Cornel Zwierlein

Redaktionsanschrift
Geschichte und Gesellschaft, Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin, FB Geschichts- und
Kulturwissenschaften, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstr. 20, D-14195 Berlin
E-Mail: [email protected] (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes)
Olga Sparschuh, M.A. und Anna Barbara Sum, M.A. (Redaktionsass.): [email protected]
Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. –
Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet
werden.
Geschichte und Gesellschaft (Zitierweise GG) erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede
Buchhandlung oder beim Verlag. Preis dieses Jahrgangs im Abonnement € 71,- / 73,- (A) / sFr
94,90; Inst.-Preis € 142,- / 146,- (A) / sFr 185,-; für persönliche Mitglieder des Verbandes der
Historiker Deutschlands (bei Direktbezug vom Verlag) € 59,- / 60,70 (A) / sFr 78,90; Einzelheft
€ 20,45 / 21,10 (A) / sFr 29,50, jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. – Abbestellungen können nur zum Ende eines Jahrgangs erfolgen und müssen dem Verlag bis zum 1.10.
vorliegen. – Jetzt auch Online: www.v-r.de
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen.
Anzeigenverkauf: Sylvia Göthel
E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung)
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne
vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt
auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke.
© 2012 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Printed in Germany
Satz: www.composingandprint.de
Druck- und Bindearbeit: q Hubert & Co, GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6,
D-37079 Göttingen.
*44/9
*44/9&+PVSOBM
1 Beilage: Vandenhoeck & Ruprecht.
ipabo_66.249.66.96
Geschichte und Gesellschaft
Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft
Herausgegeben von
Werner Abelshauser / Jens Beckert / Christoph Conrad /
Sebastian Conrad / Ulrike Freitag / Ute Frevert / Wolfgang Hardtwig /
Wolfgang Kaschuba / Simone Lässig / Paul Nolte / Jürgen Osterhammel /
Margrit Pernau / Sven Reichardt / Rudolf Schlögl / Manfred G. Schmidt /
Martin Schulze Wessel / Hans-Peter Ullmann
Geschäftsführend
Christoph Conrad / Ute Frevert / Paul Nolte
Vandenhoeck & Ruprecht
ipabo_66.249.66.96
Geschichte und Gesellschaft
38. Jahrgang 2012 / Heft 3
Herausgeber dieses Heftes:
Cornel Zwierlein
Vandenhoeck & Ruprecht
Inhalt
Cornel Zwierlein
Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der Geschichtswissenschaften
Security History. A New Field of Historical Research . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Christopher Daase
Die Historisierung der Sicherheit. Anmerkungen zur historischen
Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
The Historicization of Security. Remarks on Historical Security Research
from a Political Science Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Steffen Patzold
Human Security, fragile Staatlichkeit und Governance im Frühmittelalter. Zur Fragwürdigkeit der Scheidung von Vormoderne und Moderne
Human Security, Fragile Statehood and Governance in the Early Middle
Ages. Challenging the Limits of Premodernity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
Cornel Zwierlein
Grenzen der Versicherbarkeit als Epochenindikatoren? Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung des 19. Jahrhunderts
Limits of Insurability as Epochal Indicators? From the European Sattelzeit
to 19th Century Globalization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Eckart Conze
Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?
Securitization. Diagnosis of the Present or an Approach for Historical
Analysis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
Diskussionsforum
Roland Cvetkovski
Schöne neue Welt. Zur Poetik des Museums in Frankreich, 1790 – 1795
Brave New World. On the Poetics of the Museum in France, 1790 – 1795 . 468
Jannis Panagiotidis
“The Oberkreisdirektor Decides Who Is a German”. Jewish Immigration,
German Bureaucracy, and the Negotiation of National Belonging,
1953 – 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der
Geschichtswissenschaften
von Cornel Zwierlein*
Abstract: “Security” is such a general concept that, on the one hand, it is omnipresent
in all fields of historical research; on the other hand, a closer look reveals that there
seems not to exist a real specialized sub-discipline or field that bears this title. While in
political sciences, criminology, sociology and jurisprudence, and especially in the
field of international relations, security studies is a well established and broad field of
research, history has not yet established a corresponding field. This special issue
about “Security and Epochal Frontiers” shows that important contemporaneous
changes in concept and practices of “security production” after the end of the Cold
War (the emergence of “extended, comprehensive, human security”, the fading away
of the border between internal and external security) have caused our historical
perception of “security” to change massively and historiography to respond to this
challenge.
„Sicherheit“ ist ein so genereller Gegenstand und ein so umfassendes Konzept,
dass es einerseits ubiquitär in unterschiedlichsten Bereichen der Geschichtswissenschaft vorkommt; andererseits muss man bei näherem Hinsehen aber
verblüfft konstatieren, dass es kein eigenes Feld der Geschichte von Sicherheitsproduktion und -kommunikation in der longue dure gibt. In den
Gegenwartswissenschaften der Politikwissenschaft, der Kriminologie, der
Soziologie und der Rechtswissenschaft, insbesondere auch im Bereich des
Völkerrechts und der Internationalen Beziehungen ist Sicherheitsforschung
ein längst breit etabliertes Feld. Hier wird vor allem beklagt, dass es an einer
„integrierende[n] Perspektive auf den Wandel von Sicherheit als einen
Prozess, der die nationale und internationale Gesellschaft produziert, reproduziert und transformiert“, fehlt.1 Jenseits der Frage nach einer integrierenden
Perspektive müsste der Historiker sich auch bei der nach dem Wandel
* Die Beiträge dieses Hefts beruhen auf der Sektion „Grenzen der Sicherheit, Grenzen der
(Spät)Moderne“ des Historikertags Berlin 2010.
1 Christopher Daase, Sicherheitskultur. Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung
politischen und sozialen Wandels, in: Security and Peace 29. 2011, S. 59 – 65, hier S. 59.
In anderen Bereichen, wie der Kriminologie wird hingegen ähnlich wie für die
Geschichtswissenschaft mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass „security“
erst seit etwa zehn Jahren ein zentrales Thema wurde: Lucia Zedner, Security, London
2009, S. 1. Vgl. für einen Forschungsstand aus der Perspektive der Sicherheitsvorsorgeund Versicherungsgeschichte Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und
Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Göttingen 2011.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 365 – 386
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
366
Cornel Zwierlein
unmittelbar angesprochen fühlen – und doch finden sich erst seit einigen
Jahren Ansätze mit dem generelleren Anspruch einer „Sicherheitsgeschichte“.
Im Folgenden wird kurz ein Überblick gegeben, wie und mit welchen
Fragestellungen in der historischen Forschung schon Ansätze zu einer
„Sicherheitsgeschichte“ vorhanden sind (I). Es wird dann auf die gegenwärtigen einschneidenden Änderungen der Sicherheitskonzepte auf internationaler Ebene in dem, was man Post- oder Spätmoderne nennen mag,
eingegangen, die zweifelsohne Auslöser für einen wahrgenommenen Bedarf
auch einer erweiterten, umfassenderen Sicherheitsgeschichte sind (II).
Schließlich werden kurz mögliche Formen der heuristischen Operationalisierung einer solchen Sicherheitsgeschichtsschreibung angesprochen. Hierzu
zählt insbesondere auch die Frage nach dem Verhältnis der Sicherheitsproduktion und Sicherheitsregime zu den jeweiligen Grundkonstituenten einer
„Epoche“ – wobei eine mögliche Antwort sogar in der Infragestellung
klassischer Epochen-Unterteilungsmuster liegen kann (III).
I. „Sicherheit“ als Thema der Geschichtswissenschaften
Schon Lucien Febvre hatte 1956 aus der Perspektive der Sensibilitätsgeschichte, aus welcher später die französische Mentalitätsgeschichte wurde, in einer
kurzen Skizze eine allgemeinere Sicherheitsgeschichte gefordert, aber dem
folgte außer Jean Delumeaus Geschichte der „Angst im Abendland“ keine
breite Sicherheitsforschung, zumal hier eher das Gegenstück, Sorge und Angst,
untersucht wurde, nicht Sicherheit.2 Die Geschichte von „Sicherheitspolitik“
ist in der Zeitgeschichte immer mitbehandelt worden, solange und seitdem
dieser spezifische Begriff in der Politikpraxis der Nachkriegszeit leitend wurde
– aber dies war eine wenig allgemein konzeptualisierte Spielart der Politikgeschichte. Erst in jüngster Zeit haben hier Eckart Conze und Andreas Rödder
2 Lucien Febvre, Pour l’histoire d’un sentiment. Le besoin de scurit, in: Annales 11.
1956, S. 244 – 247. Febvre reagierte dort zunächst eigentlich auf die Arbeiten von Jean
Halprin, La Notion de scurit dans l’histoire conomique et sociale, in: Revue
d’Histoire conomique et Sociale 30. 1952, S. 7 – 25, die der Versicherungsgeschichte
zuzurechnen sind. Dieser Strang blieb von Febvre dann auch berücksichtigt und wurde
in der folgenden Generation der Annales (Braudel) noch einmal im Febvre’schen Sinne
aufgegriffen bei Louis A. Boiteux, La fortune de mer. Le besoin de scurit et les dbuts
de l’assurance maritime, Paris 1968; im Übrigen wurde dieser Aspekt dann aber kaum
beachtet. Die andere, von Febvre angesprochene Linie des Gefühls von Unsicherheit im
Glauben und seine Bändigung findet sich dann entfaltet bei Jean Delumeau, La peur en
Occident, XIVe-XVIIIe sicles. Une cit assige, Paris 1978; ders., Le pch et la peur. La
culpabilisaiton en Occident, XIIIe-XVIIIe sicles, Paris 1983; ders., Rassurer et protger.
Le sentiment de scurit dans l’Occident d’autrefois, Paris 1989.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
367
breiter angelegte Ansätze formuliert, allerdings mit einem speziellen Fokus auf
die Zeitgeschichte.3
In einer leicht zu übersehenden Fußnote des erwähnten klassischen Aufsatzes
zum „besoin de scurit“ betonte Febvre damals gegen Halprin, dass es sich
bei „Sicherheit“ um ein Gefühl, nicht um ein Konzept handele. Diese
Gegenüberstellung als Opposition zu verstehen, ist wahrscheinlich eher
hinderlich, sie zeigt aber einen Problembereich auf, der auch in den neuesten
Ansätzen wenig klar konturiert ist – das Verhältnis von Beschreibungs- und
Objektebene sowie das Verhältnis von subjektivem Wahrnehmungsbereich
und konzept-, struktur- und institutionengeschichtlichen Fragen. Schon die
Begriffsgeschichte zu „Sicherheit“ in allen Derivatbegrifflichkeiten steckt noch
in den Kinderschuhen; zwar ist der klassische Artikel Werner Conzes für den
deutschen Sprachraum nach wie vor ein guter Ausgangspunkt,4 für eine
breitere Betrachtung fehlt aber sowohl eine europäische (oder gar globale)
Fundierung, selbst für den deutschsprachigen Bereich mangelt es an einer
über Conze hinausgehenden Vertiefung. Etliche Quellenselektionen in seinem
Überblick scheinen willkürlich und müssten auf epochale und thematische
Repräsentativität geprüft werden. Das starke Gewicht, das etwa der Hobbes’schen Sicherheitskonzeption zugesprochen wird und das sich als Topos in
vielen Abrissen zum Sicherheitsbegriff findet, dürfte für die Frühe Neuzeit
selbst kaum haltbar sein, weder für Großbritannien selbst noch für Kontinentaleuropa; es handelt sich eher um die historisch rückprojizierte Bedeutung des im 19. und 20. Jahrhundert kanonisierten Hobbes als Vordenker des
rigiden Sicherheitsstaats. Der europäische Ausblick wäre umso mehr von
Bedeutung, als „Sicherheit“ als Abstraktum wohl überhaupt erst über die
romanisch-neolateinische Vermittlung Einzug auch in die nicht-romanischen
Länder hielt. Dies wiederum hat mindestens eine Korrespondenz auf der
strukturgeschichtlichen Ebene: Werner Conze ist sicherlich Recht zu geben,
dass für den kontinentaleuropäischen Raum die Faustregel gilt, dass Sicherheit
als Leitbegriff und -konzept primär im Zusammenhang mit der Entstehung
des Territorialstaates an Bedeutung gewinnt.5 Dass securitas/securit als
3 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 3. 2005, S. 357 – 380; Andreas
Rödder, Sicherheitspolitik und Sozialkultur. Überlegungen zum Gegenstandsbereich
der Geschichtsschreibung des Politischen, in: Hans-Christof Kraus u. Thomas Nicklas
(Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 95 – 125.
4 Werner Conze, Art. Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches
Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner u. a., Bd. 5,
Stuttgart 1984, S. 831 – 862. Obwohl vom Umfang her monographisch, erbringt Andrea
Schrimm-Heins, Gewißheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der
Begriffe certitudo und securitas, Diss. Universität Bayreuth 1990 wenig tiefere Einsicht.
5 Entsprechend betont zuletzt Franz-Xaver Kaufmann, Erosion der „sicheren Normalgesellschaft“ in der Gegenwart?, in: Cornel Zwierlein u. a. (Hg.), Sicherheit und Krise.
368
Cornel Zwierlein
politischer Ziel- und Leitbegriff also wohl zunächst im italienischen Raum
auftaucht, ist insoweit nicht verwunderlich, da hier auch, im Gewand der
stadtrepublikanischen Entwicklung, besonders frühe Formen von Territorialstaatlichkeit vorzufinden sind.6 Ein dünner Rezeptionsstrang mag hier aus
der römischen Antike für die Begriffsbildungen mitverantwortlich sein,
allerdings ist „Sicherheit“ dort auch nicht extrem prominent und scheint im
römischen Imperium erst seit Nero und vor allem seit dem 2. Jahrhundert
einen gewissen Stellenwert zu erhalten, so dass die Allegorie der securitas
publica auf Münzprägungen (mindestens ab Antoninus Pius) zu finden ist.
Einen breiteren Stellenwert scheint „Sicherheit“ auch als politischer Leitbegriff
hier nicht einzunehmen, Forschung dazu gibt es aber kaum. Im nord- und
westeuropäischen Mittelalter, also in vorterritorialstaatlicher Zeit, hatte der
Begriff ebenfalls relativ wenig Prominenz und trat meist hinter dem Begriffscluster „Frieden“ zurück.7 Dieser Quellenbefund bedeutet natürlich nicht, dass
man nicht auch für Antike und Mittelalter beschreibungssprachlich nach einer
Geschichte von Sicherheitsbedrohungen und Sicherheitsproduktionsmitteln
fragen könnte; aber man muss mit dem Phänomen umgehen, dass die
Zeitgenossen selbst keinen Begriff (nicht nur speziell diesen Wortkörper) von
Interdisziplinäre Beiträge, Paderborn 2012, S. 32 – 40, hier S. 35 – 37, dass heute vor
allem die auf den Staat gerichteten Sicherheitserwartungen erodieren, weil der Staat
selbst zerfasert (im Sinne von Stephan Leibfried u. Michael Zürn, Transformation of the
State? Cambridge 2005). Zur Auseinandersetzung mit Kaufmanns sicherheitssoziologischer Grundlegung vgl. den Beitrag Zwierlein in diesem Heft.
6 Vgl. nur Giorgio Chittolini u. a. (Hg.), Origini dello stato. Processi di formazione statale
in Italia fra medioevo ed et moderna, Bologna 1994.
7 Die securitas publica ist in der römischen Antike vor allem als eine politische
Herrschertugend überliefert (etwa bei Macrobius). Neben Concordia, Libertas, Salus,
Pax, Fides Exercituum, Victoria, Virtus haben die römischen Kaiser seit den JulioClaudiern immer wieder Münzen mit der allegorischen Frauengestalt Securitas (populi
romani) oder Securitas publica geprägt. Vgl. Carsten Binder, Art. Securitas in: Der Neue
Pauly online, http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/securitase1106320; Julian Bennett, Trajan. Optimus Princeps, Bloomington 20012, S. 72; Michael
Dillon, Politics of Security. Towards a Political Philosophy of Continental Thought,
London 1996, S. 125; Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Teil II, Bd. 17/2,
hg. v. Wolfgang Haase, Berlin 1981, S. 903 f.; Hans Ulrich Instinsky, Sicherheit als
politisches Problem des römischen Kaisertums, Baden-Baden 1952. Die antike securitas
(publica), wie sie fast ausschließlich über Münzen überliefert war, wird erst in der
Renaissance wieder so rezipiert, vgl. Sebastiano Erizzo, Discorso sopra le medaglie
antiche, con la particolar dichiaratione di molti riuersi, Nuouamente mandato in luce,
Venedig 1559, S. 394, S. 403, S. 434 u. S. 463. Zur außenpolitischen Friedensbegrifflichkeit in der Übergangszeit des Spätmittelalters vgl. Martin Kinzinger, Westbindungen im
spätmittelalterlichen Europa. Auswärtige Politik zwischen dem Reich, Frankreich,
Burgund und England in der Regierungszeit Kaiser Sigmunds, Stuttgart 2000,
S. 348 – 359.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
369
dem hatten, was seit der Neuzeit „Sicherheit“ meint. Das mag damit
zusammenhängen, dass sich das Imperium Romanum als Herrschaftsgebilde
einerseits extrem weit erstreckte, andererseits von der diskursprägenden
Perspektive des Zentrums Rom her weniger räumlich als netzwerkförmig
gedacht war.
Denn „Sicherheit“ wird zunehmend in Zusammenhängen mit Raumbezug
zum Leitbegriff, etwa bei Reisen im Mittelalter, wenn Geleitbriefe „securitas“
gewähren – Frieden herrscht so zwischen Personen, Sicherheit in einem Raum,
einer Sphäre, wie sie insbesondere (aber nicht ausschließlich) die Stadt8 und
der Staat schaffen. Das personenrelational ausgerichtete Mittelalter hatte für
dieses Konzept noch wenig Gebrauch.9 Wann und wie „Sicherheit“ als
Leitbegriff einer innere und äußere Sicherheit scheidenden und zugleich als
interdependent wahrnehmenden Politik im Rahmen gouvernementaler Diskurse und Praktiken verstärkt auftaucht, ist noch wenig untersucht. Für den
deutschen Sprachraum wird stets auf Leibniz’ berühmtes „Bedencken welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich
8 Peter Schuster, Hinter den Mauern das Paradies? Sicherheit und Unsicherheit in den
Städten des späten Mittelalters, in: Martin Dinges u. Fritz Sack (Hg.), Unsichere
Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000, S. 67 – 84, betont,
dass neben der allgemeinen Vorstellung, die Stadt biete ihren Bewohnern Sicherheit,
auch die Vorstellung der Nachfolge des Himmlischen Jerusalems eine Rolle gespielt
haben mochte.
9 Beispiel vom Ende des 11. Jahrhunderts: Der populus genieße die securitas im
Stadtraum, die von Naturkatastrophen bedroht wird: Arnulf von Mailand, Liber
gestorum recentium, hg. v. Claudia Zey (= MGH Scriptores LXVII), Hannover 1994,
S. 200. Auch hier gibt es freilich die starke Tendenz, dass die Begriffe „securo/securt“
sich zuerst ganz primär auf Personen und nur selten auf das Territorium in seiner
Herrschaftsräumlichkeit beziehen, wie etwa beim Geleitwesen: „Ceterum, iustissime
princeps, ingenti iocunditate percepimus benignitatem vestram non obstantibus
processibus per apostolicam sedem factis contra nostrum commune cunctis civibus
et mercatoribus Florentinis securitatem plenissimam indulsisse.“ (Brief Coluccio
Salutati an König Karl V., 15. 5. 1376, Die Staatsbriefe Coluccio Salutatis, hg. v. Hermann
Langkabel, Köln 1981, S. 127, Hervorhebung C.Z.). Auch im berühmten Fresko
Lorenzettis im Palazzo del Governo von Siena, in dem die securitas allegorisch
dargestellt ist, schwebt sie sicherheitsgewährend über der Straße und den Reisenden
(vgl. hierzu nur Quentin Skinner, Ambrogio Lorenzetti’s Buon Governo Frescoes: Two
old Questions, Two new Answers, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes
62. 1999, S. 1 – 28; zuletzt Gerrit J. Schenk, „Human Security“ in the Renaissance?
Securitas, Infrastructure, Collective Goods and Natural Hazards in Tuscany and the
Upper Rhine Valley, in: Cornel Zwierlein u. a. (Hg.), The Production of Human Security
in Premodern and Contemporary History, Historical Social Research 35. 2010,
S. 213 – 237. Bei Machiavelli (Il Principe, Kap. III, IV, VI, XV, XIX) ist immer wieder
die Sicherheit von Fürsten/Fürstentümern als politisches Ziel erwähnt („securit del re e
del regno“).
370
Cornel Zwierlein
ietzigen Umbständen nach auf Festen Fuß zu stellen“ von 1670 hingewiesen,
das auf die Bedrohungen des Reichs durch Ludwig XIV. reagierte und von
Kurmainz angeregt war ; dass der antik-römische Begriff der securitas publica
sicher aber schon früher in Europa neu rezipiert wurde, wurde soeben
dargelegt.10 Eine genauere Entwicklungsgeschichte dieses Denkens in innerer
und äußerer Sicherheit und ihrer Interdependenz sowie der daraus folgenden
Entscheidungsmuster oder Institutionsbildungen liegt nicht vor, eine solche
müsste jedenfalls schon im Spätmittelalter ansetzen. Erst jüngst hat an einem
zunächst überraschenden Beispiel David Cressy gezeigt, wie die Privy Councillors der englischen Regierung im Jahr 1601 eine merkantilistische Wirtschaftspolitik auch als Sicherheitspolitik verstanden, wenn sie zum Beispiel
die Produktion von Salpeter als entscheidendem Rohstoff für die Schießpulverproduktion im eigenen Land als Grundbedingung für die Sicherheit
aller Untertanen, ihrer Güter und der Krone selbst beschrieben:
The benefit of making saltpetre and gunpowder within this land is so infinite that it
stretcheth not only to the security of the goods, lands, and lives of all her majesty’s subjects,
but also to the preservation of her highness’s royal person, her crown and dignity, and the
maintenance of true religion.11
In der Tat ist man geneigt, dies als frühe Form eines gesamtstaatlichen
Sicherheitsdenkens zu verstehen, in dem die militärrelevante Ressourcenverfügbarkeit in einem weiten Interdependenzverhältnis gedacht wird. Wer aber
jenseits solcher Einzelbeobachtungen nach größeren synchronen oder diachronen Vergleichen und Synthesen sucht, wird rasch enttäuscht.
Internationale wie nationale geschichtswissenschaftliche Bibliographien vermitteln einem schnell den Eindruck, dass das Sicherheitsthema, wenn
überhaupt, dann in der Zeitgeschichte schon stärkere Beachtung gefunden
hat. Die Fäden bleiben aber jeweils unverknüpft; oft findet man auch
10 Vgl. Anm. 5 und zu Leibniz Kirsten Hauser, „Securitas Publica“ und „Status Praesens“.
Das Sekuritätsgutachten von Gottfried Wilhelm Leibniz (1670), in: Sven Externbrink u.
Jörg Ulbert (Hg.), Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit.
Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem. Festschrift für Klaus
Malettke zum 65. Geburtstag, Berlin 2001, S. 443 – 466; Karl Härter, Sicherheit und
Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als
Sicherheits- und Friedensordnung, 1648 – 1806, in: ZHF 30. 2003, S. 413 – 431, bes.
S. 415 – 419; Gerhard Fritz, Sicherheitsdiskurse im Schwäbischen Kreis im 18. Jahrhundert, in: Karl Härter u. a. (Hg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher
Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert,
Frankfurt 2010, S. 223 – 269, hier S. 226 – 229.
11 David Cressy, Saltpetre, State Security and Vexation in Early Modern England, in: Past
and Present 212. 2011, S. 73 – 111, hier S. 90. Außer diesem und einem zweiten Zitat
taucht in Cressys Beitrag allerdings der Sicherheitsbegriff nicht mehr auf und auch auf
der methodisch-beschreibungssprachlichen Ebene reflektiert Cressy seinen Titelbegriff
nicht.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
371
„Sicherheit“ mitverhandelt als Subthema im Rahmen von Studien zu anderen
politischen Leitbegriffen oder Ideologemen, etwa zum Liberalismus.12 Insofern kann hier auch kein echter „Forschungsstand“ gegeben, sondern nur ein
Blick auf einige schon existierende Verdichtungen von Sicherheitsgeschichte
geworfen werden. Beispielsweise wurde für die amerikanische New DealPolitik der 1930er und 1940er Jahre, die auch auf die Gewährleistung von social
security mit dem gleichnamigen Act von 1935 zielte, betont, dass sie unter dem
Eindruck des Kriegs die härtere Linie des „National Security State“ mit seinen
Organen, dem National Security Council und der CIA 1947 vorbereitet habe.13
Die Geschichte der Polizei und Inneren Sicherheit ist ein Feld, das eine
ähnliche Dynamik entfaltet hat, aber wenig in größere Zusammenhänge
eingeordnet wird.14 Zu den Organen der nationalen oder Staatssicherheit eines
jeden Landes und insbesondere verschiedener Diktaturen gibt es eine Fülle
von biographischen und institutionengeschichtlichen Einzeluntersuchungen.
Aber häufig ist man beim näheren Hinsehen erstaunt, dass die angewandten
Heuristiken wie Alltags- oder Institutionengeschichte dazu führen, dass das
eigentlich namensgebende Zentralkonzept dieser Institutionen gar nicht mehr
vorkommt: Sicherheit. Dies gilt für große Teile der DDR-StaatssicherheitForschung,15 weniger für den einschlägigen Bereich der Geschichte der
12 „Job security, life-cycle security, financial security, market security – however it might
be defined, achieving security was the leitmotif of virtually everything the New Deal
attempted.“ David M. Kennedy, Freedom from Fear. The American People in Depression
and War, 1929 – 1945, New York 1999, S. 365.
13 Michael J. Hogan, A Cross of Iron. Harry S. Truman and the Origins of the National
Security State, 1945 – 1954, Cambridge 1998; zum National Security Act und den durch
ihn gegründeten Institutionen nun Douglas T. Stuart, Creating the National Security
State. A History of the Law that transformed America, Princeton 2008, der hervorhebt,
dass dieses Gesetz das wohl zweitprägendste und -wichtigste des 20. Jahrhunderts in der
Geschichte der USA nach dem Civil Rights Act von 1964 ist, dass aber im Vergleich zu
letzterem eine erstaunlich geringe Anzahl von Studien vorliegt. Für einen Vergleich der
1975 eingesetzten Church-Kommission (benannt nach Senator Frank Church, Demokrat aus Idaho) zur Überprüfung der Arbeitsweise der Intelligence Services mit der
Analyse der gegenwärtigen extremen Ausweitung der National Security Institutionen
seit 9/11 vgl. Russell A. Miller (Hg.), US National Security, Intelligence and Democracy.
From the Church Committee to the War on Terror, London 2008.
14 Vgl. nur beispielhaft Alf Lüdtke (Hg.), „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1992; Klaus Weinhauer,
Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit. Die
turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003; ders., Youth Crime, Urban Spaces and
Security in Germany since the 19th Century, in: Zwierlein u. a., The Production of
Human Security, S. 89 – 104.
15 Vgl. nur exemplarisch Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien
zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007 (keiner der 18 Beiträge reflektiert
genauer das Sicherheitskonzept des MfS); Henry Leide, NS-Verbrecher und Staats-
372
Cornel Zwierlein
außenpolitischen und militärischen Sicherheitspolitik;16 aber auch hier, etwa
für die USA mit dem National Security Act von 1947, überwiegen derzeit noch
biographische, ereignis- und institutionengeschichtliche Ansätze.17
In der historischen Terrorismusforschung, die einen neuen Schub erhalten
hat, werden immer wieder auch Reaktionen im Bereich staatlicher Sicherheitsdispositive auf die anvisierte Gefahr in den Fokus gerückt. So etwa bei
Carola Dietze und Frithjof Benjamin Schenk, die zeigten, wie zunächst eine
merkwürdige Diskrepanz zwischen der soldatisch-aristokratischen Selbstinszenierung und der Sakralisierung des Zarentums und der modernen
Terrorismus-Gefahr herrschte, und wie dann nach dem Attentat von 1879
zunehmend „moderne“ Gefahrantizipationen in die Instruktionen der Sicherheitskräfte und überhaupt in die staatlichen Sicherheitsdispositive Eingang fanden. Oft wird eine solche sicherheitsbezogene Perspektive aber nicht
systematisiert.18 Denn trotz mancher solcher Einblicke dürfte die Anzahl von
sicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005; Siegfried
Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei.
Zur Bedeutung einer Heilslehre als Mittel zum Griff auf das Bewußtsein für das
Totalitarismusmodell, Berlin 1996 (trotz des blumig auf die Ideologieanalyse zielenden
Programms kommt „Sicherheit“ kaum vor); gleiches gilt für Georg Herbstritt u. Helmut
Müller-Enbergs (Hg.), Das Gesicht dem Westen zu… DDR-Spionage gegen die
Bundesrepublik Deutschland, Bremen 20032 ; Quelleneditionen wie Siegfried Suckut
(Hg.), Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung,
Göttingen 2009 zeigen, dass „Sicherheit“ als Quellenbegriff nicht formelhaft in diesem
Quellentypus auftaucht, zu untersuchen und zu systematisieren wäre aber, was alles dem
Aufgabenbereich der Staatssicherheit zugeordnet wird.
16 Vgl. etwa schon die Bände Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Anfänge
westdeutscher Sicherheitspolitik, 1945 – 1956, 4 Bde., München 1982 – 1997.
17 Etwa die Kollektivbiographie der nationalen Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Ivo
H. Daalder u. I. M. Destler, In the Shadow of the Oval Office. Profiles of the National
Security Advisers and the Presidents They Served – From JFK to George W. Bush, New
York 2009; ähnlich z. B. Ernest R. May u. Philip D. Zelikow (Hg.), Dealing with Dictators.
Dilemmas of U.S. Diplomacy and Intelligence Analysis, 1945 – 1990, London 2006; Scott
C. Monje, The Central Intelligence Agency. A Documentary History, Westport 2008.
18 Carola Dietze u. Frithjof Benjamin Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr.
Soldatisch-aristokratische Tugendhaftigkeit und das Konzept der Sicherheit im späten
19. Jahrhundert, in: GG 35. 2009, S. 368 – 401. Zum Terrorismus vgl. neben den anderen
Beiträgen des entsprechenden GG-Heftes etwa Matthias Dahlke, Demokratischer Staat
und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa,
1972 – 1975, München 2011; Tobias Hof, Staat und Terrorismus in Italien, 1969 – 1982,
München 2011; Markus Lammert, Die französische Linke, der Terrorismus und der
„repressive Staat“ in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren, in: VfZ 59. 2011,
S. 533 – 562; Johannes Hürter (Hg.), Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der
Bundesrepubik Deutschland und Italien, 1969 – 1982, München 2010. Zum Thema
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
373
geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, die Geschichte ausschließlich von der
anderen Seite der Sicherheits-Gegenbegriffe her untersuchen, rein quantitativ
überwiegen: Seit Koselleck bis zu jüngsten Arbeiten hat etwa der Krisenbegriff
– in unausgesprochener Spätwirkung marxistischer und prätermarxistischer
Faszination – sowohl als Untersuchungsgegenstand wie als heuristisches
Instrument, als explanans und explanandum offenbar größere Faszination
ausgeübt als die Frage nach korrespondierenden Sicherheitsdispositiven.19
Auch die jüngere, auf gesamtgesellschaftliche Befindlichkeiten wie die Atomangst bezogene Gefühlsgeschichte knüpfte nicht bei Febvres besoin de scurit,
sondern, wie schon Delumeau, bei der Angst an.20 Schließlich formierte sich
auch im Übergang zwischen Allgemein- und Umweltgeschichte das neue Feld
der Katastrophengeschichte sowohl hinsichtlich der Studien zum Katastrophenbegriff wie hinsichtlich der Einzeluntersuchungen zu Katastrophensituationen, Katastrophenkollektiven oder Resilienz allermeist vom „spektakulären“ Pol der Katastrophe, weniger vom korrespondierenden Pol der
Sicherheitsdispositiv-Entwicklungen aus.21 Hier wirkt auch die gegenwartsarbeiten in Deutschland derzeit auch Fabian Lemmes (Bochum) für Frankreich Ende
des 19. Jahrhunderts, Petra Terhoeven (Göttingen) für Italien in den 1960ern/70ern.
