Farben und Formen wie Dynamit

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Kultur
Zürichsee-Zeitung
Mittwoch, 7. September 2016
Farben und Formen wie Dynamit
Zahlenmagie
und mehr
GROSSE NAMEN In der
Fondation Beyeler in Riehen
wird ein ebenso strahlendes
wie bedeutendes Kapitel der
Kunstgeschichte aufgeschlagen: «Kandinsky, Marc & Der
Blaue Reiter» dürfen auf die
Gunst des Publikums zählen.
LUCERNE FESTIVAL Viel
Beziehungszauber und noch
mehr Klangzauber umwehte
das Gastspiel des Leipziger
Gewandhausorchesters mit
Herbert Blomstedt in Luzern.
Auf einem Neujahrsempfang bei
der Baronin haben sie sich am
1. Januar 1911 in München kennen
gelernt. Die Baronin, das war
Marianne von Werefkin, Förderin
und langjährige Gefährtin von Alexej von Jawlenski, und die sich bei
ihr kennen lernten, waren der in
München geborene Künstler
Franz Marc und der gut 13 Jahre ältere Russe Wassily Kandinsky, der
seinen ursprünglichen Beruf anderthalb Jahrzehnte zuvor aufgegeben und sich in München zum
Maler ausgebildet hatte.
Unmittelbar nach der Begegnung des 44-jährigen Kandinsky
mit dem knapp 31-jährigen Marc
begann eine Künstlerfreundschaft, die zum «Blauen Reiter»
führte und Kunstgeschichte
schrieb. Drei intensive Jahre
dauerte sie, bis sie durch den
Ersten Weltkrieg unterbrochen
und dann jäh beendet wurde, als
Marc bei einem Erkundungsritt
etwa 20 Kilometer von Verdun am
4. März 1916 von einem Granatsplitter tödlich getroffen wurde.
Kandinsky, als Russe während des
Ersten Weltkriegs in Deutschland
unerwünscht, nach 1933 zum
zweiten Mal aus Deutschland vertrieben und in der Nähe von Paris
ansässig geworden, sollte Marc um
28 Jahre überleben.
Revolutionär und unerhört
Die Befreiung zur Farbe war schon
bei Gauguin oder Van Gogh ein
Thema gewesen und wurde es
zu Beginn des 20 Jahrhunderts
immer mehr: bei den «wilden»
Fauves, den Expressionisten, bei
den Wegbereitern der Abstraktion. «Kandinsky, Marc & Der
Blaue Reiter» sprüht und glüht
denn auch so, als ob das innere
Feuer, das Marc und Kandinsky
beseelte, auch im Betrachter entzündet werden sollte, der vor den
an weissen Wänden leuchtenden
Gemälden steht.
Da flammt die Landschaft in
und um Murnau, wo Gabriele
Münter und ihr Gefährte Kandinsky sich eine neue Welt erschlossen.
Auch Jawlensky und die Baronin
lassen Farben und Formen explodieren, und August Macke stellt
sein funkelndes Kaleidoskop auf.
Sieben Säle für die zwischen
1908 und 1914 entstandenen Gemälde, dazu ein erster Raum zur
«Man könnte stundenlang davorstehen», sagt Kurator Ulf Küster: «Komposition VII» von Wassily Kandinsky, 1913, 200 × 300 cm. © Galerie nationale Tretyakov, Moskau
Einführung und als Herzstück der
Schau ein dunkleres, reiches Kabinett, das der berühmten Publikation «Der Blaue Reiter» gewidmet
ist: eine eigentlich überschaubare
Fülle von knapp 60 Gemälden und
über 30 weiteren Exponaten, die
aber, aus der Distanz von 100 Jahren, besonders beim nicht mehr
ganz jungen Betrachter so vieles
anregt, so vieles zum Vergleich
heraufbeschwört, dass die Eindrücke sich vervielfältigen – Aufbruch, Revolution, Unerhörtes,
viel Gefühl, viel Geheimnis, leicht
gesagt und schwer zu fassen.
Über den «Blauen Reiter», über
die beiden (und natürlich ihre Mitstreiter), die ihn ins Leben gerufen
haben, damit er in Ausstellungen –
die erste wurde am 18. Dezember
1911 eröffnet – und als Almanach
von einer Kunst spreche, für die als
entscheidendes Kriterium einzig
die «innere Notwendigkeit» zählt,
ist unendlich viel geschrieben
worden. Der Briefwechsel, der sich
in den fruchtbaren Freundschaftsjahren entspann, gehört übrigens
immer noch zum Anregendsten,
was man zu diesem Thema lesen
kann.
