Uri Avnery

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Uri Avnery
Israels bekanntester Friedensaktivist blickt mit 93 Jahren zurück
ohne Zorn
Von Igal Avidan
Sendung: Freitag, 9. September 2016, 10.05 Uhr
Redaktion: Rudolf Linßen
Produktion: SWR 2016
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URI AVNERY
OT 7:
ATMO-Eingangstür/Fahrstuhl
AUTOR:
Nach der Lektüre seiner 1,100-Seiten-Autobiografie stehe ich vor Avnerys
Wohnblock im Zentrum Tel Avivs und erlebe eine Überraschung: Auf der
Sprechanlage prangt der Name „Avnery“. Heißt das, dass der einst so verhasste
Oppositionelle, der einen Mordanschlag an seiner Wohnungstür überlebte und einst
vom Premierminister, dem Geheimdienstchef und mehreren Generälen bekämpft
wurde, nicht mehr gefährdet ist? Weil er den Mächtigen nicht mehr gefährdlich
scheint?
OT 8:
Avnery-Empfang
AUTOR:
Uri Avnery ist stolz, dass es in seinem Wohnzimmer auch an jenem heißen Tag recht
kühl ist. Aus dem großen Fenster glitzert das Mittelmeer in der Nachmittagsonne.
Avnery trägt eine schwarze Jogginghose und ein gestreiftes schwarz-weißes
Poloshirt mit offenem Kragen. Um seinen Hals hängt ein Verstärker, damit er als
Schwerhöriger sein Gegenüber leicht verstehen kann.
Gern wechselt Avnery seinen Schaukelstuhl im Wohnzimmer zugunsten der kleinen
Sitzecke in der offenen Küche, damit der Reporter sein Mikrofon platzieren kann. Die
Bitte, die laute Klimaanlage etwas herunter zu drehen, lehnt er mit einer leichten,
aber resoluten Kopfbewegung ab. Vielleicht behält er so trotz der unendlichen
Gewalt einen kühlen Kopf?
Diese Szene ging um die Welt. Denn die beiden Männer waren
AUTOR:
Szenenwechsel – West-Beirut im Sommer 1982. Die israelische Armee belagert aus
dem Ostteil der Stadt Arafats Truppen. Obwohl Uri Avnery schwitzt und sichtlich
aufreget ist, gelingt es ihm sich mitten im Krieg zu beherrschen und somit Geschichte
zu schreiben.
Der israelische Redakteur und Politiker sitzt auf einem Ledersofa und unterhält sich
freundlich auf Englisch mit PLO-Chef Jassir Arafat – Israels Feind Nummer eins – als
ob sie alte Kumpel wären! Avnery und seine zwei jungen Kolleginnen setzten ihr
Leben aufs Spiel, als sie auf dem Weg von Ost-Beirut vier militärische Checkpoints
passierten: (Der israelischen, libanesischen und syrischen Armee sowie der
christlichen Miliz). Als eine Art Lebensversicherung ließen sich die Israelis von einem
deutschen Fernsehreporter begleiten.
Nach einer Weile betritt Jassir Arafat den Raum, Israels Erzfeind, schrieb Uri Avnery
damals im SPIEGEL:
SPRECHER - Avnery:
„Eine herzliche Begrüßung, halb arabisch, halb Englisch. Das war der Arafat, den ich
aus TV-Filmen und Zeitungsphotos kannte. Er ist ein vollkommen anderer Mensch.
