Ein Nachruf auf Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Reinhard Selten Prof. Selten hat in seinem Leben sehr viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten. Zu der höchsten Auszeichnung zählte sicher der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, der ihm 1994 zusammen mit zwei anderen Spieltheoretikern verliehen wurde. Schon vorher wurde er von vielen renommierten Universitäten mit Ehrendoktoraten ausgezeichnet, und nach 1994 kamen noch mehr solche Ehrungen dazu. Auch die Universität Innsbruck hatte ihm im Jahr 2000 aufgrund seiner hohen wissenschaftlichen Leistungen und seiner engen Verbindung zur Universität Innsbruck einen Ehrendoktor für Wirtschaftswissenschaften verliehen. In diesem Nachruf werde ich daher nicht mehr tiefer auf seine wissenschaftlichen Leistungen eingehen, sondern mich auf meine Begegnungen mit ihm und meine Erinnerungen an ihn in den letzten fünfzig Jahren meiner Freundschaft mit ihm beschränken Prof. Selten war ein großer Wissenschaftler und ein großer Lehrer. Er war ein bescheidener, aufgeschlossener und hilfsbereiter Mensch. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Gelegenheit hatte, ihm zu begegnen, sein Schüler zu sein, und eine lange tiefe Freundschaft mit ihm zu pflegen. Im Jahr 1963 bin ich aus Taiwan nach Europa gekommen, um in Deutschland mathematische Wirtschaftstheorie und Ökonometrie zu studieren. Bereits 1964 bin als Student erstmals Prof. Selten bei einer Lehrveranstaltung von Prof. Sauermann begegnet. Zu dieser Zeit herrschte bei den deutschen Ökonomen noch großer Zweifel über die Anwendbarkeit mathematischer Methoden in ihrem Fach. Es war ein großes Glück für mich auf Prof. Selten gestoßen zu sein. Zu dieser Zeit war er bereits ein promovierter Mathematiker und lehrte Mathematik für Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Frankfurt a.M. Er hatte erfolgreich mathematische Methoden zur Analyse in der Wirtschaftswissenschaft angewandt und begann bereits damals neuartige Experimente in der Wirtschaftswissenschaft durchzuführen. Er hatte mich die Anwendung der Mathematik in der Wirtschaftswissenschaft gelehrt, und meine Dissertation sowie später auch meine Habilitationsschrift betreut. Prof. Selten war durch und 1 durch Mathematiker, aber er verfügte über sehr umfangreiches und fundiertes Wissen über die Institutionen und die Entwicklung der Wirtschaft. Bevor er ein Modell aufstellte, um dies mit Hilfe der Mathematik zu analysieren, informierte er sich sehr eingehend über die institutionellen Besonderheiten des Gebietes der Wirtschaft, das er untersuchte. So hat er mich gelehrt, ökonomische Probleme mit Hilfe der Mathematik zu untersuchen. Nach seinem Vorbild habe ich zwei Jahre lang die Institutionen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen der wichtigsten Baumwollproduzenten der Welt studiert. Auf Grundlage dieser Kenntnisse über die Weltbaumwollwirtschaft habe ich ein ökonometrisches Modell für den Weltbaumwollmarkt aufgestellt. Ich erinnere mich, was Prof. Selten mir damals gesagt hatte, nämlich, man kann ein ökonomisches Modell nicht „konstruieren“, wie dies von vielen Ökonomen ausgedrückt wurde, sondern nur aufstellen. Er meinte, dass ein ökonomisches Modell aus mathematischen Funktionen (Gleichungen) besteht, und mathematische Gleichungen kann man nicht konstruieren, sondern nur aufstellen. Die Spieltheorie und die experimentelle Wirtschaftsforschung waren zwei Forschungsschwerpunkte von Prof. Selten. Sein Herz in der Forschung lag dabei v.a. in seinen späteren Lebensjahren jedoch eindeutig auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung. Dies ist auf die Resultate der Experimente zurückzuführen, die er lebenslang durchgeführt hatte. Die Spieltheorie baut auf der Prämisse der absoluten Rationalität des menschlichen Verhaltens auf. Die Ergebnisse der experimentellen Wirtschaftsforschung deuten jedoch darauf hin, dass Menschen nicht absolut, sondern eher eingeschränkt rational sind. Ich werde daher in den folgenden Ausführungen meinen Schwerpunkt auf seine experimentelle Wirtschaftsforschung legen. Mit der Verfeinerung des Nash-Gleichgewichtes in der Spieltheorie hatte er sich bereits in seinen Mathematikstudien an der Universität Frankfurt a.M. beschäftigt. In seiner Vorlesung über Spieltheorie untersuchte er Spiele in extensiver Form weit ausführlicher als es damals in anderen Lehrbüchern der Spieltheorie üblich war. Für Spiele in extensiver Form konnte er zeigen, welche Gleichgewichte in 2 Spielen mit mehreren Gleichgewichten als Lösung ausgeschlossen werden können, da sie nach der Spielregel nicht realisierbar sind. In den sechziger Jahren hatten Prof. Sauermann und Prof. Selten an der Universität Frankfurt a.M. als weltweit erste Ökonomen experimentelle Wirtschaftsforschung durchgeführt. In dieser Zeit herrschte unter Sozialwissenschaftlern die Meinung vor, dass die Sozialwissenschaft keine experimentelle Wissenschaft sei. Prof. Selten war der festen Überzeugung, dass Experimente in der Wirtschaftswissenschaft wie in der Physik eine zentrale Rolle zur Diskriminierung von Theorien spielen können. Eines seiner ersten Experimente, die er in Frankfurt a.M. durchgeführte, beschäftigte sich mit dem Verhalten von Akteuren auf oligopolistischen Märkten. Die Durchführung von wirtschaftswissenschaftlichen Experimenten war in dieser Zeit wegen mangelnder Rechenkapazitäten sehr mühsam. Computer waren damals noch nicht so weit entwickelt und konnten nicht zur Durchführung von Experimenten eingesetzt werden. Um diese technische Schwierigkeit zu überwinden traf Prof. Selten umfangreiche Vorbereitungen für seine Experimente, etwa die Auszahlungen der Spiele in einer Tabelle zusammenzufassen. 