Rein malerische Wesen
«Die grosse Konsequenz seiner
Farbe hält seiner zeichnerischen
Freiheit die Waage – ist das nicht
zugleich eine Definition der Malerei?», hatte Marc über Kandinsky geschrieben, noch bevor sie sich
persönlich kannten; danach
spricht er gar von der «grossen
Wonne seiner starken, reinen, feurigen Farben» und dass dann «das
Gehirn zu arbeiten» beginne: Sind
das nicht auch Sätze, die den Besu-
«Die Form
ist die Äusserung
des inneren Inhaltes.»
Wassily Kandinsky,
«Über die Formfrage», 1912
cher auf seinem Gang durch die
Ausstellung begleiten können?
Und vielleicht auch dieser Satz,
den Kandinsky im Januar 1913
schrieb: «. . . es ist unwesentlich,
was der Künstler will – es ist aber
wesentlich, ob das Werk lebt oder
nicht.» Ob es also gelingt, «Bilder
zu schaffen, die als rein malerische
Wesen ihr selbstständiges, intensives Leben führen».
Mit solchen haben wir es zweifellos zu tun in dieser publikumswirksamen Ausstellung, die zu
einer Neuentdeckung des «Blauen
Reiters» einlädt; der Rhythmus
des Lebendigen, die expressivkraftvolle Melodie des Lebendigen
tritt einem allenthalben entgegen.
Kandinsky ist der Explosivere von
beiden, während Marcs Gemälde
sich oft auf eine Mitte hin konzentrieren, auf etwas letztlich in sich
Ruhendes. Dynamisch und bewegt
aber sind die Werke des einen wie
des andern, die 28 Ölgemälde des
Russen, die vom Figurativ-Erzählerischen in die Abstraktion der
«Improvisationen» und «Kompositionen» führen, und die 18 Ölgemälde des Deutschen (von dem
auch einige wenige zauberhaft
spontane Aquarelle und Druckgrafiken gezeigt werden), dessen
Visionen zwar geerdet bleiben,
aber viele Momente der Abstraktion aufweisen.
Natürlich, da sind sie: die blauen
Pferde (es gibt auch rote), der violette Fuchs, der gelblichweisse
Hund im Schnee, die über eine grünes Reh hinwegsetzende gelbe
Kuh, die rote Weltenkuh, der blaue
Eber und die blaue Sau. Da sind
aber auch die spitzmageren Pferde, der Hase, der vor dem Hund
Angst hat, und die drohenden Wöl-
fe, die geduckt heranschleichen
und Zerstörung ankünden und die
Tiere, wie Marc sie sonst als Sinnbild für Unschuld und Natürlichkeit verstand, bedrohen.
Eine neue Weltanschauung
Kandinsky wusste, dass Marc
nicht «einfach» ein Tiermaler
war, und sagt es, nachdem er bereits erste Pläne zum noch namenlosen «Blauen Reiter» geschmiedet hatte, in einem Brief
an Marc im Sommer 1911 ironisch
verständnisvoll, sozusagen als
fiktive Bildlegende für eine Illustrierte: «Mit dem Bayer und
Münchner Meister Franz Marc
beginnt eine neue Periode in der
Tiermalkunst. Der noch verhältnismässig junge Künstler betrachtet das Tier im allgemeinen
nicht als solches, sondern rührt
die Kuh in die Landschaft hinein
und schmeltzt Rehe mit dem
Wald zu einer neu von ihm eroberten Weltanschauung, welche . . . (Fortsetzung folgt).»
Zur neuen Weltanschauung gehört auch Marcs und Kandinskys
berühmtes Zitat aus einem unveröffentlichten Vorwort des im Mai
1912 publizierten Almanachs:
«Das ganze Werk, Kunst genannt,
kennt keine Grenzen und Völker,
sondern die Menschheit.» Wie das
gemeint ist, wird im Almanach
dargelegt und im Kabinett veranschaulicht: hierarchiefrei, über
die Zeiten und Grenzen hinweg –
eine schöne Utopie, in den Werken
der Künstler als Versprechen eingelöst.
Angelika Maass
DATEN UND FAKTEN
Bis 22. Januar 2017. Täglich von
10 bis 18 Uhr, Mi bis 20 Uhr;
reiches Angebot an Führungen.
