühe“ sagte der Frosch. „Kühe! Sie haben vier Beine, Hörner, fressen Gras und tragen rosa Säcke voll Milch.“ „Und Menschen!“ sagte der Frosch. „Männer, Frauen und Kinder!“ Und er erzählte und erzählte…“ Der Fisch stellt sich die Tiere und die Menschen in der Grundgestalt „fischig“ vor: geflügelte Fischkörper fliegen durch die Luft, Fischkörper mit Hörnern und Beinen und einem Euter grasen auf der Wiese und aufrechte Fischkörper laufen mit Rock und Hose durch die Welt. Der Fisch kann sich eben alles nur „fischig“ vorstellen und nicht „menschlich“. Fisch ist Fisch. Ähnlich ist es auch mit uns Menschen. Wir können eben nur „menschlich“ uns Gott vorstellen und nicht „göttlich“. Mensch ist Mensch! - Musik 5 Mstislav Rostropovich, L. de Caix d'Hervelois - 7 altfranz. Mädchenbilder (3), Dauer: 2´24´´ Wir können uns Gott nur menschlich vorstellen, trotzdem ist er immer der ganz andere. Auch in unserer Vorstellung von der Sorge um uns und wie es um seine Barmherzigkeit bestellt ist. Er lässt sogar die Herde allein, um das verlorene Schaf zu suchen und es heimzuführen. Dabei bleibt in dem biblischen Gleichnis offen, warum das Schaf verloren ging. Hatte es abseits des Weges so leckere Nahrung gefunden und sich darin verloren, dass es den Hirten aus den Augen verloren hat? Oder hatte es sich versehentlich im Gestrüpp verfangen und niemand hatte es mitbekommen? Oder wollte es einfach nicht mehr bei der Herde sein? Der Grund spielt für den guten Hirten keine Rolle. Verloren ist verloren. Und wie groß ist die Freude, nicht nur bei ihm, als er das verlorene Schaf wiedergefunden hat. Angesichts der Gräueltaten in dieser Welt, gebe ich zu, ist es auch mir manchmal unverständlich, dass unser Gott so ist, dass er wirklich jedem nachgeht, auch terroristischen Gotteskriegern. Aber unser Gott wäre nicht die vollkommene Liebe, wenn er Unterschiede machen würde! Ja, Gott geht wirklich jedem Menschen nach, egal ob der Mensch aus eigener Schusseligkeit oder durch eine Verkettung unglücklicher Ereignisse oder mit fester und womöglich böser Absicht aus der Herde verschwunden ist. So einen Gott zu haben ist beruhigend, trostvoll und wunderbar. Trotzdem ist und bleibt Gott unbegreiflich und damit eine ständige Herausforderung. Sie anzunehmen lohnt sich, weil ich dann selbst durch manche Auseinandersetzungen und viel Erfüllendes immer mehr auf den Weg der Liebe komme. Was kann es Schöneres geben! - Musik 6 Mstislav Rostropovich, L. de Caix d'Hervelois - 7 altfranz. Mädchenbilder (7), Dauer: 2´05´´ Literaturangabe: Einheitsübersetzung, Katholisches Bibelwerk, Lukasevangelium 15,4-7 Leo Lionni: Frederik und seine Freunde, Gesammelte Bilderbuchgeschichten, Gertraud Middelhauve Verlag 1990, ISBN 3 7876 9196 0, S. 23 ff „Fisch ist Fisch“ Kol nidrei auf You Tube: Ausschnitt 0:46-3:07 als erste Musik. https://www.youtube.com/watch?v=cKp_mVii-dk (0:46-3:07)
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