Ruhig, beinahe sanft, freundschaftlich, gar nicht formell, kein Chef, kein Macho-Typ.“
2
AUTOR:
Als Avnerys Reporterin Sarit Jishai Arafat fragt, ob er ein wenig Hebräisch kann,
lacht er und sagt auf Ivrit: „Ich liebe dich. Wie geht‟s dir“? Der ebenfalls anwesende
palästinensische Nationaldichter Mahmoud Darwisch schlägt ihr vor, den ledigen
Arafat zu heiraten. Dieser protestiert, das gehe dann doch zu weit, sagt aber gleich:
„Wenn das den Konflikt lösen würde, warum eigentlich nicht?“
In seiner Autobiografie „Optimist“ schrieb Uri Avnery:
SPRECHER-Avnery:
„Es herrschte eine Euphorie im Raum, wie unter Menschen üblich, die wissen, dass
sie jeden Moment sterben können und dass dies nicht in ihren Händen liegt, sondern
bei Allah oder dem Schicksal. So fühlte ich mich manchmal als Frontsoldat 1948.“
AUTOR:
Während Avnery konzentriert vorträgt, spielt Arafat lässig mit der kleinen Tochter des
Wohnungsbesitzers. Diese Szene filmte das deutsche Fernsehteam:
OT 1:
Film-Avnery-Arafat
SPRECHER Avnery:
„Die Tatsache, dass wir hier mitten in einem solchen schrecklichen Krieg
zusammensitzen, ist ein Zeichen für die Zukunft, dass unsere beiden Völker am
Ende eine Lösung finden für Palästinenser und Israelis. Ich glaube, dass es einen
palästinensischen Staat geben wird neben dem Staat Israel und dass beide Völker
friedlich in zwei Staaten leben werden, die allmählich mehr als gute Nachbarn
werden.“
SPRECHER Arafat:
Ein Staat, ein säkularer Staat.
SPRECHER Avnery:
„Ich glaube, dass viele Israelis damit nicht einverstanden sein werden, aber darüber
diskutieren wir später.“ (beide lachen)
AUTOR:
Reporterin Sarit Jishai-Levy (INZWISCHEN VERHEIRATET) erzählte im israelischen
Dokumentarfilm „Uri Avnery: Warrior of Peace”, (wie sie instinktiv sich Arafats
Umarmung widersetzte und) wie sie dabei Avnery erlebte:
OT 2:
Film
SPRECHERIN:
„Ich glaube, dass er bei jenem Treffen kein Journalist war, sonder Avnery der
Politiker, der Denker, der Wegweiser. Und das im Gegensatz zu mir und Anat, die
auf jeden Fall dort journalistisch arbeiteten“.
AUTOR::
Fotografin Anat Saragusty fügte hinzu.
3
OT 3:
Film
SPRECHERIN:
„Uri war sehr sehr aufgeregt, denn für ihn war es zusätzlich zum journalistischen
Erfolg ein politischer Sieg, der erste Israeli zu sein, den Arafat trifft.“
AUTOR:
Avenrys Motto war, dass ein Foto mehr als tausend Wörter sagt. Saragustys Foto
zeigt, wie Arafat ihre (inzwischen aufgetaute) Kollegin, die ein T-Shirt mit tiefem
Dekolleté trägt, freundlich umarmt und beide, wie auch Avnery strahlend lächelnd.
Für das Cover seines Magazins wählte Avnery nur einen Mitschnitt dieses Fotos: Er
und Arafat, wobei er ein Aufnahmegerät in der Hand hält. Die Überschrift lautet:
„Interview mit Jassir Arafat: ‚Wir haben den Staat Israel anerkannt„!“ In seiner
Autobiografie schreibt Avnery:
SPRECHER Avnery:
„Die Botschaft dieses Bildes war, für Israelis: Wenn der Überterrorist Arafat mit einem
prominenten Israeli zusammen sitzt, heißt es, dass man mit ihm reden kann. Für die
Palästinenser heißt es, dass nicht alle Israelis Monster sind. Das war für mich der
erste Schritt zum Oslo-Vertrag“.
AUTOR:
Bei dem erst elf Jahre später, also 1993, Israel und die PLO sich gegenseitig
anerkannten und Arafat aus dem Exil zurückkehrt, um Präsident der
palästinensischen Autonomiebehörde zu werden.
Nach dem Zweieinhalb-Stunden-Interview in Beirut besuchten die Israelis auf ihren
Wunsch hin den israelischen Piloten Aharon Achiaz, den höchstrangigen Israeli in
PLO-Haft. Sie interviewten ihn und nahmen von ihm einen Brief für seine Familie mit.
(Er wurde auch kurz danach ausgetauscht.)
Auf dem Weg zurück nach Israel hörte Avnery im israelischen Radio, dass Arafats
Büro das Interview mit Avnery bekanntgab. Der Meldung folgten wütende Reaktionen
von israelischen Kabinettsmitgliedern, die verlangten, Avnery wegen Hochverrats
anzuklagen.