19 Vgl. etwa zuletzt Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und
Krisendeutungen in Deutschland, 1918 – 1933, München 2008; Daniel Siemens, Das
Narrativ der Krise in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Zwierlein,
Sicherheit und Krise, S. 63 – 82.
20 Frank Biess, „Everybody Has a Chance“. Nuclear Angst, Civil Defence, and the History
of Emotions in Postwar West Germany, in: German History 27. 2009, S. 215 – 243; für die
USA nach wie vor Paul Boyer, By the Bomb’s Early Light. American Thought and Culture
at the Dawn of the Atomic Age [1985], Chapel Hill 19942. Hinsichtlich der TerrorangstPolitik vgl. A. Trevor Thrall u. Jane K. Cramer (Hg.), American Foreign Policy and the
Politics of Fear. Threat inflation since 9/11, London 2009.
21 Die Literatur ist hier inzwischen immens, im deutschsprachigen Kontext wird als
Pionierarbeit immer hingewiesen auf Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein
historischer Beitrag zur Katastrophenforschung, in: HZ 233. 1981, S. 529 – 569. Bei
genauer Betrachtung fordert der fulminant geschriebene Aufsatz aber nicht mehr ein als
eine stärkere Beschäftigung mit dem Thema, eine spezifische Heuristik o. Ä. wird nicht
angeboten. Die Katastrophengeschichte ist dann stark v. a. in der Frühneuzeitgeschichte, vgl. eine kleine Auswahl: Bartolom Bennassar (Hg.), Les catastrophes naturelles
dans l’Europe mdivale et moderne, Toulouse 1996; Ren Favier (Hg.), Les pouvoirs
publics face aux risques naturels dans l’histoire, Grenoble 2002; Michael Kempe u.
Christian Rohr (Hg.), Coping with the Unexpected. Natural Disasters and their
Perception, Environment and History 9. 2003; Monika Gisler u. a. (Hg.), Naturkatastrophen/Catastrophes naturelles, Traverse. Zeitschrift für Geschichte/Revue d’histoire
10. 2003; Gerrit Jasper Schenk u. Jens Ivo Engels (Hg.), Historical Disaster Research.
Concepts, Methods and Case Studies, Historical Social Research 32. 2007; Ren Favier u.
Claudine Remacle (Hg.), Gestion sociale des risques naturels/Gestione sociale dei rischi
naturali, Valle d’Aosta 2007; Ren Favier u. Anne-Marie Granet-Abisset (Hg.), Histoire
374
Cornel Zwierlein
orientierte Risikosoziologie nach, die ebenfalls eher vom Risiko als von der
Sicherheit her denkt.22 Im Bereich der Wohlfahrtsstaatsgeschichte gibt es
freilich eine nun schon längere Tradition, staatliche Systeme sozialer Sicherheit historisch zu untersuchen.23 Dem deutschen Vorlauf des Bismarck’schen
et mmoire des risques naturels, Grenoble 2000; Dieter Groh u. a., Einleitung, in: dies.
(Hg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in
Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen 2003; Ren Favier (Hg.),
Rcits et reprsentations des catastrophes depuis l’Antiquit, Grenoble 2005; Ted
Steinberg, Acts of God. The Unnatural History of Natural Disaster in America, Oxford
20062 ; Anne-Marie Mercier-Faivre u. Chantal Thomas (Hg.), L’invention de la
catastrophe au XVIIIe sicle. Du chtiment divin au dsastre naturel, Genf 2008;
FranÅois Walter, Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert,
Stuttgart 2010; Michael Matheus u. a. (Hg.), Le calamit ambientali nel tardo medioevo
europeo. Realt, percezioni, reazioni, Firenze 2010; Andrea Janku u. a. (Hg.), Historical
Disasters in Context. Science, Religion, and Politics, London 2011.
22 Niklas Luhmann schließt Sicherheit als Gegenbegriff von Risiko als Begriff der
Beobachtungsperspektive erster Ordnung zugunsten von Risiko versus Gefahr systematisch aus, was in seiner Terminologie verständlich ist, aber damit zu einer
Unterbestimmtheit der Reflexion (auch zweiter Ordnung) über Sicherheit als gesellschaftlichem Ziel- und Aushandlungsbegriff führt. Vgl. ders., Soziologie des Risikos,
Berlin 2003, S. 27 ff. Auch in der Risikophilosophie ist Sicherheit unterbestimmt:
Stefano Maso, Fondements philosophiques du risque, Paris 2006, etwas stärker profiliert
bei Dominique Pcaud, Risques et prcautions. L’interminable rationalisation du social,
Paris 2005, etwa S. 238 ff. Einigermaßen aktuelle Einblicke in das risikosoziologische
Feld geben Claudine Burton-Jeangros u. a. (Hg.), Face au risque, Genf 2007; Patrick
Peretti-Watel, Sociologie du risque, Paris 2007, das Beispiel einer Modellierung von
Unsicherheitsgefühl-Messung S. 161 – 170. Ein wenig ideengeschichtlich ausgreifend
Birger P. Priddat, Zufall, Schicksal, Irrtum. Über Unsicherheit und Risiko in der
deutschen ökonomischen Theorie vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert, Marburg 19992.
Jean-Baptiste Fressoz, L’apocalypse joyeuse. Une histoire du risque technologique, Paris
2012. Zur Beck’schen Risikosoziologie vgl. auch den Beitrag von Zwierlein in diesem
Heft.
23 Vgl. Florian Tennstedt, Risikoabsicherung und Solidarität. Bismarck, Lohmann und die
Konflikte um die gesetzliche Krankenversicherung in ihrer Entstehungsphase, in:
Herber Obinger u. Elmar Rieger (Hg.), Wohlfahrtsstaatlichkeit in entwickelten Demokratien. Herausforderungen, Reformen und Perspektiven. Festschrift für Stephan
Leibfried, Frankfurt 2009, S. 65 – 94; für aktuelle Synthesen und Forschungsüberblicke
siehe Ernest P. Hennock, The Origin of the Welfare State in England and Germany,
1850 – 1914. Social Policies Compared, Cambridge 2007; Larry Frohman, Poor Relief and
Welfare in Germany from the Reformation to World War I, Cambridge 2008; FranÅois
Ewald, L’tat-Providence, Paris 1986, immer noch als eine der besten konzeptuell
generalisierten Fallstudien zur Arbeiterunfallversicherung im Frankreich des 19.
Jahrhunderts; Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche
Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland, 1880 – 1940,
Göttingen 2009; Ulrich Becker u. a., Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegen-
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
375
Systems und dem Social Security Act von 1935 folgten als wichtige Etappen die
Philadelphia-Konferenz der International Labour Organization 1944 und die
Aufnahme von social security als universelles Menschenrecht in die Universal
Declaration of Human Rights der Vereinten Nationen vom 6. 12. 1948
(Art. 22).24 Aber auch in den jüngeren geschichtlichen Abrissen zur Aufnahme
dieser „weichen“ sozialen Sicherheitsziele in die globale security policy bleibt
diese Sicherheitspolitik-Facette eher unverknüpft mit den anderen „harten“
Seiten von militärisch-außenpolitischer Sicherheitspolitik.25 Von einer solchen
zentralen Verankerung auf globaler Politikebene ausgehend müssten die
Verstrebungen mit anderen staatlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und kulturellen Praktiken und Konzepten von „Sicherheit“ aufgezeigt werden:
wie fungiert zum Beispiel soziale Sicherheit interdependent zur außenpolitischen, internationalen Sicherheit? Wie hängt sie mit der Katastrophenvor- und
-nachsorge zusammen? Noch allgemeiner kann man für eine Geschichte von
Sicherheitsproduktionsmechanismen als Leitfragen benennen, welche Gegenwarts- und Zukunftshorizonte sich in ihnen manifestierten, mit welchen
Zielen und Effekten in der Geschichte Themen und Gegenstände zu Sicherheitsmaterien gemacht wurden; wie sich Sicherheitsgewährung und Freiheitsansprüche und wie sich staatliche und privat(wirtschaftlich)e Sicherheitsproduktion zueinander verhalten. Inwieweit, ab wann, wo und in welchen Formen
begann man Sicherheit auch transnational zu begreifen, zu glauben, Sicherheit
der eigenen Rechts-, Macht-, Staatssphäre auch jenseits der eigenen Grenzen
schützen und produzieren zu müssen? Das ist nur eine kleine Anzahl
denkbarer Fragen.
II. Gegenwärtiger Wandel der Sicherheitskonzepte
Die Wahrnehmung, dass es an einer allgemeineren Sicherheitsgeschichte fehlt,
die Fragen wie die zuletzt gestellten behandeln würde, kommt weniger aus
geschichtswissenschaftsinternen Gründen auf; sie stellt vielmehr eine Reaktion auf starke, ja dramatische Wandlungen der Sicherheitskonzepte unserer
wart, Bonn 2010; Hans Günter Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und
Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011.
24 Vgl. zeitgenössisch Edwin E. Witte, 1944 – 1945. Programs for Postwar Social Security
and Medical Care, in: The Review of Economics and Statistics 27. 1945, S. 171 – 188;
Johannes Morsink, The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting, and
Intent, Philadelphia 1999, S. 130 – 134 u. S. 196 – 206.
25 Vgl. etwa Susan Waltz, Reclaiming and Rebuilding the History of the Universal
Declaration of Human Rights, in: Third World Quarterly 23. 2002, S. 437 – 338, hier
S. 444; Margaret E. McGuinness, Peace v. Justice. The Universal Declaration of Rights
and the Modern Origins of the Debate, in: Diplomatic History 35. 2011, S. 749 – 768, hier
S. 765 f.
376
Cornel Zwierlein
Gegenwart seit den 1990er Jahren dar. Viele dieser Wandlungen mögen schon
länger vorbereitet gewesen sein oder auch weit zurück liegende Vorläufer
haben – als allgemeine Verschiebung der geltenden Parameter zunächst
insbesondere der Politik auf der Ebene internationaler Beziehungen, damit
verbunden und rückwirkend aber auch im innenpolitischen Bereich, wurden
sie erst jetzt konkretisiert. Eine Fülle miteinander verbundener neuer
Prinzipien wie extended, comprehensive oder human security, die state
security ersetzen und eine korrespondierende Pflicht der UN oder anderer ad
hoc-Staatengemeinschaften zur humanitären Intervention als responsibility to
protect (R2P) zur Folge haben, stehen im Brennpunkt der Diskussion und auch
der politischen Praxis internationaler Beziehungen. Innenpolitisch ist die
Ausweitung der Funktionen von „Polizei“ und eine Überblendung und
Vermischung von Polizei- und Armeefunktionen feststellbar.
Als erstes offizielles UN-Dokument hatte der Human Development Report
1994 das Konzept der „Human Security“ aufgenommen als
safety from the constant threats of hunger, disease, crime and repression. It also means
protection from sudden and hurtful disruptions in the pattern of our daily lives – whether in
our homes, in our jobs, in our communities or in our environments.26
Weiterhin führte der Bericht als Untergruppen der „humanen Sicherheit“ eine
Vielzahl von „Sicherheiten“ auf wie „Job security, income security, health
security, environmental security, security from crime“, die die „emerging
concerns of human security all over the world“ seien. 2003 verkündete die UN
Commission on Human Security :
The international community urgently needs a new paradigm of security. Why? Because the
security debate has changed dramatically since the inception of state security advocated in
the 17th century. According to that traditional idea, the state would monopolize the rights
and means to protect its citizens. State power and state security would be established and
expanded to sustain order and peace. But in the 21st century, both the challenges to security
and its protectors have become more complex. The state remains the fundamental purveyor
of security. Yet it often fails to fulfil its security obligations – and at times has even become a
source of threat to its own people. That is why attention must now shift from the security of
the state to the security of the people – to human security.27
Das sogenannte „Westfälische System“ löse sich auf, und die Staatengemeinschaft sei mehr und mehr in der Pflicht, nicht nur Sicherheit zwischen
souveränen Nationalstaaten als den einzigen Akteuren und Adressaten
internationaler Sicherheitspolitik zu gewährleisten, sondern sie müsse bei
den individuellen Sicherheitsbedürfnissen der Menschen ansetzen, insbesondere dann, wenn Diktaturen oder failing states deren Sicherheit in allen
Dimensionen des Lebens bedrohten oder nicht mehr gewährleisten könnten.
26 UN Human Development Report 1994, S. 3.
27 UN Commission on Human Security 2003, S. 2.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
377
Mindestens drei Ebenen des Nachdenkens über Sicherheit werden hier
verknüpft: Erstens die Betonung des Individuums, zweitens die Inklusion und
Anerkenntnis der Bedürfnisse von bislang marginalisierten Gruppen, drittens
die Ausweitung der überhaupt in Betracht gezogenen möglichen Sicherheitsbedrohungen. Man hat diesen viel diskutierten Perspektivenwechsel in der
Sicherheitspolitik funktional analysiert und gezeigt, wie der Human SecurityDiskurs gerade von einigen mittelgroßen Staaten wie Kanada, Norwegen und
Japan instrumentalisiert wurde und wird, um hierdurch mehr Bedeutung auf
der internationalen Ebene zu gewinnen.28 Üblicherweise definiert man dabei
Human Security in der Kurzformel als freedom from fear und freedom from
want und erfasst damit zwei Dimensionen: die (gegebenenfalls militärische)
Schutzdimension und die eher entwicklungspolitische Dimension. Hier lässt
sich aufzeigen, dass die erste Variante – Freiheit von Angst – insbesondere von
der kanadischen Regierung als Vorreiterin der UN-Blauhelm-Einsätze vorangetrieben wurde; Außenminister Lloyd Axworthy fokussierte hier auf die
Absenz von Gewalt und Bedrohungen der physischen Sicherheit von Individuen. Von diesem Ansatz her war die Propagierung und zunehmende
Akzeptanz einer neuen völkerrechtlichen Institution und Legitimationsgrundlage, der R2P, der weitere Schritt: die kanadische Regierung hatte 2001
die Einsetzung der International Commission on Intervention and State
Sovereignty durch die UN beantragt, die einen entsprechenden Bericht
ausarbeitete. Der Gedanke der R2P ist es, die gängige Prozedur der Legitimierung von humanitären Interventionen umzukehren: Statt der üblichen
Perspektive der Staatengemeinschaft „von oben“ auf das Geschehen, wonach
man zwar das Leid der Bevölkerung von Staaten wahrnehmen konnte, jedes
Handeln aber an der Grenze des jeweiligen Staates Halt machen musste, sollte
das Internationale Recht nun eine Perspektive „von unten“ ermöglichen: Dem
Heimatstaat wird die Verantwortung zum Schutz seiner Bevölkerung gegenüber dieser selbst und gegenüber der Staatengemeinschaft auferlegt. Bei
Verletzung dieser Schutzpflicht wird subsidiär der Staatengemeinschaft die
Verantwortung und das Handlungsrecht zum Schutz der Bevölkerung, notfalls
auch gegen die nicht oder unrechtmäßig handelnde Regierung des Heimatstaates, zuerkannt.29
Die zweite Dimension des erweiterten Sicherheitsbegriffs (freedom from want)
wurde insbesondere von der japanischen Regierung unter Premierminister
Keizō Obuchi vorangetrieben und artikulierte sich insbesondere im oben
28 Roland Paris, Human Security. Paradigm Shift or Hot Air?, in: International Security 26.
2001, S. 87 – 102. Fen O. Hampson u. Christopher K. Penny, Human Security, in: The
Oxford Handbook on the United Nations, hg. v. Thomas G. Weiss u. Sam Daws, Oxford
2007, S. 539 – 560.
29 Vgl. Christopher Verlage, Responsibility to Protect. Ein neuer Ansatz im Völkerrecht
zur Verhinderung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, Tübingen 2009.
378
Cornel Zwierlein
zitierten Expertenbericht „Human Security Now“ der vom ehemaligen UN
High Commissioner for Refugees Sadako Ogata und Friedensnobelpreisträger
Amartya Sen geführten UN Commission on Human Security 2003. Die
Grundidee ist, dass Human Security auch meint, dass jedem Individuum ein
Anspruch auf bestimmte minimale Versorgung hinsichtlich Nahrung, Energie,
Bildung oder Sicherheit im Alltag (etwa vor Kriminalität und sogar vor
überschießend gefährlichem Straßenverkehr) zukomme.30 Katalysator für die
freedom from fear-Dimension waren der Völkermord in Ruanda 1994 und der
Kosovo-Konflikt 1999, für die freedom from want-Dimension war es die
asiatische Finanzkrise 1997.31
Mit diesen beiden Dimensionen wird der herkömmliche Begriff zwischenstaatlicher Sicherheit als Gegenstand der Politik internationaler Beziehungen
und insbesondere der UN-Politik geradezu explosionsartig erweitert, was
natürlich auch starke Kritik hervorruft. So kritisieren die einen, dass die erste
Dimension von Human Security und R2P nur als Legitimationsinstrument für
militärische Interventionen ohne Erlaubnis und Resolution des UN-Sicherheitsrats dient,32 die anderen, dass die zweite Dimension letztlich eine endlose
Vielzahl von Gegenständen wie eine „shopping list“ aufführe, und dass hier
Human Security eine Strategie sei, um „almost everything that could be
considered as a threat to well-being“ als Sicherheitsprobleme zu camouflieren
und so insbesondere eine Fülle von Politikfeldern, die früher als Gegenstände
von Entwicklungspolitik behandelt wurden, in den höchsten institutionellen
Formen der UN traktabel zu machen.33 In der Tat scheinen diese Erweiterungen des Sicherheitsbegriffs zu einer Auflösung der seit dem Spätmittelalter
und verstärkt dem 17. Jahrhundert gewachsenen Trennung in innere und
äußere Sicherheit und zur Erosion des klassischen Souveränitätsprinzips zu
führen. Es wirkt so, als ob sie implizit den Zielhorizont einer QuasiWeltregierung durch die Staatengemeinschaft, in der alles „innere Sicherheit“
ist, in sich tragen.
30 So auch ausgeführt in UN-Habitat, Global Report on Human Settlements 2007.
Enhancing Urban Safety and Security, London 2007.
31 Fen Osler Hampson u. a., Madness in the Multitude. Human Security and World
Disorder, Oxford 2001; Cornelia Ulbert u. Sascha Werthes (Hg.), Menschliche
Sicherheit. Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven, Baden-Baden
2008; Manuel Fröhlich u. Jan Lemanski, Human Security. The Evolution of a Concept
and its Doctrinal as well as Institutional Manifestations, in: Christoph Schuck (Hg.),
Security in a Changing Global Environment. Challenging the Human Security
Approach, Baden-Baden 2011, S. 21 – 49, bes. S. 26 – 30.
32 Julie MacArthur, A Responsibility to Rethink? Challenging Paradigms in Human
Security, in: International Journal 63. 2008, S. 422 – 443.
33 Keith Krause, Human Security. An Idea Whose Time Has Come?, in: Security and Peace
23. 2005, S. 1 – 6, hier S. 3.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
379
Dabei macht sich die UN inzwischen sogar das damit verbundene, gleichsam
neozyklische Geschichtsbild zu eigen, dass man in eine neue Epoche eintrete,
in der die alten gewachsenen Unterscheidungen und „Errungenschaften“ der
Moderne wie Nationalstaatlichkeit und Trennung innerer Konflikte von
äußeren Kriegen nicht mehr gelten würden und man damit in ein „vorwestfälisches System“ zurückkehre: Der neue expansive Sicherheitsbegriff sei
keine neue Erfindung, sondern eher die Wiederaufnahme vor- oder frühmoderner Vorstellungen. So hatte schon 1977 der Politikwissenschaftler Hedley
Bull versucht zu analysieren, welche Formen das internationale System in der
Zukunft wohl annehmen würde. Als vierte der von ihm durchgespielten
Möglichkeiten einer nach-westfälischen Ordnung des internationalen Systems
hielt er einen „new medievalism“ für möglich, ein Nebeneinander staatlicher,
supra- und substaatlicher Akteure, so wie im Mittelalter auch neben Staaten
andere supra- und substaatliche Akteure wie einzelne Ritter, Papst und Kaiser,
Ritterorden und Städtebünde koexistierten.34 Während Bull selbst diese
Option schließlich für unwahrscheinlich hielt und ablehnte, wurden Begriff
und Konzept des „new medievalism“ seit den 1990ern Jahren wieder stark
rezipiert und nun von einigen Autoren als zutreffende Beschreibung für das
Nebeneinander von UN, NGOs, G8, Staaten und Individualperspektiven im
internationalen Feld betrachtet.35
Parallel hierzu gibt es auch die bekannte Diskussion über die neuen
asymmetrischen Kriege, die mit den Kriegen des Spätmittelalters bis zum
Dreißigjährigen Krieg verglichen werden: die neuen Phänomene privater
Söldnerkriegsführung, der corporate warriors, würden mit altem Söldnertum
34 Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 20023,
S. 240 – 271. Es existieren keine Untersuchungen dazu, woher Bull diesen Begriff nahm,
schon in den 1930ern wurde er allerdings mit noch anderer Bedeutung eingesetzt:
Stebelton H. Nulle, The New Medievalism, in: The South Atlantic Quarterly 36. 1937,
S. 254 – 272.
35 James Anderson, The Shifting Stage of Politics. New Medieval and Postmodern
Territorialities?, in: Environment and Planning D: Society and Space 14. 1996,
S. 133 – 153; ders. u. James Goodman, Regions, States and the European Union.
Modernist Reaction or Postmodern Adaptation?, in: Review of International Political
Economy 2. 1995, S. 600 – 631; David Marquand, The New Reckoning. Capitalism, States
and Citizens, Cambridge 1997, S. 110 – 137; Jessica T. Mathews, Power Shift, in: Foreign
Affairs 76. 1997, S. 50 – 66; Anthony C. Arend, Legal Rules and International Society,
Oxford 1999, S. 165 – 188; Jörg Friedrichs, The Meaning of New Medievalism, in:
European Journal of International Relations 7. 2001, S. 475 – 501; Andrew Gamble,
Regional Blocs, World Order and the New Medievalism, in: Mario Tel (Hg.), European
Union and New Regionalism. Regional Actors and Global Governance in a Posthegemonic Era, Aldershot 2009, S. 21 – 36; Parag Khanna, The Second World. Empires
and Influence in the New Global Order, New York 2008.
380
Cornel Zwierlein
korrespondieren;36 die neue Somalia-Piraterie als Effekt fragiler Staatlichkeit
wird zuweilen mit der frühneuzeitlichen Piraterie der Barbaresken-Halbstaaten im Mittelmeer verglichen.37 Manche vergleichen die Ausweitung heutiger
Polizei-Funktionen und Überlappungen zwischen Militär und Polizeiwesen in
Innen- und Außenpolitik und zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit mit
dem vormodernen Konzept und der vormodernen Weite von „Policey“, das
ähnlich expansiv Schutz und Sicherheit des Einzelnen und der Gesamtheit vor
einer Überfülle von Widrigkeiten, von den Naturkatastrophen bis zum
Kleiderordnungsverstoß, umfasst habe.38 Einige Autoren, wie etwa die einzigen, die bisher als Historiker des Konzepts Human Security aufgetreten sind,
MacFarlane und Khong, betonen, dass „we are speaking more of the recovery
of very old understandings of security rather than the generation of new
ideas“.39 Die profilierte Ideenhistorikerin, keine Politikwissenschaftlerin,
Emma Rothschild vertritt ebenfalls die Auffassung, dass „the new security
principles of the end of the twentieth century constitute a rediscovery, of sorts,
of […] late eighteenth and early nineteenth-century politics“, das heißt in ihrer
Interpretation der Sicherheitskonzepte des Liberalismus der Spätaufklärung
1770 bis 1820.40
Man sollte davon ausgehen, dass allen an der Diskussion Beteiligten bewusst
ist, dass es keineswegs um eine „echte Rückkehr“ ins Mittelalter oder eine
vorherige Zeit gehen kann, obgleich in den einschlägigen Texten die Metaphorik dieser Sprechweise nicht immer deutlich wird.41 Von geschichtswissenschaftlicher Seite wie auch durch die Analyse der entsprechenden politikwissenschaftlichen Rhetorik hat man darauf hingewiesen, dass die Rede von
einem „Westfälischen System“ historisch überhaupt wenig Sinn hat, da ein
solches wohl zu keinem Zeitpunkt zwischen 1648 und heute real existent war,
es sei denn, und auch das nur mit Abstrichen, in kurzen Phasen des
36 Herfried Münkler, The New Wars, Cambridge 2005; Mary Kaldor, New and Old Wars.
Organised Violence in a Global Era, Cambridge 1999; Paul W. Singer, Corporate
Warriors. The Rise of the Privatized Military Industry, Cornell 2003, S. 19 – 39.
37 Michael Kempe, Fluch der Weltmeere. Piraterie, Völkerrecht und internationale
Beziehungen, 1500 – 1900, Frankfurt 2010.
38 Alf Lüdtke, Zurück zur „Policey“? Sicherheit und Ordnung in Polizeibegriff und
Polizeipraxis. Vom 18. bis ins 21. Jahrhundert, in: Helmut Gebhardt (Hg.), Polizei, Recht
und Geschichte. Europäische Aspekte einer wechselvollen Entwicklung. Beiträge des 14.
Kolloquiums zur Polizeigeschichte, Graz 2006, S. 12 – 29.
39 Stephen N. MacFarlane u. Yuen F. Khong, Human security and the UN. A Critical
History. United Nations Intellectual History Project, Bloomington 2006, S. 19.
40 Emma Rothschild, What is Security?, in: Daedalus 124. 1995, S. 53 – 98, hier S. 65.
41 „No one suggests that there could be a [sc. real] return to the medieval era.“, Gamble,
Regional Blocks, S. 30.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
381
19. Jahrhunderts.42 Darüber hinaus wurde die Chiffre des Westfälischen
Systems, deren Grundinhalt allgemein in den drei eng miteinander verknüpften Prinzipien Souveränität, Territorialität, und Nicht-Intervention gesehen
wird, im Diskurs der Internationalen Beziehungen eigentlich erst ab Ende der
1960er gerade insoweit prominent gemacht, als man eine Gegenfolie für das
Anzustrebende oder jedenfalls als das kommend Erachtete benötigte: Erst als
die erwähnte Erosion der Nationalstaatlichkeit fühlbar wurde, konstruierte
man gleichsam das Westfälische System als Gegenmodell. Weil Globalisierungseffekte zunehmend zu einer Internationalisierung von Menschenrechten, Umwelt- und Ökonomie-Problemen und auf vielen anderen Ebenen
führen, kam dieses Wahrnehmungsbild der Bewegung weg von einem
vorherigen scheinbar klaren Zustand nationaler und internationaler Ordnung
und Regelungsbezug hin zu einem anderen auf – ob der vorherige Zustand je
so historisch feststellbar war, steht auf einem ganz anderen Blatt.43 Dass die
Wahrnehmung einer Erosionsbewegung und auch die mehr oder minder
neozyklische Geschichtsvorstellung sich wohl auf einer allgemeineren Ebene
mit Effekten der Globalisierung auf das Zeit- und Geschichtsbewusstsein
erklären lässt, kann hier nicht weiter vertieft werden.44
III. Grenzen der Sicherheit und Epochengrenzen
Die knapp skizzierte Entwicklung von der state zur human, extended oder
comprehensive security ist historisch für die jüngste Zeitgeschichte fassbar.
Eine solche Verschiebung der Bedeutung von „Sicherheit“ ist aber nicht nur in
der Zeitgeschichte zu untersuchen – die Wahrnehmung eines Eintretens in
eine neue Epoche der Internationalen Beziehungen zurück öffnet erst den
Frageraum einer auch allgemeineren Sicherheitsgeschichte, wie dies oben im
keineswegs vollständigen Abschreiten ausgewählter historischer Literatur zu
Sicherheitsthemen sichtbar wurde. Erst die (auch unbewusst ablaufende)
Verschiebung in der heutigen Wahrnehmung lässt das „Fehlen“ einer
allgemeineren Sicherheitsgeschichte und Sicherheitsperspektive auf historische Gegenstände, Epochen und Gesellschaften hervortreten.
42 Heinz Duchhardt, „Westphalian System“. Zur Problematik einer Denkfigur, in: HZ 269.
1999, S. 305 – 315; ders., Das „Westfälische System“. Realität und Mythos, in: Hillard
von Thiessen (Hg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität
im historischen Wandel, Köln 2010, S. 393 – 401.
43 Vgl. die präzise Analyse von Sebastian Schmidt, To Order the Minds of Scholars. The
Discourse of the Peace of Westphalia, in: International Relations Literature 55. 2011,
S. 601 – 625, der zeigt, wie die Chiffre „Westfälisches System“ eigentlich erst mit Richard
Falk 1969 ihre heutige Form angenommen hat und klar der UN Charter Order
gegenübergestellt wurde.
44 Vgl. dazu einige Hinweise im Beitrag von Zwierlein in diesem Heft.
382
Cornel Zwierlein
Eine Schlussfolgerung aus dem gegenwartsbezogenen Anstoß zu einer neuen,
erweiterten Sicherheitsgeschichte ist also, dass gerade jenseits der klassischen
nationalstaatsbezogenen Begrifflichkeiten Sicherheit, Sicherheitsbegriffe,
Sicherheitsgefühle, Sicherheitsproduktion und Sicherheitsregime zu historisieren sind: Eine Beschränkung nur auf außenpolitische oder innenpolitische
Sicherheit im engeren Sinne kann nicht sinnvoll sein, wenn gerade die
Historizität etwa dieser Scheidungsform innen/außen zu untersuchen wäre.
Man muss also auch Zeiten in den Blick nehmen und wird von ihrer Analyse
lernen können, in denen der Sicherheitsbegriff im oben angedeuteten Sinne
noch nicht prominente Bedeutung erfahren hat. Dies ist auch der Grund,
warum hier, im Rahmen der einst 1975 vorgegebenen Programmatik der
Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft ungewohnter Weise der Beitrag eines
Frühmittelalter-Spezialisten aufgenommen wurde.
