SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Tandem Uri Avnery Israels bekanntester Friedensaktivist blickt mit 93 Jahren zurück ohne Zorn Von Igal Avidan Sendung: Freitag, 9. September 2016, 10.05 Uhr Redaktion: Rudolf Linßen Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Aus dem großen Fenster glitzert das Mittelmeer in der Nachmittagsonne. Avnery trägt eine schwarze Jogginghose und ein gestreiftes schwarz-weißes Poloshirt mit offenem Kragen. Um seinen Hals hängt ein Verstärker, damit er als Schwerhöriger sein Gegenüber leicht verstehen kann. Gern wechselt Avnery seinen Schaukelstuhl im Wohnzimmer zugunsten der kleinen Sitzecke in der offenen Küche, damit der Reporter sein Mikrofon platzieren kann. Die Bitte, die laute Klimaanlage etwas herunter zu drehen, lehnt er mit einer leichten, aber resoluten Kopfbewegung ab. Vielleicht behält er so trotz der unendlichen Gewalt einen kühlen Kopf? Diese Szene ging um die Welt. Denn die beiden Männer waren AUTOR: Szenenwechsel – West-Beirut im Sommer 1982. Die israelische Armee belagert aus dem Ostteil der Stadt Arafats Truppen. Obwohl Uri Avnery schwitzt und sichtlich aufreget ist, gelingt es ihm sich mitten im Krieg zu beherrschen und somit Geschichte zu schreiben. Der israelische Redakteur und Politiker sitzt auf einem Ledersofa und unterhält sich freundlich auf Englisch mit PLO-Chef Jassir Arafat – Israels Feind Nummer eins – als ob sie alte Kumpel wären! Avnery und seine zwei jungen Kolleginnen setzten ihr Leben aufs Spiel, als sie auf dem Weg von Ost-Beirut vier militärische Checkpoints passierten: (Der israelischen, libanesischen und syrischen Armee sowie der christlichen Miliz). Als eine Art Lebensversicherung ließen sich die Israelis von einem deutschen Fernsehreporter begleiten. Nach einer Weile betritt Jassir Arafat den Raum, Israels Erzfeind, schrieb Uri Avnery damals im SPIEGEL: SPRECHER - Avnery: „Eine herzliche Begrüßung, halb arabisch, halb Englisch. Das war der Arafat, den ich aus TV-Filmen und Zeitungsphotos kannte. Er ist ein vollkommen anderer Mensch. Ruhig, beinahe sanft, freundschaftlich, gar nicht formell, kein Chef, kein Macho-Typ.“ 2 AUTOR: Als Avnerys Reporterin Sarit Jishai Arafat fragt, ob er ein wenig Hebräisch kann, lacht er und sagt auf Ivrit: „Ich liebe dich. Wie geht‟s dir“? Der ebenfalls anwesende palästinensische Nationaldichter Mahmoud Darwisch schlägt ihr vor, den ledigen Arafat zu heiraten. Dieser protestiert, das gehe dann doch zu weit, sagt aber gleich: „Wenn das den Konflikt lösen würde, warum eigentlich nicht?“ In seiner Autobiografie „Optimist“ schrieb Uri Avnery: SPRECHER-Avnery: „Es herrschte eine Euphorie im Raum, wie unter Menschen üblich, die wissen, dass sie jeden Moment sterben können und dass dies nicht in ihren Händen liegt, sondern bei Allah oder dem Schicksal. So fühlte ich mich manchmal als Frontsoldat 1948.“ AUTOR: Während Avnery konzentriert vorträgt, spielt Arafat lässig mit der kleinen Tochter des Wohnungsbesitzers. Diese Szene filmte das deutsche Fernsehteam: OT 1: Film-Avnery-Arafat SPRECHER Avnery: „Die Tatsache, dass wir hier mitten in einem solchen schrecklichen Krieg zusammensitzen, ist ein Zeichen für die Zukunft, dass unsere beiden Völker am Ende eine Lösung finden für Palästinenser und Israelis. Ich glaube, dass es einen palästinensischen Staat geben wird neben dem Staat Israel und dass beide Völker friedlich in zwei Staaten leben werden, die allmählich mehr als gute Nachbarn werden.