OT 4 Avnery:
„Noch am selben Abend, als ich die Grenze… wieder überschritten habe… nach
Israel, ich dachte, ich werde verhaftet an der Grenze, (aber ich bin nicht verhaftet
worden)… aber das ist nicht passiert. Aber die Regierung hatte offiziell beschlossen,
den Staatsanwalt anzuweisen, ob ich vor Gericht gestellt werden soll. Es war damals
ein Verbrechen, ich glaube 20 Jahre Gefängnis oder so was, den Feind in einem
Krieg zu treffen.“
AUTOR:
An der Grenze warteten israelische Journalisten. Avnery gab einem Fernsehreporter
die Videokassette mit dem Arafat-Interview:
OT 5 Avnery:
„und noch am selben Abend ist es vom israelischen Fernsehsender ausgestrahlt
worden.
4
AUTOR:
Das Bild der beiden Männer, die Händchen halten – ärgerte die meisten Israelis.
OT 6 Avnery:
„Ich war ja sowieso verhasst, also verhasster würde ich kaum kommen können.“
SPRECHER Avnery:
„Nun erlebte ich den zweithöchsten Hasspegel. Einmal überfiel mich ein junger Mann
auf der Straße und schlug mich zu Boden. Passanten halfen mir auf die Beine und
gaben mir meine herumliegende Sonnenbrille.“
AUTOR:
Nach wenigen Wochen besucht einen jungen Israeli Avnery. Er habe im israelischen
West-Beirut gedient - als Scharfschützer - und er bringt ein „Souvenir“ mit: Eine
Kugel. Als er sah, dass Avnery die Grenze passiert, fragte er seinen Kommandanten,
ob er ihn erschießen solle. Der rief seine Vorgesetzte an und kam zurück mit der
Antwort: Nein.
Avnery und seine beiden Kolleginnen werden verhört, aber nach zwei Monaten
entscheidet der Oberstaatsanwalt, die Ermittlungen einzustellen. Zum einen
besuchte Avnery zwar ein feindliches Land, aber auf offizielle Einladung der
israelischen Armee. Zum anderen diente sein Treffen mit einem „fremden Agenten“
dem Frieden, und Avnery wollte dabei nicht die Sicherheit Israels gefährden, die
ohnehin nicht gefährdet war.
Zurück in Avnerys Wohnung. Nach dem Smalltalk wechseln wir in Avnery
Muttersprache:
OT 9 Avnery:
„Deutsch? Deutsch“.
AUTOR:
Uri Avnery wurde 1923 in der Kleinstadt Beckum als Helmut Ostermann geboren und
wuchs in einer liberalen, gutbürgerlichen säkularen Familie in Hannover auf. Sein
Vater Alfred, ein Banker, schickte Helmut auf das katholische Gymnasium, weil er
meinte, dass die Katholiken als Minderheit in Hannover toleranter sein würden zu
einem jüdischen Kind als die Protestanten. Das stimmte bis zu Hitlers
Machtergreifung 1933. Auf einmal sollte Helmut, der einzige jüdische Schüler im
Gymnasium und dazu noch der jüngste, auf einer Schulversammlung die NSDAPParteihymne, das sogenannte Horst-Wessel-Lied anstimmen:
OT 10 Avnery rezitiert:
„Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen/ SA marschiert im ruhig festen Schritt/
Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschieren im Geist in unseren
Reihen mit.“
OT 11 Avnery:
„Und dann… am Ende stand man auf, hob den Arm zum Hitlergruß und sang diese
beiden Lieder. Ich habe den Arm nicht gehoben, ich habe das Nazi-Lied nicht
mitgesungen. Das war sehr auffällig, das war ein Meer von hochgehobenen Händen
und da war dieser Schüler mitten drin und sein Arm war nicht hochgehoben. Als das
5
Fest fertig war, kam eine Gruppe von meinen Mitschülern und hat mich bedroht:
Wenn das noch einmal passiert, dann…“
AUTOR:
Der jüdische Banker Alfred Ostermann hatte inzwischen „Mein Kampf“ gelesen. Und
weil er Zionist war, floh die Familie wenige Tage später Hals über Kopf nach
Palästina, wo sie bald in bittere Armut verfiel. Avnery verließ mit nur 14 Jahren die
Schule, um zum Familienunterhalt beizutragen. Mit 15 schloss er sich der rechten
jüdischen Untergrundgruppe Irgun an, die für einen eigenen Staat gegen die Briten
und Araber kämpfte – auch mit Terror gegen Zivilisten.
