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F.A.Z., Montag den 12.09.2016 DIE GEGENWART 6
Europa muss wieder gerecht werden
Die EU ist in den Augen ihrer Bürger zum Förderer einer
unfairen Modernisierung geworden, die nur einigen wenigen
nützt. Sie kann das Vertrauen nur zurückgewinnen, wenn sie
die Menschen vor den sozialen Verwerfungen der
Globalisierung schützt. Von Christian Kern, Bundeskanzler
der Republik Österreich
Liest man die bisher erschienenen Essays der Serie „Zerfällt Europa?“,
dann bietet sich ein Panoptikum der Freudlosigkeit: Krisen, Terror,
Fluchtbewegungen, institutionelle Blockaden, Stagnation, Wutbürgertum
und Abkehr der Wähler – so lauten, im Stakkato, die
Bestandsaufnahmen. Wer bisher nicht pessimistisch war, der wird es
nach der geballten Lektüre.
Es gibt für all diese Diagnosen gute Gründe. Dennoch drängt sich die
Frage auf, ob dieser grassierende Pessimismus nur aus der Analyse der
Probleme folgt oder ob er nicht selbst auch Teil des Problems ist.
Eine zukunftsbejahende europäische Perspektive zu entwickeln wird aber
nicht durch Suggestion gelingen. Und schon gar nicht, wenn wir weiter
die Antworten auf die brennenden Fragen schuldig bleiben. Die liegen auf
der Hand: Wie schaffen wir wieder mehr Wachstum und Arbeitsplätze,
von denen die Europäerinnen und Europäer auch gut leben können? Wie
kommt der erwirtschaftete Wohlstand bei allen an, nach Jahren, in denen
für einen zunehmenden Teil der europäischen Bevölkerung die
Realeinkommen nicht gewachsen oder sogar gefallen sind? Wie gehen wir
mit Migration und den Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa um? Wie
machen wir Europa zu einem Projekt, das wieder den Rückhalt aller hat
und nicht als ein Modell der Eliten gilt? Wir können das alles auch in
einer zentralen Frage zusammenfassen: Wie lösen wir das
Wohlstandsversprechen und auch das Sicherheitsversprechen wieder ein?
Und verhindern, dass der Aufstieg des Rechtspopulismus die europäische
Einigung von innen zersetzt?
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Europäische Union wieder
zu dem machen können, was sie ursprünglich war: ein Projekt der
Hoffnung, ein Projekt, das bei den Bürgerinnen und Bürgern wieder an
Legitimität gewinnt. Wenn wir die richtigen Antworten geben.
Antieuropäische Stimmungen grassieren. Das britische Brexit-Votum ist
Ausdruck einer Krise und zugleich die Verschärfung derselben. In vielen
europäischen Ländern gewinnen nationalistische und populistische
Parteien gefährlich an Terrain. Das ist längst nicht mehr nur eine
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österreichische Sicht. Spätestens nach der Landtagswahl in MecklenburgVorpommern stellt sich diese Frage auch in Deutschland mit
Dringlichkeit. Wir müssen klar sehen, warum das so ist. Dass in Brüssel
zu viel reguliert wird, dass sich die Institutionen in wenig transparenten
Entscheidungsprozessen abarbeiten, dass die Machtbalance von
Mitgliedstaaten, Kommission, Rat und Parlament schlecht austariert ist –
all das ist richtig, aber nicht der Kern des Problems.
Die entscheidende Ursache ist: Vor fünfzehn, zwanzig Jahren noch war
die Europäische Union in den Köpfen der Mehrheit der Unionsbürger
verbunden mit Wohlstand, Fortschritt und Modernisierung. Die EU war
ein Versprechen, dass es allen, oder zumindest den meisten, künftig
besser gehen würde.
Heute beobachten wir – insbesondere seit Ausbruch der Finanz- und
Wirtschaftskrise – wirtschaftliche Stagnation, eine enttäuschend
schwache Entwicklung der Investitionen sowie eine dramatische
Entwicklung am Arbeitsmarkt. Insbesondere in den Krisenländern des
Südens grassieren seit geraumer Zeit Jugendarbeitslosenraten von 40 bis
50 Prozent. Das Ergebnis: Am Arbeitsmarkt herrscht ein zunehmender
(Konkurrenz-)Druck, die öffentlichen Budgets sind belastet. Neoliberale
Apologeten und konservative Politiker versuchen, die Finanz- und
Wirtschaftskrise in eine Krise des europäischen Wohlfahrtsstaates
umzudeuten. Unsicherheit macht sich breit.