Grundsätzlich kann man nun Heuristiken für eine Sicherheitsgeschichte auf
verschiedenen Ebenen entwickeln: Bei der Konzeption einer Entwicklungsgeschichte und Definition allgemeiner und regional spezifischer Epochenschwellen und -schnitte müsste man gleichzeitig Felder bestimmen, innerhalb
derer Entwicklung stattfindet – Felder, die aus genannten Gründen nicht mit
dem Nationalrahmen identisch sein dürfen, sondern auf Themen und
Funktionen von Sicherheitsgewährung bezogen sind. Wichtiger ist aber,
verschiedene Beziehungsdimensionen kombinativ im Blick zu haben, die
teilweise schon anklangen:
– Sicherheit als Begriffs- und Konzeptgeschichte
– Sicherheit und seine Gegenbegriffe (Risiko, Angst, Gefahr, Terror)
– Sicherheit/Staat, Kommune, kleinere Kollektive
– Sicherheit/Wirtschaft
– Sicherheit/Kulturelle, religiöse, emotionale Dimensionen
– Sicherheit/Bild vom Menschen, vom Individuum
– Sicherheit/Zeit- und Raumhorizonte
Hinsichtlich dieser Dimensionen wäre die Entstehung, Entwicklung und
Änderung von Sicherheitsproduktionsmechanismen zu untersuchen. Betrachtet man etwa eine Monographie wie jene der Politikwissenschaftler
MacFarlane und Khong, die als Vorgeschichte von Human Security im raschen
Schritt durch die Ideengeschichte von Cicero bis zur UN einen dünnen Faden
durch Zitate legen, in denen „individuelle“ Sicherheitsbedürfnisse im Vordergrund stehen, und die suggerieren, dass es sich hierbei um eine Tradition
handele, die dann zum Human Security-Konzept geführt habe, wird deutlich,
wie groß die Gefahr eines einfachen Rückprojizierens der gegenwärtig
aktuellen Konzepte ist.
Manch einer wird vielleicht radikal fragen, ob die Suche nach Epochengrenzen
innerhalb solcher Entwicklungsgeschichten überhaupt noch sinnvoll ist, ob
man mit ihr nicht stets Epochen reifiziert, während postkoloniale Theorie,
historische Anthropologie und neo-hermeneutische Ansätze uns eher nahelegen, überhaupt nicht mehr nach Epochen zu fragen, sondern Lebenswelten
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
383
in welcher räumlich-zeitlichen Alterität auch immer zu rekonstruieren.
Vielleicht wird solches Denken durch das gegenwärtige Geschichtsbild einer
globalen „erstreckten Gegenwart“ (Helga Nowotny) und einer Schließung der
einst geöffneten Zukunftshorizonte nahegelegt. Die Tiefe der Geschichte geht
verloren, die einst Historismus und auch noch folgende entwicklungsgeschichtlich konturierte Geschichtsbilder beförderten. Fordert die gegenwärtige Verflüssigung der Konturen des Sicherheitskonzepts auch eine Aufgabe
von Epochenkonzepten überhaupt heraus? – Mit Fug könnte man auch genau
das Gegenteil vertreten, und das ist ein Ansatzpunkt dieses Heftes: Die
Entgrenzung des Sicherheitskonzepts in der Gegenwart fordert den Historiker
heraus, die vergangenen Begrenzungen in ihrem historischen Gewordensein
und der jeweiligen epochalen Bezogenheit zu rekonstruieren.
Es kann nicht die Aufgabe eines Themenheftes sein, alle Dimensionen
zukünftig möglicher Sicherheitsgeschichte grundlegend zu entfalten, angesichts gegenwärtig pluraler Wissenschaftsentwicklung ist es auch unrealistisch, einen „Masterplan“ zu entwerfen, wie man vielleicht in den 1960ern oder
1970ern Prolegomena zu einer umfassenden Sicherheitsgeschichtstheorie
verfasst hätte. Wichtig erschien dem Herausgeber und den Beiträgern zu
diesem Themenheft zunächst die klare Identifizierung des gegenwartsbezogenen Problemhintergrunds und ein Nachspüren der Auswirkung auf die
Geschichtswissenschaften. Neben der angedeuteten Entwicklungsgeschichte
werden dann durch die drei chronologisch das Mittelalter, die Frühe Neuzeit
und das 19. Jahrhundert und Neuzeit bis Zeitgeschichte erfassenden Beiträge
exemplarisch drei Versuche unternommen, das Problem einer Sicherheitsgeschichtsschreibung hinsichtlich des angesprochenen Problems zu systematisieren, wie sich Sicherheitskonzeptgrenzen und Epochengrenzbildung zueinander verhalten.
Das Heft setzt ein mit einem Beitrag von Christopher Daase, der zu den
wenigen Vertretern der systematischen Politikwissenschaften gehört, die an
der Zusammenarbeit auch mit den Geschichtswissenschaften – etwa hinsichtlich der Ansätze der Begriffsgeschichte und der political-language-Analyse –
seit längerem Interesse zeigt.45 Er legt aus der Perspektive der politikwissenschaftlichen Sicherheitsforschung die Anknüpfungspunkte zur Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und hinsichtlich der dann folgenden Beiträge
von Steffen Patzold, Cornel Zwierlein und Eckart Conze im Besonderen dar.
Alle drei Beiträge versuchen dabei, einschlägige politik-, wirtschafts- oder
sozialwissenschaftliche Konzepte der Gegenwartsanalyse – „Human Security“/
„failed states“, „Insurability“ und „Securitization“ – kritisch in eine historische Heuristik umzuwandeln.
45 Christopher Daase, National, Societal and Human Security. On the Transformation of
Political Language, in: Zwierlein u. a., The Production of Human Security, S. 24 – 39.
384
Cornel Zwierlein
Steffen Patzold hinterfragt in diesem Sinne gerade die Trennung zwischen
Moderne und Vormoderne insoweit diese auf „Sicherheit“ bezogenen Epochen-Kategorien implizit auf einen Begriff des Staates bezogen sind, wie er um
1900 geformt wurde. Er konzediert, dass die Verunsicherungen in den
Begriffsbildungen offenbar durch ein spät- oder post-modernes Bewusstsein
erzeugt werden, dessen Form noch diskutiert wird und im Fluss ist. Human
Security wie MacFarlane und Khong einfach im Mittelalter zu suchen, sei nicht
angebracht, da das auf individuellen Menschenrechtsbesitz aufbauende
Individualitätskonzept noch gar nicht vorhanden war. Dies bedeutete, dass
eine kontinuierliche Genealogie von Human Security vielleicht erst im
Spätmittelalter oder der Frühen Neuzeit einsetzen kann: wenn calvinistische
Territorialherrscher oder Adlige den durch katholische Herrscher bedrohten
Glaubensgenossen im 16. Jahrhundert bewaffnet zu Hilfe eilten, und wenn
hierfür erste proto-völkerrechtliche Legitimationstheorien entwickelt wurden,
scheint früh schon das Individualrecht der Gewissens- und Glaubensfreiheit
interventionsähnlich schützenswert angesehen worden zu sein.46 Wenn etwas
Vergleichbares im Mittelalter zuvor so nicht vorkommt, muss man in der Tat
Sicherheitsgeschichte jenseits einer solchen Genealogie zu schreiben versuchen. Zugleich können dann Blicke wie Patzolds auf besonders „frühe“ und
ferne Situationen, auch wenn hier viele Parameter fehlen, die für derzeitige
Problemlagen wie etwa der Koexistenz fragiler Staatlichkeit bei gleichzeitiger
globalisiert verfügbarer westlicher Menschenrechtsdiskurse charakteristisch
sind, stimulierend für den Gegenwarts-Analysten sein: wie kann man das
Sicherheit/Mensch-, Sicherheit/Herrschaft-, Sicherheit/Gewalt-Verhältnis verstehen, wie funktionierte es, wenn territoriales Raumdenken, bürokratische
Erschließung des Herrschaftsraum durch verstetigte (papiergestützte) Zentrum-Peripherie-Kommuikation und vieles andere nicht gegeben war? Human
Security wird hier nicht als schlicht übertragbares Konzept verwendet,
Argumentation und Thesenbildung werden aber gerade durch die Abstoßung
von den damit vorliegenden heuristischen Parametern konturiert. Patzolds
Beitrag steht so exemplarisch für die angeführten Verhältnisse Staat/Sicherheit
und Individuum/Sicherheit.
46 Etwa in den monarchomachischen Widerstandsrechtstraktaten wie den Vindiciae
contra tyrannos (1579), die meist nur hinsichtlich ihrer „innenpolitischen“ Widerstandsrechtslegitimierung (französische Hugenotten versus französischer König) gelesen werden; fast ihr eigentlicher Hauptimpetus war aber, die trans-territoriale
Unterstützung für und seitens protestantische(r) Bundesgenossen zum Schutz des
individuellen Glaubens zu befördern, wogegen noch Hobbes allergisch anschrieb. Vgl.
Cornel Zwierlein, Les saints de la communion avec le Christ. Hybridations entre glises
et tats dans le monde calviniste dans les annes 1560, in: Axelle Guillausseau u.
Florence Buttay (Hg), Les saints entre l’glise et l’tat. Politique et saintet au temps du
concile de Trente, Paris 2012, S. 35 – 50 mit weiterer Literatur.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheitsgeschichte
385
Der Beitrag von Cornel Zwierlein setzt sich mit dem in der Risikosoziologie
Ulrich Becks zentralen Konzept der „Insurability“ (Versicherbarkeit) auseinander, das dort als entscheidender Prüfstein für die Zugehörigkeit einer
Bedrohung zur Ersten oder Zweiten Moderne Anwendung findet. Lange Zeit
weder in der Soziologie noch in der Geschichtswissenschaft genauer beachtet,
stellt es bei Beck und der ihm folgenden Risikosoziologie-Strömung die
überhaupt systematischste Begründung des historischen Narrativs als Rückgrat der freilich meist nur nach vorn blickenden Risikosoziologie dar, die aber
für dieses „Nach-vorn-Blicken“ einen geschichtlichen Abstoß-Hintergrund
benötigt: Der so gängige und für die Risikosoziologie überhaupt die Daseinsberechtigung liefernde Dreischritt Vormoderne, Erste Moderne, Spät-, Postoder Zweite Moderne mit all den Implikationen – etwa, dass die Risikogesellschaft der Zweiten Moderne eine sei, in der die nicht intendierten Spätfolgen
der Ersten Moderne in übermächtiger Form auf ihre Verursacher zurückwirken – ist nirgendwo so genau definiert wie dort, wo Beck den Lackmustest der
Versicherbarkeit für sich entdeckte. Die wohl richtige Ausgangsintention, dass
mit dem Kriterium der Versicherbarkeit eine sehr gut historisierbare „Prüfsonde“ vorliegt, wird hier, freilich nach einer Kritik des Beck’schen historischen Narrativs, aufgegriffen und viel genereller ausgeformt. Hierzu wird als
Instrument das Konzept der Zeit-, Gegenwarts- und Zukunftshorizonte einer
Gesellschaft und ihrer bereichs- und gruppenspezifischen Teilhorizonte
eingeführt und mit der Frage nach der Entwicklung eines so faszinierenden
wie spezifisch neuzeitlichen Sicherheitsproduktionsmittels wie der antizipativen Prämienversicherung in europäischen und globalen Zusammenhängen
verbunden. Der Beitrag steht so exemplarisch für die Verhältnisse Zeit/
Sicherheit, Raum/Sicherheit, Zeit/Wirtschaft – letzteres auch im Vergleich
zwischen eher staatlicher oder privater Wirtschaft.
Eckart Conze historisiert den Prozessbegriff der Securitization, Versicherheitlichung: Hiermit ist in der gegenwärtigen internationalen Politik die
Eingemeindung unterschiedlichster Themenbereiche, die vorher zum Beispiel
der Entwicklungspolitik zugehörten, in die Sicherheitspolitik gemeint. Teilweise wird er hier als analytischer Begriff zur Erfassung eines schlicht
ablaufenden Prozesses verwandt, andererseits wird Securitization gegenwärtig
auch höchst reflexiv als Strategie politischer Akteure betrieben. Von diesem
funktional oder intentional konzipierten Begriff der Gegenwart abstrahiert der
Beitrag einen historisch-heuristischen Begriff der longue dure: Sicherheit
selbst wird hier zum Schluss als Prozess erfasst. Dabei löst sich der Beitrag
deutlich von den politikwissenschaftlichen Vorgaben, die für die historischen
Gegenstandsbereiche nicht passen können. Der Beitrag berührt auf diese
Weise eine Fülle der oben genannten Beziehungen, die zwischen „Sicherheit“
und anderen gesellschaftlichen Bereichen, Gruppen oder Regelungsgegenständen besteht.
Die vorliegenden Beiträge können weder das Fehlen eines schon klar
konturierten Felds einer übergreifenden Sicherheitsgeschichte beheben,
386
Cornel Zwierlein
noch ist es das Ziel, eine einheitliche Heuristik zu entwickeln und der
Forschung vorzugeben. Sie öffnen aber einige Wege und versuchen zu zeigen,
wie man, auf Gegenwartsentwicklungen reagierend, ohne sozial- und politikwissenschaftlichen Begriffe einfach unreflektiert zu übernehmen, die kognitive Bewegung, die in den Wahrnehmungsschemata der Gegenwart zu
verzeichnen ist, als Herausforderung auch für die Geschichtswissenschaft
annehmen kann – nicht zuletzt durch die Infragestellung der selbstverständlichen Konzepte von Epochengrenzen in ihrem Verhältnis zu den Grenzen der
Konzepte und Praktiken von Sicherheitsproduktion.
Prof. Dr. Cornel Zwierlein, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für
Geschichtswissenschaft, R. GA 4/145, Universitätsstr. 150, D-44801 Bochum
E-Mail: [email protected]
ipabo_66.249.66.96
Die Historisierung der Sicherheit
Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung
aus politikwissenschaftlicher Sicht
von Christopher Daase
Abstract: This article inquires into the contribution which history as an academic
discipline can make to security research. By critically discussing articles by Steffen
Patzold, Cornel Zwierlein, and Eckart Conze, three ways of historicizing security are
presented. First the analysis of security practices in the Middle Ages that show that
even without state structures basic security can be provided. Second the problematization of insurability in early modern times, which draws the traditional classification
of historical epochs into question. Third the utilization of the concept of “securitization” to historical settings in order to reconstruct different ways to deal with danger
and uncertainty. Historical accounts of security, these contributions demonstrate, are
an essential corrective to the rather static understanding of security in political and
social sciences. At the same time, social science concepts promise a fruitful field of
application if taken as historicized heuristics for the exploration of specific problems
of a “security history”.
Es wird eng in der Sicherheitsforschung. Immer mehr wissenschaftliche
Disziplinen entdecken die Sicherheit als Thema und analysieren die vielen
Formen der Unsicherheit – wie Gefahren, Bedrohungen, Risiken oder
Katastrophen – um einen Beitrag zur Erforschung ihrer Ursachen und zur
Vermeidung oder Reduzierung ihrer Folgen zu leisten. Das ist nur verständlich, ist doch „Sicherheit“ zum zentralen Wertbegriff unserer Gesellschaft
aufgestiegen,1 der andere Werte wie Frieden oder Freiheit zunehmend in den
Schatten stellt. Hinzu kommt, dass die Sicherheitsforschung, nachdem es im
Zuge des Endes des Ost-West-Konflikts eine kurzfristige Reduzierung der
Fördermittel gab, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf
nationaler und internationaler Ebene wieder massiv gefördert wird.2 Auch dies
1 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit. Das Leitbild beherrschbarer Komplexität, in:
Stephan Lessenich (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle
Diskurse, Frankfurt 2003, S. 73 – 104; Ekkehard Lippert u. a. (Hg.), Sicherheit in der
unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997.
2 Zu nennen sind insbesondere das Sicherheitsforschungsprogramm „Forschung für die
zivile Sicherheit“ im Rahmen der High-Tech-Strategie der Bundesregierung unter
Federführung des BMBF (http://www.bmbf.de/de/6293.php9) und das Forschungsprogramm der EU-Kommission im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms (http://
cordis.europa.eu/fp7/security/home_en.html).
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 387 – 405
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
388
Christopher Daase
führt dazu, dass die Sicherheitsforschung (bei ansonsten tendenziell abnehmender Forschungsförderung aufgrund der Finanzkrise) ein immer attraktiveres Forschungsfeld wird, in dem die unterschiedlichsten Disziplinen um
Forschungsaufträge und Drittmittel konkurrieren.
Begünstigt wird diese Entwicklung durch die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, die spätestens seit den 1970er Jahren die nationale und internationale
Sicherheitskultur verändert.3 Verstand man Sicherheit innenpolitisch lange als
Schutz vor Verbrechen („innere Sicherheit“) und als Gewährleistung elementarer Lebenschancen („soziale Sicherheit“), haben sich im Laufe der letzten
fünfzig Jahre sowohl der Fokus von der Strafverfolgung auf die Prävention
ausgedehnt, als auch die Liste schützenswerter Grundrechte erheblich erweitert. Verstand man außenpolitisch in den fünfziger und sechziger Jahren unter
Sicherheit vor allem die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Abwehr
militärischer Bedrohungen, erweiterte sich das Verständnis sukzessive in
verschiedenen Dimensionen, so dass heute auch eine funktionierende Wirtschaft („ökonomische Sicherheit“), eine intakte Umwelt („ökologische Sicherheit“) und die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse
(„menschliche Sicherheit“) vom Sicherheitsbegriff erfasst werden.
Im Zuge dieser Entwicklung wurde zudem deutlich, dass die strikte Trennung
von innerer und äußerer, nationaler und internationaler Sicherheit sowie die
Unterscheidung von ziviler und militärischer Sicherheit immer weniger
zweckmäßig ist. Eine sichere Wirtschaftsordnung ist zum Beispiel nicht nur
abhängig von sicheren Handelswegen und dem entsprechenden Zugang zu
Ressourcen und Märkten, sondern auch vom sozialen Frieden im Inneren, der
wiederum auf sozialer Sicherheit und dem Schutz des Arbeitsplatzes basiert.
Ähnlich hängt ökologische Sicherheit von nationalen und internationalen
Umweltstandards ab, aber auch konkret von der technischen Sicherheit großer
Industrieanlagen, die, wie im Falle der Reaktorsicherheit, wiederum im
Zusammenhang mit der Frage der Energiesicherheit diskutiert werden muss.
Schließlich betreffen die Probleme des Terrorismus sowohl die nationale als
auch die internationale Sicherheit und erfordern die Integration militärischer,
polizeilicher und politischer Sicherheitsstrategien zu ihrer Bekämpfung.
Diese Verschränkung unterschiedlicher Sicherheitsaspekte macht es zunehmend notwendig, jenseits der herkömmlichen Kategorien über die Bedingungen von Sicherheit nachzudenken und sowohl die Wissensbestände
unterschiedlicher akademischer Disziplinen, zum Beispiel der Technikwissenschaften oder der Geistes- und der Sozialwissenschaften, als auch die
Erfahrungen unterschiedlicher Praxisbereiche, wie der Polizeiarbeit, der
3 Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: APuZ 50. 2010, S. 9 – 16; Hermann
Lübbe, Sicherheitskultur und Unsicherheitserfahrung in der modernen Gesellschaft, in:
Hugo Tschirky u. Andreas Suter (Hg.), Wieviel Sicherheit braucht der Mensch?, Zürich
1989, S. 5 – 29.
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
389
Verteidigungspolitik und der Wissenschaft, zu integrieren. Sicherheitsforschung konstituiert sich in diesem Sinne als interdisziplinäres und transdisziplinäres Forschungsprogramm, das sowohl theorie- als auch praxisorientiert
die Ursachen von Unsicherheit und die Bedingungen der Sicherheit technischer und sozialer Funktionszusammenhänge analysiert.
Auch die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahren mit Konferenzen und Publikationen verstärkt im Feld der Sicherheitsforschung engagiert.4
Die hier vorgelegten Beiträge wurden als Vorträge auf dem 48. Deutschen
Historikertag 2010 in Berlin auf dem Panel „Grenzen der Sicherheit, Grenzen
der (Spät-)Moderne?“ vorgestellt. Wenn in diesem Rahmen einem Sozialwissenschaftler die Möglichkeit gegeben wird, aus politikwissenschaftlicher
Perspektive die historische Sicherheitsforschung zu kommentieren, dann
kann dies nicht dem Abstecken forschungspolitischer Besitzansprüche,
sondern nur der Suche nach interdisziplinären Anschlussmöglichkeiten
dienen. Denn viel zu wenig werden bislang Forschungsergebnisse über die
Disziplinengrenzen hinweg wahrgenommen und noch weniger das interdisziplinäre Gespräch gesucht. In diesem Sinne will ich im Folgenden nach dem
spezifischen Beitrag der Geschichtswissenschaft zur Sicherheitsforschung
fragen und – aus einem durchaus disziplinär und persönlich geprägten
Blickwinkel – die Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinärer Zusammenarbeit beleuchten. Dabei werde ich auf die folgenden Beiträge exemplarisch
eingehen, ohne ihnen im Detail gerecht werden zu können.
I. Zum Verhältnis von sozialwissenschaftlicher und
historischer Sicherheitsforschung
In den Sozialwissenschaften haben der Sicherheitsbegriff und die verschiedenen Gegenbegriffe von jeher einen hohen Stellenwert. Schon früh wurde in
der Soziologie erkannt, dass mit „Sicherheit“ ein zentraler Wertbegriff als
Korrelat zum Freiheitsbegriff entstand, der sowohl die Bedingung als auch die
Beschränkung liberaler Gesellschaften markierte.5 Mit der Präzisierung der
Unsicherheit als Gefahr, Ungewissheit oder Risiko wurden zeitdiagnostische
Analysen verbunden, die den Umgang mit Unsicherheit und Sicherheit
4 Verwiesen sei hier nur auf drei Themenhefte historischer Fachzeitschriften: Barbara
Lüthi u. Patricia Purtschert (Hg.), Sicherheit und Mobilität – Scurit et mobilit,
Traverse. Zeitschrift für Geschichte/Revue d’histoire 16. 2009; Rüdiger Graf u. a. (Hg.),
The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History,
Historical Social Research 35. 2010; Jan-Holger Kirsch u. a. (Hg.), Sicherheit, Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7. 2010.
5 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem.
Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 19732.
390
Christopher Daase
sozialtheoretisch zum Strukturmerkmal moderner Gesellschaften erhoben.6
Im Anschluss daran werden bis heute gesellschaftliche Transformationsprozesse anhand sich wandelnder Sicherheitspraktiken beschrieben.7
In besonderem Maße fand die Sicherheitsproblematik in der Politikwissenschaft ein disziplinäres Zuhause. Dabei hat sich bis heute die Trennung von
innerer und äußerer Sicherheit erhalten. In der politikwissenschaftlichen
Systemforschung wird Sicherheit als innerstaatlicher Schutz vor Kriminalität
und Gewalt und als Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“ angesehen
und als ziviler Teil der Innenpolitik begriffen.8 In den Internationalen
Beziehungen wird demgegenüber Sicherheit traditionell als Schutz vor
externer, zumeist militärischer Bedrohung verstanden und Sicherheitspolitik
folglich als Teil der Außenpolitik konzeptualisiert.9 Vor allem in den Internationalen Beziehungen galt Sicherheit lange als das alles dominierende
Kernthema, so dass sich – insbesondere in den Vereinigten Staaten – mit
den Security Studies eine akademische Subdisziplin bildete, die den Sicherheitsdiskurs weitgehend monopolisierte.10 Schon in den 1950er Jahren hatte
6 Adalbert Evers u. Helga Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung
der Gestaltbarkeit von Gesellschaft, Frankfurt 1987; Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf
dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986; Niklas Luhmann, Soziologie des
Risikos, Berlin 1991.
7 Vgl. die Beiträge in Axel Groenemeyer (Hg.), Wege der Sicherheitsgesellschaft.
Gesellschaftliche Transformationen der Konstruktion und Regulierung innerer Unsicherheiten, Wiesbaden 2010; Fritz Böhle u. Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter
Unsicherheit, Wiesbaden 2009; Ulrich Bröckling u. a. (Hg.), Sichtbarkeitsregime.
Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Sonderheft Leviathan 25.
2010; Matthias Bohlender u. a. (Hg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit
Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010; Rita Haverkamp u. a. (Hg.), Zivile Sicherheit.
Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken, Bielefeld 2011;
Christopher Daase u. a. (Hg.), Sicherheitskultur. Gesellschaftliche Praktiken der
Gefahrenabwehr, Frankfurt 2012.
8 Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit. Grundlagen,
Praxis und Kritik, Opladen 1991; Hans-Jürgen Lange, Innere Sicherheit im politischen
System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1999; ders. u. a. (Hg.), Auf der Suche
nach neuer Sicherheit. Fakten, Theorien und Folgen, Wiesbaden 20092.
9 Daniel Frei, Sicherheit. Grundfragen der Weltpolitik, Stuttgart 1977; Helga Haftendorn,
Sicherheit und Entspannung. Zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland,
1955 – 1982, Baden-Baden 1983; Stephan Böckenförde u. Sven Bernhard Gareis (Hg.),
Deutsche Sicherheitspolitik. Herausforderungen, Akteure und Prozesse, Opladen 2009.
10 Helga Haftendorn, The Security Puzzle. Theory-Building and Discipline Building in
International Security, in: International Studies Quarterly 35. 1991, S. 3 – 17; Barry
Buzan, People, States and Fear. An Agenda for International Security Studies in the PostCold War Era, Boulder 1991; Stephen M. Walt, The Renaissance of Security Studies, in:
International Studies Quarterly 35. 1991, S. 211 – 239; Ole Wæver u. Barry Buzan, After
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
391
John Herz das sogenannte „Sicherheitsdilemma“ identifiziert, nach dem das
Sicherheitsstreben des einen Staates die Sicherheit des anderen herabsetzt und
Unsicherheit auf diese Weise im internationalen System endemisch werde.11
Die Theoretiker der sogenannten Realistischen Schule erhoben in der Folge
das Sicherheitsdilemma zum Strukturmerkmal internationaler (und interethnischer) Politik,12 und Generationen von Politikwissenschaftlerinnen und
Politikwissenschaftlern arbeiteten sich an der „Null-Hypothese“ ab, die davon
ausgeht, dass internationale Organisationen und andere Kooperationsformen
keine unabhängige Wirkung auf die internationale Politik hätten, weil das
Sicherheitsbedürfnis Staaten dazu zwinge, egoistisch auf ihre relative Machtposition im internationalen System zu achten und Abhängigkeiten zu
vermeiden.13
Dabei wurde Sicherheit zumeist essentialistisch definiert, als gleichsam
natürliches, vom internationalen Selbst-Hilfe-System diktiertes Bedürfnis
der Staaten nach Souveränität und Selbstbestimmung und nicht selten
normativ als nicht zu hinterfragende Zweckbestimmung nationaler Interessenspolitik überhöht.14 Aber auch noch die zahlreichen „Erweiterungsrunden“ des Sicherheitsbegriffs in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren
wurden damit begründet, dass es die unabweisbare Bedeutung ökonomischer Interessen sei, die Dringlichkeit ökologischer Probleme oder die
Dramatik humanitärer Katastrophen, die ein erweitertes Verständnis von
11
12
13
14
15
the Return to Theory. The Past, Present, and Future of Security Studies, in: Alan Collins
(Hg.), Contemporary Security Studies, Oxford 2007, S. 383 – 402.
John Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, in: World Politics
2. 1950, S. 157 – 180.
Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, New York 1979; Michael Mandelbaum, The Fate of Nations. The Search for National Security in the Nineteenth and
Twentieth Centuries, Cambridge 1988; Barry R. Posen, The Security Dilemma and
Ethnic Conflict, in: Michael E. Brown (Hg.), Ethnic Conflict and International Security,
Princeton 1993, S. 103 – 124; David A. Baldwin, The Concept of Security, in: Review of
International Studies 23. 1997, S. 5 – 26.
Robert O. Keohane u. Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in
Transition, Boston 1977; Robert O. Keohane (Hg.), Neorealism and Its Critics, New York
1986; Joseph M. Grieco, Anarchy and the Limits of Cooperation. A Realist Critique of the
Newest Liberal Instituionalism, in: International Organization 42. 1988, S. 487 – 507.
Stephen D. Krasner, Defending the National Interest. Raw Materials Investments and
U.S. Foreign Policy, Princeton 1978; Richard Smoke, National Security and the Nuclear
Dilemma, New York 1987.
Vgl. z. B. Jessica Tuchman Mathews, Redefining Security, in: Foreign Affairs 68. 1989,
S. 162 – 177; Walter F. Mondale, Beyond Dtente. Toward International Economic
Security, in: Foreign Affairs 53. 1974, S. 1 – 23; Norman Myers, Environment and
Security, in: Foreign Policy 74. 1989, S. 23 – 41; Lloyd Axworthy, Canada and Human
Security. The Need for Leadership, in: International Journal 52. 1997, S. 183 – 196.
392
Christopher Daase
Sicherheit erfordere.15 „Wirkliche“ Sicherheit sei eben nur als wirtschaftliche, ökologische oder menschliche Sicherheit denkbar.
Erst mit der konstruktivistischen Wende in den Internationalen Beziehungen
und der Entstehung einer kritischen sicherheitspolitischen Forschung entstand ein Bewusstsein für die historische Kontingenz des Sicherheitsbegriffs
und die soziale Konstruiertheit von Sicherheit und Unsicherheit.16 Gleichwohl
zielt die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung, und zumal die politikwissenschaftliche, auf theoretische Aussagen, die auf mehr als einen Fall
Anwendung finden. Dazu zählen verallgemeinerungsfähige Beobachtungen
(wie über das Verhalten in Krisensituationen), vergleichende Typologien (zum
Beispiel über Formen des Krieges), kausale Ursache-Wirkungs-Verhältnisse
(etwa über die Entstehung von Terrorismus) und abstrakte Modelle (beispielsweise über die Kooperationsbereitschaft von Konfliktparteien).
Die mit der sozialwissenschaftlichen Theorieorientierung in Kauf genommene
begriffliche Abstraktion und empirische Generalisierung sind – nicht nur von
Historikern – immer wieder kritisiert worden.17 Das Denken in Paradigmen,
die Verwendung generischer Begriffe und die Fokussierung auf möglichst
hohe Fallzahlen drohe den Blick für die Komplexität politischer Konstellationen zu verstellen und Erkenntnisse von einer Allgemeinheit zu produzieren,
die banal oder irreführend sei. Insbesondere in Hinsicht auf das Ende des
Kalten Krieges ist den Internationalen Beziehungen Versagen vorgeworfen
und die Schwäche politikwissenschaftlicher Prognosefähigkeit mit der Stärke
historischer Rekonstruktion kontrastiert worden.18 Freilich ist weder die
Fähigkeit zur Vorhersage das entscheidende Kriterium politikwissenschaftlicher Theoriebildung, noch ist die retrospektive Gewissheit historischer
Analyse ein Ersatz für policy theory, das heißt für das auf praktische
Bewältigung politischer Probleme orientierte theoretische Wissen der Polito16 Ole Wæver, Security The Speech Act. Analysing the Politics of a Word, in: Copenhagen
Centre for Peace and Conflict Research, Working Paper 19. 1989; Christopher Daase,
Sicherheitspolitik und Vergesellschaftung. Ideen zur theoretischen Orientierung der
sicherheitspolitischen Forschung, in: ders. u. a. (Hg.), Regionalisierung der Sicherheitspolitik, Baden-Baden 1993, S. 39 – 64; Peter Katzenstein (Hg.), The Culture of
National Security. Norms and Identity in World Politics, New York 1996; Barry Buzan u.
Ole Wæver, (Hg) Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998; Raymond
Duvall u. a. (Hg.), Cultures of Insecurity. States, Communities, and the Production of
Danger, Minneapolis 1999.
17 Albert O. Hirschman, The Search for Paradigms as a Hinderance to Unterstanding, in:
World Politics 22. 1970, S. 329 – 343; Charles Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge
Comparisons, New York 1984.
18 John Lewis Gaddis, International Relations Theory and the End of the Cold War, in:
International Security 17. 1992, S. 5 – 58; ders., We Now Know. Rethinking Cold War
History, Oxford 1997; Richard Ned Lebow u. Thomas Risse-Kappen (Hg.), International
Relations Theory and the End of the Cold War, New York 1997.