OT 12 Avnery:
„Es war eine Terrororganisation… wir nannten uns Freiheitskämpfer – die Vergeltung
an die Araber verübt hat, dutzende von Arabern umgebracht… mit Bomben in den
arabischen Märkten. Wussten Sie von diesen Taten der Etzel? Natürlich wusste ich.
Es war mein Beruf in der Etzel, Flugblätter zu verteilen, in denen diese Aktionen
aufgezeichnet waren. Wären Sie bereit, an solchen Aktionen gegen Zivilisten
teilzunehmen? Ja, absolut…. Natürlich war ich bereit, sonst wäre ich nicht
beigetreten. Es war ein Kampf zwischen Zivilisten. Es war ein Kampf zwischen
Völkern. Es war ein Kampf von Bomben, Anschlägen, auf Märkten. Bei diesen
Anschlägen auf beiden Seiten waren Frauen und Kinder und Männer umgekommen.“
AUTOR:
Aufgrund seiner Zeit im rechtsnationalen Untergrund genoss Uri Avnery Gehör und
Respekt auch bei Israelis, die seine politische Haltung absolut ablehnen, ja sogar
verabscheuen. So verhinderte der damalige rechtsgerichtete Oppositionsführer
Menachem Begin, früher Kommandant der Untergrundgruppe Irgun, Avnerys
Verhaftung als Spion.
Kurz vor unserem Gespräch wurden vier Israelis in einem Restaurant in Tel Aviv von
Palästinensern erschossen:
OT 13 Avnery:
„Ich nenne die arabischen Attentäter heutzutage… ich nenne sie nicht Terroristen. In
keinem meiner Artikel habe ich je das Wort ‚Terroristen„ verwendet… Sie kämpfen für
ihr Volk, wie jeder Soldat… Ich habe die erste klassische Definition von Terroristen
geschaffen, nämlich: Freiheitskämpfer sind auf meiner Seite, Terroristen sind auf der
anderen Seite. Und genauso, wie ich die Pflicht gefühlt hatte, als Junge… für die
Freiheit meines Volkes zu kämpfen, verstehe ich absolut, dass heute in den
besetzten Gebieten Araber für die Freiheit ihres Volkes kämpfen.“
AUTOR:
Das jüdische Establishment, das Großbritannien im Kampf gegen die Nazis
unterstütze, bekämpfte Avnerys terroristische Irgun.
Aber Avnerys nüchterne Gleichsetzung des jüdischen Terrors in seiner Jugend mit
dem palästinensischen Terror heute und die Legitimierung des Terrors regt auch
überzeugte linksgerichtete Israelis auf, die sonst Avnerys politische und
publizistische Leistungen würdigen.
Bereits 1941 veröffentlichte der junge Autodidakt seinen ersten Artikel. Kurz danach
berichtete er darüber, wie sein Bruder als Soldat in der britischen Armee gefallen
war. Zum Gedenken an Werner Ostermann nennt sich der 18-jährige Helmut von nun
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an „Uri Avnery“: „Avnery“ erinnerte ihn an „Werner“ und „Uri“ klang einfach gut. Er
wollte Israeli mit einem hebräischen Namen sein.
1948 zieht Avnery als Soldat einer Kampfeinheit in Israels Unabhängigkeitskrieg. In
einem Land, in der die Armee die vertrauenswürdigste Institution ist, konnte Avnery
durch seine kurze Militärkarriere – er wurde im Kampf schwer verwundet – als Patriot
punkten. Er war mit einigen Generälen, wie zum Beispiel Yitzhak Rabin befreundet,
dem Avnery über seine geheimen Verhandlungen mit der PLO stets berichtete.
Manche sehen Avnery als die treibende Kraft hinter dem israelisch-palästinensischen
Friedensprozess.