1965 wurde ich wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Sauermann. An einem Nachmittag habe ich meinen Kollegen im Institut meine Technik gezeigt, mit einem über tausend Jahre alten ostasiatischen Rechenapparat, dem „Abakus“, einfache Rechenaufgaben, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und Wurzelziehen durchzuführen. Seitdem wurden bis Ende meines Aufenthaltes in Frankfurt a.M. die Durchführung aller Experimente am Institut von mir mit dem manuellen Rechenapparat „Abakus“ unterstützt. In dieser Zeit unternahmen wir häufig und regemäßig gemeinsame Wanderungen. Dabei hatte Prof. Selten immer wieder prophezeit, dass die experimentelle Wirtschaftsforschung eines Tages so verbreitet sein wird, dass jeder Ökonom die Ergebnisse der wichtigsten Publikationen auf dem Gebiet der experimentellen Wirtschaftsforschung kennen und zitieren können müsste. Dies ist inzwischen eingetreten. Seit den neunziger Jahren erfreut sich die experimentelle Wirtschaftsforschung großer Popularität und hat einen großen Zulauf von jungen Ökonomen. Die experimentelle Wirtschaftsforschung ist 3 heute als eine eigene Disziplin in der Wirtschaftswissenschaft bestens etabliert. Weltweit werden Computerlabors errichtet um Experimente durchzuführen. Die Universität Innsbruck hat sich dieser Entwicklung sehr früh angeschlossen, an beiden Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Universität Innsbruck wurden Labors für Experimente eingerichtet und es werden regelmäßig Experimente durchgeführt. Prof. Selten hat sich über diese Entwicklung sehr gefreut. Die durch Computerlabors eröffneten neuen Möglichkeiten haben sicher auch eine wesentliche Rolle für diesen Erfolg gespielt, aber diese Entwicklung wäre ohne den Einsatz und der Überzeugungsarbeit von großen Wissenschaftlern und Persönlichkeit wie Prof. Selten undenkbar gewesen. Durch seine große Ausstrahlung konnte er viele junge Wissenschaftler von der Bedeutung der experimentellen Wirtschaftsforschung überzeugen, und sie für in diese Disziplin gewinnen. Bereits Anfang der neunziger Jahre war die Rolle, die er bei der Entwicklung der experimentellen Wirtschaftsforschung spielte, international anerkannt. Erfreut darüber hat er mir bei einem seiner häufigen Besuche in Innsbruck erzählt, dass man ihn in bei einem großen wissenschaftlichen Kongress in den USA als „Grandpa“ der experimentellen Wirtschaftsforschung vorstellte. Seit unserer Zeit in Frankfurt a.M. entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen uns. Ich werde ihm stets dankbar dafür sein, dass ich so viel Zeit mit ihm verbringen durfte. Über Jahrzehnte verbrachten wir regelmäßig gemeinsame Wochenenden, zuerst im Frankfurter Wald, dann im Grünewald in Berlin und später im Sauerland und im Teutoburger Wald. Wir diskutierten dabei über alle möglichen Bereiche seiner vielseitigen Interessen und auch über Fragen des Lebens, insbesondere natürlich über unsere Forschungsarbeit, aber auch über Geschichte, Kultur und Sprachen der ganzen Welt. Jede Minute mit ihm konnte ich viel lernen, sowohl wissenschaftlich als auch menschlich, es war eine sehr lehrreiche Zeit für mich. Zwischen 1964 bis 1981 hatten wir fast jedes Wochenende gemeinsam verbracht. Ich habe Prof. Selten nicht nur als einen 4 großartigen Lehrer und als großen Wissenschaftler, sondern auch als einen aufgeschlossenen und hilfsbereiten Mensch kennen gelernt. Besonders schätze ich an Prof. Selten, dass er stets Rücksicht auf junge Wissenschaftler nahm. Er war sich seines großen Gewichts und seines Einflusses bewusst, deshalb vermied er kritische Äußerungen über die Arbeiten junger Wissenschaftler, um ihre Entwicklung nicht negativ zu beeinflussen. Prof. Selten war immer begeistert von originellen Ideen. Für ihn gehörten diese zur Grundvoraussetzung für den Fortschritt in der Wissenschaft. Überraschende Forschungsergebnisse führen zu Aha Erlebnissen, und Prof. Selten hatte mir einst anvertraut, dass er sich für die Wirtschaftswissenschaft entschlossen habe, weil er glaubte hier besonders viele Aha Momente zu erleben. Aber welches Aha Erlebnis konnte überraschender sein als die Verleihung des Nobelpreises an ihn! Mit seinem Tod erleidet die Welt der Wissenschaft einen großen Verlust. Man sagt, ein Mensch sei dann unsterblich, wenn er ewig in unserer Erinnerung bleibt. Prof. Selten wird ewig in meiner und unser aller Erinnerung bleiben. John-ren Chen 5
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