Das macht viele anfällig für einfache populistische Formeln, für einen
neuen Nationalismus als Verheißung, mit den Flüchtlingen und
Zugewanderten als denen, die an allem schuld sind. Dazu kommt, dass die
Digitalisierung im Verein mit der Globalisierung eine revolutionäre
Veränderung unserer Arbeitswelt bringen wird.
Gleichzeitig verschieben multinationale Konzerne – praktisch unter
unseren Augen – ihre Gewinne auch innerhalb Europas in jene Länder, in
denen sie kaum besteuert werden. Die Steuerakte Apple hat gezeigt, wie
brüchig die Solidarität innerhalb der europäischen Staaten ist, wenn es
darum geht, sich wirtschaftliche Vorteile gegenüber anderen EU-Ländern
zu organisieren. Das entschlossene Vorgehen der EU-Kommission gegen
diese Praktiken kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Es läutet
den notwendigen Politikwechsel ein, und die Losung dafür kann nur
heißen: Weg mit dem Wettbewerb um die niedrigsten Steuern, und
Großkonzerne sollen endlich dort ihre Steuern zahlen, wo sie Geschäfte
machen.
Luxleaks, Panama Papers und globale Multis, die sich ihrer
gerechtfertigten Steuerverpflichtung entziehen, sind ein Anschlag auf die
europäische Idee der Gerechtigkeit. Schlimmer noch, die mangelnde
Solidarität der Staaten zersetzt die Solidarität der Bürger. Es ist
ernüchternd genug, dass es weder in der Migrationsfrage noch in der
Steuerfrage gelungen ist, eine gemeinsame europäische Lösung zu finden,
die der Idee der europäischen Einheit entspricht. In diesem Umfeld
können die Menschen die Vorteile der europäischen Integration nicht
mehr erkennen. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass es sich einige
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wenige „richten“ können, während die Masse der Menschen mit ihren
Problemen und Sorgen alleingelassen werden.
Larry Summers, der legendäre Finanzminister Bill Clintons, der
globalisierungskritischer Sentiments völlig unverdächtig ist, hat unlängst
formuliert: Im Kern ist diese Revolte gegen die Globalisierung „nicht eine
Folge von Dummheit. Es ist ein Gespür, und gewiss kein völlig
unberechtigtes, dass die globale Integration von Eliten für Eliten
vorangetrieben wird mit wenig Beachtung der Interessen normaler
Leute.“
Ob der Kommissionspräsident zu viel Macht hat oder eher der
Ratspräsident, ob das EU-Parlament zu wenig Kompetenzen hat, all das
sind wichtige Fragen, aber sie interessieren die Bürger doch nicht
wirklich. Wirklich interessiert sie, ob diese Europäische Union ihre
Lebenschancen verbessert oder ob sie dazu beiträgt, sie zu reduzieren.
Das ist die Quelle unserer Malaise. Und wenn wir hier keinen
Kurswechsel hinbekommen, dann wird die Idee Europa weiter erodieren.
Europa muss wieder ein Projekt der Aufklärung werden, nicht der
Märkte. Wer Europa neu denken will, muss es wieder relevant für die
Menschen machen. Jaques Delors hatte recht, als er sagte, dass sich
niemand in einen Binnenmarkt verliebt.
Ich bin seit knapp vier Monaten Bundeskanzler meines Landes. Ich stehe
einer Partei vor, die schon schlechtere, aber auch schon bessere Tage
gesehen hat. Ich regiere in einer Koalition, in der ich naturgemäß
Kompromisse mit einem Regierungspartner finden muss. Den meisten
anderen meiner europäischen Kollegen geht es ähnlich. Alle zusammen
müssen wir in Europa dann Kompromisse finden. Das ist eine
Spielanlage, die schnelle, entschiedene und mutige Handlungen nicht
gerade begünstigt. Im Gegenteil: Man kann mit Recht behaupten, dass
das eine Situation ist, in der es unglaublich lange braucht, auch nur ein
wenig zu bewegen. Die Europäische Union hat aber genauso oft bewiesen,
dass das kein hoffnungsloses Unterfangen ist.