OT 14 Avnery-Rabin:
„Mit Rabin war ich befreundet und ich habe mit ihm… mehr als 20 Jahre lang einen
ständigen Dialog (mit ihm) geführt über die palästinensische Sache. Er war absolut…
gegen jede Verhandlung mit den Palästinensern. Ich habe viele Dutzend Male mit
ihm darüber diskutiert bis er aus eigener Überzeugung… mit den Palästinensern
Verhandlungen aufgenommen hat und mit den Palästinensern einen Vertrag
abgemacht hat in Oslo… Er war ein sehr praktischer Stabsoffizier… und er ist Schritt
für Schritt durch seine eigene Logik zu der Überzeugung gekommen, zu der ich
schon 1948 gekommen bin, dass Israel mit dem palästinensischen Volk einen
Frieden machen muss. Das klingt heute natürlich, aber für viele Jahrzehnte hat die
ganze Führungsschicht inklusive Rabin bestritten, dass es überhaupt ein
palästinensisches Volk gibt.“
AUTOR:
Auch mit dem ultranationalistischen General Rechav‟am Zeewi war Avnery
befreundet. Zeewi war der erste, der ihn 1975 nach einer Messerattacke im
Krankenhaus besuchte. Der General legte Avnery nahe, stets eine „Colt“-Pistole bei
sich zu tragen – in der Hand!
OT 15 Avnery:
„Das ist eine Waffe für Leibwächter und solche Leute. Und die habe ich auch
getragen… Seitdem 15 Jahre lang war ich nie auf der Straße ohne meinen Finger am
Trigger zu haben… Niemand hat das jemals entdeckt, aber 15 Jahre lang hatte ich
die Waffe immer in der Hand gehabt, immer.“
AUTOR:
40 Jahre war lang Uri Avnery Chefredakteur des Magazins Haolam Haze, 10 Jahre
lang saß er im Parlament. Seit 1954 schreibt er jede Woche eine politische Kolumne
und seit 1975 nahm er an zahlreichen teils geheimen Treffen mit PLO-Vertretern teil.
Auch heute analysiert er gern die Nahostpolitik in seiner Kolumne, die in sechs
Sprachen erscheint, auch auf Deutsch, und weltweit verschickt wird. Gelegentlich
veröffentlicht er kritische Beiträge in der Zeitung Haaretz.
Nachdem er sein Magazin verkauft hatte, gründete Uri Avnery 1995 die NGO Gush
Shalom (Friedensblock), um die Israelis zur Unterstützung eines Friedens mit den
Palästinensern auf der Grundlage der Zwei-Staaten-Lösung zu bewegen. Als ein
Hindernis auf diesem Weg betrachtet Gush Shalom die Siedlungen:
7
OT 16 Avnery:
„Meine Bewegung ‚Gush Shalom„ war die erste… Gruppe überhaupt, die ein Boykott
gegen die Siedlungen verhängt hat und Listen veröffentlicht hat von allen Produkten,
die in den Gebieten produziert werden.“
AUTOR:
Durch solch einen Boykott leiden doch vor allem die Palästinenser, die in den
Siedlungen arbeiten. Der alte Untergrundkämpfer hält dagegen, dass Einzelne
einiges opfern müssen, um nationale Ziele zu erreichen – in diesem Fall
Palästinenser, die in jüdischen Siedlungen arbeiten.
OT 17 Avnery:
„Ein unterdrücktes Volk bringt Opfer, wenn es sich befreien will…. Es ist ein ziemlich
heuchlerisches Argument, die Palästinenser selbst wollen. Wollen die Palästinenser
besetzt sein – mit allen schrecklichen Sachen, die jeden Tag passieren in den
besetzten Gebieten? Es ist doch Unsinn, es ist doch unlogisch! Wenn jemand in den
Siedlungen arbeiten will, dann ist er ein Verräter! Und wir früher im Irgun, im Etzel,
haben Verräter umgebracht. Ich habe die Flugblätter verteilt: Der Verräter soundso
ist gestern erschossen worden.“
AUTOR:
Ein Gesetz aus dem Jahr 2011 verbietet es Israelis, zum Boykott von Produkten der
Siedlungen aufzurufen. Daher macht Gush Shalom klar, dass ihr neuer
entsprechender Bericht aus diesem Frühjahr, der eine Abwanderung mehrerer
Unternehmer aus den Siedlungen nach Israel sowie Verschleierungsmethoden zur
Herkunft der Siedlungsprodukte dokumentiert, kein Ausruf zum Boykott sei.
Als gradliniger Mensch äußert sich Uri Avnery auch deutlich zur BDS-Bewegung.