“ SPRECHER Arafat: Ein Staat, ein säkularer Staat. SPRECHER Avnery: „Ich glaube, dass viele Israelis damit nicht einverstanden sein werden, aber darüber diskutieren wir später.“ (beide lachen) AUTOR: Reporterin Sarit Jishai-Levy (INZWISCHEN VERHEIRATET) erzählte im israelischen Dokumentarfilm „Uri Avnery: Warrior of Peace”, (wie sie instinktiv sich Arafats Umarmung widersetzte und) wie sie dabei Avnery erlebte: OT 2: Film SPRECHERIN: „Ich glaube, dass er bei jenem Treffen kein Journalist war, sonder Avnery der Politiker, der Denker, der Wegweiser. Und das im Gegensatz zu mir und Anat, die auf jeden Fall dort journalistisch arbeiteten“. AUTOR:: Fotografin Anat Saragusty fügte hinzu. 3 OT 3: Film SPRECHERIN: „Uri war sehr sehr aufgeregt, denn für ihn war es zusätzlich zum journalistischen Erfolg ein politischer Sieg, der erste Israeli zu sein, den Arafat trifft.“ AUTOR: Avenrys Motto war, dass ein Foto mehr als tausend Wörter sagt. Saragustys Foto zeigt, wie Arafat ihre (inzwischen aufgetaute) Kollegin, die ein T-Shirt mit tiefem Dekolleté trägt, freundlich umarmt und beide, wie auch Avnery strahlend lächelnd. Für das Cover seines Magazins wählte Avnery nur einen Mitschnitt dieses Fotos: Er und Arafat, wobei er ein Aufnahmegerät in der Hand hält. Die Überschrift lautet: „Interview mit Jassir Arafat: ‚Wir haben den Staat Israel anerkannt„!“ In seiner Autobiografie schreibt Avnery: SPRECHER Avnery: „Die Botschaft dieses Bildes war, für Israelis: Wenn der Überterrorist Arafat mit einem prominenten Israeli zusammen sitzt, heißt es, dass man mit ihm reden kann. Für die Palästinenser heißt es, dass nicht alle Israelis Monster sind. Das war für mich der erste Schritt zum Oslo-Vertrag“. AUTOR: Bei dem erst elf Jahre später, also 1993, Israel und die PLO sich gegenseitig anerkannten und Arafat aus dem Exil zurückkehrt, um Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde zu werden. Nach dem Zweieinhalb-Stunden-Interview in Beirut besuchten die Israelis auf ihren Wunsch hin den israelischen Piloten Aharon Achiaz, den höchstrangigen Israeli in PLO-Haft. Sie interviewten ihn und nahmen von ihm einen Brief für seine Familie mit. (Er wurde auch kurz danach ausgetauscht.) Auf dem Weg zurück nach Israel hörte Avnery im israelischen Radio, dass Arafats Büro das Interview mit Avnery bekanntgab. Der Meldung folgten wütende Reaktionen von israelischen Kabinettsmitgliedern, die verlangten, Avnery wegen Hochverrats anzuklagen. OT 4 Avnery: „Noch am selben Abend, als ich die Grenze… wieder überschritten habe… nach Israel, ich dachte, ich werde verhaftet an der Grenze, (aber ich bin nicht verhaftet worden)… aber das ist nicht passiert. Aber die Regierung hatte offiziell beschlossen, den Staatsanwalt anzuweisen, ob ich vor Gericht gestellt werden soll. Es war damals ein Verbrechen, ich glaube 20 Jahre Gefängnis oder so was, den Feind in einem Krieg zu treffen.“ AUTOR: An der Grenze warteten israelische Journalisten. Avnery gab einem Fernsehreporter die Videokassette mit dem Arafat-Interview: OT 5 Avnery: „und noch am selben Abend ist es vom israelischen Fernsehsender ausgestrahlt worden. 4 AUTOR: Das Bild der beiden Männer, die Händchen halten – ärgerte die meisten Israelis. OT 6 Avnery: „Ich war ja sowieso verhasst, also verhasster würde ich kaum kommen können.