Wir können die Union nur auf einen neuen Pfad bringen, wenn wir
Investitionen ankurbeln und die Konjunktur beleben. Dafür braucht es
das Zusammenspiel der europäischen Institutionen und der nationalen
Regierungen. Wir brauchen mehr Wachstum und wieder jene Art von
Wachstum, das, wie die Gezeiten am Meer, alle Boote hebt und nicht nur
ein paar wenige Yachten.
Die sozialdemokratischen Regierungschefs und Parteiführer in Europa
sind sich darin einig, dass der sogenannte Juncker-Fonds, der
Investitionen über 315 Milliarden Euro generieren will, nicht ausreichen
wird, um dieses Ziel zu erreichen. François Hollande hat vorgeschlagen,
eine Verdoppelung dieser Investitionen vorzunehmen. Dieser Schritt,
dem eine Evaluierung des bisherigen Investitionsprogrammes
vorangehen soll, wird allerdings isoliert keine Trendumkehr bewirken.
Selbst die Verdoppelung der Mittel wird wohl nicht genug sein. Das
Programm ist auf drei Jahre veranschlagt. 315 Milliarden bedeuten also
einen Investitionsschub von 0,75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der
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EU pro Jahr, eine Verdoppelung 1,5 Prozent. Vergleicht man das mit dem
Konjunkturprogramm der Vereinigten Staaten, deren Stimulusprogramm
2009 und 2010 rund 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts innerhalb
von zwei Jahren mobilisierte, dann wäre ein solches
Investitionsprogramm noch immer vergleichsweise bescheiden.
Mit dem Juncker-Fonds hat Europa ein Modell gefunden, das es erlaubt,
öffentliche Mittel durch privates Geld zu hebeln. Eine bessere Verzahnung
von europäischer Geld- und Fiskalpolitik könnte weitere Spielräume
schaffen. Was auch dringend notwendig ist, denn die zögerliche
Fiskalpolitik hat den entschlossenen Interventionen der EZB viel von
ihrem Potential genommen.
Die wesentliche Ursache der nachhaltigen Krise in Europa ist das niedrige
Investitionsniveau. Die Ökonomen Stephany Griffith-Jones and Giovanni
Cozzi haben das gerade in einem jüngst erschienenen Buch
(herausgegeben von Mariana Mazzucato und Michael Jacobs)
eindrucksvoll vorgerechnet: „Der Niedergang der Investitionsquote in
Relation zum Bruttoinlandsprodukt war gerade in der südlichen Eurozone
dramatisch, sie sank von 21,7 Prozent im Jahr 2007 auf 14 Prozent im
Jahr 2014. In Großbritannien war dieser Fall ähnlich scharf, von 15,9
Prozent 2007 auf 11 Prozent 2012, um dann bis 2014 wieder auf 13
Prozent zu steigen. Wenn man eine Investitionsquote von 19–21 Prozent
als durchschnittlich und normal setzt, dann zeigt sich, dass auch in den
Ländern, die einigermaßen gut durch die Krise kamen, die Investitionen
eher mager waren. Sogar in Deutschland lag der Wert 2014 gerade einmal
bei 17,5 Prozent.“
Der industrielle Sektor ist die Quelle von Innovation und die Basis stabiler
ökonomischer Entwicklung in Europa. Wir sollten uns daher keine
weitere Schwächung der europäischen Industrie leisten. Aber genau diese
Investitionsschwäche kostet den industriellen Sektor viel an zukünftigem
Potential. Die öffentlichen Investitionen in der EU und der Eurozone
dürfen jedenfalls nicht weiter zurückgehen, im Gegenteil, es muss mehr in
die Infrastruktur investiert werden – im Wettbewerb mit den anderen
großen Wirtschaftsräumen Vereinigte Staaten und Asien braucht Europa
starke Netze für Verkehr und Energie genauso wie starke digitale Netze.
Vergleicht man die wirtschaftliche Performance Europas mit jener der
Vereinigten Staaten, zeigt sich, dass wir seit Ausbruch der Krise nicht
alles richtig gemacht haben. Während es in den Vereinigten Staaten rasch
gelungen ist, die Arbeitslosigkeit wieder auf Vorkrisenniveau zu senken
und die Investitionen merklich auszuweiten, herrschen in Europa eine
Investitionsflaute und anhaltend hohe Arbeitslosigkeit insbesondere
unter jungen Menschen.