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
393
logie.19 Und doch ist es nicht verkehrt, den Sozialwissenschaften insgesamt
eine gewisse Neigung zum Unhistorischen vorzuwerfen und den Hang zu
kritisieren, mit jeder vermeintlichen Neuigkeit – seien es „Neue Kriege“, „Neue
soziale Bewegungen“, oder „Neue Diplomatie“ – ein neues Zeitalter auszurufen. Da ist es gut, dass die Geschichtswissenschaft die Kontinuitäten sieht und
die longue dure im Blick hat. Andererseits ist die zeitdiagnostische Zuspitzung aktueller Trends und ihre prononcierte Absetzung von Bekanntem eine
wichtige Funktion der Sozialwissenschaften, die sich – stärker als die
Geschichtswissenschaft – auch immer in einem Rechtfertigungszwang sieht,
sozial und politisch „relevante“ Erkenntnisse zu liefern.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, worin der spezifische Beitrag der
Geschichtswissenschaft zur Sicherheitsforschung liegen kann, in welchem
Verhältnis das historische zum sozialwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse
steht und in welchem Maße sich beide Disziplinen hinsichtlich ihrer Konzepte,
Theorien und Methoden voneinander abgrenzen oder aufeinander zubewegen
sollten. Dabei scheint sich in der sicherheitspolitischen Debatte eine alte
Diskussion zu wiederholen, in der sich nicht nur Sozialwissenschaften und
Geschichtswissenschaft, sondern auch theorieorientierte und idiographische
Ansätze innerhalb dieser Disziplinen gegenüberstehen. Denn nach wie vor gibt
es nicht nur die von Gilbert Zibura 1990 in dieser Zeitschrift identifizierte
„Entfremdung der Geschichtswissenschaft von den Sozialwissenschaften“,
sondern auch die „kämpferisch zur Schau gestellte Theoriefeindlichkeit“
insbesondere konservativer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in
beiden Fächern, die Ziburas Meinung nach auf einen „fächerübergreifenden
idiologischen Konsens“ schließen lasse.20
So hat Andreas Rödder unlängst die politikwissenschaftliche Diskussion über
den Einfluss gesellschaftlicher Akteure auf die deutsche Sicherheitspolitik
einer historischen Generalkritik unterzogen und vor der Übernahme sozialwissenschaftlicher Konzepte in die Geschichtswissenschaft gewarnt.21 Das
Beispiel des NATO-Doppelbeschlusses zeige, dass „die empirischen Befunde
der Theorie beziehungsweise dem apriorischen Postulat von der gesellschaftlichen Bedingtheit von Außenpolitik“ widersprechen und die „herkömmlichen Wege philologisch-hermeneutischer Interpretation“ zu einer „wider19 Alexander L. George u. Richard Smoke, Theory for Policy in International Relations, in:
dies. (Hg.), Deterrence in American Foreign Policy. Theory and Practice, New York 1974,
S. 616 – 642; Alexander L. George, Bridging the Gap. Theory and Practice in Foreign
Policy, New York, 1993; Stephen M. Walt, The Relationship Between Theory and Policy
in International Relations, in: Annual Review of Political Science 8. 2005, S. 23 – 48.
20 Vgl. Gilbert Zibura, Die Rolle der Sozialwissenschaften in der westdeutschen Historiographie der internationalen Beziehungen, in: GG 16. 1990, S. 79 – 103, hier S. 84.
21 Andreas Rödder, Sicherheitspolitik und Sozialkultur. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Geschichtsschreibung des Politischen, in: Hans-Christof Kraus u. Thomas
Nichlas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 95 – 125.
394
Christopher Daase
spruchsfreieren Erklärung [kommen] als neue Theorien und Modelle“. Hier ist
nicht der Ort, die politikwissenschaftlichen Studien im Detail zu verteidigen,
doch muss darauf hingewiesen werden, dass die ideographische Kritik der
nomothetischen Zielrichtung dieser Forschung möglicherweise nicht gerecht
wird. In diesem Zusammenhang wäre nämlich kritisch nach der Rolle des
Einzelfalls „NATO-Doppelbeschluss“ in Rödders Argumentation zu fragen, die
vermutlich ganz anders ausfallen müsste, wenn man auch die Ablehnung der
Bundesregierung, sich am Irakkrieg 2003 zu beteiligen und die Weigerung
2011, die libyschen Rebellen gegen Gaddafi zu unterstützen, als weitere Fälle
berücksichtigen würde.
Der „Ideologieverdacht“,22 unter den Rödder liberale Ansätze Internationaler
Beziehungen stellt, also solche, die innenpolitische Faktoren zur Erklärung
von Außenpolitik geltend machen,23 lässt ihn auch vor einer stärkeren
interdisziplinären Kooperation warnen. Denn die Neigung der Geschichtswissenschaft, sich an politikwissenschaftlichen Ansätzen zu orientieren,
schlage sich
in konkreter Unklarheit über Begriff und Gegenstand des Politischen und einem Mangel an
probaten, genügend umfassenden und zugleich präzisen Konzepten nieder, zumal politikwissenschaftliche Ansätze in historischer Perspektive oftmals kaum anwendbar sind oder
sich als empirisch unzureichend herausstellen.24
Es muss an dieser Stelle gewiss nicht betont werden, dass der Paradigmenstreit
über die Rolle gesellschaftlicher Akteure in der Sicherheitspolitik keine
politikwissenschaftliche Erfindung ist, sondern ihren Ausgang in der geschichtswissenschaftlichen Debatte um den Primat der Außen- oder Innenpolitik nahm.25 Auch ist hervorzuheben, dass in der Politikwissenschaft längst
komplexere Modelle zur Analyse des Zusammenwirkens von innen- und
außenpolitischen Faktoren existieren, die geeignet sind, den unproduktiven
Paradigmenstreit zu überwinden.26 Gleichwohl ist die Forderung Rödders
sicher ernst zu nehmen, dass
22 Rödder, Sicherheitspolitik, S. 107.
23 Vgl. Thomas Risse-Kappen, Public Opinion, Domestic Structure, and Foreign Policy in
Liberal Democracies, in: World Politics 43. 1991, S. 479 – 512; Andrew Moravcsik,
Taking Preferences Seriously. A Liberal Theory of International Politics, in: International Organization 51. 1997, S. 513 – 553; Siegfried Schieder, Neuer Liberalismus, in:
ders. u. Manuela Spindler (Hg.), Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen
2003, S. 169 – 198.
24 Rödder, Sicherheitspolitik, S. 110. Eine ähnliche Argumentation findet sich bereits bei
Andreas Hillgruber, Methodologie und Theorie der Geschichte der internationalen
Beziehungen, in: GWU 27. 1976, S. 193 – 210.
25 Vgl. Zibura, Die Rolle der Sozialwissenschaften, bes. S. 85 – 94.
26 Zu erwähnen wären hier etwa die Arbeiten im Anschluss an Robert Putnam, Diplomacy
and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, in: International Organization
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
395
Theorien, Modelle und Zugänge anderer Disziplinen […] für ihre geschichtswissenschaftliche Verwendung kritisch daraufhin abzuwägen [sind], ob sie als konkrete inhaltliche
Beschreibungen mit den Quellen vereinbar und diachron anschlussfähig sind und ob solche
aus anderen Disziplinen und wissenschaftlichen Zusammenhängen entnommenen Konzepte auf andere historische Kontexte übertragbar sind.27
In dieser Hinsicht ist Eckart Conze weitaus optimistischer als Andreas Rödder
und kommt folglich zu einer positiveren Einschätzung des Verhältnisses von
Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften. Conze tritt für eine „moderne Politikgeschichte“ ein und glaubt mit dem Sicherheitsbegriff eine
analytische Leitkategorie gefunden zu haben, mit der eine „auf Staat und
Regierung, auf Staats- und Regierungshandeln und auf Entscheidungen
fixierte […] Politikgeschichte“ überwunden werden kann.28 Dabei wird
ausdrücklich auf sozial- und kulturwissenschaftliche Begriffe und Methoden
zurückgegriffen, die erlauben sollen, den Wandel von Sicherheitsbegriffen und
Sicherheitsverständnissen zu rekonstruieren:
Sicherheit ist also eine zutiefst historische Kategorie, die Aufschluss verspricht über den
geschichtlichen Wandel, der mit der Veränderung von Sicherheitsbedürfnissen und dem
damit korrespondierenden Sicherheitsbewusstsein eng verschränkt ist.29
Dieser Ausgangsintuition sind auch die drei folgenden Aufsätze verpflichtet.
Auf unterschiedliche Weise versuchen sie, Kontinuität und Wandel von
Unsicherheitswahrnehmung und Sicherheitsgewährleistung zu analysieren,
um das Verständnis historischer Epochen und Epochenbrüche zu schärfen –
oder zu erschüttern. Sie bedienen sich dabei auf unterschiedliche Weise
sozialwissenschaftlicher Begriffe und Methoden und setzen sich kritisch mit
politikwissenschaftlichen und soziologischen Theorien auseinander.
42. 1988, S. 427 – 460 oder die Versuche, die konstruktivistische Idee der Kodeterminiertheit von Akteur und Struktur in der Außenpolitikforschung umzusetzen, vgl.
Walter Carlsnaes, The Agency-Structure Problem in Foreign Policy Analysis, in:
International Studies Quarterly 36. 1992, S. 245 – 270.
27 Rödder, Sicherheitspolitik, S. 123.
28 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 53. 2005, S. 357 – 380.
29 Ders., Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von
1949 bis in die Gegenwart, Berlin 2009, S. 17.
396
Christopher Daase
II. Die Historisierung von Sicherheit
Die Historisierung des Sicherheitsbegriffs, wie sie von Eckart Conze vorgeschlagen wurde, ist kompatibel mit konstruktivistischen und diskurstheoretischen Arbeiten zur Sicherheitspolitik in den Sozialwissenschaften.30 Sie geht
aber insofern über diese hinaus, als – zumindest potentiell – der üblicherweise
knappe Zeitrahmen politikwissenschaftlicher Analysen (nämlich die Nachkriegszeit oder maximal das 20. Jahrhundert) überschritten wird und dadurch
größere Zeiträume untersucht und Epochen verglichen werden können. Die
Wandelbarkeit dessen, was als schutzbedürftig angesehen wird, und der Wandel
von Strategien, die für diesen Schutz für zweckmäßig gehalten werden, wird in
zeithistorischen und begriffsgeschichtlichen Analysen greifbar. Werner Conze
hatte bereits Mitte der 1980er Jahre die vielfältigen Bedeutungen des Sicherheitsbegriffs in einem großen historischen Bogen beschrieben.31 Hier setzen
neuere begriffsgeschichtliche Analysen an und konzentrieren sich entweder auf
die aktuelle Erweiterung des Sicherheitsbegriffs oder gehen weiter zurück, um
Begriffsdyaden oder semantische Felder in ihrer historischen Entwicklung zu
rekonstruieren.32 Dabei ergibt sich für eine historische Semantik des Politischen
die interessante interdisziplinäre Fragestellung, wie sich Erwartungshorizonte
und Gestaltungsspielräume der Sicherheitspolitik nicht nur durch Begriffswandel, sondern auch durch die Verschiebung von Begriffsbeziehungen, zum
Beispiel zwischen Sicherheit und Freiheit, Frieden und Sicherheit oder Sicherheit und Gewissheit, verändert haben und verändern.
1. Sicherheit und Staatlichkeit
Dabei werden Sicherheit und Sicherheitspolitik in der Regel als spezifisch
moderne Phänomene angesehen und mit der Entstehung von Nationalstaaten,
der rationalen Kalkulation von Gefahren und einem wachsenden Sicherheits30 Vgl. z. B. Ronnie Lipschutz, On Security, New York 1995; Keith Krause u. Michael C.
Williams (Hg.), Critical Security Studies, Minneapolis 1997; Lene Hansen, Security as
Practice. Discourse Analysis and the Bosnian War, London 2006.
31 Werner Conze, Art. Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches
Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, hg. v. Otto Brunner u. a.,
Stuttgart 1984, S. 831 – 862.
32 Vgl. Ole Wæver, Peace and Security. Two Evolving Concepts and Their Changing
Relationship, in: Globalization and Environmental Challenges (Hexagon Series on
Human and Environmental Security and Peace) 3. 2008, S. 99 – 111; Christopher Daase,
National, Societal, and Human Security. On the Transformation of Political Language,
in: Historical Social Research 35. 2010, S. 22 – 37; Karl Härter, Sicherheit und Frieden im
frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und
Friedensordnung 1648 – 1806, in: ZHF 30. 2003, S. 413 – 431; Andrea Schrimm-Heins,
Gewissheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandels der Begriffe certitudo
und securitas, Bayreuth 1990.
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
397
bedürfnis säkularisierter Gesellschaften in Zusammenhang gebracht.33
„Zumal aus der Optik der Sozial- und Geschichtswissenschaft,“ so Emil
Angehrn, „präsentiert sich die uns vertraute Sicherheitskultur als Spätprodukt: Mag das Sicherheitsstreben eine anthropologische Konstante sein, so
bildet seine auffallende Steigerung (und zunehmende Aporetik) einen zu
interpretierenden Befund“.34 Zweifellos trifft zu, dass sich der Begriff „Sicherheit“ im Sinne von securitas erst seit dem 16. Jahrhundert durchsetzt. Doch hat
schon Karl Härter darauf hingewiesen, dass sich bereits vor Etablierung des
Nationalstaates Friedens- und Sicherheitsfunktionen zu differenzieren begannen. Am Beispiel des Alten Reiches zeigt Härter, dass selbst ein politisches
Gebilde wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das nicht bruchlos
in die europäische Staatenbildung eingegliedert werden kann sondern eher für
eine abgebrochene Entwicklungslinie steht, zur konzeptionellen Differenzierung von Frieden und Sicherheit beziehungsweise innerer und äußerer
Sicherheit beigetragen hat. Damit werde deutlich, dass es sich „bei Frieden und
Sicherheit um historisch veränderbare diskursive Produkte und Wertideen
[handelt], die sich aber durchaus in konkreter Sicherheits- bzw. Friedenspolitik manifestieren können“.35
In diesem Sinne werden auch in einem jüngst erschienenen Sammelband
Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskurse als Ordnungsdiskurse verstanden […], in denen sich
Gesellschaften über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verständigen und in denen
Konzeptionen von gut und böse, gesund und krank, richtig und falsch verhandelt werden.36
Dabei lasse sich eine Differenzierung des Sicherheitsbegriffs beobachten:
einerseits die Sicherheit des Bürgers vor unerlaubten Zugriffen auf seine Person, sein
Eigentum und seine Rechte und andererseits die Sicherheit des Staates sowie seiner Organe
und Amtsträger vor unerlaubten Eingriffen seiner Bürger und Fremder. Während das erste
33 Vgl. etwa Wolfgang Bonß, (Un-)Sicherheit in der Moderne, in: Rita Haverkamp u. a.
(Hg.), Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken, Bielefeld 2011, S. 43 – 69; Wolfgang Bonß u. a., Die Konstruktion von Sicherheit in
der reflexiven Moderne, in: ders. u. Ulrich Beck (Hg.), Die Modernisierung der
Moderne, Frankfurt 2001, S. 147 – 158; Simon Dalby, Security, Modernity, Ecology. The
Dilemmas of Post-Cold War Security Discourse, in: Alternatives 17. 1992, S. 95 – 134;
Peter L. Bernstein, Wider die Götter. Die Geschichte der modernen Risikogesellschaft,
München 1997; Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der
Moderne, Hamburg 1995.
34 Emil Angehrn, Das Streben nach Sicherheit. Ein politisch-metaphysisches Problem, in:
Heinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann (Hg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt
1993, S. 218 – 243, hier S. 218 f.
35 Härter, Sicherheit und Frieden, S. 415.
36 Karl Härter u. a. (Hg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit.
Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt 2010,
S. 1.
398
Christopher Daase
Thema die Beziehungen der Bürger oder Untertanen untereinander oder das Verhältnis zu
fremden Obrigkeiten berührt, geht es beim zweiten um die Beziehung zwischen Staat und
Bürgern und damit um die Grundfesten staatlicher Macht.37
Auch hier wird also letztlich Sicherheit und die Differenzierung von Sicherheitspolitik und Sicherheitsinstitutionen in den Entwicklungsrahmen moderner Staatlichkeit gestellt.
Steffen Patzold geht mit seinem Beitrag einen bedeutenden Schritt weiter,
indem er sich einerseits vom Begriff „Sicherheit“ als historischem Gegenstand
löst und andererseits mit Hilfe aktueller Begriffe aus der sozialwissenschaftlichen Sicherheitsforschung einen verfremdenden Blick auf die politischen
Praktiken des Frühmittelalters wirft. Sein Ziel ist es zum einen, die konzeptionelle Verbindung von Staatlichkeit und Sicherheitsgewährleistung zu
problematisieren und damit zum anderen die scharfe Unterscheidung von
Moderne und Vormoderne, die in der deutschen Mediävistik (aber eben auch
darüber hinaus) über die Existenz des Staates und seine Sicherheitsfunktionen
konzeptualisiert wird, in Frage zu stellen. Patzolds Kritik richtet sich dabei
sowohl gegen die Geschichtswissenschaft als auch gegen die Sozialwissenschaften. Der ersten wirft er vor, an einem überholten Kriterium für die
Unterscheidung von Moderne und Vormoderne festzuhalten und durch die
Abkopplung von den Sozialwissenschaften das Gespür für politische Veränderungen und konzeptionelle Innovationen verloren zu haben. Den zweiten
hält er entgegen, voreilig aus dem Bedeutungsverlust des Nationalstaates auf
eine Wiederkehr vormoderner Zustände zu schließen und damit abermals, ex
negativo, Staatlichkeit zum Kriterium effektiver Sicherheit zu machen. Durch
die aktuellen politischen Veränderungen durch Globalisierung und Denationalisierung verliere aber nicht nur der Staat an Bedeutung, sondern auch die
Unterscheidung von Vormoderne und Moderne an Plausibilität:
Was um 1900 als ,moderner Staat‘ definiert worden ist, eignet sich heute, weil es auch für
unsere Gegenwart inadäquat geworden ist, nicht mehr ohne weiteres als Kriterium, über das
sich die Andersartigkeit einer ,Vormoderne‘ oder eines ,Mittelalters‘ konturieren ließe.38
Immerhin räumt Patzold ein, dass die Politikwissenschaft in jüngster Zeit mit
konzeptionellen Innovationen auf die Phänomene sicherheitspolitischer
Globalisierung und den Wandel von Staatlichkeit reagiert habe. Allerdings
sei die sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit häufig inadäquat und politisch
umstritten. Human Security sei zum Beispiel bislang eher ein politischer
Kampfbegriff als eine analytische Kategorie. Mit Blick auf die Maßnahmen
Karls des Großen gegen die Hungersnot von 779 zeigt Patzold, dass Sicherheitsgewährleistung im Mittelalter weniger auf menschliche Sicherheit im
37 Ebd., S. 10.
38 Vgl. den Beitrag von Patzold in diesem Heft, S. 416.
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
399
Sinne optimaler Ressourcenallokation gerichtet war, als darauf, das Verhältnis
zwischen Gott und den Menschen wieder herzustellen. Daraus schließt er :
Wer behaupten wollte, die Forderung nach Human Security bedeute eine Wiederkehr der
Vormoderne, weil die Sicherheitsdebatte damit ihren staatlichen Rahmen verliere, der übersähe,
wie unterschiedlich man über das Verhältnis von Körper und Seele nachdenken kann.39
Allerdings ist mir niemand bekannt, der behauptet, Human Security würde ins
Mittelalter zurückführen; im Gegenteil ist dieses Konzept dezidiert Teil eines
politischen und wissenschaftlichen Fortschrittsnarrativs, das unter kosmopolitischen Vorzeichen der Gewährleistung globaler Menschenrechte Vorrang
vor staatlicher Souveränität einräumt.40 Die Kritik an Human Security richtet
sich folglich auch nicht gegen den Verlust staatlicher Steuerungskompetenz,
sondern gegen begriffliche Unschärfe und die potentielle Überforderung
nationaler und internationaler Sicherheitsinstitutionen.41 Die Idee von Patzold
ließe sich gleichwohl aufnehmen und systematisieren. Über den Begriff
Human Security könnte dann problematisiert werden, was jeweils historisch
als grundlegende menschliche Bedürfnisse angesehen wurde und wie sich die
Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse gewandelt haben.
Um dabei nicht wieder in die konzeptionelle Falle zu treten, Sicherheit mit
Staatlichkeit zu identifizieren, empfiehlt Patzold den Begriff „Governance“,
der in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere in der Politikwissenschaft
gemacht hat.42 Zwar trifft auch auf den Governancebegriff zu, dass es keine
verbindliche Definition gibt und unterschiedliche konkurrierende Ansätze
39 Vgl. ebd., S. 420.
40 Vgl. etwa Lloyd Axworthy, Human Security and Global Governance. Putting People
First, in: Global Governance 7. 2001, S. 19 – 23; Tobias Debiel u. Sascha Werthes, Human
Security. Vom politischen Leitbild zum integralen Baustein eines neuen Sicherheitskonzeptes?, in: Sicherheit und Frieden 23. 2005, S. 20 – 25; Jacqueline Stein-Kaempfe,
Human Security. Völkerrechtliche Aspekte eines internationalen Sicherheitskonzeptes
zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Berlin 2008.
41 Vgl. Roland Paris, Human Security. Paradigm Shift or Hot Air, in: International Security
26. 2001, S. 87 – 102. Vgl. aber für einen Versuch der rigorosen Operationalisierung von
human security Gary King u. Christopher J. L. Murray, Rethinking Human Security, in:
Political Science Quarterly 116. 2001, S. 585 – 610.
42 Vgl. zum Governancebegriff allgemein Ernst-Otto Czempiel u. James Rosenau, (Hg.),
Governance Without Government. Order and Change in World Politics, Cambridge
1992; Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über
Stand und Entwicklungslinien, Baden-Baden 20082 ; Arthur Benz u. a. (Hg.), Handbuch
Governance, Wiesbaden 2007. Zu „Security Governance“ vgl. Elke Krahmann, Conceptualizing Security Governance, in: Cooperation and Conflict 38. 2003, S. 5 – 26;
Christopher Daase u. Stefan Engert, Global Security Governance. Kritische Anmerkungen zur Effektivität und Legitimität neuer Formen der Sicherheitspolitik, in:
Gunnar Folke Schuppert u. Michael Zürn (Hg.), Governance in einer sich wandelnden
Welt, Wiesbaden 2008, S. 475 – 498.
400
Christopher Daase
existieren. Aber er eröffnet die Möglichkeit, die Herstellung öffentlicher Güter
auch durch nicht-staatliche Akteure analytisch in den Griff zu bekommen. In
Bezug auf das Mittelalter wäre dann etwa
neu zu beschreiben, wie die Akteure Ende der 770er Jahre das kollektive Gut der Sicherheit
herzustellen suchten. Der Blick wäre also zu richten auf die Instrumente, mit denen sie
Gewalt einzudämmen trachteten und jenes Maß an gegenseitiger Erwartungsstabilität
herbeiführten, ohne das soziale Ordnung nicht sein kann.43
Die dabei von Patzold identifizierten Rituale und symbolischen Praktiken sind
allerdings keineswegs nur vormoderne Phänomene. Die Sicherheitsversprechen der Weltgemeinschaft im Rahmen der so genannten „UN-Millenniumsziele“44 oder die ökologischen Rettungspläne von Kyoto und Co. scheinen
jedenfalls kaum mehr Realitätsgehalt zu haben, als die Almosenverordnung
Karls des Großen;45 und die UNO-Schutzzonen in Bürgerkriegen bieten häufig
nicht mehr Sicherheit als Kaiser Barbarossas Schutzversprechen an die
Scholaren des Hochmittelalters.46 Insofern ergeben sich hier interessante
interdisziplinäre Perspektiven auf die Rolle von symbolischer Kommunikation
bei Sicherheits-Governance über die Jahrhunderte.
Nicht nur für die deutsche Mediävistik wäre damit viel gewonnen, wie Patzold
zeigt, sondern auch die Sozialwissenschaften würden präzisere Beschreibungen von „Semi-Souveränität“ und „begrenzter Staatlichkeit“ gewinnen, als sie
in der politikwissenschaftlichen Forschung bislang üblich sind.47 Die Zeit rein
staatlicher Sicherheitspolitik würde dabei historisch eingegrenzt und theoretisch relativiert werden. Nicht „Sicherheit“ als solche ist charakteristisch für
die Moderne, sondern eine normative Ordnung, in der eine spezifische Form
politischer Herrschaft – nämlich der Nationalstaat – für sich in Anspruch
nimmt, seine eigenen und die Sicherheitsbedürfnisse seiner Untertanen
bestimmen und autoritativ durchsetzen zu können. Die Auflösung dieser
Ordnung, das, was in den Sozialwissenschaften die „postnationale Konstellation“ genannt wird,48 ermöglicht es, die selbstverständliche Identifizierung
43
44
45
46
Vgl. den Beitrag von Patzold in diesem Heft, S. 421.
Vgl. die UN-Millenniumsziele, http://www.unric.org/html/german/mdg/index.html.
Vgl. http://unfccc.int/resource/docs/convkp/kpger.pdf.
Zu letzterem vgl. Stefanie Rüther, Sicherheit als Privileg. Möglichkeiten und Grenzen der
Sicherheitspolitik zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, Vortrag auf dem 48. Historikertag, Berlin 2010.
47 Vgl. etwa Robert Jackson, Quasi-States. Sovereignty, International Relations and the
Third World, Cambridge 1990; Stephen D. Krasner, Sovereignty. Organized Hypocracy,
Princeton 1999; Thomas Risse, Regieren in „Räumen begrenzter Staatlichkeit“. Zur
Reisefähigkeit des Governance-Konzeptes, in: Schuppert u. Zürn, Governance in einer
sich wandelnden Welt, S. 149 – 170.
48 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt 1998; Michael Zürn u.
Bernhard Zangl, Krieg und Frieden. Sicherheit in der nationalen und postnationalen
Konstellation, Frankfurt 2003.
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
401
von Sicherheit und Staatlichkeit aufzuheben und das Denken in starren
Epochenkategorien zu überwinden. Erst dann ist es möglich, wie Patzold zeigt,
„in weiter Diachronie historische Formen der Organisation von Macht und der
Herstellung von Sicherheit“ zu analysieren und den aktuellen Wandel von
Sicherheitsbedürfnissen und Sicherheitspolitik im Rahmen einer historischen
Governance-Forschung zu verstehen.
2. Sicherheit und Versicherbarkeit
Einen anderen Weg der Historisierung von Sicherheit wählen die Beiträge von
Cornel Zwierlein und Eckart Conze. Sie historisieren nicht politische Begriffe
(wie Human Security), sondern sozialwissenschaftliche Begriffe (nämlich
Versicherbarkeit und Versicherheitlichung), indem sie sie aus der engeren
soziologischen und politikwissenschaftlichen Verwendung befreien und auf
andere, ältere historische Zusammenhänge übertragen. Dabei verbindet
Zwierlein seinen Ansatz mit einer deutlichen Kritik an den Sozialwissenschaften, insbesondere der Risikosoziologie von Ulrich Beck. Obwohl der
Risikosoziologie und insbesondere der Rede von einer Zweiten Moderne „ein
prononciertes epochentheoretisches Narrativ“ unterlegt sei, könne man ein
echtes historisches Interesse nicht erkennen. Insbesondere der Begriff der
„Versicherbarkeit“, den Beck in Anlehnung an FranÅois Ewald zur Unterscheidung von Erster und Zweiter Moderne verwendet,49 eigne sich zwar
durchaus als Epochenindikator, nicht aber so, wie Beck ihn verwendet. Das
zeige eine historische Untersuchung des Versicherungswesens und die
Differenzierung unterschiedlicher Zeithorizonte. Neben dem operativen
Zeithorizont, in dem Menschen wirtschaften und Versicherer kalkulieren,
müsse nämlich ein zweiter, allgemeiner Zeithorizont des gesellschaftlich
Erwartbaren bedacht werden. Erst aus dem Verhältnis dieser Zeithorizonte
zueinander lasse sich ein Kriterium für Epochengrenzen entwickeln.
Tatsächlich zeigt Cornel Zwierlein in seinen Fallstudien zum Versicherungswesen, dass nicht überall dort, wo Versicherung nicht mehr möglich ist, auch
eine Epochengrenze überschritten wird. Darüber hinaus gelingt ihm durch die
Kombination der Zeithorizonte eine präzisere Bestimmung historischer
Epochen, die allerdings genau die Epochen sind, die auch der Beck’schen
Theorie zugrunde liegen. Zwierlein resümiert:
Vor diesem Hintergrund hat historisch wie wohl auch zeit- und allgemeinsoziologisch der
epochale Dreischritt Vormoderne, Moderne und dann, unter welcher genauen Bezeichnung
sei einmal dahingestellt, Post-, Spät- oder Zweite Moderne durchaus Sinn.50
Die Kritik, dass der Soziologe Beck sich für die historischen Details seiner
zeitdiagnostischen Behauptung nicht interessiere, kann insofern gemildert
49 FranÅois Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt 1993; Jochen Petin, Versicherung und
gesellschaftliche Risikoproblematik, St. Gallen 1992.
50 Vgl. den Beitrag Zwierlein in diesem Heft, S. 449.
402
Christopher Daase
werden, als der Historiker Zwierlein die geschichtswissenschaftliche Begründung für die sozialwissenschaftliche Intuition liefert.
Aber nicht nur das. Zwierleins Überlegungen zum Auseinandertreten von
operativem Planungshorizont und gesellschaftlichem Erwartungshorizont
könnten wichtige Anregungen für die Analyse aktueller Sicherheitsprobleme
geben. Der von ihm beschriebene „säkular-apokalyptische Horizont“, der
anders als in der Moderne die Zukunft eher geschlossen erscheinen lasse, wirkt
nämlich zurück auf den operativen Planungshorizont von wirtschaftlichen
und politischen Akteuren. Denn die Gefahren des Klimakollaps, der Ressourcenerschöpfung und der Atomkatastrophe mögen „zwar im Alltag nicht
sichtbar und spürbar“ sein, sie kreieren aber – nicht nur nach Katastrophen
wie in Fukushima – unmittelbaren Handlungsdruck für politische Entscheidungsträger und werden in der Gesellschaft zunehmend als Sicherheitsprobleme wahrgenommen, die politisches Handeln erfordern. Das gegenwärtige
Auseinanderklaffen von sicherheitspolitischen Forderungen von Seiten der
Gesellschaft und Fähigkeiten von Staaten und internationalen Organisationen,
diese zu befriedigen, mag auch in den unterschiedlichen Zeithorizonten
begründet sein, in denen unterschiedliche Akteure operieren.
Nicht nur die Sicherheitsgeschichte im Allgemeinen und die Versicherungsgeschichte im Besonderen, sondern auch die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung würde dabei von einer begrifflich genaueren Unterscheidung
von „Sicherheit“ und „Gewissheit“ profitieren, wobei sich Sicherheit auf die
Abwesenheit konkreter Gefahren oder Bedrohungen bezieht, während Gewissheit die verlässliche Fähigkeit ihrer kognitiven Erfassung betrifft. Sowohl
im Risikobegriff als auch im Begriff der Sicherheit werden aber diese beiden
Aspekte häufig vermengt. Die gegenwärtige Sicherheitsproblematik, so könnte
man nämlich argumentieren, ist nicht nur oder nicht in erster Line durch neue
(substantielle) Bedrohungen charakterisiert, sondern eher durch steigende
Unübersichtlichkeit und eine zunehmende (kognitive) Ungewissheit.51 Auch
wenn existentielle Unsicherheiten ständig reduziert werden und ein Großteil
der Risikoforschung argumentiert, Gefahren prinzipiell kalkulieren und damit
politisch handhabbar machen zu können, ist doch die Wahrnehmung in der
Gesellschaft verbreitet, dass die Unsicherheit zunimmt. Dieses Phänomen ist
häufig als das Auseinanderfallen von „objektiver“ und „subjektiver“ Sicherheit
beschrieben worden, wobei der ersten wissenschaftliche Rationalität und der
51 Michael Fitzsimmons, The Problem of Uncertainty in Strategic Planning, in: Survival
48. 2006/7, S. 131 – 146; Christopher Daase u. Oliver Kessler, Knowns and Unknowns in
the War on Terror. Uncertainty and the Political Construction of Danger, in: Security
Dialogue 38. 2007, S. 411 – 436. Allgemein zur Bedeutung von Ungewissheit in der
Politik Claudio Cioffi-Revilla, Politics and Uncertainty. Theory, Models and Application,
Cambridge 1998.