“ SPRECHER Avnery: „Nun erlebte ich den zweithöchsten Hasspegel. Einmal überfiel mich ein junger Mann auf der Straße und schlug mich zu Boden. Passanten halfen mir auf die Beine und gaben mir meine herumliegende Sonnenbrille.“ AUTOR: Nach wenigen Wochen besucht einen jungen Israeli Avnery. Er habe im israelischen West-Beirut gedient - als Scharfschützer - und er bringt ein „Souvenir“ mit: Eine Kugel. Als er sah, dass Avnery die Grenze passiert, fragte er seinen Kommandanten, ob er ihn erschießen solle. Der rief seine Vorgesetzte an und kam zurück mit der Antwort: Nein. Avnery und seine beiden Kolleginnen werden verhört, aber nach zwei Monaten entscheidet der Oberstaatsanwalt, die Ermittlungen einzustellen. Zum einen besuchte Avnery zwar ein feindliches Land, aber auf offizielle Einladung der israelischen Armee. Zum anderen diente sein Treffen mit einem „fremden Agenten“ dem Frieden, und Avnery wollte dabei nicht die Sicherheit Israels gefährden, die ohnehin nicht gefährdet war. Zurück in Avnerys Wohnung. Nach dem Smalltalk wechseln wir in Avnery Muttersprache: OT 9 Avnery: „Deutsch? Deutsch“. AUTOR: Uri Avnery wurde 1923 in der Kleinstadt Beckum als Helmut Ostermann geboren und wuchs in einer liberalen, gutbürgerlichen säkularen Familie in Hannover auf. Sein Vater Alfred, ein Banker, schickte Helmut auf das katholische Gymnasium, weil er meinte, dass die Katholiken als Minderheit in Hannover toleranter sein würden zu einem jüdischen Kind als die Protestanten. Das stimmte bis zu Hitlers Machtergreifung 1933. Auf einmal sollte Helmut, der einzige jüdische Schüler im Gymnasium und dazu noch der jüngste, auf einer Schulversammlung die NSDAPParteihymne, das sogenannte Horst-Wessel-Lied anstimmen: OT 10 Avnery rezitiert: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen/ SA marschiert im ruhig festen Schritt/ Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschieren im Geist in unseren Reihen mit.“ OT 11 Avnery: „Und dann… am Ende stand man auf, hob den Arm zum Hitlergruß und sang diese beiden Lieder. Ich habe den Arm nicht gehoben, ich habe das Nazi-Lied nicht mitgesungen. Das war sehr auffällig, das war ein Meer von hochgehobenen Händen und da war dieser Schüler mitten drin und sein Arm war nicht hochgehoben. Als das 5 Fest fertig war, kam eine Gruppe von meinen Mitschülern und hat mich bedroht: Wenn das noch einmal passiert, dann…“ AUTOR: Der jüdische Banker Alfred Ostermann hatte inzwischen „Mein Kampf“ gelesen. Und weil er Zionist war, floh die Familie wenige Tage später Hals über Kopf nach Palästina, wo sie bald in bittere Armut verfiel. Avnery verließ mit nur 14 Jahren die Schule, um zum Familienunterhalt beizutragen. Mit 15 schloss er sich der rechten jüdischen Untergrundgruppe Irgun an, die für einen eigenen Staat gegen die Briten und Araber kämpfte – auch mit Terror gegen Zivilisten. OT 12 Avnery: „Es war eine Terrororganisation… wir nannten uns Freiheitskämpfer – die Vergeltung an die Araber verübt hat, dutzende von Arabern umgebracht… mit Bomben in den arabischen Märkten. Wussten Sie von diesen Taten der Etzel? Natürlich wusste ich. Es war mein Beruf in der Etzel, Flugblätter zu verteilen, in denen diese Aktionen aufgezeichnet waren. Wären Sie bereit, an solchen Aktionen gegen Zivilisten teilzunehmen? Ja, absolut…. Natürlich war ich bereit, sonst wäre ich nicht beigetreten. Es war ein Kampf zwischen Zivilisten. Es war ein Kampf zwischen Völkern. Es war ein Kampf von Bomben, Anschlägen, auf Märkten. Bei diesen Anschlägen auf beiden Seiten waren Frauen und Kinder und Männer umgekommen.