Die teils schwerwiegenden Auswirkungen von Austeritätsprogrammen auf
Wirtschaftswachstum und Beschäftigung wurden systematisch
unterschätzt. Viele Institutionen – vom Internationalen Währungsfonds
bis zur OECD – haben dies mittlerweile anerkannt. Der Schaden ist
jedoch bereits entstanden, denn viele Menschen in Europa haben
nachhaltig unter dieser Politik gelitten, ebenso wie ihr Glaube an das
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Wohlstandsversprechen der europäischen Einigung.
Letztlich liegt den Fehlentwicklungen und den oben genannten
Fehleinschätzungen der Institutionen auch die Vorstellung zugrunde,
dass ein Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen ohnehin zu
besseren Ergebnissen und mehr Wachstum führt.
Aber so funktionieren moderne Volkswirtschaften nicht. Schon innerhalb
von Volkswirtschaften sind „Märkte“ Strukturen, die teilweise erst durch
öffentlich vorangetriebene Investitionen entstehen – durch die
Forschung, durch die Etablierung von Innovationsclustern, durch kluge
Wirtschaftspolitik, die dafür sorgt, dass Kapital in zukunftsträchtige
Sektoren fließt. Das gilt schon in normalen Zeiten, und das gilt erst recht
in Krisenphasen, in denen zu wenig investiert wird.
Wir brauchen einen Plan für Europa, der durch Investitionen und
Innovationen Wachstum und mehr Wohlstand generiert. Profitieren
sollen diejenigen, die Zuwächse am dringendsten brauchen. Die
Lohnentwicklung muss wieder nach oben gehen, die Arbeitslosigkeit
muss sinken und es müssen mehr gute Jobs entstehen, von denen die
Menschen leben können. Der große europäische Binnenmarkt bietet
ausreichend Chancen und Absatzmöglichkeiten. Wir kommen nur dann
vorwärts, wenn wir miteinander den Wohlstand heben.
Wir haben in den vergangenen 25 Jahren integrierte Weltmärkte und in
Europa einen Binnenmarkt geschaffen, nicht nur für Güter und
Dienstleistungen, sondern auch für Kapital- und Arbeitsmärkte.
Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass diese Globalisierungsgewinne sehr
ungleich verteilt sind. Dies hat nicht nur – wie bereits oben skizziert –
gesellschaftspolitische, sondern auch ökonomische Konsequenzen. Denn
erstens führt Ungleichheit, die die Mittelschicht erodieren lässt, weder in
Europa noch in den Vereinigten Staaten noch in Lateinamerika noch in
Asien zu Wachstum, sondern ist eher ein Wachstumshemmnis. Selbst
Experten des Internationalen Währungsfonds bestätigen mittlerweile,
dass Ungleichheit Wachstum bremsen kann. Und zweitens wird es selbst
dann, wenn – durchschnittlich – „alle“ profitieren, immer Verlierer und
Gewinner geben.
Es geht nicht darum, die Globalisierung zurückzudrängen oder Freihandel
zu bekämpfen – wer eine kosmopolitische Sicht hat, weltoffen ist und für
wen internationale Solidarität ein Wert ist, der wird nicht dafür plädieren.
Aber man kann sich sehr wohl die Frage stellen, ob Freiheit nicht auf
Kosten der Fairness geht. Der Ökonom Dani Rodrik hat schon vor
beinahe zwanzig Jahren darauf hingewiesen, dass die globale Integration
Verlierer und Gewinner kennen würde. Jeder wisse, formulierte er, „dass
Arbeiter, wenn man sie leichter durch billigere und andere ersetzen kann,
Instabilität in ihren Einkommen ernten und dass ihre
Verhandlungsmacht erodiert“.
Diejenigen, die dann ökonomisch unter Druck geraten, bekommen selten
etwas von den Zuwächsen der Gewinner ab – das ist die Erfahrung der
vergangenen zwanzig Jahre. Und aus dieser Erfahrung muss man kluge
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Konsequenzen ziehen: Wenn wir die globale Integration – und auch die
europäische ökonomische Integration – erhalten wollen, dann müssen
wir die Menschen vor Verlusten schützen und für einen sinnvollen,
gerechten Ausgleich sorgen. Denn ansonsten werden diejenigen
revoltieren, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Tatsächlich
erleben wir diese Revolte jetzt schon. Das Brexit-Votum ist nur eines der
Phänomene.