Diese internationale politische Kampagne - diese Abkürzung BDS steht für „Boykott,
Kapitalabzug und Sanktionen“ - wendet sich seit 2005 gegen ganz Israel.
OT 18 Avnery:
„Ich bin nicht für den BDS aus zwei Gründen. Erstens weil ich das falsch finde, Israel
als solches zu boykottieren, weil es die ganzen Israelis in die Arme der Siedler
drängt. Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen, dass sich die israelische
Öffentlichkeit von den Siedlern distanziert… Nummer zwei: BDS hat ein
Grundprogramm, in dem die Existenz Israels nicht existiert. Sie sprechen nicht gerne
darüber… aber Tatsache ist, dass das Grundmanifest der Bewegung besagt: Ein
Staat in Palästina.“
AUTOR:
Und was erwartet der in Deutschland geborene Avnery von der deutschen Regierung
in Bezug auf Israel?
OT 19 Avnery:
„Ich muss etwas lächeln, denn ich verstehe die Schwierigkeit für deutsche
Regierungen: Sie müssen Israel schmeicheln, sie müssen Israel begünstigen. Ich
glaube, das hat schon zu weit geführt. Wir sind heute drei Generationen nach dem
Holocaust… Um an dem Holocaust beteiligt zu sein, muss man meines Alters sein,
d.h. Leute, die über 90 sind…
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Deutschland tut Israel keinen Gefallen mit dieser Einstellung. Im Gegenteil: Mit der
Einstellung, dass man zu allem ‚Ja„ sagt, was Israel will. Wenn Sie einen Freund
haben, der betrunken ist und der hinter dem Steuer sitzt und wegfahren will, dann
was tut ein Freund? Sagt er: ‚Na, fahr los„ oder sagt er ‚bleib zu Hause bis du…
wieder nüchtern bist„?“
OT 20 ATMO:
„Ein Augenblick bitte… Shalom…
AUTOR:
Ein Mann kommt herein, der Avnerys tägliches Essen in mehreren Plastiktüten
bringt.
Ich nutze die kurze Pause, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Mehrere
Vasen mit frischen Schnittblumen schmücken es ebenso wie zwei große Fotos seiner
verstorbenen Frau Rachel. Unter dem Fernseher steht auf dem Boden das
eingerahmte Bild des historischen Handschlags zwischen Yitzhak Rabin und Jassir
Arafat vor dem Weißen Haus. Überall liegen Bücher. Im Regal Moshe Dayans
Autobiografie. Auf einem kleinen Hocker, der mit einem Handtuch bedeckt ist, liegt
„Liliput“ neben einem Buch über die jüdisch-arabischen Beziehungen in Palästina
des vergangenen Jahrhunderts und „Eine neue Lesung der Bibel“.
Aus Avnerys freundlichem Gespräch mit dem Gehilfen erfährt man: Sein bevorzugtes
Sauerkraut ist alle, Avnery verdaut weder Zwiebel noch süße Getränke, er isst gern
Tahini (Sesampaste). Seinen Gehilfen stellt Avnery nicht vor und er verabschiedet
ihn auch nicht, weil er unser Gespräch nicht unterbrechen will.
Aufkleber mit kurzen, provokativen Botschaften zieren Avnerys Kühlschrank.
SPRECHERIN:
„Es wird nicht enden, bis wir nicht miteinander reden“; „The Wall must Fall“; „Kein
Siedler ist mein Bruder“; „Mit der Hamas reden“.
OT 21 Avnery:
„Das haben wir schon vor 15 Jahren gedruckt. Es war mir immer klar, von Anfang an,
dass es Unsinn ist, mit der Hamas nicht zu sprechen. Die Hamas repräsentiert einen
wichtigen Teil des palästinensischen Volkes. Ich glaube, Hamas zwar hat er eine
sehr negative Ideologie, aber in Wirklichkeit benimmt sich die Hamas sehr vernünftig.
Leider ist die Kluft zwischen Hamas und PLO sehr tief und vertieft sich immer noch.
Es besteht ein gegenseitiger Hass. Meiner Ansicht nach können sich die
Palästinenser das gar nicht leisten. Aber wer die Geschichte der
Freiheitsbewegungen kennt in der Welt, das ist ziemlich natürlich… Aber es ist
traurig… Und vielleicht kommt etwas in Bewegung, wenn Abu Mazen abdankt,
Inschallah“.