“ AUTOR: Aufgrund seiner Zeit im rechtsnationalen Untergrund genoss Uri Avnery Gehör und Respekt auch bei Israelis, die seine politische Haltung absolut ablehnen, ja sogar verabscheuen. So verhinderte der damalige rechtsgerichtete Oppositionsführer Menachem Begin, früher Kommandant der Untergrundgruppe Irgun, Avnerys Verhaftung als Spion. Kurz vor unserem Gespräch wurden vier Israelis in einem Restaurant in Tel Aviv von Palästinensern erschossen: OT 13 Avnery: „Ich nenne die arabischen Attentäter heutzutage… ich nenne sie nicht Terroristen. In keinem meiner Artikel habe ich je das Wort ‚Terroristen„ verwendet… Sie kämpfen für ihr Volk, wie jeder Soldat… Ich habe die erste klassische Definition von Terroristen geschaffen, nämlich: Freiheitskämpfer sind auf meiner Seite, Terroristen sind auf der anderen Seite. Und genauso, wie ich die Pflicht gefühlt hatte, als Junge… für die Freiheit meines Volkes zu kämpfen, verstehe ich absolut, dass heute in den besetzten Gebieten Araber für die Freiheit ihres Volkes kämpfen.“ AUTOR: Das jüdische Establishment, das Großbritannien im Kampf gegen die Nazis unterstütze, bekämpfte Avnerys terroristische Irgun. Aber Avnerys nüchterne Gleichsetzung des jüdischen Terrors in seiner Jugend mit dem palästinensischen Terror heute und die Legitimierung des Terrors regt auch überzeugte linksgerichtete Israelis auf, die sonst Avnerys politische und publizistische Leistungen würdigen. Bereits 1941 veröffentlichte der junge Autodidakt seinen ersten Artikel. Kurz danach berichtete er darüber, wie sein Bruder als Soldat in der britischen Armee gefallen war. Zum Gedenken an Werner Ostermann nennt sich der 18-jährige Helmut von nun 6 an „Uri Avnery“: „Avnery“ erinnerte ihn an „Werner“ und „Uri“ klang einfach gut. Er wollte Israeli mit einem hebräischen Namen sein. 1948 zieht Avnery als Soldat einer Kampfeinheit in Israels Unabhängigkeitskrieg. In einem Land, in der die Armee die vertrauenswürdigste Institution ist, konnte Avnery durch seine kurze Militärkarriere – er wurde im Kampf schwer verwundet – als Patriot punkten. Er war mit einigen Generälen, wie zum Beispiel Yitzhak Rabin befreundet, dem Avnery über seine geheimen Verhandlungen mit der PLO stets berichtete. Manche sehen Avnery als die treibende Kraft hinter dem israelisch-palästinensischen Friedensprozess. OT 14 Avnery-Rabin: „Mit Rabin war ich befreundet und ich habe mit ihm… mehr als 20 Jahre lang einen ständigen Dialog (mit ihm) geführt über die palästinensische Sache. Er war absolut… gegen jede Verhandlung mit den Palästinensern. Ich habe viele Dutzend Male mit ihm darüber diskutiert bis er aus eigener Überzeugung… mit den Palästinensern Verhandlungen aufgenommen hat und mit den Palästinensern einen Vertrag abgemacht hat in Oslo… Er war ein sehr praktischer Stabsoffizier… und er ist Schritt für Schritt durch seine eigene Logik zu der Überzeugung gekommen, zu der ich schon 1948 gekommen bin, dass Israel mit dem palästinensischen Volk einen Frieden machen muss. Das klingt heute natürlich, aber für viele Jahrzehnte hat die ganze Führungsschicht inklusive Rabin bestritten, dass es überhaupt ein palästinensisches Volk gibt.