Wenn man das klar sieht, dann ist die Skepsis gegenüber neuen
Freihandelsabkommen wie TTIP durchaus berechtigt. Denn auch bei den
Verhandlungen über diese Abkommen wurde nicht die Frage gestellt, wer
die potentiellen Gewinner und Verlierer sein könnten, wer die
angenommenen Wohlstandsgewinne lukriert und wie man die
vermutlichen Verlierer daraus entschädigt. Das selten beobachtete, aber
umso öfter beschworene Trickle-down-Phänomen soll auch hier seine
Wunder wirken. In Österreich, wo ein großer Teil der Arbeitsplätze vom
Export abhängt, wo das Freihandelscredo seit Jahrzehnten verankert war,
ist die Ablehnung gegenüber TTIP und in etwas geringerem Maß auch
Ceta überwältigend. Das hat viele in den Abkommen angelegte Gründe,
wie die privilegierte Stellung von Investoren, den unzureichenden Schutz
der Daseinsvorsorge oder die schwache Ausgestaltung von Standards im
Umwelt- und Sozialbereich. Auch die schleichende Überantwortung von
Regulierungsmacht von der Politik an große Konzerne beunruhigt viele.
Zentraler Kritikpunkt ist aber die Abkehr von der geübten europäischen
Praxis, Verlierer von Liberalisierungsschritten über die staatlichen
Umverteilungsmechanismen für die Übernahme der Risiken zu
entschädigen.
Nicht nur Freihandel und Globalisierung werden durch die Verweigerung
beziehungsweise Unfähigkeit diskreditiert, Chancen und Risiken gerecht
zu verteilen. Auch die EU wird von ihren Bürgern primär als Promotor
einer unfairen Modernisierung gesehen, die ihrem Auftrag, vor den
Verwerfungen einer globalisierten Wirtschaft zu schützen, nicht
nachkommt. Das verlorene Vertrauen in die Fähigkeit, vor allem aber in
den politischen Willen der EU, diese Schutzfunktion zu erfüllen, müssen
wir rasch zurückgewinnen.
Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der EU hat auch in der
Flüchtlingsfrage massiv gelitten. Wenn wir uns heute in weiten Teilen
Europas mit der Wiedererrichtung von bereits lange eingemotteten
Grenzposten beschäftigen, wenn wir uns zunehmend einigeln und in einer
zentralen europäischen Frage nur mehr nationale Antworten geben
können, dann stellen die Bürger richtigerweise die Frage, warum das
jedem Gemeinwesen zugrunde liegende Sicherheitsversprechen von der
EU nicht eingehalten wird.
Wo ist der Schutz der Außengrenzen der Union, wo das gemeinsame
Asylsystem? Warum gibt es auch in dieser Frage keine faire Verteilung der
Lasten? Warum läuft die einzige Möglichkeit, in der Wertegemeinschaft
EU um Asyl anzusuchen, über internationale Schlepperbanden? Was tun
wir, um die Fluchtursachen zu bekämpfen? Wo ist der europäische
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Friedensplan für Syrien, wo der Marshall-Plan für Afrika? Zu allen diesen
Fragen müssen wir rasch pragmatische, spürbare und wirkungsvolle
Antworten finden. Der Plan von Außenkommissarin Federica Mogherini
enthält viele wesentliche Grundlagen, um rasch zu entscheiden. Auch in
der Asylfrage haben wir gute Vorschläge auf dem Tisch, wir müssten nur
den politischen Mut aufbringen, sie auch umzusetzen.
Das wird auch von nationalen Regierungen erwartet. Das Versteckspiel
hinter Sachzwängen, liebgewordenen politischen Traditionen, hinter
„Brüssel“, hinter selbstgewählten roten Linien, deren Sinn sich nur aus
der engsten aller nationalen Perspektiven erschließt, können wir uns nicht
mehr lange leisten. Denn allzu oft steckt hinter diesen vorgeblichen
Hindernissen nichts anderes als die Furcht vor dem Zorn des Wählers,
der nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden wolle. Meine recht
gesicherte Vermutung ist jedoch, dass die Europäer diese ritualisierten
Schonungen ihrer Komfortzone längst durchschaut haben und sich
lediglich darüber ärgern, dass die Politik immer wieder versucht, eine
Realität vorzuspiegeln, die sich von der erlebbaren Wirklichkeit deutlich
unterscheidet.