AUTOR:
Oder wenn die Israelis umdenken. Nach dem palästinensischen Terroranschlag in
Tel Aviv (im Juni) sagte der Tel Aviver Bürgermeister Ron Huldai, dass Israel die
Palästinenser nicht weiterhin unter Besatzung halten könne und sich zugleich
wundern, dass sie Terroranschläge verübten. Leider könne man in Demokratien
Menschen nicht durch Argumente überzeugen, so dass der Alltag der Israelis sich
zuerst sehr verschlechtern müsse, damit Israels Führung mutige Schritte zu einer
Zwei-Staaten-Lösung unternehme.
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OT 22 Avnery:
„Was Huldai gesagt hat, stimmt vollkommen… Die orientalischen Juden sind
gewöhnlich emotioneller… und mit logischen Argumenten kommt man da nicht
wirklich an. Sie haben eine Antipathie, manchmal sogar Hass gegen die Juden aus
Europa, die sogenannten Eliten, an denen die europäischen Juden zum großen Teil
schuld sind.“
AUTOR:
Als erster Chefredakteur thematisierte Avnery bereits 1954 die Diskriminierung der
orientalischen Juden durch das ashkenasische (europäische) Establishment. Er
engagierte orientalische Mitarbeiter, sein Stellvertreter stammte aus dem Irak.
Dennoch waren die meisten Leser gutsituierte und gut gebildete Ashkenasim. Auch
heute ist es Avnery klar, dass Friedenspolitik zugleich die Überwindung der inneren
Kluft unter den jüdischen Israelis bedeutet.
OT 23 Avnery:
„Es war mir von Anfang an klar,... dass eine Friedensbewegung, die nur aus
ashkenasischen Juden besteht,… nie Israel führen kann, wenn sie nicht von einem
Teil der orientalischen Juden, (d.h. Juden, die aus islamischen Ländern gekommen
sind),… unterstützt werden.… Das ist… vielleicht sogar das Hauptproblem Israels,
dass die Kluft zwischen den Einwanderern aus Europa und den Einwanderern aus
islamischen Ländern von Generation zu Generation nicht kleiner wird, sondern
größer.“
AUTOR:
Uri Avnery ist aber kein Kolumnist, der nur kritisiert. Ende Mai schlug er die
Gründung einer neuen gemäßigten Partei von Linken und Rechten vor, europäischen
und orientalischen Juden, Alten und Jungen mit einem Ziel: Netanjahu zu ersetzen –
und den stillgelegten Friedensprozess, die Demokratie und die soziale Gerechtigkeit
voranzubringen.
Was ist für Uri Avnery die wichtigste Errungenschaft seines über 70-jährigen
politischen Engagements?
OT 24 Avnery:
„Ich glaube, das Wichtigste ist, dass heute ein Weltkonsens besteht, dass ein
Palästina-Staat neben dem Staat Israel entstehen muss… Und das ist heute
allgemein in der Welt angenommen, von allen Weltmächten… Das heißt, wenn wir
eine Regierung hätten, die diese Politik verfolgt hätte, wäre die Mehrheit der
Bevölkerung Israels dafür.“
AUTOR:
Mit 92 Jahren trägt Uri Avnery keine Pistole mehr. Er ist oft im Fernsehen zu sehen
und daher so beliebt, wie nie zuvor. Er äußert sich ständig und gern über Politik, an
der er auch mitwirken will, um einer neuen Regierung an die Macht (ins Amt?) zu
verhelfen.
OT 25 Avnery:
„Wir brauchen eine neue politische Kraft und ich bin absolut bereit, da mitzuwirken…
Ich bin zu alt, um… die organisatorische Initiative zu ergreifen… Aber ich würde
Politiker unterstützen. Ich sehe es heute als die Hauptpflicht im Land, Benjamin
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Netanjahu und die ganze Bande zu vertreiben. Das ist eine lebenswichtige Aufgabe
für das Land. Und (ich) bin bereit jedem zu helfen, der die Initiative ergreift, um das
zu erreichen.“
AUTOR:
Ein Optimist durch und durch, beendet Uri Avnery seine Autobiografie mit einem
Satz: „Das Leben geht weiter, der Kampf dauert an und morgen beginnt ein neuer
Tag.“
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