“ AUTOR: Auch mit dem ultranationalistischen General Rechav‟am Zeewi war Avnery befreundet. Zeewi war der erste, der ihn 1975 nach einer Messerattacke im Krankenhaus besuchte. Der General legte Avnery nahe, stets eine „Colt“-Pistole bei sich zu tragen – in der Hand! OT 15 Avnery: „Das ist eine Waffe für Leibwächter und solche Leute. Und die habe ich auch getragen… Seitdem 15 Jahre lang war ich nie auf der Straße ohne meinen Finger am Trigger zu haben… Niemand hat das jemals entdeckt, aber 15 Jahre lang hatte ich die Waffe immer in der Hand gehabt, immer.“ AUTOR: 40 Jahre war lang Uri Avnery Chefredakteur des Magazins Haolam Haze, 10 Jahre lang saß er im Parlament. Seit 1954 schreibt er jede Woche eine politische Kolumne und seit 1975 nahm er an zahlreichen teils geheimen Treffen mit PLO-Vertretern teil. Auch heute analysiert er gern die Nahostpolitik in seiner Kolumne, die in sechs Sprachen erscheint, auch auf Deutsch, und weltweit verschickt wird. Gelegentlich veröffentlicht er kritische Beiträge in der Zeitung Haaretz. Nachdem er sein Magazin verkauft hatte, gründete Uri Avnery 1995 die NGO Gush Shalom (Friedensblock), um die Israelis zur Unterstützung eines Friedens mit den Palästinensern auf der Grundlage der Zwei-Staaten-Lösung zu bewegen. Als ein Hindernis auf diesem Weg betrachtet Gush Shalom die Siedlungen: 7 OT 16 Avnery: „Meine Bewegung ‚Gush Shalom„ war die erste… Gruppe überhaupt, die ein Boykott gegen die Siedlungen verhängt hat und Listen veröffentlicht hat von allen Produkten, die in den Gebieten produziert werden.“ AUTOR: Durch solch einen Boykott leiden doch vor allem die Palästinenser, die in den Siedlungen arbeiten. Der alte Untergrundkämpfer hält dagegen, dass Einzelne einiges opfern müssen, um nationale Ziele zu erreichen – in diesem Fall Palästinenser, die in jüdischen Siedlungen arbeiten. OT 17 Avnery: „Ein unterdrücktes Volk bringt Opfer, wenn es sich befreien will…. Es ist ein ziemlich heuchlerisches Argument, die Palästinenser selbst wollen. Wollen die Palästinenser besetzt sein – mit allen schrecklichen Sachen, die jeden Tag passieren in den besetzten Gebieten? Es ist doch Unsinn, es ist doch unlogisch! Wenn jemand in den Siedlungen arbeiten will, dann ist er ein Verräter! Und wir früher im Irgun, im Etzel, haben Verräter umgebracht. Ich habe die Flugblätter verteilt: Der Verräter soundso ist gestern erschossen worden.“ AUTOR: Ein Gesetz aus dem Jahr 2011 verbietet es Israelis, zum Boykott von Produkten der Siedlungen aufzurufen. Daher macht Gush Shalom klar, dass ihr neuer entsprechender Bericht aus diesem Frühjahr, der eine Abwanderung mehrerer Unternehmer aus den Siedlungen nach Israel sowie Verschleierungsmethoden zur Herkunft der Siedlungsprodukte dokumentiert, kein Ausruf zum Boykott sei. Als gradliniger Mensch äußert sich Uri Avnery auch deutlich zur BDS-Bewegung. Diese internationale politische Kampagne - diese Abkürzung BDS steht für „Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen“ - wendet sich seit 2005 gegen ganz Israel. OT 18 Avnery: „Ich bin nicht für den BDS aus zwei Gründen. Erstens weil ich das falsch finde, Israel als solches zu boykottieren, weil es die ganzen Israelis in die Arme der Siedler drängt. Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen, dass sich die israelische Öffentlichkeit von den Siedlern distanziert… Nummer zwei: BDS hat ein Grundprogramm, in dem die Existenz Israels nicht existiert. Sie sprechen nicht gerne darüber… aber Tatsache ist, dass das Grundmanifest der Bewegung besagt: Ein Staat in Palästina.“ AUTOR: Und was erwartet der in Deutschland geborene Avnery von der deutschen Regierung in Bezug auf Israel? OT 19 Avnery: „Ich muss etwas lächeln, denn ich verstehe die Schwierigkeit für deutsche Regierungen: Sie müssen Israel schmeicheln, sie müssen Israel begünstigen. Ich glaube, das hat schon zu weit geführt. Wir sind heute drei Generationen nach dem Holocaust… Um an dem Holocaust beteiligt zu sein, muss man meines Alters sein, d.h. Leute, die über 90 sind… 8 Deutschland tut Israel keinen Gefallen mit dieser Einstellung. Im Gegenteil: Mit der Einstellung, dass man zu allem ‚Ja„ sagt, was Israel will. Wenn Sie einen Freund haben, der betrunken ist und der hinter dem Steuer sitzt und wegfahren will, dann was tut ein Freund? Sagt er: ‚Na, fahr los„ oder sagt er ‚bleib zu Hause bis du… wieder nüchtern bist„?“ OT 20 ATMO: „Ein Augenblick bitte… Shalom… AUTOR: Ein Mann kommt herein, der Avnerys tägliches Essen in mehreren Plastiktüten bringt. Ich nutze die kurze Pause, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Mehrere Vasen mit frischen Schnittblumen schmücken es ebenso wie zwei große Fotos seiner verstorbenen Frau Rachel. Unter dem Fernseher steht auf dem Boden das eingerahmte Bild des historischen Handschlags zwischen Yitzhak Rabin und Jassir Arafat vor dem Weißen Haus. Überall liegen Bücher. Im Regal Moshe Dayans Autobiografie. Auf einem kleinen Hocker, der mit einem Handtuch bedeckt ist, liegt „Liliput“ neben einem Buch über die jüdisch-arabischen Beziehungen in Palästina des vergangenen Jahrhunderts und „Eine neue Lesung der Bibel“. Aus Avnerys freundlichem Gespräch mit dem Gehilfen erfährt man: Sein bevorzugtes Sauerkraut ist alle, Avnery verdaut weder Zwiebel noch süße Getränke, er isst gern Tahini (Sesampaste). Seinen Gehilfen stellt Avnery nicht vor und er verabschiedet ihn auch nicht, weil er unser Gespräch nicht unterbrechen will. Aufkleber mit kurzen, provokativen Botschaften zieren Avnerys Kühlschrank. SPRECHERIN: „Es wird nicht enden, bis wir nicht miteinander reden“; „The Wall must Fall“; „Kein Siedler ist mein Bruder“; „Mit der Hamas reden“. OT 21 Avnery: „Das haben wir schon vor 15 Jahren gedruckt. Es war mir immer klar, von Anfang an, dass es Unsinn ist, mit der Hamas nicht zu sprechen. Die Hamas repräsentiert einen wichtigen Teil des palästinensischen Volkes. Ich glaube, Hamas zwar hat er eine sehr negative Ideologie, aber in Wirklichkeit benimmt sich die Hamas sehr vernünftig. Leider ist die Kluft zwischen Hamas und PLO sehr tief und vertieft sich immer noch. Es besteht ein gegenseitiger Hass. Meiner Ansicht nach können sich die Palästinenser das gar nicht leisten. Aber wer die Geschichte der Freiheitsbewegungen kennt in der Welt, das ist ziemlich natürlich… Aber es ist traurig… Und vielleicht kommt etwas in Bewegung, wenn Abu Mazen abdankt, Inschallah“. AUTOR: Oder wenn die Israelis umdenken. Nach dem palästinensischen Terroranschlag in Tel Aviv (im Juni) sagte der Tel Aviver Bürgermeister Ron Huldai, dass Israel die Palästinenser nicht weiterhin unter Besatzung halten könne und sich zugleich wundern, dass sie Terroranschläge verübten. Leider könne man in Demokratien Menschen nicht durch Argumente überzeugen, so dass der Alltag der Israelis sich zuerst sehr verschlechtern müsse, damit Israels Führung mutige Schritte zu einer Zwei-Staaten-Lösung unternehme. 