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
403
zweiten irrationale Unbeständigkeit zugeschrieben wird.52 Wichtiger aber als
die eine gegen die andere Form der Gefahrenwahrnehmung auszuspielen, ist
es, ihre jeweiligen Logiken und die politische Dynamik zu verstehen, die durch
ihre Inkongruenz entstehen. Die historische Versicherungsforschung könnte
hierzu einen wichtig Beitrag leisten, indem sie das Verhältnis der zu
versichernden Gegenstände und das Wissen um sie, also Sicherheit und
Gewissheit, explizit historisiert.
3. Sicherheit und Versicherheitlichung
Auch Eckart Conze weist darauf hin, dass der Wandel von Sicherheitsbegriffen,
Sicherheitsverständnissen und Sicherheitswahrnehmungen über die jüngste
Zeitgeschichte hinausreiche und die Sicherheitsforschung deshalb um eine
historische Komponente ergänzt werden müsse. Die Geschichtswissenschaft
könne dabei helfen deutlich zu machen, dass „unterschiedliche Gesellschaften,
aber auch unterschiedliche Gruppen in einer Gesellschaft […] – synchron und
diachron – höchst unterschiedliche Vorstellungen von Sicherheit – respektive
Unsicherheit“ haben. Zu diesem Zweck schlägt Conze vor, den politikwissenschaftlichen Begriff der „Versicherheitlichung“, wie er im Rahmen der
sogenannten Kopenhagener Schule entwickelt wurde,53 zu historisieren und
zur Analyse des Wandels von Sicherheitsvorstellungen zu nutzen. Die Stärke
des Versicherheitlichungsansatzes ist, dass er ein relativ einfaches Narrativ
bietet, wie und warum Phänomene (zum Beispiel Umweltzerstörung) zu
Sicherheitsproblemen werden: indem nämlich interessierte gesellschaftliche
Akteure (wie Umweltverbände oder Regierungsstellen) sie für sicherheitsrelevant erklären und damit außerordentliche Maßnahmen fordern oder
rechtfertigen. Die Bedingungen allerdings, unter denen solche securitization
moves erfolgreich sind, kann der Versicherheitlichungsansatz selber nicht
erklären, weil nach gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen gefragt werden müsste, die eine Gesellschaft dazu bringen, Versicherheitlichungsversuche zu unterstützen und zu akzeptieren.
Damit sind schon die Schwächen des Ansatzes angesprochen, die in den letzten
Jahren in der sozialwissenschaftlichen Sicherheitsforschung heftig diskutiert
wurden, in Conzes Aufsatz aber kaum reflektiert werden.54 Dabei wird
52 Christoph Gusy, Sicherheitskultur – Sicherheitspolitik – Sicherheitsrecht, in: Kritische
Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 93. 2010, S. 111 – 128;
Dina Hummelsheim u. a., Subjektive Unsicherheit, in: Christopher Daase u. a. (Hg.),
Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt
2012, S. 301 – 324.
53 Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Ronnie Lipschutz (Hg.), On
Security, New York 1995, S. 46 – 86; Barry Buzan u. a., Security. A New Framework for
Analysis, Boulder 1998.
54 Vgl. etwa Michael C. Williams, Words, Images, Enemies. Securitization and International Politics, in: International Studies Quarterly 47. 2003, S. 511 – 531; Thierry
404
Christopher Daase
kritisiert, dass der Ansatz einem starren, letztlich auf Staaten fixierten,
Akteursverständnis verhaftet bleibt und mit seiner sprechakttheoretischen
Ausrichtung komplexere Sprachhandlungen und Bedrohungsbilder nicht
angemessen beschreiben kann. Dies scheint auch die historische Anwendung
einzuschränken. Zwar sieht Conze das Potential, nicht nur staatliche Akteure,
sondern auch gesellschaftliche Gruppen als Versicherheitlicher in den Blick zu
nehmen, beschreibt Versicherheitlichung aber letztlich vor allem als Legitimationspolitik des Staates: „Sicherheit begründet Machtverhältnisse und
insbesondere staatliche Macht und Herrschaft.“ Auch wenn das historisch
gesehen nicht falsch ist, muss man doch betonen, dass in den letzten Jahren mit
dem Begriff Human Security genau das Gegenteil eingetreten ist: dass nämlich
über den Sicherheitsbegriff staatliche Macht geschwächt und Souveränität
eingeschränkt wird, indem die internationale Gemeinschaft – wer immer das
im konkreten Fall sein mag – ermächtigt wird, grundlegende Menschenrechte
notfalls mit militärischer Macht durchzusetzen. Nicht alle Versicherheitlichungsprozesse laufen also nach dem gleichen Muster und nach der gleichen
Logik ab. Um ein differenzierteres Bild der Versicherheitlichung zu zeichnen,
müsste man darüber hinaus wahrscheinlich die Fixierung auf den Sicherheitsbegriff aufgeben und eher semantische Felder und soziale Praktiken der
Sicherheit in den Blick nehmen. Hier ergäbe sich in Fortführung der Ideen von
Michel Foucault, den Conze zitiert, eine weitere Anknüpfung an die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung – etwa der sogenannten Pariser
Schule, die Sicherheitspolitik als Element von Gouvernementalität versteht
und im Zusammenhang mit dem Wandel des sozialen Feldes Sicherheit den
Wandel der Technologien des Regierens analysiert.55
III. Fazit
Die hier besprochenen Beiträge zur historischen Sicherheitsforschung wählen
verschiedene Wege zur Historisierung von Sicherheit. Dabei ergeben sich
unterschiedliche Probleme und Erkenntnismöglichkeiten einerseits und
unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die interdisziplinäre Sicherheitsforschung andererseits. Besonders schwierig scheint es zu sein, politische
Begriffe wie Human Security zu analytischen Begriffen zu machen und auf
andere Zeitkontexte anzuwenden. Die besondere Umstrittenheit dieser BeBalzacq, The Three Faces of Securitization. Political Agency, Audience and Context, in:
European Journal of International Relations 11. 2005, S. 171 – 201; Matt McDonald,
Securitization and the Construction of Security, in: ebd. 14. 2008, S. 563 – 587; Holger
Stritzel, Towards a Theory of Securitization. Copenhagen and Beyond, in: ebd. 13. 2007,
S. 357 – 383.
55 Vgl. etwa Didier Bigo, Security. A Field Left Fallow, in: Michael Dillon u. A.W. Neal (Hg.),
Foucault on Politics, Security and War, London 2008, S. 93 – 114.
ipabo_66.249.66.96
Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht
405
griffe verhindert die notwendige Loslösung vom Ursprungskontext und macht
eine Konzeptualisierung und Operationalisierung als wissenschaftliche Begriffe, die auch in anderen Kontexten Anwendung finden könnten, schwierig.
Gleichwohl können sie wie im Beitrag von Steffen Patzold Anregung sein, nach
den historischen Praktiken der Sicherheit zu fragen, die heute zum Beispiel
mit dem Begriff „menschliche Sicherheit“ beschrieben werden.
Weniger problematisch und wissenschaftlich ergiebiger scheint es zu sein,
Sicherheit zu historisieren, indem sozialwissenschaftliche Begriffe zur Analyse
gegenwärtiger Sicherheitsfragen auf andere historische Kontexte übertragen
werden, wie Cornel Zwierlein und Eckart Conze zeigen. Sowohl der Begriff der
„Versicherbarkeit“ als auch der der „Versicherheitlichung“ lassen sich nicht
nur auf aktuelle sondern auch historische Situationen beziehen und zur
Erklärung des Wandels im Umgang mit Sicherheit und Unsicherheit nutzen.
Dabei gewinnen beide – Sozialwissenschaften und Geschichtswissenschaft –
an analytischer Aussagekraft: die sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit erhält
historische Tiefe, indem etwa das Problem der Versicherbarkeit historisch
differenziert und der Prozess der Versicherheitlichung auch in anderen
historischen Konstellationen nachgewiesen wird. Damit erhöht sich die Zahl
der Beobachtungen und folglich die Aussagekraft der jeweiligen Theorie. Die
historische Sicherheitsforschung erhält dagegen generische Begriffe, die auf
größere Zeiträume angewendet werden können und einen innovativen
analytischen Zugriff jenseits traditioneller begrifflicher Festlegungen und
Epochengrenzen erlauben.
Am wenigsten umstritten dürfte freilich die hier nicht vertretene Historisierung
von Sicherheit durch die begriffsgeschichtliche Rekonstruktion sicherheitspolitischer Konzepte sein. Dabei kann auf unterschiedliche Traditionen der Begriffsgeschichte, conceptual history und Diskursanalyse zurückgegriffen werden, die
anschlussfähig an sozialwissenschaftliche Analyseverfahren sind. Die Begrenzung begriffsgeschichtlicher Analysen kann dabei dann überwunden werden,
wenn sicherheitspolitische Bedeutungsfelder, wie Varianten der Unsicherheit
oder Formen des Krieges, erschlossen oder die Veränderung von Begriffsdyaden,
wie Sicherheit und Freiheit oder Sicherheit und Frieden, analysiert und die
Möglichkeiten genutzt werden, von der Begriffsanalyse zur Analyse sicherheitspolitischer Praktiken überzugehen. Die hier besprochenen Aufsätze nutzen den
Dialog mit den Sozialwissenschaften in diesem Sinne und leisten einen Beitrag
zur Erforschung des historischen Wandels der Sicherheitskultur.56
Prof. Dr. Christopher Daase, Goethe-Universität Frankfurt, Exzellenzcluster
„Herausbildung normativer Ordnungen“, Senckenberganlage 31, D-60325
Frankfurt am Main
E-Mail: [email protected]
56 Christopher Daase, Sicherheitskultur. Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung
politischen und sozialen Wandels, in: Sicherheit und Frieden 29. 2011, S. 59 – 65.
Human Security, fragile Staatlichkeit und
Governance im Frühmittelalter
Zur Fragwürdigkeit der Scheidung von Vormoderne
und Moderne
von Steffen Patzold
Abstract: For a long time, medievalists have discussed whether there were states in
medieval Europe or not. German medievalists have got used to the idea that the
political order of medieval societies is not to be analyzed in terms of state, security, or
governance. The article argues that we should not push the medieval orders aside as
„premodern“, „strange“, or „alien“. Instead, the current shifts concerning the concepts of state, nation and security provide an opportunity to overcome the established
dichotomy of premodernity vs. modernity as a pattern of interpretation. Thus, different historical forms of the organization of power and the production of security
could be made accessible for present political debates.
I. Ein Fallbeispiel. Das regnum Francorum 778/79
Im Herbst des Jahres 778 dürften Karl, dem König der Franken, die Zeiten
wenig rosig erschienen sein. Ein Lichtblick mochte es sein, dass Hildegard,
seine Gemahlin, im Spätsommer des Jahres in Chasseneuil mit Zwillingen
niedergekommen war.1 Sonst aber stand es schlimm: Im Sommer hatte Karl
einen Feldzug über die Pyrenäen geführt. Das Unternehmen hatte vielversprechend begonnen, mit Siegen in Pamplona und Saragossa. Aber auf dem
Heimweg, am 15. August 778, griffen Basken in den Pyrenäen die Nachhut an
und rieben Karls Truppe auf. Viele Männer aus der engsten Umgebung des
Königs starben.2 Noch Jahrzehnte später formulierte ein fränkischer Annalist:
1 Astronomus, Vita Hludowici, hg. v. Ernst Tremp (= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Bd. 64), Hannover 1995, S. 279 – 556, hier c. 3, S. 288.
2 Vgl. den – späten – Bericht von Einhard, Vita Karoli, hg. v. Oswald Holder-Egger
(= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Bd. [25]), Hannover 1911, c. 9, S. 12 f. Die
zeitnahen Quellen sind konzis zusammengestellt bei Matthias Tischler, Tatmensch oder
Heidenapostel. Die Bilder Karls des Großen bei Einhart und im Pseudo-Turpin, in:
Klaus Herbers (Hg.), Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum PseudoTurpin (= Jakobus-Studien, Bd. 14), Tübingen 2003, S. 1 – 37, hier S. 21 f., Anm. 88;
dazu und zu den weiteren Ereignissen der Jahre 778/79 ausführlich Dieter Hägermann,
Karl der Große. Herrscher des Abendlandes, Berlin 2000, S. 163 – 166, zum Spanienfeldzug insbesondere auch Robert-Henri Bautier, La campagne de Charlemagne en
Espagne (778). La ralit historique, in: Bulletin de la Socit des Sciences, Lettres et
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 406 – 422
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
ipabo_66.249.66.96
Sicherheit und Staat im Frühmittelalter
407
„Der Schmerz über die empfangene Wunde überschattete im Herzen des
Königs den Großteil der Erfolge in Spanien“.3 Wie verheerend Karls Niederlage
war, kann man am besten daran ermessen, dass sich die Verfasser der
offiziösen Jahresberichte, die seit etwa 790 am Hof niedergeschrieben wurden,
eifrig bemühten, die Niederlage mit dem Mantel des Schweigens zu bedecken.4
Aber damit nicht genug: Am anderen Ende des Reiches nutzten sächsische
Gruppen die Niederlage der Franken aus. Schon seit 772 hatte Karl versucht, sie
militärisch zu unterwerfen und zum Christentum zu zwingen.5 Seine Erfolge
waren dürftig – und eben jetzt, nach seiner Niederlage in den Pyrenäen,
drangen sächsische Gruppen wieder bis zum Rhein vor und plünderten,
verheerten und verbrannten von Deutz aus südwärts bis zur Mosel die Höfe
und Siedlungen. Auch die neue Burg in Paderborn machten Sachsen dem
Erdboden gleich.6 Das war nicht irgendein Ort: Karl hatte Paderborn
programmatisch als neues fränkisches Machtzentrum in Sachsen errichten
und ausbauen lassen. In den zeitnahen Texten firmiert Paderborn unter dem
Namen „urbs Karoli“, „Karlsburg“; ein Wahrzeichen fränkischer Eroberung
war vernichtet.7 Eben in diesem Moment, im Herbst 778, blieb die Ernte so
3
4
5
6
7
Arts de Bayonne 135. 1979, S. 1 – 51; Helmut Brall-Tuchel, Das Herz des Königs. Karl der
Große, Roland und die Schlacht von Roncesvalles in den Pyrenäen am 15. August 778,
in: Gerd Krumeich u. Susanne Brandt (Hg.), Schlachtenmythen. Ereignis, Erzählung,
Erinnerung (= Europäische Geschichtsdarstellungen, Bd. 2), Köln 2003, S. 33 – 62, hier
S. 35 – 43.
Annales qui dicuntur Einhardi, hg. v. Friedrich Kurze (= MGH Scriptores rerum
Germanicarum, Bd. [6]), Hannover 1895, a. 778, S. 51/53: „Cuius vulneris accepti dolor
magnam partem rerum feliciter in Hispania gestarum in corde regis obnubilavit.“
Die Annales regni Francorum, hg. v. Friedrich Kurze (= MGH Scriptores rerum
Germanicarum, Bd. [6]), Hannover 1895, a. 778, S. 50, beenden ihren Bericht über das
Unternehmen mit dem beschönigenden Fazit, Karl sei „Pampilona destructa, Hispani
Wascones subiugatos, etiam et Nabarros, reversus in partibus Franciae“. In der
überarbeiteten Fassung der Annales qui dicuntur Einhardi, a. 778, S. 51, heißt es
dagegen offenherziger : „In hoc certamine plerique aulicorum, quos rex copiis
praefecerat, interfecti sunt, direpta impedimenta et hostis propter notitiam locorum
statim in diversa dilapsus est.“
Vgl. Annales regni Francorum, a. 772, S. 32/34.
Annales regni Francorum, a. 778, S. 52; vgl. auch die Annales Fuldenses, hg. v. Friedrich
Kurze (= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Bd. [7]), Hannover 1891, S. 1 – 135,
hier a. 778, S. 9 f., die von der Flucht der Fuldaer Mönche aus Angst vor marodierenden
Sachsen berichten. Zum Geschehen vgl. Karl Hengst, Die Ereignisse der Jahre 777/78
und 782. Archäologie und Schriftüberlieferung, in: Peter Godman u. a. (Hg.), Am
Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos „Karolus Magnus et Leo papa“ und der
Papstbesuch in Paderborn 799, Berlin 2002, S. 57 – 74, hier S. 60 – 66.
Vgl. Peter Johanek, Die Sachsenkriege Karls des Großen und der Besuch Papst Leos III.
in Paderborn 799 im Gedächtnis der Nachwelt, in: Westfälische Zeitschrift 150. 2000,
S. 211 – 233, hier vor allem S. 215 – 228 zur Zerstörung der Pfalz in Paderborn. Zur
408
Steffen Patzold
dürftig, dass eine Hungersnot unabwendbar wurde. Zum Jahr 779 vermerken
die „Lorscher Annalen“ dann in der Tat lapidar : „Großer Hunger und Sterben
in der Francia“.8 Mit fast den gleichen Worten melden es auch andere
Jahresberichte.9 Im Winter 778, spätestens im Frühjahr 779 bestand, was man
heute wohl „Handlungsbedarf“ nennen würde.
Karl verbrachte den Jahreswechsel 778/79 in der Pfalz Herstal bei Lüttich.10 Im
März 779 versammelte er dort einflussreiche Männer um sich, Bischöfe, Äbte,
Grafen und andere mehr. Ergebnis der Beratungen waren zwei Texte: Der eine
zielt auf Grundsätzliches, auf Strukturen. Er definiert eine neue, bessere
Ordnung. Dazu werden verschiedenste Punkte geregelt: Das Spektrum reicht
vom Verhältnis zwischen Metropolitansitzen und Suffraganen bis zum Verbot
von Gilden. Der Text ist in zwei verschiedenen Rezensionen in zahlreichen
Handschriften auch schon des 9. Jahrhunderts überliefert; das spricht dafür,
dass er vom Hof aus weit im Reich verbreitet wurde.11 Der zweite Text ist
deutlich kürzer. Er reagiert auf die drohende Hungersnot: Karl und seine
Ratgeber formulierten Sofortmaßnahmen, um die Katastrophe einzudämmen.
8
9
10
11
Bedeutung des Ortes auch Klemens Honselmann, Paderborn 777, Urbs Karoli:
Karlsburg, in: Westfälische Zeitschrift 130. 1980, S. 398 – 402; Karl Hauck, Paderborn,
das Zentrum von Karls Sachsen-Mission 777, in: Josef Fleckenstein u. Karl Schmid
(Hg.), Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden
und Schülern, Freiburg 1968, S. 91 – 140.
Annales Laureshamenses, hg. v. Georg Heinrich Pertz (= MGH Scriptores, Bd. 1),
Hannover 1826, S. 22 – 39, hier a. 779, S. 31: „Fames vero magna et mortalitas in
Francia.“
Vgl. z. B. die mit den Lorscher Annalen verwandten Annales Alamannici, Continuatio,
hg. v. Georg Heinrich Pertz (= MGH Scriptores, Bd. 1), Hannover 1826, S. 40 – 44, hier a.
779, S. 40; Annales Sangallenses breves, hg. v. Ildefons von Arx u. Georg Heinrich Pertz,
ebd., S. 64 f., hier a. 779, S. 64; Annales Augienses, hg. v. Georg Heinrich Pertz, ebd.,
S. 67 – 69, hier a. 779, S. 67; Annales Mosellani, hg. v. Johann Martin Lappenberg
(= MGH Scriptores, Bd. 16), Hannover 1859, S. 491 – 499, hier a. 779, S. 497.
Die Feier des Weihnachts- und des Osterfests in Herstal vermerken die Annales regni
Francorum, a. 779, S. 52: „Et celebravit supradictus clementissimus rex natalem
Domini in villa, quae dicitur Haristallio, et pascha similiter“. Am 13. März des Jahres
urkundete Karl in der Pfalz Herstal für das Kloster Hersfeld, am 27. März für
St-Germain-des-Prs: D Karl I. 121, hg. v. Engelbert Mühlbacher (= MGH Diplomata
Karolinorum, Bd. 1), Hannover 1906, S. 169 f., sowie ebd., Nr. 122, S. 170 f. (beide im
Original überliefert).
Er ist (schlecht) ediert als Capitulare Haristallense, ed. Alfred Boretius (= MGH
Capitularia, Bd. 1), Hannover 1883, Nr. 20, S. 46 – 51; zur Überlieferung vgl. Hubert
Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und
Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse (= MGH Hilfsmittel,
Bd. 15), München 1995, S. 1081, s.v. „Capitulare Haristallense“.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheit und Staat im Frühmittelalter
409
Auch dieser Text ist in immerhin mehr als zwanzig Codices überliefert, dürfte
also ebenfalls systematisch im Reich bekannt gemacht worden sein.12
II. Grenzen der Sicherheit – Grenzen historischer Epochen?
Die Situation von 778/79 kann als Fallbeispiel dienen für die Reflexion über
Sicherheit, über Grenzen der Sicherheit und über deren Bedeutung für die
Definition historischer Epochengrenzen. Ein Gedankenspiel: Wie hätte ein
Politikberater der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine derartige Situation
analysiert, wie ein Politikberater heute? Wahrscheinlich hätte es in den
sechziger Jahren geheißen: Die Sicherheitslage des fränkischen Staats ist
schlecht. Die nationale Sicherheit ist im Westen wie im Osten durch
Grenzkriege mit islamischen und anderen, nicht-christlichen sächsischen
Gruppen bedroht. Im Inneren droht Abertausenden der Hungertod – mit
katastrophalen Folgen für die staatliche Ordnung. Ein Politikberater unserer
Gegenwart spräche wohl immer noch von einer dramatischen Sicherheitslage.
Statt aber nur die staatliche Sicherheit zu beachten, dächte er vielleicht auch an
die drohende humanitäre Katastrophe und die Wahrung der „Human
Security“. Er hätte dann abzuwägen, ob der internationalen Gemeinschaft in
diesem Falle eine responsibility to protect13 zukäme und ob sie intervenieren
solle, weil der fränkische Staat schwach oder gar fragil ist und seine Regierung
nicht mehr in der Lage, die kollektiven Güter Sicherheit und Wohlstand zu
gewährleisten.
Das Gedankenspiel mag absurd wirken. Gerade deshalb aber ist es für die
Frage nach dem Zusammenhang von Epochengrenzen und Grenzen der
Sicherheit nützlich: Es zeigt nämlich, wie weit sich Darstellungen aus der Feder
von Mediävisten – und zumal von deutschen Mediävisten – von der
gegenwärtigen Sprache der Politik und der Politologie entfernt haben. Ein
deutscher Mittelalterhistoriker wird sich hüten, die Situation von 778/79 auf
diese Weise zu beschreiben. Mediävisten sprechen anders über Politik und
menschliches Zusammenleben.
12 Die alte Edition Capitulare episcoporum, ed. Alfred Boretius (= MGH Capitularia,
Bd. 1), Hannover 1883, Nr. 21, S. 51 f., ist nun überholt durch den Druck bei Hubert
Mordek, Karls des Großen zweites Kapitular von Herstal und die Hungersnot der Jahre
778/779, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 61. 2005, S. 1 – 52, hier
S. 44 – 52, der zugleich, ebd., S. 23 – 31, gegen FranÅois Louis Ganshof, Note sur deux
capitulaires non dats de Charlemagne, in: Miscellanea historica in honorem Leonis van
der Essen, Brüssel 1947, Bd. 1, S. 12 – 133, den Text mit überzeugenden Argumenten in
das Jahr 779 datiert und nach Herstal verortet hat.
13 Vgl. Carsten Stahn, „Responsibility to Protect“. Political Rhetoric or Emerging Legal
Norm?, in: American Journal of International Law 101. 2007, S. 99 – 120; Christian
Schaller, Gibt es eine „Responsibility to Protect“?, in: APuZ 46. 2008, S. 9 – 14.
410
Steffen Patzold
Den Unterschied macht der Staat.14 Schon seit dem 19. Jahrhundert diskutiert
die Mediävistik fleißig darüber, ob es im Mittelalter den Staat überhaupt gab.
Wenn ja, wie könnte er dann ausgesehen haben? Und wenn nicht, was setzte
dem politischen Handeln der Akteure stattdessen einen Rahmen? Spätestens
seit den 1930er Jahren hat sich die deutsche Mediävistik bei diesen Fragen auf
einen interessanten nationalen Sonderweg begeben. Otto Brunners Buch
„Land und Herrschaft“ von 1939,15 aber auch andere Arbeiten der sogenannten
Neuen Verfassungsgeschichte16 haben hierzulande eine Art Mantra etabliert:
Hände weg von den Begriffen der Sozialwissenschaften! Hände weg von der
Unterscheidung zwischen „Recht“ und „Macht“, zwischen „Privat“ und
„Öffentlich“, zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“! All diese Unterscheidungen, so sah es Brunner, sind Kinder der Moderne; sie führen denjenigen in die
Irre, der „Alteuropa“, die Zeit vor der Moderne, erforschen will.
Inzwischen wissen wir : Das Brunnersche Mantra war geboren aus einem tiefen
Unbehagen an der Moderne und ihrem liberalen Rechtsstaat, auch aus einer
Sehnsucht nach der Rückkehr in jene untergegangene Welt „Alteuropas“, die
Brunner nun, im NS-Regime der Gegenwart, gleichsam in sublimierter Form
wiedergekommen sah. Wir wissen mithin, wie zeitgebunden die Neue
14 Es ist hier nicht der Ort, die nun schon mehr als ein Jahrhundert alte Debatte über den
Staat im Mittelalter aufzuarbeiten. Stattdessen sei summarisch auf folgende jüngere
Zusammenfassungen und Bilanzen verwiesen: Susan Reynolds, The Historiography of
the Medieval State, in: Michael Bentley (Hg.), Companion to Historiography, London
1997, S. 117 – 138; Jörg Jarnut, Anmerkungen zum Staat des frühen Mittelalters. Die
Kontroverse zwischen Johannes Fried und Hans-Werner Goetz, in: ders. u. a. (Hg.),
Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike
und frühem Mittelalter (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen
Altertumskunde, Bd. 41), Berlin 2004, S. 504 – 509; Bernhard Jussen (Hg.), Die Macht
des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005;
Stuart Airlie u. a. (Hg.), Staat im frühen Mittelalter (= Österreichische Akademie der
Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften, Bd. 334; Forschungen zur Geschichte
des Mittelalters, Bd. 11), Wien 2006; Walter Pohl u. Veronika Wieser (Hg.), Der
frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven (= Österreichische Akademie der
Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften, Bd. 386; Forschungen zur Geschichte
des Mittelalters, Bd. 16), Wien 2009.
15 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Baden bei Wien 1939.
16 So etwa Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchung
vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen (= Sächsische Forschungen zur Geschichte,
Bd. 1), Dresden 1941; weitere klassische Beiträge dieser Forschungsrichtung sind
zusammengefasst in dem Band von Hellmut Kämpf (Hg.), Herrschaft und Staat im
Mittelalter (= Wege der Forschung, Bd. 2), Darmstadt 1960. Zur „Neuen Verfassungsgeschichte“ vgl. auch Michael Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit (= HZ Beihefte, Neue Folge, Bd. 22),
München 1996, S. 37 – 48.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheit und Staat im Frühmittelalter
411
Verfassungsgeschichte der 1930er und 1940er Jahre war.17 Und doch kann man
ihr staatsfeindliches Mantra, wenn auch in Teilen transformiert, bis heute noch
hier und da in Mittelalterkolloquien und Seminaren wahrnehmen.
Für die meisten Mediävisten dürfte es merkwürdig klingen, wenn jemand auch
nur vom „Staat der Karolingerzeit“ redet;18 Johannes Fried möchte nicht
einmal von einem „Reich der Franken“ sprechen.19 „Staatliche Sicherheit“ oder
gar „nationale Sicherheit“ gehören gar nicht zum Vokabular deutscher
Mediävisten; um Human Security, menschliche Sicherheit, steht es nicht
besser. Otto Brunner hatte die Fehde zum essentiellen Bestandteil der
mittelalterlichen Ordnung erklärt: Ihm zufolge waren gewaltsam geführte
Konflikte, selbst gegen den König, in „Alteuropa“ keine Ausnahme, sondern
allgegenwärtig; vor allem aber waren sie rechtens.20
Seit und mit Brunner haben sich deutsche Mediävisten angewöhnt, politische
Systeme „Alteuropas“ als andersartig, eben „vormodern“ zu beschreiben.21
Wenn sie Karls Reich erforschen, fragen sie nicht nach Bürokratien, Ressorts
und Ämterhierarchien, überhaupt kaum nach formaler Organisation, mit
deren Hilfe der König seine Macht ausgeübt hätte. Und spätestens seit Mitte
der 1990er Jahre diskutieren sie sogar darüber, ob Könige und Adlige danach
strebten, ihre Macht auszubauen.22 Alternativen stehen bereit: das Modell der
„konsensualen Herrschaft“ etwa, demzufolge nicht Befehl und Gehorsam,
sondern die Mobilisierung von Konsens die Politik prägte.23 Eine Alternative
17 Dazu vor allem Gadi Algazi, Otto Brunner. „Konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit,
in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft
1918 – 1945, Frankfurt 1997, S. 166 – 203, hier S. 171 – 178; sowie ders., Herrengewalt
und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (= Historische Studien, Bd. 17), Frankfurt 1996, besonders S. 97 – 127; zuletzt
auch Hans-Henning Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpaß“? Carl Schmitt, Otto
Brunner und die Konstruktion der Fehde, in: HZ 282. 2006, S. 585 – 617. Zur
Zeitgebundenheit der „Neuen Verfassungsgeschichte“ insgesamt vgl. im Übrigen
auch schon die Kritik bei František Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in:
HZ 243. 1986, S. 529 – 589, hier S. 552 – 573.
18 Steffen Patzold, Die Bischöfe im karolingischen Staat. Praktisches Wissen über die
politische Ordnung im Frankenreich des 9. Jahrhunderts, in: Airlie, Staat im frühen
Mittelalter, S. 133 – 162.
19 Johannes Fried, Warum es das Reich der Franken nicht gegeben hat, in: Jussen, Die
Macht des Königs, S. 83 – 89.
20 Brunner, Land und Herrschaft, S. 27 f.
21 Vgl. dazu die hilfreichen Überlegungen von Bernhard Jussen, Um 2005. Diskutieren
über Könige im vormodernen Europa. Einleitung, in: ders., Die Macht des Königs, S. XIXXIV.
22 Für das Reich Ottos III. bietet eine konzise Kritik daran Gerd Althoff, Otto III.,
Darmstadt 1996, S. 18 – 36.