Ein Beispiel dafür ist der Umgang der EU mit der Türkei. Es besteht kein
Zweifel, dass die Türkei ein wichtiger und gewichtiger Partner der EU ist,
nicht nur wegen des Flüchtlingsabkommens. Ebenso wenig darf es
Zweifel daran geben, dass der Putschversuch in der Türkei von uns allen
verurteilt wird. Gleichzeitig besteht nicht nur in Österreich größte Skepsis
gegenüber einem möglichen EU-Beitritt des Landes. Und es gibt nur sehr
wenige Experten, die die politische, demokratische und
menschenrechtliche Entwicklung der Türkei in den vergangenen Jahren
als Annäherung an die EU bewerten würden. Trotzdem versucht man mit
viel Energie, die diplomatische Fiktion von Beitrittsverhandlungen
aufrechtzuerhalten, von denen alle Beteiligten wissen, dass sie zu nichts
führen. Mein Vorschlag, statt dieses leeren Rituals in ernsthafte
Verhandlungen mit der Türkei über einen Ausbau der bestehenden
Zollunion, über eine engere Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich und
über eine Verstetigung des Flüchtlingsübereinkommens einzutreten, stieß
auf viel Unterstützung hinter vorgehaltener Hand. Mehr Vertrauen in die
europäische Politik ist nur erringbar, wenn wir uns angewöhnen,
miteinander so offen umzugehen, wie es einem Zeitalter entspricht, in
dem jeder alles auf Knopfdruck wissen kann.
Ich bin der Regierungschef eines kleinen Landes, und da ist man gegen
Machtillusionen einigermaßen immunisiert. Aber zugleich bin ich der
Regierungschef eines kleinen Landes, das es in den besten Zeiten seiner
Geschichte geschafft hat, als Drehscheibe für Vorschläge und Ideen zu
agieren.
Wir brauchen neue Allianzen in Europa für eine progressive
Wirtschaftspolitik, die unseren Kontinent wieder vorwärtsbringt. Aber
solche Allianzen werden wir nur hinbekommen, wenn wir uns mit Elan
dafür engagieren. Die Europäische Union leidet sicher nicht an zu viel
Entschlossenheit, sich den Problemen zu stellen, sondern eher an zu
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wenig. Es ist mit Sicherheit falsch, das einzelnen Personen vorzuwerfen,
schon gar nicht pauschal der EU-Kommission. Das folgt beinahe
zwangsläufig aus der Konstruktion, die wir geschaffen haben: Strukturen,
in denen nur etwas weitergeht, wenn Dutzende Player und Akteure
mühsam einen Kompromiss finden, sind nicht gerade Maschinen zur
Generierung von Verwegenheit. Wir dürfen aber nicht den Fehler
machen, uns davon lähmen zu lassen.
Es sind die jungen Leute, die wir für einen Neustart in Europa begeistern
müssen – und können. Sie sind es, die im gemeinsamen Europa
aufgewachsen sind und die dessen Möglichkeiten sehen, auch wenn ihnen
in den vergangenen Jahrzehnten viele Chancen vorenthalten wurden. Es
sind ja die Jungen, die keinen Start ins Berufsleben finden (wie in
Griechenland und Spanien) oder die oft in prekären Jobs für wenig Geld
und null Sicherheit ihre ersten Arbeitsjahre verbringen (wie überall
anders), die einen hohen Preis für die Stagnation zahlen. Und dennoch
sind sie diejenigen, die die europäische Idee hochhalten. Sie sind die
soziale Basis für ein progressives Europa, das Hoffnung hat und nach
vorne schaut. Sie müssen wir in Bewegung bringen.
♦♦♦
Sean Scully, Passenger White White, 1997, Öl auf Leinwand, 203,2 x 190,5 cm, Public Collection: Banque européenne
d’investissement (EIB), Luxemburg © Sean ScullyFür unsere Serie „Zerfällt Europa?“ schrieben bisher unter anderen
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der
bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev, der polnische Außenminister Witold Waszczykowski, der DGB-Vorsitzende
Reiner Hoffmann, der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der
ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch sowie der frühere
EU-Parlamentspräsident Klaus Hänsch. Alle Beiträge sind nachzulesen unter www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart
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