Wer mehr haben möchte als die
– hilfreichen – Saaltexte, greift
zum Katalog, in dem alle Werke
abgebildet sind und vier Aufsätze Einzelaspekte klug beleuchten. Kurator und Herausgeber
Ulf Küster trägt Erhellendes zu
den Werkgruppen bei (Hatje
Cantz, 188 S., 169 Abb., 62.50 Fr.).
Auf dem Veranstaltungsprogramm stehen u. a. zwei Lesun­
gen: Winfried F. Schoeller liest
aus seinem Buch über Franz
Marc (19. Okt., 19 Uhr), die beiden Kinostars Daniel Brühl und
Ulrich Tukur aus Briefen und Dokumenten (23. Nov., 19 Uhr). aa
Seit 16 Jahren erstmals wieder in Europa: «Die grossen blauen Pferde» von Franz Marc, 105 × 181 cm.
Sammlung Walker Art Center, Minneapolis
Kein anderes Orchester kann so
stolz sein auf seine Tradition wie
das 1743 gegründete Gewandhausorchester Leipzig. Mit Felix
Mendelssohn an der Spitze erlebte es 1835 früh den Beginn
der modernen Dirigierkunst, im
20. Jahrhundert gehörten Arthur
Nikisch, Wilhelm Furtwängler,
Bruno Walter und Kurt Masur zu
seinen Kapellmeistern. Seine
erste Tournee führte 1916/17 in
die Schweiz und war wohl eine
heikle Mission. Im Verhältnis zu
Deutschland war das Land spätestens nach der Beschiessung
der Kathedrale von Reims tief
gespalten.
Nun, 100 Jahre später, rücken
zum Glück andere Geschichten
des Orchesters in den Fokus. Das
Beethoven-Programm des gestrigen zweiten Auftritts im KKL
erinnerte daran, dass im Gewandhaus noch zu Lebzeiten des
Komponisten 1825/26 erstmals
überhaupt alle neun Sinfonien
zyklisch gespielt wurden. Die
Leipziger waren es auch, die Anton Bruckner 1884 mit der Aufführung der 7. Sinfonie den ersten internationalen Erfolg, nicht
als Orgelimprovisator, sondern
als Sinfoniker, bescherten.
Überblick und Spontaneität
Mit Bruckners 5. Sinfonie und
mit dem Violinkonzert E-Dur
«ihres» grossen Leipzigers, Johann Sebastian Bach, präsentierte sich das Orchester am ersten
Konzert seines Schweiz-Jubiläums am Montag – zuerst in kleiner Streicherformation für das
beschwingte und inspirierte, ein
wenig auch geglättete Bach-Spiel
der Geigerin Vilde Frang, dann
komplett für den Bach-Jünger
Bruckner.
Noch nicht den hundertsten,
aber immerhin den 89. Geburtstag hat der Dirigent der beiden
Konzerte, Herbert Blomstedt, im
Juli gefeiert. Das Orchester, dem
der schwedische Doyen von 1998
bis 2005 vorstand, hat ihn zum
Ehrendirigenten ernannt, und so
frisch und elastisch er das Podium am Dienstag beschritt, wie
er auswendig durch den 80 Minuten dauernden sinfonischen
Koloss führte und wie er ohne
Zeichen der Ermüdung den stürmischen Applaus entgegennehmen konnte, glaubt man für ihn
gern, dass er das runde Hundert
erreichen wird.
Gelassen und initiativ
Gleich die locker gefügte Introduktion mit den Pizzicato-Tupfern und die fünfmal durch eine
Generalpause getrennten Themeneinsätze liessen spüren, dass
da einer mit der grossen Übersicht über die Dimension des
Ganzen und mit sicherem Gespür für Tempo und Klanggewicht am Werk war. Der Eindruck einer lebenslangen Bruckner-Erfahrung – mit dem Gewandhausorchester spielte er,
zum zweiten Mal in seiner Karriere, alle Sinfonien ein – war
dabei jedoch gepaart mit dem
einer elektrisierenden Offenheit
für den Moment.
Blomstedts Bewegungssprache hält die energetische Spannung im Orchester hoch. Unvergesslich die Adagio-Steigerung über dem grossartigen Fundament der Bässe und vieles
mehr, kostbar gerundeter Klang
des Blechs, expressive Streicher
– bis zum bezwingend erreichten
Hochplateau des Finales.
Herbert Büttiker