9 OT 22 Avnery: „Was Huldai gesagt hat, stimmt vollkommen… Die orientalischen Juden sind gewöhnlich emotioneller… und mit logischen Argumenten kommt man da nicht wirklich an. Sie haben eine Antipathie, manchmal sogar Hass gegen die Juden aus Europa, die sogenannten Eliten, an denen die europäischen Juden zum großen Teil schuld sind.“ AUTOR: Als erster Chefredakteur thematisierte Avnery bereits 1954 die Diskriminierung der orientalischen Juden durch das ashkenasische (europäische) Establishment. Er engagierte orientalische Mitarbeiter, sein Stellvertreter stammte aus dem Irak. Dennoch waren die meisten Leser gutsituierte und gut gebildete Ashkenasim. Auch heute ist es Avnery klar, dass Friedenspolitik zugleich die Überwindung der inneren Kluft unter den jüdischen Israelis bedeutet. OT 23 Avnery: „Es war mir von Anfang an klar,... dass eine Friedensbewegung, die nur aus ashkenasischen Juden besteht,… nie Israel führen kann, wenn sie nicht von einem Teil der orientalischen Juden, (d.h. Juden, die aus islamischen Ländern gekommen sind),… unterstützt werden.… Das ist… vielleicht sogar das Hauptproblem Israels, dass die Kluft zwischen den Einwanderern aus Europa und den Einwanderern aus islamischen Ländern von Generation zu Generation nicht kleiner wird, sondern größer.“ AUTOR: Uri Avnery ist aber kein Kolumnist, der nur kritisiert. Ende Mai schlug er die Gründung einer neuen gemäßigten Partei von Linken und Rechten vor, europäischen und orientalischen Juden, Alten und Jungen mit einem Ziel: Netanjahu zu ersetzen – und den stillgelegten Friedensprozess, die Demokratie und die soziale Gerechtigkeit voranzubringen. Was ist für Uri Avnery die wichtigste Errungenschaft seines über 70-jährigen politischen Engagements? OT 24 Avnery: „Ich glaube, das Wichtigste ist, dass heute ein Weltkonsens besteht, dass ein Palästina-Staat neben dem Staat Israel entstehen muss… Und das ist heute allgemein in der Welt angenommen, von allen Weltmächten… Das heißt, wenn wir eine Regierung hätten, die diese Politik verfolgt hätte, wäre die Mehrheit der Bevölkerung Israels dafür.“ AUTOR: Mit 92 Jahren trägt Uri Avnery keine Pistole mehr. Er ist oft im Fernsehen zu sehen und daher so beliebt, wie nie zuvor. Er äußert sich ständig und gern über Politik, an der er auch mitwirken will, um einer neuen Regierung an die Macht (ins Amt?) zu verhelfen. OT 25 Avnery: „Wir brauchen eine neue politische Kraft und ich bin absolut bereit, da mitzuwirken… Ich bin zu alt, um… die organisatorische Initiative zu ergreifen… Aber ich würde Politiker unterstützen. Ich sehe es heute als die Hauptpflicht im Land, Benjamin 10 Netanjahu und die ganze Bande zu vertreiben. Das ist eine lebenswichtige Aufgabe für das Land. Und (ich) bin bereit jedem zu helfen, der die Initiative ergreift, um das zu erreichen.“ AUTOR: Ein Optimist durch und durch, beendet Uri Avnery seine Autobiografie mit einem Satz: „Das Leben geht weiter, der Kampf dauert an und morgen beginnt ein neuer Tag.“ 11
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