PDF - Katholische Kirche beim hr

Pastoralreferent Daniel Stehling, Fulda
Sonntagsgedanken in hr1 am 04.09.2016
„Warum müssen wir denn eigentlich in die Schule?“ Diese Frage, ausgesprochen mit deutlich herauszuhörender Lustlosigkeit, stellen mir meine
Schüler immer mal wieder. Auch in der letzten Woche habe ich sie schon
wieder gehört. Dabei ist es gerade einmal eine Woche her, dass bei uns
in Hessen die Sommerferien vorbei sind und das neue Schuljahr begonnen hat. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich das früher als Schüler auch
immer mal wieder gefragt. Meine Lehrer haben damals darauf besonders
gerne mit dem Spruch geantwortet: „Non scola, sed vitae discimus“.
Übersetzt heißt das: „Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben.“ Als Jugendlicher war mir das mit dem „Lernen fürs Leben“ natürlich
überhaupt nicht einleuchtend.
Deshalb beantworte ich als Lehrer heute diese Frage von meinen Schülern meist mit einem leichten ironischen Unterton: „Ist doch klar, warum
ihr in die Schule geht: Damit ihr klug werdet. Ihr wollt doch nicht etwa
dumm sterben?“ Wenn ich ihnen dann noch mit breitem Lächeln erzähle,
dass einige in der Klasse wohl noch eine sehr lange Zeit in der Schule
vor sich hätten, bis sie mal irgendwann klug würden und dass ich selbst
es bisher wohl auch noch nicht geschafft hätte klug zu werden, da ich
immer noch zur Schule ginge, dann herrschen allgemeines Lachen und
große Heiterkeit in der Klasse.
Freude und Heiterkeit können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass
Lernen und sich Weiter- und Fortbilden immer auch mit Anstrengungen
und Mühen verbunden sind. Nicht jedem fällt alles leicht zu. Ich brauche
auch da nur wieder an meine eigene Schulzeit zu denken, besonders an
die Lateinvokabeln, die so gar nicht in meinem Gedächtnis bleiben wollten. So wollte ich als Schüler auch nicht verstehen, wozu man Latein eigentlich in seinem Leben benötigen sollte. Ich fühlte mich klug genug,
auch ohne Latein. Vielleicht erinnern auch Sie sich an ein Fach oder bestimmte Unterrichtsthemen in der Schule, die bei Ihnen so gar nicht im
Gedächtnis bleiben wollten; Themen, die bei Ihnen leichtere oder schwerere Bauchschmerzen verursacht haben. So mühen sich damals wie
heute Schülerinnen und Schüler in der Schule ab: der eine in Mathe, die
nächste in Englisch oder Französisch und wieder ein anderer in den Na-
turwissenschaften Biologie, Physik oder Chemie. Das war so und wird
wohl durch alle Zeiten so bleiben. Und das alles nur, um klug zu werden?
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Was heißt eigentlich klug sein? Wie werde ich klug, und was gehört zum
Klugsein dazu? Ist es die gute Bildung, die man erwirbt? Am besten auf
einer Eliteschule und einer Eliteuniversität? Sind es die Geschicklichkeit
und handwerkliche Fähigkeiten, die mich klug erscheinen lassen? Ist es
mein Aussehen oder mein Kleidungsstil, an dem Andere erkennen können, dass ich dem Trend entsprechend gekleidet bin und daher klug wirke. Vielleicht ist es aber auch etwas ganz anderes, was Klugheit ausmacht? Nichts von allen diesen irdischen und daher auch vergänglichen
Dinge, die manchmal mehr Schein als Sein besitzen. Solche und ähnliche Gedanken rufen mir das Motto des evangelischen Kirchentags, der
im vergangenen Jahr in Stuttgart stattfand in Erinnerung: „Auf das wir
klug werden“. Diese Worte stammen aus dem Psalm 90 der Bibel und
zwar aus der Lutherübersetzung. Der gesamte Vers lautet dort: „Lehre
uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps
90, 12). Als ich diesen Bibelvers das erste Mal hörte, dachte ich: eine
seltsame Verbindung, hat hier doch Klugheit nichts mit Wissen und Lernen zu tun, sondern mit dem Bedenken der Vergänglichkeit. Mittlerweile
aber wird mir immer klarer: Die Bibel meint etwas anderes, wenn sie von
klug werden spricht. Nämlich mit dem Wissen um meine Begrenztheit
und Vergänglichkeit so zu leben, dass ich jeden einzelnen Tag, jeden
einzelnen Augenblick meines Lebens trotz Mühsal und Herausforderungen als Geschenk des guten Schöpfergottes betrachten kann. So wird
mein Blick auf das Wesentliche gelenkt. Auf das, worauf es in meinem
Leben ankommt, nämlich das Leben zu leben und im Augenblick gegenwärtig zu sein.