23 Programmatisch und breit rezipiert: Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein
Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim
412
Steffen Patzold
bildet auch jene Perspektive, die nicht in macht- und geopolitischen Zielen,
sondern in der kompetitiven Wahrung von Rang und Ehre fundamentale
handlungsleitende Motive von Königen und Eliten sieht.24 Als Institutionen,
auf denen politische Systeme beruhten, sehen Mediävisten gegenwärtig vor
allem personale Bindungen – Verwandtschaft, Freundschaft, Fidelität, Königsnähe.25 Solche Bindungen mussten in der Praxis immer wieder neu
vorgeführt, in Szene gesetzt werden, um Wirksamkeit zu erlangen und jenes
Maß an sozialer Ordnung zu garantieren, ohne das menschliches Zusammenleben nicht denkbar ist. Als Instrumente hierfür haben Mediävisten zuletzt vor
allem Rituale und andere Formen symbolischer Kommunikation identifiziert
und analysiert.26
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zumindest in Hinblick auf die
politischen Strukturen die Alterität „Alteuropas“ zu einem guten Teil über die
Absenz dessen konstruiert worden ist, was man „den modernen Staat“ nennen
kann. Gerd Althoff hat es für die Ottonenzeit auf eine prägnante Formel
gebracht: „Königsherrschaft ohne Staat“.27
III. Wandel von Staatlichkeit
Wenn nun aber Mediävisten die Unterscheidung zwischen Vormoderne und
Moderne von der Absenz des „modernen Staates“ her konstruiert haben, dann
kann es für sie nicht uninteressant sein, dass sich in den letzten Jahren die
politikwissenschaftliche Diskussion über eben diesen „modernen Staat“ selbst
24
25
26
27
Heinig u. a. (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für
Peter Moraw (= Historische Forschungen, Bd. 67), Berlin 2000, S. 53 – 87.
Dazu am Beispiel des Reichs im 12. Jahrhundert grundlegend: Knut Görich, Die Ehre
Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2001.
Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der
Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990; außerdem die gesammelten Beiträge von Hagen Keller, Ottonische Königsherrschaft. Organisation und
Legitimation königlicher Macht, Darmstadt 2002.
Programmatisch Gerd Althoff, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das
Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31. 1997, S. 370 – 389;
ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003;
ders. (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter
(= Vorträge und Forschungen, Bd. 51), Stuttgart 2001; ders. (Hg.), Zeichen, Rituale,
Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Bd. 3), Münster 2004.
Gerd Althoff, Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 20052.
ipabo_66.249.66.96
Sicherheit und Staat im Frühmittelalter
413
drastisch verschoben hat.28 Was ein Staat sei, das haben bekanntlich zunächst
in den Jahren um 1900 Georg Jellinek und Max Weber in klassischen
Formulierungen definiert. Aus ihrer Sicht zeichnet sich ein Staat durch
dreierlei aus: durch das Monopol legitimer Gewalt, durch ein Staatsgebiet und
durch ein Staatsvolk.29 Dass das Frankenreich in den Jahren 778/79 diese
Kriterien nicht erfüllte, darauf wird man sich schnell einigen können.
Nur ist es in unserer Gegenwart um den „modernen Staat“ auch nicht mehr so
einfach bestellt. Zwar ist fast jedes Fleckchen Erde mittlerweile Teil irgendeines
Staates; und immerhin 192 Staaten sind international anerkannt und in der
UNO zusammengeschlossen. Dazu gehören aber beispielsweise auch Somalia,
der Sudan und Afghanistan. Niemand wird deshalb behaupten können, dass
sich alle völkerrechtlich anerkannten Staaten sinnvoll mit Hilfe von Jellineks
und Webers Vorgaben als Staaten beschreiben ließen.30 In diesen Ländern
kann von einem Gewaltmonopol des Staates kaum die Rede sein. Zumindest
„Räume begrenzter Staatlichkeit“ lassen sich aber auch in OECD-Staaten
beobachten – etwa in US-amerikanischen Großstädten, Pariser Banlieus oder
in Berlin-Neukölln.31 Das Kriterium der Souveränität, das Georg Jellinek in
seiner Definition des Staates stark gemacht hatte, ist heute ebenfalls alles
andere als einfach zu handhaben. Supranationale Organisationen schränken
die Souveränität von Staaten ein, auch und gerade in der Europäischen Union.
Im Übrigen wissen Politologen längst, dass sich die Internationalen Beziehungen ohnehin nicht mehr angemessen als ein Spiel von Regierungen von
Staaten beschreiben lassen. Andere Player sind wichtig und einflussreich. Hier
28 Die Literaturhinweise zum Folgenden beruhen zweifellos auf einer eklektizistischen, ja
zufälligen Auswahl aus einer für den Mediävisten nicht überschaubaren, komplexen und
internationalen Forschungsdiskussion. Es ist für mein Argument allerdings auch nicht
notwendig, diese Diskussion en dtail zu resümieren. Es genügt der Nachweis, dass die
Diskussion statthat.
29 Die Drei-Elemente-Lehre hat bekanntlich Georg Jellinek, Allgemeine Staatsrechtslehre,
Berlin 19222, entwickelt, der den Staat im Übrigen definierte als „die mit ursprünglicher
Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“, S. 180 f. Vom
„Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen“ sprach
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v.
Johannes Winckelmann, Tübingen 19725, 1. Halbband, I § 17, S. 29 f.; vgl. dazu auch
Catherine Colliot-Thlne, Das Monopol legitimer Gewalt, in: Andreas Anter u. Stefan
Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie. Positionen und Perspektiven (= Staatsverständnisse, Bd. 15), Baden-Baden 2007, S. 39 – 55, hier S. 40 – 43.
30 Vgl. Thomas Risse u. Ursula Lehmkuhl, Regieren ohne Staat? Governance in Räumen
begrenzter Staatlichkeit, in: Thomas Risse (Hg.), Regieren ohne Staat? Governance in
Räumen begrenzter Staatlichkeit (= Schriften zur Governance-Forschung, Bd. 10),
Baden-Baden 2007, S. 13 – 37, hier S. 13 f.
31 Ebd., S. 17; auch Ulrich Schneckener, Fragile Staaten als Problem der internationalen
Politik, in: Nord-Süd aktuell 18. 2004, S. 510 – 524, hier S. 512, beobachtet „eine
erhebliche Varianz bei der Ausgestaltung von Staatlichkeit innerhalb der OECD-Welt“.
414
Steffen Patzold
sei nur auf die großen Nicht-Regierungs-Organisationen verwiesen: Sie
agieren auf der internationalen Bühne und initialisieren und kontrollieren
politische Debatten, deren Ausgang sie nicht unerheblich mit beeinflussen.32
Die Politologie hat auf die „Staatlichkeit im Wandel“33 reagiert. Politologen
versuchen einerseits, Staaten genauer zu qualifizieren: Sie sprechen von
„OECD-Staaten“, „prekären Staaten“,34 „fragilen Staaten“,35 von „failed
states“,36 von „zerfallenden“37 oder von „scheiternden Staaten“, und sie
analysieren „hybrid political orders“.38 Andererseits nutzen sie den Begriff der
„Governance“,39 um noch weiter zu abstrahieren: Der Begriff beschreibt jene
Formen der Steuerung, die von einer Gemeinschaft genutzt werden, um
kollektive Güter zu produzieren – wie etwa auch Sicherheit.40 Staatliches
32 Vgl. z. B. Gunnar Folke Schuppert, The Changing Role of the State Reflected in the
Growing Importance of Non-State Actors, in: ders. (Hg.), Global Governance and the
Role of Non-State Actors (= Schriften zur Governance-Forschung, Bd. 5), Baden-Baden
2006, S. 203 – 244.
33 So der Titel des Sonderforschungsbereichs 597 an der Universität Bremen und der
Jacobs University Bremen.
34 Stefani Weiss u. Joscha Schmierer (Hg.), Prekäre Staatlichkeit und internationale
Ordnung, Wiesbaden 2007.
35 Ulrich Schneckener, States at Risk. Zur Analyse fragiler Staatlichkeit, in: ders. (Hg.),
Fragile Staatlichkeit. „States at Risk“ zwischen Stabilität und Scheitern, Baden-Baden
2006, S. 9 – 43.
36 Vgl. beispielsweise die Analyse von Robert H. Bates, When Things Fell Apart. State
Failure in Late-Century Africa, Cambridge 2008, demzufolge Staatszerfall von afrikanischen Eliten unter bestimmten Bedingungen bewusst herbeigeführt worden ist. Zur
Kritik am Konzept des „failed state“ und zu einer Alternative vgl. Charles T. Call, Beyond
the „Failed State“. Towards Conceptional Alternatives, in: European Journal of
International Relations, 16. 2010, http://ejt.sagepub.com/content/early/2010/04/16/
1354066109353137. Call schlägt vor, nicht alle sogenannten „failed states“ über einen
konzeptionellen Kamm zu scheren, sondern stattdessen differenzierter mit einer
Dreifeld-Matrix von „capacity gap“, „legitimacy gap“ und „security gap“ zu arbeiten.
37 Friedbert W. Rüb, Staatlichkeit, Staatsbildung und Staatszerfall. Dimensionen und
Perspektiven der politikwissenschaftlichen Debatte, in: ders. u. a. (Hg.), Demokratie
und Staatlichkeit. Systemwechsel zwischen Staatsreform und Staatskollaps, Opladen
2003, S. 57 – 80; Petra Bendel (Hg.), Schwache und zerfallen(d)e Staaten. Indikatoren,
Ursachen und internationale Interventionsmöglichkeiten (= Zentralinstitut für Regionalforschung, Arbeitspapier, Bd. 9), Erlangen 2007.
38 Vgl. dazu etwa Volker Boege u. a., On Hybrid Political Orders and Emerging States. State
Formation in the Context of „Fragility“, http://www.berghof-handbook.net/documents/
publications/boege_etal_handbook.pdf.
39 Vgl. Arthur Benz u. a., Einleitung, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch Governance.
Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Wiesbaden 2007, S. 9 – 27.
40 Vgl. die Definition bei Michael Zürn, Governance in einer sich wandelnden Welt. Eine
Zwischenbilanz, in: ders. u. Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Governance in einer sich
ipabo_66.249.66.96
Sicherheit und Staat im Frühmittelalter
415
Regieren bildet eine Form der Governance; es ist aber nicht mehr konkurrenzlos. Zur Diskussion steht allerdings, ob „governance without government“
ohne „Letztverantwortung“ des Nationalstaats erfolgreich sein kann.41
Auch die jüngere Diskussion über Sicherheit, zumal über Human Security,
lässt sich kaum isolieren von dieser Debatte über den Wandel von Staatlichkeit
unter den Bedingungen der Globalisierung.42 Auch in der jüngeren Sicherheitsdebatte verliert jedenfalls der Staat als Leitkategorie der Politik an
Selbstverständlichkeit, ohne deshalb ganz zu verschwinden: Nach dem
Konzept der Human Security bestünde die Aufgabe der internationalen
Gemeinschaft nicht mehr vornehmlich darin, die Sicherheit von Staaten zu
wahren; ihre Aufgabe wäre es, die Sicherheit jedes einzelnen Menschen zu
gewährleisten, und zwar in einem umfassenden Sinne. Jeder einzelne soll all
das haben, was er für sein Leben und Überleben braucht. Es geht nicht mehr
nur um den Staat; es geht auch um sauberes Trinkwasser.43
Zur Zeit ist der Ruf nach Human Security allerdings auch ein Politikum.44 Es
handelt sich vorerst noch nicht um einen scharf umrissenen Begriff der
Politologie, sondern um einen Begriff der Politik. Er ist weder deskriptiv noch
analytisch, sondern normativ, und außerdem in seiner Bedeutung politisch
umkämpft – mit gewichtigen Konsequenzen für Entscheidungsprozesse in
unserer Gegenwart. Wer Human Security als Wert und Ziel über die
Souveränität von Staaten stellt, wird sich beispielsweise fragen müssen:
Unter welchen Bedingungen sind militärische Eingriffe der internationalen
Gemeinschaft in einen Staat gerechtfertigt? Wann etwa ist es notwendig, wann
legitim, Bürger eines Staates gegen ihre eigene Regierung zu schützen?
41
42
43
44
wandelnden Welt, Wiesbaden 2008, S. 553 – 580, hier S. 554: „Governance soll heißen:
Die Gesamtheit der kollektiven Regelungen, die auf eine bestimmte Problemlage oder
einen bestimmten gesellschaftlichen Sachverhalt zielen und mit Verweis auf das
Kollektivinteresse der betroffenen Gruppe gerechtfertigt werden.“
Vgl. ebd., S. 571.
Vgl. etwa Mary Kaldor, Europe at the Millenium, in: Politics 20. 2000, S. 55 – 62.
Skeptischer ist Stewart Patrick, „Failed“ States and Global Security. Empirical Questions
and Policy Dilemmas, in: International Studies Review 9. 2007, S. 644 – 662, der
argumentiert: „the overlap between state weakness and today’s most pressing
transnational threats is hardly clear-cut, much less then universal“, S. 658.
Dazu jetzt Cornel Zwierlein u. Rüdiger Graf, The Production of „Human Security“ in
Premodern and Contemporary History, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 9 – 23,
hier S. 9 f.; Christopher Daase, National, Societal and Human Security. On the
Transformation of Political Language, ebd., S. 24 – 39.
Vgl. etwa Zwierlein u. Graf, Production, S. 11, die allerdings optimistisch sind, dass sich
der Begriff analytisch schärfen lasse.
416
Steffen Patzold
IV. Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft
Den Wandel von Staatlichkeit und den Wandel der wissenschaftlichen
Diskussion über Staatlichkeit sollten Mediävisten aber doch aufmerksam
zur Kenntnis nehmen. Dieser Wandel ändert zwar nichts am ursprünglichen
Befund: Karls Reich erfüllte jene Kriterien nicht, an die Jellinek und Weber
Staatlichkeit gebunden haben. Nur gilt derselbe Befund auch für etliche
Staaten unserer Gegenwart – und strenggenommen sogar für die Bundesrepublik Deutschland. Das hat Konsequenzen: Was um 1900 als „moderner
Staat“ definiert worden ist, eignet sich heute, weil es auch für unsere
Gegenwart inadäquat geworden ist, nicht mehr ohne weiteres als Kriterium,
über das sich die Andersartigkeit einer Vormoderne oder eines Mittelalters
konturieren ließe.
Zumindest in Teilen der sozialwissenschaftlichen Literatur kursiert deshalb
das Argument: Die gegenwärtige Entwicklung – weg von dem sogenannten
Westfälischen System, weg also vom Staat als Grundeinheit der Internationalen
Beziehungen, deshalb auch weg von staatlicher und nationaler Sicherheit –
lasse sich als eine Art Wiederkehr der Vormoderne oder des Mittelalters
deuten.45 Das Argument ist prima facie nicht unplausibel: Denn die Vormoderne wird eben als die Zeit vor der Etablierung des modernen Staats als
Grundeinheit des politischen Systems entworfen. Das Argument findet sich in
der Literatur zur Sicherheitsgeschichte,46 aber auch in Arbeiten über „fragile
Staaten“ und in der Forschung zu den sogenannten neuen Kriegen,47 die ja
ebenfalls nicht mehr als Konflikte von Regierungen und Staaten zu fassen sind
und daher als Wiederkehr der Zeit vor dem Westfälischen System erscheinen
können; Vergleiche zu italienischen Stadtrepubliken und zum Dreißigjährigen
Krieg sind bereits gezogen worden.48
45 Vgl. Parag Khanna, Neomedievalism, in: Foreign Policy, Nr. 172, 2009, S. 91; der Begriff
des „neo-medievalism“ ist schon von Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of
Order in World Politics, London 1977, S. 254 – 255, in die Politikwissenschaft eingeführt
worden. Mittlerweile dient er aber zur Beschreibung von Regionen, in denen sich
verschiedene Herrschaften und Loyalitätsverhältnisse überlappen wie etwa in Teilen
Afrikas. Zum Konzept vgl. den Band von Neil Winn (Hg.), Neo-Medievalism and Civil
Wars, London 2005, hier besonders der Beitrag von Gorm Rye Olsen, Neo-Medievalism
in Africa. Whither Government-to-Government Relations Between Africa and the
European Union?, in: ebd., S. 71 – 89.
46 Vgl. dazu bereits die Reflexion und Kritik bei Zwierlein u. Graf, Production, S. 15 – 17, in
Auseinandersetzung mit Stephen N. MacFarlane u. Yuen F. Khong, Human Security and
the UN. A Critical History, Bloomington 2006.
47 Dazu grundlegend Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter
der Globalisierung, Frankfurt 2000; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 20034.
48 Vgl. Herfried Münkler, Was ist neu an den neuen Kriegen? Eine Erwiderung auf meine
Kritiker, in: Anna Geis (Hg.), Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien
ipabo_66.249.66.96
Sicherheit und Staat im Frühmittelalter
417
Damit sind Mediävisten, aber auch andere Historiker in doppelter Hinsicht
herausgefordert: Weil in der Debatte über den Wandel von Staatlichkeit und
Sicherheit auch historisch argumentiert wird, ist zum einen ein geschichtswissenschaftlicher Kommentar gefragt (1). Außerdem bringt die jüngere
Diskussion jene Dichotomie von Moderne und Vormoderne ins Wanken, die
mittlerweile einen Gutteil des geschichtswissenschaftlichen Fachdiskurses
strukturiert (2).
1. Eine Rückkehr der Vormoderne
So plausibel das Argument einer Wiederkehr der Vormoderne auf den ersten
Blick auch wirken mag – es dürfte nicht weit tragen. Für den Begriff der Human
Security lässt sich das sogar verhältnismäßig einfach zeigen. Er zielt ab auf das
physische Überleben und die körperliche Unversehrtheit jedes einzelnen
Menschen. Er setzt damit zumindest die Idee voraus, dass das körperliche
Wohl wichtiger sei als anderes. Das ist aber keineswegs selbstverständlich,
sondern kulturell und historisch kontingent. Wir dürfen bezweifeln, dass alle
Franken der Jahre 778/79 diese Vorstellung geteilt haben. Viele von ihnen
wären wahrscheinlich nur schwer davon zu überzeugen gewesen, dass die
Unversehrtheit und das Wohlbefinden des Körpers über die Rettung ihrer
Seele zu stellen sei.
Karl der Große und sein Hof reagierten jedenfalls im Frühjahr 779 auf die
Hungersnot in bezeichnender Weise: Sie ordneten an, wie viele Messen
gelesen, wie viele Psalter gesungen werden sollten, wie viele Tage die
Mächtigen fasten, wie viele Almosen sie geben und wie viele Arme jeder von
ihnen mildtätig versorgen sollte. Der Text ist kurz. Er lautet in deutscher
Übersetzung:49
Kapitelverzeichnis, wie es hier mit Zustimmung der Bischöfe beschlossen worden ist,
nämlich:
in der Kontroverse, Baden-Baden 2006, S. 133 – 151; vgl. auch Sheri Berman, From the
Sun King to Karzai, in: Foreign Affairs 89. 2010, S. 2 – 9. Dieter Langewiesche, Wie neu
sind die „Neuen Kriege“? Eine erfahrungsgeschichtliche Analyse, in: Georg Schild u.
Anton Schindling (Hg.), Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue
Horizonte der Forschung (= Krieg in der Geschichte, Bd. 55), Paderborn 2009,
S. 289 – 302, hat Münkler jüngst entgegengehalten, die sogenannten Neuen Kriege seien
so neu nicht, wenn man bedenke, dass sie außerhalb Europas statthätten, wo Kriege
immer schon, auch zwischen dem 17. und frühen 20. Jahrhundert, in ähnlicher Weise
geführt worden seien. Neu sei dagegen ihre durch eine globalisierte mediale Aufbereitung geprägte Wahrnehmung. Sie habe zu einer Wiederkehr der Idee des „Gerechten
Kriegs“ (als Gegenpol zum „Neuen Krieg“) geführt, wenn auch in säkularisierter
Gestalt: als Intervention der internationalen Gemeinschaft.
49 Die Übertragung beruht auf dem lateinischen Text, den Mordek, Karls des Großen
zweites Kapitular, S. 50, gedruckt hat.
418
Steffen Patzold
– Jeder Bischof soll drei Messen und drei Psalter singen, die ersten für den Herrn König, die
zweiten für das Heer der Franken, die dritten für die gegenwärtige Not; die Priester aber
sollen jeweils drei Messen [singen], die Mönche und Nonnen und Kanoniker jeweils drei
Psalter.
– Alle sollen zweitägige Fasten halten, sowohl die Bischöfe als auch die Mönche und die
Nonnen und die Kanoniker und die Menschen, die auf deren Grundbesitz einen Hof haben,
und auch die Mächtigen.
– Jeder Bischof und jeder Abt und jede Äbtissin, die dazu in der Lage ist, soll ein Pfund Silber
als Almosen geben, die mittleren aber ein Pfund und die kleineren 5 Solidi.
– Sie sollen vier Arme, die hungern, um dieses unseres Beschlusses willen bis zur Erntezeit
bei sich ernähren; und diejenigen, die so viele nicht [ernähren] können, sollen je nach ihren
Möglichkeiten drei oder zwei oder einen [ernähren].
– Die vermögenderen Grafen aber sollen jeweils ein Pfund Silber oder den Gegenwert geben,
die mittleren ein halbes Pfund, die Königsvasallen von 200 behausten Hörigen ein halbes
Pfund, von 100 behausten Hörigen 5 Solidi und von 50 behausten Hörigen 30 Unzen.
– Und sowohl sie als auch ihre behausten Hörigen und alle, die dazu fähig sind, sollen
zweitägige Fasten halten. Und sofern sie sich davon freikaufen wollen, sollen die vermögenderen Grafen drei Unzen, die mittleren anderthalb Unzen, die kleineren aber einen
Solidus [geben].
– Und in Bezug auf die Armen, die hungern, sollen sie es selbst genauso machen, wie es oben
geregelt ist.
Dies alles soll, so es Gott gefällt, für den Herrn König und das Heer der Franken und die
gegenwärtige Not bis zur Johannes-Messe erfüllt sein.
Der Text zerfällt in zwei Abschnitte: In einem ersten Teil werden Geistliche
angesprochen, nämlich Bischöfe, Priester, Äbte, Mönche, Nonnen, Kanoniker ;
im zweiten sind Laien, vor allem die Grafen angesprochen, die dabei
interessanterweise in drei Klassen eingeteilt werden, in die „mächtigeren“
oder auch „stärkeren“ (fortiores), die „mittleren“ (mediocres) und die
„kleineren“ (minores). Die Geistlichen sollen jeweils eine bestimme Anzahl
an Messen und Psaltern singen; sie sollen Gelder bereitstellen, deren Höhe
genau festgesetzt ist; und sie sollen bis zur nächsten Ernte hungernde Arme
versorgen – wenn möglich jeweils vier, sonst je nach ihren Kapazitäten auch
weniger.
Die Grafen müssen nicht beten, sehr wohl aber Geld oder Naturalien
bereitstellen. Auch die Königsvasallen sollen Geld zahlen, und zwar abhängig
davon, wieviele Hörige sie haben, die auf eigenen Hofstellen leben. Wie die
Geistlichen sollen auch die Laien, sofern sie dazu in der Lage sind, jeweils vier
Arme, sonst aber entsprechend weniger mitversorgen.
Außerdem sollen alle Gruppen fasten. Das betrifft nicht nur die Bischöfe, Äbte,
Äbtissinnen, die Grafen und Königsvasallen, sondern auch jeweils deren
casati, also diejenigen Menschen, die von einem Bischof, einem Abt, einem
Grafen oder einem Vasallen einen Hof zur Verfügung gestellt bekommen
haben. Im Grunde sollen also fast alle Menschen im Frankenreich, die dazu in
der Lage sind, zwei Tage lang fasten. Schließlich setzt der Text auch noch eine
ipabo_66.249.66.96
Sicherheit und Staat im Frühmittelalter
419
Frist: All das soll bis zum Tag Johannes des Täufers, das heißt bis zum 24. Juni
779 vollzogen sein.
Diese Maßnahmen waren zweifellos dazu gedacht, die Katastrophe zu lindern
und zu überwinden. Wer aber Karl und seinen Beratern unterstellt, sie hätten
nach Human Security gestrebt, der wird ihre Reaktion als irrational,
bestenfalls jedoch als Zeichen grober Unfähigkeit interpretieren müssen:
Was in Herstal beschlossen wurde, war kaum geeignet, möglichst rasch viele
Menschen sicher mit Nahrung zu versorgen. Richtig ist zwar, dass die
Vermögenden Almosen geben sollten. Aber die gesamte Anordnung geht
bezeichnenderweise nicht von dem Bedarf an Nahrungsmitteln aus: Der Text
unterscheidet nicht zwischen Regionen, die stark von der Hungersnot
betroffen waren und solchen, die gar nicht unter Missernten und Hunger
litten; und er bemüht sich auch nicht darum, die benötigten Lebensmittel für
einen bestimmten Zeitraum zu schätzen. Die Grundlage der Forderungen ist
vielmehr einzig und allein die bedeutendere oder weniger bedeutende Stellung
derjenigen Leute, die angesprochen sind: Die fortiores müssen mehr geben, die
mediocres etwas weniger, die minores am wenigsten. Was mit dem Geld, das sie
als Almosen oder zur Befreiung von Fastenauflagen aufbringen sollten, später
einmal geschehen würde, bleibt ganz unklar : Der Text deutet nicht darauf hin,
dass es nach Art einer staatlichen Notsteuer zentral erhoben und verwaltet
werden sollte, wie Hubert Mordek zuletzt ohne weiteres vorausgesetzt hat.50
Kurzum: Die Regelungen waren offenkundig nicht darauf ausgerichtet,
pragmatisch die Verteilung von Lebensmitteln zu organisieren. Die Beschlüsse
zielten darauf ab, Gott den Seelen der Mächtigen gnädig zu stimmen. Adressat
der Maßnahmen waren nicht die Mägen der Hungernden, sondern der
Allmächtige: Ihm galten die Messen, die Psalter, die Fastentage, ja selbst noch
die Almosen;51 Gott sollte wieder gnädig auf diejenigen schauen, die die
50 Mordek, Karls des Großen zweites Kapitular, S. 9, S. 12 u. S. 17 – 23; Mordeks
Interpretation des Textes hat mich nicht überzeugt, weil sie sowohl den Staat als auch
die Kirche als eigenständige Organisationen begreift und einander dichotomisch
gegenüberstellt. Im Text ist im Übrigen nicht von „Notsteuer“, sondern von „Almosen“
(elimosina) die Rede.
51 Als erhellende Parallele mag die sogenannte Ordinatio imperii, hg. v. Alfred Boretius
(= MGH Capitularia, Bd. 1), Hannover 1883, Nr. 136, hier S. 271, Z. 2 f., dienen. Mit
diesem Text von 817 regelte der Kaiser Ludwig der Fromme seine Nachfolge; um eine
gottgefällige Lösung zu finden, wurden – so berichtet der Text selbst – zunächst
dreitägige Fasten, Gebete und Almosengaben angeordnet. Diese Praktiken waren also
nicht zwangsläufig an Hungersnöte gebunden. Sie zielten vielmehr grundsätzlich darauf
ab, Gott gnädig zu stimmen. Es geht folglich bei den Fastenauflagen von 779 kaum um
ein „Mithungern zugleich als sichtbares Zeichen der Solidarität mit den Armen“, wie
Mordek, Karls des Großen zweites Kapitular, S. 41, gemeint hat. Vgl. im Übrigen für ein
weiteres Fallbeispiel auch Joachim Wollasch, Geschichtliche Hintergründe der Dortmunder Versammlung des Jahres 1005, in: Westfalen 58. 1980, S. 55 – 69.
420
Steffen Patzold
Geschicke der Franken auf Erden bestimmten. Dann würde Gott auch wieder
für gutes Wetter und gute Ernten sorgen, dem König Erfolg und dem
fränkischen Heer Siege schenken.
Wer behaupten wollte, die Forderung nach Human Security bedeute eine
Wiederkehr der Vormoderne, weil die Sicherheitsdebatte damit ihren staatlichen Rahmen verliere, der übersähe, wie unterschiedlich man über das
Verhältnis von Körper und Seele nachdenken kann. Diese je eigenen
Überzeugungen aber – das ist wichtig – scheiden sich nicht dichotomisch in
zwei Typen; und sie scheiden sich auch nicht diachron entlang der Linie
Vormoderne/Moderne. Die unterschiedlichen Überzeugungen von dem Verhältnis von Körper und Seele bringen vielmehr die globale Variationsbreite an
Modernen mit hervor.
2. Vormoderne versus Moderne?
Wichtiger für die Geschichtswissenschaft scheint mir die Frage nach der
Dichotomie von Vormoderne und Moderne. Offenbar verlieren grundlegende
Kategorien, die die Sozialwissenschaften für die Beschreibung der Moderne
verwendet haben, im Zuge des jüngeren Wandels von Staatlichkeit ihre
Selbstverständlichkeit. Es fällt uns beileibe nicht mehr leicht, uns selbst noch
als Teil jener Moderne zu sehen, in die wir Jellinek und Weber verorten. Wir
sind in einer Post-, einer Nach-Moderne angekommen. Wie diese NachModerne aber im einzelnen aussieht, was sie charakterisiert, was uns abgrenzt
von der Moderne – über diese Fragen zerbrechen sich Soziologen, Philosophen
und andere den Kopf.
Im Zuge dessen wird eben auch neu justiert, was ein Staat sein kann. Die
Diskussion der deutschen Mediävistik über den Staat hinkt dieser jüngeren
Entwicklung hinterher : Sie ist noch immer geprägt von den Kriterien, die im
19. Jahrhundert begründet worden sind – und gegen die dann, in den 1930er
Jahren, die Neue Verfassungsgeschichte zu Felde gezogen ist. In der aktuellen
politologischen Diskussion über den Staat gibt es aber nicht mehr nur den
„modernen Staat“ la Jellinek und Weber oder „gar keinen Staat“. Es gibt nicht
mehr nur Schwarz und Weiß – sondern ein breites und nuanciertes Spektrum
von Grau-Tönen, vom dunklen Anthrazit Somalias bis hin zum frischen
Aschgrau der Bundesrepublik Deutschland.
Um es zuzuspitzen: Wir selbst haben den „modernen Staat“ mit voller
Souveränität und vollem Gewaltmonopol nicht mehr ; und doch fallen wir
deshalb nicht wieder zurück in eine „Vormoderne“. Damit verliert die
Dichotomie von „modern“-staatlich versus „vormodern“-nichtstaatlich ihre
Plausibilität. Für Mediävisten ist das eine spektakuläre Situation: Wir müssen
die politischen Ordnungen des Mittelalters nicht mehr in Analogie zum
„modernen Staat“ beschreiben, wie es Georg Waitz und andere seit dem
19. Jahrhundert getan haben, zuletzt etwa noch Hubert Mordek in seiner
Analyse des Kapitulars von 779. Wir müssen sie aber auch nicht mehr, wie Otto
Brunner in den 1930er Jahren, als alteritär, vormodern, nichtstaatlich
ipabo_66.249.66.96
Sicherheit und Staat im Frühmittelalter
421
beschreiben. Unsere eigene Welt kennt ein weites Spektrum unterschiedlicher
Möglichkeiten und Grenzen politischer Organisation zur Herstellung von
Sicherheit. Statt die Geschichte in zwei große Schubladen zu pressen, können
wir politische Ordnungen in weiter Diachronie miteinander vergleichen, ohne
deshalb historische Unterschiede auszublenden. So lässt sich eine neue,
differenziertere Typologie jenseits der Dichotomie von Vormoderne und
Moderne entwickeln.
Das bedeutet am Beispiel konkretisiert, dass wir aufhören können darüber zu
diskutieren, ob das von Karl dominierte Gebiet um 778 ein Staat (oder auch
nur ein Reich)52 gewesen sei oder nicht. Stattdessen können wir nach
Grautönen fragen, wie wir sie aus unserer Gegenwart kennen. Wir können
beispielsweise nach Parallelen und Unterschieden zwischen Karls Reich und
fragilen Staaten fragen: Karl organisierte seine Macht seit Mitte der 790er Jahre
im wesentlichen von einem einzigen Zentralort aus, nämlich von Aachen. In
einige Regionen reichte sein Einfluss kaum oder gar nicht. Was Mediävisten
„den Adel“ oder „die Reichsaristokratie“ nennen, steht in interessanter
Parallele zu heutigen warlords: Die Aristokraten agierten in der Peripherie als
Kriegsherren auf eigene Rechnung – und ließen sich doch zugleich vom Hof
mit Ämtern und Titeln ausstatten. Wie in heutigen fragilen Staaten sehen wir
auch Ende der 770er Jahre in Mittel- und Westeuropa die hohe politische
Bedeutung von Clan-Strukturen, ein Ineinander von Religion und Politik, in
der Peripherie die Allgegenwart und Dauerhaftigkeit von gewaltsam ausgetragenen Konflikten geringer Intensität. Nota bene: Es geht nicht darum zu
behaupten, Afghanistan oder Somalia seien vormodern oder gar mittelalterlich; es geht darum, politische Ordnungen jenseits dieser Epochendualität
miteinander zu vergleichen, um zu einer neuen Typologie zu gelangen.
Möglich wäre es aber auch, ganz auf das Staatsparadigma zu verzichten und
stattdessen offener nach Formen der Governance zu fragen. Dazu wäre
beispielsweise neu zu beschreiben, wie die Akteure Ende der 770er Jahre das
kollektive Gut der Sicherheit herzustellen suchten. Der Blick wäre also zu
richten auf die Instrumente, mit denen sie Gewalt einzudämmen trachteten
und jenes Maß an gegenseitiger Erwartungsstabilität herbeiführten, ohne das
soziale Ordnung nicht sein kann. Solche Instrumente lässt der erste der beiden
Texte von Herstal von 779 exemplarisch erkennen. Zu nennen sind hier
insbesondere:
Erstens, Eide, mit deren Hilfe personale Bindungen sakral abgesichert werden:
Entsprechend scharf verurteilt der Text Meineide; und er strebt danach,
eidliche Verpflichtungen zu unterbinden, die nicht auf den König hin
orientiert sind, sondern auf die eigene lokale Gemeinschaft. Deshalb verbietet
52 Vgl. Anm. 19.
422
Steffen Patzold
er Gilden.53 Zweitens, ein System der gegenseitigen Kontrolle der warlords:
Grafen und Königsboten, die gleichsam als power-broker zwischen Zentrale
und Peripherie vermitteln, sollen sich gegenseitig kontrollieren, zugleich aber
gemeinsam andere Kriegsherren in der Peripherie ausschalten.54 Drittens, ein
Zwang zu Kompromissen auf der Basis finanziellen Ausgleichs, um gewaltsame, langandauernde Konflikte zwischen Clans zu unterbrechen: Wer sich
weigert, einen solchen Kompromiss anzunehmen, dem drohen Deportation
und Exil.55 Viertens, Orientierung lokaler Konflikte auf die Zentrale hin: Dafür
wird ein besonderer Schutz für all diejenigen eingeführt, die auf dem Weg zum
König sind.56 Fünftens, Maßnahmen gegen bewaffnete Gruppen, die von Raub
und Mord leben: Sie sollen nicht einmal in Kirchen Asyl genießen und den
Grafen zur Aburteilung unterstellt werden. Als Strafen drohen erst der Verlust
eines Auges, dann der Nase, schließlich der Tod.57
Ganz unabhängig davon, was für ein Staat das Karlsreich war und ob wir
überhaupt den Staat als Analysekategorie aufrechterhalten wollen – das Bemühen
der Zentrale, die Kriegsherren in der Peripherie zu kontrollieren, wird in diesem
Text (wie in etlichen anderen) unübersehbar deutlich. Wenn wir all dies nicht
mehr länger als vormodern und fremd von uns fortschieben, sondern in
Beziehung setzen zu gegenwärtigen politischen Ordnungen, dann könnten
Mediävisten, Zeithistoriker und Politologen ein fruchtbares Gespräch miteinander führen;58 historische Befunde könnten auf diese Weise vielleicht sogar wieder
für aktuelle politische Debatten interessant werden. So lautet die These dieses
Beitrags in einem Satz zusammengefasst: Die aktuellen Verschiebungen von
Staatlichkeit und Sicherheit eröffnen eine neue Chance, die überkommene
Dichotomie von (nichtstaatlicher) Vormoderne versus (staatlicher) Moderne als
Interpretationsraster zu überwinden und stattdessen in weiter Diachronie
historische Formen der Organisation von Macht und der Herstellung von
Sicherheit in ihrem Erkenntniswert für die Gegenwart neu zu erschließen.
Prof. Dr. Steffen Patzold, Eberhard Karls Universität Tübingen, Seminar für
mittelalterliche Geschichte, Wilhelmstr. 36, D-73074 Tübingen
E-Mail: [email protected]
53 Capitulare Haristallense, hg. v. Boretius, c. 10, S. 49 u. c. 16, S. 51; zu Gilden vgl.
grundlegend: Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, in:
Herbert Jankuhn u. a. (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Teil 1:
Historische und rechtshistorische Beiträge und Untersuchungen zur Frühgeschichte der
Gilde (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologischhistorische Klasse, Dritte Folge, Bd. 122), Göttingen 1981, S. 284 – 354.
54 Capitulare Haristallense, c. 21, S. 51.
55 Ebd., c. 22, S. 51.
56 Ebd., c. 17, S. 51.
57 Ebd., c. 8 – 9, S. 48; c. 23, S. 51.
58 Dies ist Teil des Forschungsprogramms des neuen Tübinger Sonderforschungsbereichs
923 „Bedrohte Ordnungen“, dem auch dieser Beitrag insgesamt verpflichtet ist.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit als
Epochenindikatoren?
Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung
des 19. Jahrhunderts
von Cornel Zwierlein
Abstract: The rather technical term “insurability” borrowed from the insurance industry has had a curious career in risk sociology : For Ulrich Beck and others, the
question whether private insurers insure big risks, serves as a yard stick for the
difference between risks of “first” or “second” modernity : nuclear catastrophes and
climate collapse are not insurable by private companies. The contribution shows that
the idea to use insurability for historicization goals is good, but that the way Beck uses
it is not convincing. Following the time sociologist Barbara Adam, the contribution
distinguishes between the overall (e. g. apocalyptical or progressive) timescapes of a
given epoch and the operative time horizons (e. g. closed or open future orientation,
project time) in a given group and field of action. The limits of insurability in the
history of insurance should not be seen as isolated phenomena but before the background of larger timescapes of society. A three-step development from premodern and
modern to late modern realities is established, based on printed and archive material
mainly from 18th to 19th century German and British insurance history with an
outlook onto late modern conditions.
Schon vor langer Zeit hat Franz-Xaver Kaufmann formuliert, dass Sicherheit
und Sicherheitsproduktionsmechanismen in besonderem Maße zeit- und
zukunftsbezogene Analysegegenstände sind, allerdings in einer paradoxen
Weise: einerseits eignet ihnen ein beharrendes Element der Stabilisierung,
andererseits ein antizipatorisches insofern sie immer vorausschauend auf die
Bedrohung der Sicherheit ausgerichtet sind.1 Dies mag in sehr allgemeinem
Sinne gelten. Eine Geschichte von Sicherheitsregimen und Sicherheitsproduktion kann somit nicht nur struktur- oder institutionengeschichtlich
arbeiten, sondern muss in besonderer Weise nach der Historisierung ihres
Zeitbezugs und ihrer Zeithorizonte fragen. Dies wird umso deutlicher, wenn
man nicht nur auf politische Sicherheit fokussiert, sondern in einem breiteren
Umfang Sicherheitsdispositive in ihrer gesamtgesellschaftlichen Dimension
zum Thema machen will. Dann ist eine Analyse der Akteure und Institutionen
1 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem.
Untersuchung zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 19732,
S. 156 – 169.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 423 – 452
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
424
Cornel Zwierlein
professionellen Sicherheitsverkaufens des Spätmittelalters und der Neuzeit
schlechthin, von Versicherungen, unabdingbar. Und dass diesem – zumindest
in seiner Prämienversicherungsform – im Mittelmeerhandel entstandenen
Sicherheitsproduktionsmittel, das den „risico“-Begriff prominent machte, ein
besonderer Zeitbezug eignet, liegt auf der Hand. Dabei geht es um ein weiteres
Verständnis von Versicherungen und ihrer Bedeutung, eigentlich eher um das
Versicherungsprinzip in seiner institutionellen Formung als nur um den
Versicherungsvertrag des Mittelalters oder die frühe Versicherungsgesellschaft des 17. Jahrhunderts.
In einem solch weiten Sinne hat seit kurzem die Soziologie versucht,
Versicherungen zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand zu machen.
Ericson, Doyle und Barry formulierten 2003
Insurance also remains in the background in social science. Except for narrow specialisms in
law and economics, it has not been subject to extensive analyses. Although the insurance
industry is among the most pervasive and powerful institutions in society, the sociology of
insurance remains nascent.2
In der Geschichtswissenschaft kamen neben den enger wirtschafts- und
rechtshistorischen Behandlungen von Versicherungsgeschichte3 seit den
1980er Jahren neue Impulse insbesondere aus der Wissen(schaft)sgeschichte.
Im Kontext der sogenannten probabilistischen Revolution wurde in der
Lebensversicherung ein Typ frühmoderner professioneller Risikokalkulation
und damit von Zukunftskolonisierung4 erkannt, der prägend für den Umgang
(zunächst der englischen) Aufklärergesellschaft mit ihrer Welt war. Freilich hat
Lorraine Daston dabei wohl zu stark den spielerischen Charakter des Umgangs
mit Versicherung betont – Lebensversicherungen als Praxis nahe an Glücksspiel und Wette –, gleichsam als Fingerübung neben der probabilistischen
Theoriebildung der frühen Statistiker. Demgegenüber hatte Geoffrey Clark
herausgearbeitet, dass und wie die zwar eher im Modus des „rule of thumb“
2 Richard V. Ericson u. a., Insurance as Governance, Toronto 2003, S. 3.
3 Die sehr reiche Literatur kann hier nicht erschöpfend wiedergegeben werden. Vgl. für
einen aktuellen Forschungsüberblick Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus.
Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Göttingen 2011, S. 24 – 39.
4 Der Begriff der Zukunftskolonisierung wurde eher nebenbei geprägt von Torsten
Hägerstrand, Time and Culture, in: Guy Kirsch u. a. (Hg.), The Formulation of Time
Preferences in a Multidisciplinary Perspective. Their Consequences for Individual
Behaviour and Collective Decision-Making, Berlin 1988, S. 33 – 42, hier S. 40 f. Zitiert
und systematischer ausgeführt bei Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self
and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991, S. 109 – 143; Barbara Adam, Time
and Social Theory, Philadelphia 1990, S. 138 – 142; Gerda Reith, Uncertain Times. The
Notion of „Risk“ and the Development of Modernity, in: Time and Society 13. 2004,
S. 383 – 402, bes. S. 386 – 393; Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des
Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980, S. 600.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
425
erfolgenden Berechnungen bei der Versicherungsplanung im 18. Jahrhundert
sehr wohl eine funktionsfähige Praxis bildete, die keineswegs nur spielerisch
gemeint war. Eve Rosenhaft kommt das Verdienst zu, in die angloamerikanische Forschung die dort meist unbekannte deutsch-kameralistische Tradition von Versicherungsinstitutionen (am Beispiel der Witwen- und Waisenkassen) eingeführt zu haben, welche auch eine voll ausgebildete Praxis ganz
jenseits des „Spielerischen“ dokumentiert.5 Wie auch immer man innerhalb
dieser Forschungsdiskussion die Versicherungsgesellschaften und -institutionen genau einordnet, sie stehen jedenfalls für einen besonderen Typus
frühmoderner individueller wie gesellschaftlicher Planung. An diesem Punkt
gewinnen sie dann auch in einer ganz allgemeinen Hinsicht an Bedeutung:
zumindest das Auftreten der Versicherung als Institution kann als Epochenindikator dienen und wird auch im historischen Narrativ der allgemeinen und
Risikosoziologie so eingesetzt. Versicherungen seien die Institutionen, die am
besten als Indikator für die Öffnung eines neuzeitlichen oder modernen
Zukunftshorizontes stehen können.6 Speziell wird insbesondere von Ulrich
Beck das Kriterium der Versicherbarkeit durch private Versicherungsgesellschaften als ein solcher Epochenindikator angeführt, der dann insbesondere
auch Erste und Zweite Moderne trenne. Dieses Kriterium der Versicherbarkeit
stammt eigentlich aus dem engeren Kontext der Betriebswirtschaft: Eine von
vielen, in der Nachkriegszeit zunehmend diversifizierten und verkomplizierten Definitionen von Versicherbarkeit in diesem technischen Sinne lautete
etwa: „Risiken sind dann unversicherbar, wenn ihre nutzenäquivalente Prämie
aus der Sicht des Versicherers die Prämienobergrenze der potentiellen
Nachfrager übersteigt.“7 Anders formuliert: Wenn der Versicherer den
potenziell entstehenden Schaden so hoch einschätzt, dass auch die Prämie
so hoch sein müsste, dass kein Kunde diese zahlen würde, dann ist ein Risiko
unversicherbar. Eine solche Definition scheint zunächst wenig allgemeinsoziologisches und erst recht historisches heuristisches Potenzial zu besitzen
und es wirkt erst einmal verwunderlich, dass die Risikosoziologie hier ein sehr
5 Lorraine J. Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988; dies.,
The Domestication of Risk. Mathematical Probability and Insurance, 1650 – 1830, in:
Lorenz Krüger u. a. (Hg.), The Probabilistic Revolution, Bd. 1: Ideas in History,
Cambridge, MA 1987, S. 237 – 26; Geoffrey Clark, Betting on Lives. The Culture of Life
Insurance in England, 1695 – 1775, Manchester 1999; Eve Rosenhaft, Did Women Invent
Life Insurance? Widows and the Demand for Financial Services in Eighteenth-Century
Germany, in: David R. Green u. Alastair Owens (Hg.), Family Welfare. Gender, Property
and Inheritance Since the Seventeenth Century, Westport, CT 2004, S. 163 – 194;
Geoffrey Clark (Hg.), The Appeal of Insurance, Toronto 2010.
6 Vgl. Clark, Betting on Lives, S. 3; allgemein zum neuzeitlichen Zukunftsbegriff Lucian
Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt 1999, S. 34 – 55.
7 Walter Karten, Versicherbarkeit und Risikopolitik, in: Zeitschrift für die gesamte
Versicherungswissenschaft 61. 1972, S. 279 – 299, hier S. 299.
426
Cornel Zwierlein
spezielles Kriterium für eine so allgemeine Epochenunterscheidung herangezogen hat – dies bedarf einer genaueren Analyse und Kritik. Wenn dem aber im
historischen Narrativ der Risikosoziologie so ist, dann kommt den Versicherungen eine ganz bedeutsame und allgemeine Funktion gerade hinsichtlich
des hier in Frage stehenden Verhältnisses von Sicherheitsregimen und
Epochendenken zu, und diese Funktion eines Epochen-Lackmustests gilt es
im Folgenden zu überprüfen. Hierzu ist es aber sinnvoll eine begrifflichsystematische Zweiteilung vorzunehmen, die so etwa bei Beck nicht auftaucht.
Einerseits in den spezifischer auf den Wirtschaftsbereich bezogenen Zeit- und
Planungshorizont der Versicherungen selbst auf ihr als Risiko konstruiertes
Objekt – man könnte von Operationshorizont oder operativem Zeithorizont
sprechen. Andererseits in einen allgemeineren Zeithorizont, der für die
gegebene Gesamtgesellschaft den Rahmen des Erwartbaren für ihre Zukunft
als ganzes benennt, den man mit Barbara Adam als gesamtgesellschaftlichen
„timescape“ bezeichnen könnte. Insbesondere geht es um die Frage, ob und in
welcher Form in einer Gesellschaft die Möglichkeit und Antizipation, dass sie
insgesamt untergeht, als Thema und Vorstellung kommuniziert wird; man
könnte zugespitzt bei diesem zweiten Horizont von einem Apokalypsehorizont sprechen, der im Folgenden noch näher definiert wird. Vorweg mag schon
betont werden, dass mit dieser Unterscheidung von Zeithorizont-Typen auch
Verkürzungen der bisherigen Zukunftsgeschichtsforschung aus dem Weg
gegangen werden soll: bei Koselleck und ihm folgend bei Hölscher sowie
anderen wird immer im großen Maßstab davon ausgegangen, dass der
geschlossene Zukunftshorizont der Vormoderne durch einen offenen Zukunftshorizont der Neuzeit und Moderne abgelöst würde. Das ist im Grunde
auch korrekt, betrifft aber in unserem Sinne nur den zweiten auf die
Gesamtgesellschaft bezogenen Horizont. Hierneben wäre hervorzuheben, dass
Zeithorizonte eben auch kleinräumiger, gruppen- und funktionsbezogener
emergieren und auch koexistieren können, dass Zeitgenossen bei jeweils
unterschiedlichen Tätigkeiten auch durchaus frei zwischen solchen operativen
Horizonten wechseln können und mancher operative Horizont dann die
gesamtgesellschaftlichen Zeithorizonte vorbereiten mag, aber nicht muss.
Es wird daher im Folgenden das Argument entwickelt, dass die in der Tat hohe
Bedeutsamkeit von Versicherungen und auch des Indikators Versicherbarkeit
im Rahmen einer allgemeinen Geschichte von Sicherheitsregimen und
-dispositiven und der Frage nach epochalen Grenzscheiden besonders
fruchtbar in der Zusammenschau dieser zwei, in Reichweite und Funktionsbezug unterschiedlichen, gesellschaftlichen Zeithorizonte zu beantworten ist.
Erst unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs wird ein Argument
verschiedener Epochenspezifizitäten von Versicherung in einem so allgemeinen Sinn, wie es Beck und andere vornehmen wollen, nachvollziehbar. Diese
Zusammenschau erfolgt zum Schluss dieses Beitrags, nachdem zunächst die
Unterschiedlichkeit von Versicherung zwischen Sattelzeit und Hochkolonialismus herausgearbeitet wird. Hier geht es um den ersten der beiden
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
427
Zeithorizonte, den enger auf den Wirtschaftsbereich bezogenen operativen.
Ausgangspunkt ist die Bedeutung, die die Versicherbarkeitsgrenze innerhalb
des Epochennarrativs der Risikosoziologie einnimmt und welche inhaltlichen
Kritikpunkte daran auszusetzen sind; die daraus gewonnenen kritischen
Impulse werden dann zur Beantwortung der komplexeren Frage nach den
Zeithorizont-Verhältnissen hinsichtlich der Versicherungen genutzt.
I. Das Epochennarrativ der Risikosoziologie
Die Risikosoziologie in ihrer Beck’schen Ausformung8 hat ohne Frage mit
großer Feinfühligkeit einige fundamentale Verschiebungen in der bundesdeutschen wie globalen Gesellschaft in allen Teilbereichen, von der IndustrieNebenfolgen-Analyse bis zur innerfamiliären Pluralisierung und zuletzt bis
hin zu globaler Terrorbedrohung und Klimakollaps, ausgemacht und einen
neuen soziologischen Blick hierauf eröffnet. Diese Analysen sind auch in der
Geschichtswissenschaft auf große Resonanz gestoßen.9 Allerdings ist im
Unterschied zu manch anderem Soziologen Becks historisches Interesse sehr
gering ausgeprägt, obwohl er der Risikosoziologie durchaus ein prononciertes
epochentheoretisches Narrativ unterlegt hat, in dem es insbesondere immer
um die Ablösung einer Ersten durch eine Zweite Moderne geht. En passant
klingen zuweilen auch Formulierungen zu dem an, was vor der Ersten
Moderne stattfand, also der Vormoderne, aber dies hat Beck selbst nie
ausgeführt.10 Die Sorgsamkeit, mit der etwa Luhmann sein Theorem zur
Entstehung der Moderne, die funktionale Differenzierung in allen gesellschaftlichen Bereichen, in vielen Publikationen untermauert hat,11 war hier nie
anzutreffen, was auch schon vermehrt zu Kritik und Anfragen geführt hat.12 In
8 Zunächst Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,
Frankfurt 1986; ders., Weltrisikogesellschaft, Frankfurt 2007.
9 Produktiv weiter ausgebaut bei Paul Nolte, Riskante Moderne. Die Deutschen und der
neue Kapitalismus, München 2006.
10 Eine gewisse Ausnahme stellte Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und
Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995 dar.
11 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 4 Bde., Frankfurt 1989 – 1995
sowie in vielen anderen Arbeiten, in denen historische Teilabschnitte vorhanden sind.
Dass man freilich trotz dieser quellengesättigten Analysen die entsprechenden (Re-)
Konstruktionen Luhmanns insgesamt als stark teleologisch kritisieren kann, steht
wieder auf einem anderen Blatt. Vgl. hierzu Cornel Zwierlein, Pluralisierung und
Autorität. Tentative Überlegungen zur Herkunft des Ansatzes und zum Vergleich mit
gängigen Großerzählungen, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.), Pluralisierungen. Konzepte
zur Erfassung der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, S. 3 – 30.
12 Vgl. etwa Jean-Baptiste Fressoz, Beck Back in the 19th Century. Towards a Genealogy of
Risk Society, in: History and Technology 23. 2007, S. 333 – 350.
428
Cornel Zwierlein
Becks Monographie „Risikogesellschaft“ von 1986 waren die meisten Kriterien
für die Unterscheidung von moderner Industriegesellschaft und Risikogesellschaft beziehungsweise von Erster und Zweiter Moderne noch relativ vage.13
Erst als er das im Französischen zeitgleich erschienene Buch „L’tat providence“ des Foucault-Schülers FranÅois Ewald rezipierte, in dem es um die
Entwicklung der Arbeiter-Unfallversicherungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts ging,14 scheint er Versicherungen eine Art systematischen Stellenwert eingeräumt zu haben, was sich im Nachwort der deutschen Übersetzung
von Ewalds Buch von 1991 niederschlug:
Auch läßt sich so der Epochenunterschied, der die Risiken der Industriegesellschaft und der
bürgerlichen Sozialordnung von den Gefahren und Zumutungen der Risikogesellschaft
unterscheidet, klarer fassen: Der Eintritt in die Risikogesellschaft findet in dem Moment
statt, wo die nun gesellschaftlich entschiedenen und damit produzierten Gefahren die
geltenden Sicherheitssysteme vorhandener Risikokalkulationen des Vorsorgestaates unterlaufen bzw. aufheben: Atomare, chemische, ökologische und gentechnische Risiken sind im
Unterschied zu frühindustriellen Risiken (a) weder örtlich noch zeitlich eingrenzbar, (b)
nicht zurechenbar nach den geltenden Regeln von Kausalität, Schuld, Haftung, (c) nicht
kompensierbar, nicht versicherungsfähig. […] Wer nach einem operationalen Kriterium für
diesen Übergang fragt, hat es hier in der Hand: Fehlen des privaten Versicherungsschutzes,
mehr noch: der Versicherbarkeit von industriellen technisch-wissenschaftlichen Projekten.
[…] Jenseits der Versicherungsgrenze balanciert die ungewollt durch die systemisch
erzeugten Gefahren zur Risikogesellschaft mutierte Industriegesellschaft.15
Abgesehen davon, dass die Beck’schen Thesen auch für die Gegenwart
kritisiert werden,16 baut die in diesem Zitat konzentriert greifbare Beck’sche
13 Zur Kritik an der Risikogesellschaftsthese aus historischer Sicht vgl. Nolte, Riskante
Moderne, der wie viele insbesondere die Grundunterscheidung von Erster/Zweiter
Moderne schon für nicht plausibel hält.
14 FranÅois Ewald, L’tat providence, Paris 1986.
15 Ulrich Beck, Nachwort, in: FranÅois Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt 1991, S. 541.
16 So haben etwa Richard V. Ericson u. Aaron Doyle, Catastrophe Risk, Insurance and
Terrorism, in: Economy and Society 33. 2004, S. 135 – 173 in empirischer Analyse der
pekuniären Schadensbewältigung des Terroranschlags vom 11. 9. 2001 gezeigt, dass die
Unversicherbarkeitsgrenze sehr viel dynamischer variabel und progressiv verschiebbar
ist als von Beck suggeriert. Beck hat darauf wiederum reagiert mit dem Argument,
Einzelschäden möchten ja von Versicherungen bewältigt werden, nicht aber die
„Terrorgefahr an sich“; aber dann passen Versicherungen schlechthin nicht für seine
Argumentation, denn nie in der Geschichte ist eine staatliche oder private Versicherung
angetreten, eine „Gefahr an sich“ zu versichern, in der Vormoderne also etwa die
Summe aller denkbaren Brandkatastrophen in der Welt. Zur weiteren Diskussion vgl.
technisch Peter Chalk, Trends in Transnational Terrorism and Implications for U.S.
National Security and U.S. Terrorism Risk Insurance Act, in: Studies in Conflict and
Terrorism 30. 2007, S. 767 – 776; Claudia Aradau u. Rens van Munster, Insuring
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
429
Argumentation in ihren Prämissen auf einer Vielzahl von historisch kaum
korrekten und nicht weiterführenden Annahmen auf.
Erstens: Dass private Versicherer zu große Risiken wie einen Atom-GAU nicht
versichern, ist nicht verwunderlich; die Vorstellung, dass der Epochenwechsel
nun gerade darin läge, dass Aufgaben privater Versicherer auf den Staat
„zurückfallen“ würden, suggeriert aber, dass der private Versicherungsschutz
gleichsam vorgängig, und das Eintreten von Staatlichkeit als Sicherheitsgarant
„of last resort“ außergewöhnlich sei. Die historische Entwicklung zeigt aber
bis dahin gerade das Umgekehrte, zumindest in Kontinentaleuropa eher die
Vorgängigkeit obrigkeitlich-staatlicher Schutzmechanismen und das überhaupt erst langsame Eindringen von privaten Versicherungslogiken.
Zweitens: Der These fehlt jede Sensibilität für die historische Relativität von
Gefahren/Risiken und Sicherheitsproduktionsmitteln: die örtliche und zeitliche Nicht-Eingrenzbarkeit war relativ gesehen auch für Großgefahren der
Vormoderne gegeben, die die damaligen Grenzen des Beherrschbaren überstiegen. Die Dimensionen von Örtlichkeit und Zeitlichkeit waren natürlich
ohnehin aufgrund kommunikationshistorisch unterschiedlicher Gegebenheiten andere, so dass sie in der Vergangenheit ähnlich unbeherrschbar
erschienen.
Drittens: Die Unzurechenbarkeit von Risiken nach den Regeln von Kausalität,
Schuld und Haftung ist ein Merkmal, weshalb Versicherungen ja überhaupt
eingerichtet wurden und werden: diese Logiken sollen umgangen werden.
Ergibt sich eine Situation, wo eine Versicherung nicht mehr möglich, weil
unrentabel ist, wird nicht zwingend eine Epochengrenze überschritten.
Insofern wird man als Historiker die Beck’sche, etwas überwertige Vorstellung
von Versicherbarkeit als Epochenindikator zunächst in ihrer Verallgemeinerung in Frage stellen müssen. Trotzdem hat die Konzeption doch die richtige
Intuition auf ihrer Seite, dass Versicherbarkeit einen sehr gut historisierbaren
und dann fruchtbaren Gegenstand der Analyse darstellt, mit Hilfe dessen man
viel über die jeweilige Gesellschaft und ihre Sicherheitsregime aussagen kann.
Von dieser nur implizit wirksamen Intuition wird hier ausgegangen. Zwar ist
in den frühen Quellen der Versicherungsgeschichte kein abstrakter Terminus
der Versicherbarkeit nachweisbar, aber es gab stets implizite und teilweise
auch explizite Grenzziehungen, die zum Ein- oder Ausschluss von „guten“ und
„schlechten“ Risiken in den Versicherungsschutz führten. Entlang welcher
Grenzen dieser Ein- oder Ausschluss vorgenommen wurde, wird im Folgenden
knapp für die sogenannte Sattelzeit sowie für den Kontext und die Epoche des
Hochkolonialismus im Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung des 19.
Jahrhunderts untersucht.
Terrorism, Assuring Subjects, Ensuring Normality. The Politics of Risk After 9/11, in:
Alternatives. Global, Local, Political 33. 2008, S. 191 – 210.
430
Cornel Zwierlein
II. Versicherbarkeit in der Sattelzeit
Der Prämienversicherungsvertrag kam im 14. Jahrhundert im Mittelmeerhandel als Korrelat zur doppelten Buchführung auf.17 Bis etwa 1680 blieb es
immer bei Einzelversicherungen, das heißt, ein Kaufmann oder eine Mehrzahl
von Kaufleuten versicherte Schiffe und Waren eines anderen Kaufmanns, was
in einer polizza beziehungsweise police niedergelegt wurde. Erst um 1680
herum begann die zunehmende Universalisierung der Prämienversicherungslogik und ihre Ausbreitung auf Gegenstandsbereiche über den maritimen
Warentransport hinaus sowie vor allem ihre Institutionalisierung. Erst jetzt
formierten sich einerseits private Handelsgesellschaften in England (joint
stock companies und mutual societies) und andererseits staatlich-kameralistisch geführte Brandkassen in Deutschland.18 Hauptgegenstand von Versicherungen wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nun die Feuerversicherung.
Die wegen ihrer Nähe zur mathematischen Probabilistik in der jüngeren
wissenschaftsgeschichtlichen Forschung öfter präsente Lebensversicherung19
war vom Volumen her lange Zeit eher unbedeutend, ebenso andere Gegenstände, mit denen experimentiert wurde (zum Beispiel Hagel- oder Ertragsversicherungen). Auch darf nicht aufgrund einer aus dem 20. oder 21. Jahrhundert rückprojizierten Identifizierung von Versicherungsmathematik beziehungsweise Probabilistik als dem Kern des Versicherns vergessen werden,
dass die Versicherungsgeschichte bis ins 17. Jahrhundert nahezu identisch ist
mit der Geschichte der maritimen Transportversicherung. Ausführlichere
Reflexionen über Versicherbarkeit von Gegenständen, Waren, Transportwegen
oder Personen finden sich in der Frühphase der Prämienversicherung kaum,
es sei denn im Sinne von normativen Überlegungen über die grundsätzliche
Erlaubtheit von Versicherungen oder bestimmter Typen von Versicherung in
der Kanonistik und dann in der Spätscholastik.20 So wurden Versicherungen
17 Lucas A. Boiteux, La fortune de mer. Le besoin de scurit et les dbuts de l’assurance
maritime, Paris 1968; Federigo Melis, Origini e sviluppi delle assicurazioni in Italia
(secoli XIV-XVI), Bd. 1: Le fonti, Rom 1975; Karin Nehlsen-von Stryk, Die venezianische Seeversicherung im 15. Jahrhundert, Ebelsbach 1986; Angelo La Torre, L’Assicurazione nella storia delle idee. La risposta giuridica al bisogno di sicurezza economica:
ieri e oggi, Mailand 20002.
18 Vgl. für einen Forschungsstand und eine neue Rekonstruktion der Emergenz- und
Wandlungsphasen Zwierlein, Der gezähmte Prometheus, S. 24 – 39.
19 Vgl. Anm. 5 und Ian Hacking, The Emergence of Probability. A Philosophical Study of
Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference, Cambridge 1976;
ders., The Taming of Chance, Cambridge 1990; Anders Hald, A History of Probability
and Statistics and Their Applications before 1750, New York 1990.