Am heutigen Sonntag ist der Psalm 90 auch in den katholischen Gottesdiensten als Antwortgesang nach der ersten Lesung vorgesehen. In der
Einheitsübersetzung lautet der betreffende Vers „Unsere Tage zu zählen, lehre uns. Dann gewinnen wir ein weises Herz“ (Ps 90, 12). In dieser
Übersetzung ist „Klugwerden“ durch „gewinnen wir ein weises Herz“
ausgedrückt. Ist es nicht merkwürdig, dass es beim Thema Weisheit und
Klugheit in der Bibel nicht um das Gehirn oder das Wissen der Menschen geht, sondern um das Herz? Bewusst sachlich könnte man sagen:
Das Herz steht hier symbolisch für die Personenmitte, für den ganzen
Menschen und für das Leben des Menschen. Es ist das Organ, das den
Blutkreislauf in Gang und somit den Menschen am Leben hält. Übertragen aber sieht das ganz anders aus: Klug und weise zu sein, wird so zu
einer Sache des Herzens. Eine Sache der Lebenseinstellung, die mich
als Mensch ganz und gar und mein ganzes Leben lang betrifft. Klug und
weise ist für mich der, der sein Leben wirklich lebt, weil er es in jedem
Moment als Geschenk annimmt. In jeder noch so geringen Kleinigkeit
seines Lebens ist er dem wahrhaften Leben auf der Spur und nimmt es
in sich auf.
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Die Leseordnung des heutigen Sonntags führt noch weiter auf der Spur
nach der wahren und echten Klugheit, indem sie uns im Sonntagsgottesdienst als erste biblische Lesung einen Text aus dem Buch der Weisheit vorlegt. Dort heißt es im 9. Kapitel: „Wer hat je deinen Plan erkannt,
wenn du ihm nicht Weisheit gegeben und deinen Heiligen Geist aus der
Höhe gesandt hast? So wurden die Pfade der Erdenbewohner gerade
gemacht, und die Menschen lernten, was dir gefällt; durch die Weisheit
wurden sie gerettet“ (Weisheit 9, 17-19). Weisheit ist nach diesem Text
ein Geschenk Gottes, um das der Verfasser des Weisheitsbuches betet.
Sie ist ein Geschenk, das dem Menschen von Gott her zukommt und das
den Menschen ganz erfüllt. Durch dieses Geschenk Gottes werden die
Wege der Menschen gerade. Sie lernen, was Gott gefällt und werden
durch die Weisheit gerettet.
Durch das Geschenk der Klugheit wird für mich das Leben einfacher: Es
ist geradezu so, als ob ich über einen geebneten Weg leichter laufe.
Mehr noch:
Durch das Geschenk der Weisheit, das Gott mir macht, bekomme ich die
Fähigkeit wirklich zu leben, ein gutes und erfülltes Leben zu führen. Für
mich heißt das ganz konkret, dass ich mich an den Kleinigkeiten des Lebens freue, mein Leben schätze und genieße. Dabei ist für mich besonders ansprechend, entlastend und tröstlich: Nicht ich alleine muss durch
mein Lernen, Nachdenken und Tun Weisheit erlangen. Nicht ich alleine
kann und muss mein Leben zum vollen Gelingen bringen. Die volle Klarheit meines Geistes und den zündenden Funken in meinem Nachdenken
kann ich nicht erzwingen. Ich kann sie aber von Gott erbitten und als
sein Geschenk von ihm annehmen. Und dann werde ich am Ende sogar
tatsächlich klug.