20 Vgl. hierzu Torre, L’Assicurazione und Giovanni Ceccarelli, Risky Business. Theological
and Canonical Thought on Insurance from the Thirteenth to the Seventeenth Century,
in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31. 2001, S. 607 – 658.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
431
im 15. Jahrhundert manchmal als zu verbietende glücksspielähnliche Verträge
eingeordnet, besonders bei dem Glücksspiel nahestehende Formen wie etwa
Wettversicherungen auf das Ableben berühmter Personen. Dies waren freilich
wirtschaftlich weitgehend unbedeutende Nebenformen, die für die hier in
Frage stehenden größeren Entwicklungslinien keine Relevanz haben.21 Die
juristischen Traktate über Versicherungen im römisch beherrschten Gemeinen Recht reflektierten dann kaum mehr das „Ob“ von Versicherung, auch
nicht die praktischen Details des „Wie“, sondern hauptsächlich die Frage der
Klassifizierung in der obligationsrechtlichen Schematik.22 Auch aus den über
Versicherungen geführten Gerichtsprozessen des 15. und 16. Jahrhunderts, die
die zweite Quelle für unser Wissen über die früheste Praxis des Versicherns
überhaupt darstellen, lassen sich für unsere Frage wenig Informationen
beziehen. Erst nach der erwähnten Umstellung ab 1680 finden sich sowohl
inhaltlich als auch vom Veröffentlichungstyp her neue Reflexionsformen über
Versicherung. In England entstanden solche Texte im Zuge der wirtschaftlichen Konkurrenz der unterschiedlichen Feuerversicherungsgesellschaften, oft
als Werbebroschüren von wenigen Seiten, die gratis in den Versicherungsbüros in der Nähe der Londoner Royal Exchange verteilt wurden.23 Im deutschen
Sprachraum sind es staatswirtschaftlich-kameralistische Reflexionen, die
zunächst eher in Form handschriftlicher Gutachten greifbar sind, ab 1750
findet sich dann ein wachsender Strom zunächst kurzer Zeitschriftenbeiträge,
dann immer ausführlicherer und selbständig veröffentlichter Traktate zum
Versicherungswesen, aus denen wir nun für die Frage der Historisierung von
Versicherbarkeit schöpfen können. Dabei ist zunächst auf eine Leerstelle
21 Vgl. Melis, Origini e sviluppi, doc. 27 – 29, S. 214 – 217: Lebensversicherung auf den Tod
des Herrn von Piombino und Wettversicherung auf den Tod Papst Niccols V. und des
Königs von Aragn innerhalb eines Jahres.
22 Vgl. dazu Nehlsen-von Stryk, Seeversicherung; Johan Petrus van Niekerk, The
Development of the Principles of Insurance Law in the Netherlands from 1500 to
1800, 2 Bde., Kapstadt 1998; Gian Savino Pene Vidari, Sulla classificazione del contratto
d’assicurazione nell’et del diritto comune, in: Rivista di storia del diritto italiano 71.
1998, S. 113 – 137; Cornel Zwierlein, Renaissance Anthropologies of Security. Shipwreck, Barbary Fear and the Meaning of „Insurance“, in: Andreas Höfele u. Stephan
Laqu (Hg.), Humankinds. The Renaissance and its Anthropologies, Berlin 2011,
S. 157 – 182; Zwierlein, Der gezähmte Prometheus, S. 55 – 71.
23 Einige dieser pamphlets sind bei David Jenkins u. Takau Yoneyama (Hg.), History of
Insurance, 8 Bde., London 2000 faksimiliert, darüber hinaus aber auch bei „Early
English Books“ online einsehbar. Vgl. Peter G. M. Dickson, The Sun Insurance Office
1710 – 1960. The History of Two and a Half Centuries of British Insurance, London 1960,
S. 1 – 16; Harold E. Raynes, A History of British Insurance, London 19642, S. 70 – 83;
Hugh A. L. Cockerell u. Edwin Green (Hg.), The British Insurance Business. A Guide to
its History and Records, Sheffield 19942, S. 26 – 28; Robin Pearson, Insuring the
Industrial Revolution. Fire Insurance in Great Britain, 1700 – 1850, Aldershot 2004.
432
Cornel Zwierlein
hinzuweisen: In den frühen englischen Texten um 1700 und weit ins
18. Jahrhundert hinein finden sich Überlegungen zur Versicherbarkeit eigentlich nur in Form von Reflexionen zu Risikoklassen (von Objekten und
Menschen)24 sowie des potenziellen Versicherungsbetrugs,25 die kurzen
Ausführungen enthalten meist nichts Aufschlussreiches über größere gesellschaftliche Zusammenhänge, das mit Versicherbarkeit verbunden wäre. Dieser
Diskussionsstand wurde auch in Deutschland aufgenommen, zunehmend seit
dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, als die Kameralisten die Reform und
Verbesserung der bestehenden staatlichen Brandkassen anstrebten.26 Bei
Vieh-Assekuranzen wurde die Versicherbarkeitsgrenze entlang der Frage der
Gesundheit und des Alters des Viehs gezogen,27 auch bei Lebensversicherungen ging es schon um das, was später „moral hazard“ genannt wurde.
Die Konzeption von Versicherungen als staatliches Projekt durch die praktischen Aufklärer in Deutschland führte zwar im Gegensatz zum englischen Fall
dazu, dass diese Form der Sicherheitsproduktion mit eudämonistischen oder
später auch karitativ-philanthropischen Staats- und Gesellschaftszielen verschränkt wurde. Hinsichtlich der Frage nach den Inklusions-/ExklusionsGrenzen führte es aber interessanterweise zunächst zu einer relativen
Unterbestimmtheit: In einem der frühen klassischen Texte, dem handschriftlich überlieferten, an Kaiser Leopold I. gerichteten Gutachten „Öffentliche
Assekuranzen“ von Leibniz (1680),28 wird das im kleinen städtischen Rahmen
und weitgehend ohne begleitende theoretische Reflexion kreierte Modell der
Hamburger Generalfeuerkasse von 1676 mit großen Strichen zu einem Projekt
einer von aller Obrigkeit einzuführenden Versicherung gegen jedwede Form
von Natur-Unglücken transformiert, das als ein neues „Regale Assecurationis“
verstanden werden könne, also als ein herrschaftliches Regal-Recht wie etwa
das Münzregal. Eine Versicherbarkeitsgrenze, etwa hinsichtlich großer Stadtbrand-Totalkatastrophen, kommt hier nicht zur Sprache, es wird lediglich das
24 Vgl. Clark, Betting on Lives.
25 Robert Pearson, Moral Hazard and the Assessment of Insurance Risk in Eighteenth- and
Early-Nineteenth-Century Britain, in: Business History Review 76. 2002, S. 1 – 35.
26 Auf dem aktuellen internationalen Kenntnisstand ist etwa Georg Elert Bieber, Plan zur
Errichtung einer für Hamburg möglichst vorteilhaften Versicherungs-Compagnie
gegen Feuer-Gefahr, Hamburg 1795; dazu Anonym, Bemerkungen über die vorläufigen
Puncte […], Hamburg 1795; Georg Elert Bieber, Prüfung der Bemerkungen eines
Ungenannten über die vorläufigen Punkte […], Hamburg 1795; Johann Georg Büsch,
Allgemeine Übersicht des Assekuranzwesens, Hamburg 1795, jeweils mit kleinen
Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die noch untypisch für den Bereich „Feuer“ waren.
27 Ferdinand Friedrich Pfeiffer, Gedanken über Versicherungs-Anstalten […], Stuttgart
1780, S. 40 – 43.
28 Gottfried Wilhelm Leibniz, Öffentliche Assekuranzen, in: ders., Sämtliche Schriften und
Briefe, Reihe IV: Politische Schriften, Bd. 3: 1677 – 1689, hg. v. Lotte Knabe u. Margot
Faak, Berlin 1986, S. 421 – 432.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
433
Problem der sozialen Unterschiede angesprochen: In der Assekuranz sollten
letztlich die Reichen die Armen mitversichern; die Versicherung diene gerade
dazu, dass keiner aufgrund von Naturkatastrophen in Armut verfalle und aus
der Verzweiflung heraus dann zum Bettler oder gar zum gesellschaftsschädigenden Subjekt würde. Versicherungen hätten demnach nicht nur eine
pekuniäre Bedeutung, sondern eine Reichtums-Umverteilungsfunktion und
einen sozialpsychologisch motivierenden Effekt.29 Vom gleichen sozialpsychologischen Gesichtspunkt aus argumentierte genau umgekehrt eine Beantwortung der Preisfrage der Göttingischen Societät der Wissenschaften für das
Jahr 1792, „wie oder unter welchen Umständen können die mannichfaltigen
Assekuranz-Anstalten dem Staate schaden?“ Es würden künstliche Grenzen
der Versicherbarkeit angesetzt, etwa hinsichtlich von Über- und Wucherversicherung oder einschlägiger im Hinblick auf den Gegenstand: Nur auf
„eigentliche Unglücksfälle“, „nicht auf einen Verlust, der durch Vorsicht und
Fleis abgewandt werden konnte“, dürften Versicherungen angewandt werden,
denn Assekuranzen würden dem Staat dort schädlich, wo sie „zur Verminderung der Betriebsamkeit der Bürger beitragen“, was der Fall wäre, „wenn sie
auf die Erstattung eines Verlustes abzielen, der durch eigenen Fleis abgewandt
oder durch eigene vermehrte Arbeitsamkeit ersezt werden konnte.“ Dies
würde den „Nationalreichtum“ mindern.30 Diese sozialpsychologische Interpretation der Versicherungswirkung war für die deutsche Variante typisch, im
englischen Fall betrieb man eine solche makrogesellschaftliche Funktionsanalyse gar nicht.
Hierfür einschlägig ist auch das mit den frühen Versicherungsprojekten
verfolgte Ziel einer teilweise stände-, jedenfalls aber einkommensklassenübergreifenden Zusammenfassung von Versicherten in einer Institution. Das
führte zu Konflikten und immer wieder zur Ablehnung der Institutionen von
Bessergestellten wie Minderbemittelten. Hier ist eine andere Grenze von
Versicherung/Versicherbarkeit angesprochen, die nicht vom Objekt, sondern
von den Subjekten her blickt, ohne dass dies mit heutigen Formen von „moral
hazard“ kongruent wäre. In Berlin wehrte man sich gegen die Übertragung des
Hamburger Modells, weil „ein großer unterscheid zwischen diesen Residentz
Städten und der Stadt Hamburg zu machen“ sei, da hier Arme und Reiche in
29 „Und weil ein großes unglück gemeiniglich desperation verursachet, solche aber bey
einigen bosheit, bey andern aber gleichsam einen lethargum nach sich ziehet, daß
solche leüte alles gehen laßen, und sich wie einer[,] der lange vergebens gegen den
strohm gearbeitet hat[,] endtlich denen wellen ergeben und die hände sincken laßen; als
ist ja leicht zu erachten, daß es eines der kräfftigsten Mittel gegen die bosheit und
Nachläßigkeit der Menschen ist, wenn sie nicht stecken gelaßen, sondern bey Zeiten,
solange die guthe natur noch mit dem unglück streitet, und wille sich zu wehren annoch
vorhanden, gerettet werden.“ Leibniz, Assekuranzen, S. 426.
30 Anonym, Ueber die Mängel der Assekuranz-Anstalten, in: Deutsches Magazin 12. 1796,
S. 603 – 660, hier S. 606 f.
434
Cornel Zwierlein
unvergleichbaren Verhältnissen gegen- und miteinander verbunden würden.
Dies wurde wohlweislich nicht aus der Sicht der Befürworter der Kasse in der
kurbrandenburgischen Administration in dem Sinne vorgebracht, dass nur
solvente Bürger zu versichern seien, sondern von den Gewerken der Stadt
selbst, gerade auch der Armen, die nicht etwa hofften, ein Sicherheitsplus auf
Kosten der Reichen zu erlangen, sondern fürchteten, dass sie die Reichen noch
mittragen müssten.31 Ähnliche Konflikte kann man das ganze 18. Jahrhundert
über beobachten, innerhalb von Städten oder wenn Stadt- und LandFeuersozietäten aufeinander trafen oder vereinigt werden sollten. 1783 wurden
beispielsweise die ländlichen Besitzungen von Nürnberg in die städtische
Brandassecurations-Anstalt aufgenommen. Der taxierte Wert der in die Kasse
eingeschriebenen Häuser betrug für die Stadt zunächst 4,5 Millionen Gulden,
für das Land (Pflegämter, Hauptmannschaften und fremde Herrschaften)
6,7 Millionen Gulden. Auf dem Land aber fanden Brände in hoher Frequenz
statt, während die Stadt seit längerem weitgehend verschont geblieben war
(von 229 Bränden zwischen 1783 und 1797 geschahen 7 in der Stadt und
222 auf dem Land).32 So zahlten plötzlich die Städter ständig den Wiederaufbau der Dorfhäuser mit, woraufhin sie zunehmend aus der Kasse austraten, die
taxierte Summe der Stadthäuser ging zeitweise auf 2,8 Millionen Gulden
zurück, während die des Landes auf fast 10 Millionen Gulden stieg. Die Anstalt
verlor also zunehmend gerade ihre liquidesten Einzahler, die Stadtbürger, weil
für diese der Verbleib in der Kasse nur ein Minusgeschäft war. Aufgrund des
Stadt/Land-Zusammenschlusses wurde also nachfrageseitig Versicherbarkeit
ummodelliert.33 Lorsch zog hieraus den Schluss:
[z]u einer Verbindung, deren Zweck es ist, den ein Individuum betreffenden Schaden nach
einem gewissen Maasstabe unter alle Gesellschafts-Glider zu vertheilen, können sich […]
vernünftigerweise nur solche Individuen vereinigen, welche wo nicht in ganz gleicher doch
wenigstens beynahe in gleicher Gefahr stehen, den befürchteten Schaden zu erleiden.34
Als inhaltliche Füllung des Stadt-/Landunterschiedes wurde bemerkenswerterweise nicht auf die Qualität der Bausubstanz abgehoben, sondern eher auf
die der Einwohner : Landbewohner seien nachlässiger in der Brandvorsorge,
weil unter den tumben Knechten „sträfliche Sorglosigkeit“ herrsche, aber
auch, weil ihre Häuser eh sehr wenig wert seien.
31 Eingabe der Gewerke „Feuer Casse so in diesen Residenzstatt eingeführt werden“, Berlin
[ca. 1696], Landesarchiv Berlin A Rep. 005 – 05/8, Nr. 18.
32 Von insgesamt 78.037 Gulden Brandschaden in 15 Jahren entfielen auf die Stadt nur 473,
auf das Land 77.564 Gulden.
33 Christian Gottfried Lorsch, Welchen Nachtheil bringt die Vereinigung der Stadt und der
Landschaft in eine Brandassecurationscasse dem Nürnbergischen Bürger?, Nürnberg
1799, S. 12 f. u. S. 26.
34 Ebd., S. 16.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
435
Insgesamt ist aber für Versicherungspraxis und -diskurs des späten 18. Jahrhunderts typisch, dass Versicherbarkeit nicht in dem Sinne diskutiert wurde,
dass die Kapazität der Institutionen hinsichtlich gigantischer Mega-Katastrophen in einem absoluten Sinne befragt worden wäre.35 Der Blick der
Theoretiker ist praktisch immer eng auf den Raum einer Stadt oder eines
Territoriums begrenzt. Seit Mitte der 1780er Jahre nahm man zwar im Reich
auch die Expansion der Phoenix Company wahr, der ersten außerbritisch, bald
sogar global agierenden und in Konkurrenz zu den staatlichen Brandkassen
stehenden Versicherungsgesellschaft. Man begegnete ihr jedoch mit Skepsis
und meinte, sich doch auf lokal gesichertes Kapital verlassen zu müssen.36
Bezeichnend ist, dass wenn einmal eine reichsweite Versicherung angedacht
wurde, dies nur in Form einer Utopie geschehen konnte: Der anonyme Autor
einer Miszelle in Der Anzeiger, einer der wichtigsten Wochenzeitschriften des
Alten Reiches mit politisch-administrativem Inhalt, schreibt 1792, er habe „im
Schatten einer hundertjährigen Linde“ gesessen und vom Regierungsantritt
von Franz II. geträumt, als ein Abgeordneter der Reichsstädte, ein Mann „mit
Silberhaar um die offene Stirn“, dem Kaiser eine Bittschrift überreichte, in der
ein ewiger Bund zwischen den Reichsstädten nicht wie einst zur militärischen
Verteidigung, sondern zur gegenseitigen „Beförderung des bürgerlichen
Wohls und gemeinschaftliche[r] Unterstützung und Hülfe in Nothfällen“
vorgeschlagen wird, wozu als erstes „eine gemeinschaftliche Brand- Ueberschwemmungs- Hagel- und Vieh-Assecuranz-Anstalt“ einzurichten sei. Der
Kaiser habe zu dieser partiellen Reichsreform37 als Bundesbildung auf
35 In manchen Versicherungsschriften wird von tatsächlichen oder potenziellen kompletten oder halben Stadtbränden geschrieben, dies aber meist nur als Argument für die
Brandkassenerrichtung, nicht als Reflexion auf absolute Grenzen der Versicherbarkeit:
„Doch wir wollen […] annehmen, ein Orakel sagte uns, eure halbe Stadt wird zu einer
Zeit, da ihr es nicht vermuthet, im Feuer aufgehen und ihr werdet nichts retten, und wir
glaubten diesem Ausspruch so fest, als einst die Griechen dem Ausspruch des Orakels zu
Delphos, was würden wir thun […]? Wir würden uns aus Noth, weil kein andres Mittel
übrig ist, und weil jeder unter uns fürchten müste, das Seinige gänzlich zu verlieren,
zusammen verbinden, das uns bevorstehende Unglück gemeinschaftlich zu tragen, weil
es besser ist, die Hälfte seiner Güter, als sie alle zu verlieren.“ Bieber, Plan zur
Errichtung, S. 18.
36 „Sie [i.e. die Phoenix Compagnie] breitet ihre Geschäfte in ganz Europa aus, und es kann
seyn, das sie auch an andern Orten, so wie hier, viel Geld verdient, indes kann sie auch
andernwärts viel verlieren, doch dem sey, wie ihm wolle, eine auswärtige Societät kann
uns keine völlige Sicherheit leisten, als wenn der Fond, der zum Ersaz für uns bestimmt
ist, in unsre Bank, auf unsre löbl. Cämmerey, oder sonstige hiesige sichre Hypotheken
mit der Clausul belegt wird, ihn so lange die Compagnie für uns existirt, nicht zu
vermindern.“ Ebd., S. 17.
37 Zum Strang der Reichsreformprojekte im 18. Jahrhundert vgl. Wolfgang Burgdorf,
Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische
Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998.
436
Cornel Zwierlein
Reichsstadtebene als reichsweiter Versicherung sein „Kaiserwort“ gegeben:
„Darüber wollte mir das Herz so stark empor, daß ich mit einem lauten Vivat
Franz der Zweyte! Erwachte und gewahr wurde – daß ich geträumt hatte.“38
Der Bund aller Reichsstädte in Deutschland als Versicherungsgesellschaft ist
also nur als politischer Traum, als Utopie formulierbar. Noch 1821, als
inzwischen längst eine Fülle englischer und französischer privater Versicherungsgesellschaften, die nicht an eine Stadt oder ein Territorium gebunden
waren, in Deutschland operierten und gerade auch die ersten deutschen
nachhaltig beständigen privaten Versicherungsgesellschaften, insbesondere
die Gothaer, gegründet worden waren, urteilt ein Autor, dass die „Idee, ganz
Deutschland, wenigstens den handeltreibenden Theil, in einen Verein zu
bringen […] etwas Großes“ habe, „aber ihrer Ausführung leg[t]en sich
unübersteigliche Hindernisse in den Weg“.39 Die Versicherbarkeitsgrenze war
also weniger durch das Hinsinnen auf apokalyptische Überkatastrophen (wie
heute Klimakollapsschäden) bestimmt, auch nicht durch eine Schließung des
allgemeinen Zukunftshorizonts („timescape“), sondern durch eine spatiale
Begrenzung der Wahrnehmungsreichweite des operativen Zeithorizonts.
Anders als bei den frühen englischen privaten Versicherungsgesellschaften
waren die Bewertungsmaßstäbe relativ stark mit wirtschaftsexternen Elementen von Staatlichkeits- und Gesellschaftsverständnissen durchwirkt (Stadt/
Land-, Arm/Reich-, Stände-Unterschiede), während die Einteilung des gegebenen Baubestands in verschiedene Risikoklassen nur in einer Minderzahl der
Brandkassen der Fall war. In den englischen privatwirtschaftlichen Versicherungsgesellschaften war diese Risikoklasseneinstufung bereits seit dem
17. Jahrhundert gängig. Es gibt also ganz deutlich in Praxis und Theorie der
frühen – hier staatlichen – Versicherungen eine Vorstellung über die Grenzen
der Versicherbarkeit. Sie zu analysieren heißt oft, die valenten Begrenzungen
der Machbarkeit und die Visionen und Utopien von Planern nachzuvollziehen.
Es heißt auch, die Grenzen der ständischen Gesellschaft mit dem durchaus
gegenseitigen Misstrauen der Gruppen, Korporationen und Stände untereinander und den gewohnten Beziehungshorizonten als die das funktionale
Denken überlagernden normativen Wirkungsfaktoren nachzuvollziehen. Bezeichnenderweise war der Impetus aller kameralistischen Reformer, die für die
Einführung der Versicherungen arbeiteten und teilweise auch mit Veröffentlichungen warben, letztlich auf eine möglichst große Verbreitung der Institutionsform und eine möglichst umfassende Inklusion ausgerichtet. Überlegungen wie zum Nürnberger Fall waren technische Machbarkeitserwägungen,
die nicht das Versicherungsprinzip an sich in Frage stellten (bei Trennung von
38 Anonym, Patriotischer Traum eines deutschen Reichsstädters, in: Der Anzeiger 11/12,
16./17. 7. 1792, S. 81 – 83.
39 Anonym, Beurtheilung der vorzüglichsten in Deutschland gebräuchlichen Arten der
Versicherung gegen Feuersgefahr, Leipzig 1821, S. 14 f.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
437
Stadt und Land wäre ja wieder für Funktionsfähigkeit gesorgt). Die Versicherbarkeitsgrenze der Sattelzeit erscheint also als Machbarkeits- und Wahrnehmungsgrenze im Bereich des operativen Zeithorizonts. Dieser ist situiert
vor dem Hintergrund einer zumindest bei den Propagatoren und EliteAkteuren grundsätzlich bestehenden Vorstellung des großen Ausweitungspotenzials dieses neuen Typus von Sicherheitsproduktion in einer offenen
Zukunft (gesamtgesellschaftlicher „timescape“).
III. Versicherbarkeit im Hochkolonialismus des
19. Jahrhunderts
Springen wir fünfzig Jahre nach vorn in der Zeit, so können wir im Take-Off
der Hochglobalisierung um 1850 etliche britische Versicherungsgesellschaften
beobachten, die in wenigen Jahren das nachholten, was die Phoenix fast alleine
vorgemacht hatte: die globale Expansion. Es gibt einige wirtschaftshistorische
Veröffentlichungen dazu, die meist auf der Analyse statistischer Veröffentlichungen beruhen und so Wachstum, Penetration und Konjunkturen der
Versicherungen nachzeichnen können.40 Hinter diesen größtenteils quantitativen Analysearbeiten geht aber meist die qualitative wirtschaftskulturelle
Ebene der Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster verloren, mit denen sich
die Unternehmen und ihre Agenten vor Ort und in der Zentrale orientierten:
Hier lassen sich einige bemerkenswerte Beobachtungen zu den Kriterien von
Versicherbarkeit machen, die in diesem Prozess vorherrschten. Gerade durch
Geschäftszahlen, die etwa für das 1710 gegründete Sun Fire Office vorliegen,
die älteste und größte Versicherungsgesellschaft der damaligen Welt,41 lässt
sich zeigen, dass die Städte, in denen die Versicherung operierte – dies waren
40 Mikael Lönnborg, Svenska försäkringsbolags tidiga internationalisering, in: Nordisk
försäkringstidskrift 4. 2000, S. 312 – 326; Robin Pearson u. Mikael Lönnborg, Regulatory
Regimes and Multinational Insurers before 1914, in: Business History Review 82. 2008,
S. 59 – 86; Peter Borscheid u. Kai Umbach, Zwischen Globalisierung und Protektionismus. Die internationale Versicherungswirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg, in:
Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51. 2006, S. 26 – 53; dies., Systemwettbewerb,
Institutionenexport und Homogenisierung. Der Internationalisierungsprozess der
Versicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte
2008, S. 207 – 226. Eleonora Rohland untersuchte die Perspektive der SwissRe insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Trockenheitsanomalie und Brandhäufigkeit
sowie hinsichtlich eines Großfeuers (Sundsvall 1888). Eleonora Rohland, Sharing the
Risk. Fire, Climate and Disaster. Swiss Re, 1864 – 1906, Lancaster 2011. Vgl. auch die
Beiträge von Frank Oberholzner, Eleonora Rohland und Franz Mauelshagen in
Environment and History 17. 2011.
41 Peter G. M. Dickson, The Sun Insurance Office 1710 – 1960. The History of Two and a
Half Centuries of British Insurance, London 1960.
438
Cornel Zwierlein
zunächst stets die großen Hafen- und Handelsstädte im British Empire und
seinen wirtschaftlichen informellen Fortsätzen –,42 brandökologisch komplett
unterschiedlich waren und die Versicherung das erst sehr allmählich realisierte.
Tab. 1: Verhältnis von Prämieneinnahmen, Schadenszahlungen und Ausgaben des Sun Fire Office für
die Agenturunterhaltung in ausgewählten Städten43
Stadt, Jahre
PrämienSchadenszahlungen
einnahmen [loss ratio in %]
Ausgaben für die Agentur vor
Ort [loss ratio hierum erhöht
in %]
Batavia [1858 – 1888]
33.729
0
5.006 [14,84 %]
Bombay [1852 – 1895]
54.772
4.840 [8,84 %]
9.705 [26,56 %]
Calcutta [1852 – 1895]
51.944
8.615 [16,59 %]
4.925 [26,07 %]
East Indies, China, Japan
[1852 – 1888]
399.538
101.698 [25,45 %]
52.999 [38,72 %]
Shanghai [1852 – 1895]
66.806
17.902 [26,79 %]
11.318 [43,73 %]
Hongkong [1852 – 1895]
33.398
13.977 [41,8 %]
5.002 [56,8 %]
Smyrna [1863 – 1895]
166.585
77.595 [46,579 %]
32.784 [66,26 %]
Yokohama [1864 – 1895]
97.676
68.628 [70,26 %]
13.104 [83,677 %]
Valparaiso [1857 – 1895]
128.312
101.159 [78,8 %]
21.028 [95 %]
137.087 [87 %]
20.892 [99,85 %]
Konstantinopel [1865 – 1895] 158.214
Hamburg [1837 – 1895]
383.930
313.545 [81,67 %]
106.854 [109,5 %]
New York
–
[Mittel von 22 ausländischen Versicherungen 60 %]44
–
Das Verhältnis von Prämieneinnahmen zu Schadenszahlungen (loss ratio, plus
Ausgaben für die Agentur-Unterhaltung vor Ort) ist in den asiatischen,
42 Robert Home, Of Planting and Planning. The Making of British Colonial Cities, London
1997, S. 62 – 84; Indu Banga (Hg.), Ports and Their Hinterlands in India, 1700 – 1950,
New Delhi 1992; Frank Broeze (Hg.), Brides of the Sea. Port Cities of Asia from the 16th
to 20th Centuries, Honolulu 1989; ders. (Hg.), Gateways of Asia. Port Cities of Asia in the
13th to 20th Centuries, London 1997; William Beinart u. Lotte Hughes, Environment and
Empire, Oxford 2007, S. 148 – 166.
43 Quellen: London Metropolitan Archives (LMA) CLC/B/192/019/38852/1 u. 2; LMA CLC/
B/192/019/31522/275, S. 184 f., LMA CLC/B/192/019/11935K.
44 Die Versicherungsgesellschaft Sun war nicht dauerhaft in New York etabliert und konnte
nicht auf eigene Erfahrungswert-Zahlen zurückgreifen. Sie erhielt aber Informationen
über die durchschnittliche loss ratio der 22 vor Ort tätigen Feuerversicherungen, die
man hier als Vergleichswert einsetzen kann, ebd.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
439
insbesondere den indischen Städten ganz anders als in den europäischen und
amerikanischen. Europäische und amerikanische Städte in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts – und das sind sehr wohl schon größtenteils steingebaute
Städte, in den USA auch schon in der hochgeschossigen Ziegelsteinbauweise –
hatten eine loss ratio von etwa 60 bis 70 Prozent, was profitabel war, da hier
eine hohe Nachfrage nach Versicherungen mit einer relativ sicheren Gewinnmarge kombiniert war. Städte wie Kalkutta und Bombay hatten hingegen nur
eine verschwindend niedrige loss ratio von 10 Prozent, was zu wenig Nachfrage
führte, Städte wie Istanbul hatten eine loss ratio von fast 100 Prozent, was das
Geschäft gänzlich unprofitabel machte. Diese erheblichen Unterschiede, die
man als handfesten Ausdruck einer Multiplizität von Moderne und Sicherheitsregimen fassen kann,45 waren den Europäern keinesfalls klar, als sie mit
ihren Versicherungen in die Städte des globalen imperialen Wirtschaftsnetzes
expandierten. Noch 1883 wunderte sich ein Autor im Bombay Guardian:
We have never been, in a large city, so exempt from serious fires as Bombay. In one year a
greater destruction of property from this cause takes place in New York than we have known
in 35 years in Bombay. We confess that we are unable to explain the comparative immunity of
Bombay in this particular.46
Diese teilweise Fehleinschätzung der nicht uniformen, sondern von Region zu
Region stark unterschiedlichen Situation ist insofern bedeutsam, als sie je
nach Stadt und Region das am stärksten überwertig wirksame Urteilskriterium, nach dem die Versicherungen das „Was“ und „Wieweit“ ihrer
Geschäftsoperationen entschieden, ad absurdum führte: die zentrale koloniale
Unterscheidung entlang der Grenze „native/European“ oder – im Falle einer
Nichtkolonialstadt wie Istanbul – entlang der ethnischen Grenze „muslimisch/
europäisch“. Dies war nun, fünzig Jahre nach dem Aufklärungszeitalter, ein
zentrales Versicherbarkeitskriterium.
In der Forschung zu den großen Kolonialstädten des British Empire, von
denen je nach Zählung 9 bis 15 die Basis für die heute ältesten Megastädte mit
über 10 Millionen Einwohnern bildeten, ist die Trennung in die Stadtteile der
45 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus. Journal of the American
Academy of Arts and Sciences 129. 2000, S. 1 – 29; ders., Multiple Modernities. A
Paradigm of Cultural and Social Evolution, Frankfurt 2007. Hinzuweisen ist darauf, dass
Eisenstadts Argumentation implizit und teilweise wohl nicht intendiert auf zwei
Moderne-Begriffen aufbaut: neben dem Begriff der örtlich und zeitlich relativen und
eigenständigen Moderne in ihrer multiplen Form steht weiter nach wie vor ein
idealtypischer Grundbegriff von Moderne, an dem alle globalen Formen gemessen
werden. Vgl. hierzu und zum Angewiesensein des multiple modernities-Paradigmas auf
das Jaspers’sche Konzept der Achsenzivilisationen Cornel Zwierlein, „Frühe Neuzeit“,
multiple modernities, „Globale Sattelzeit“, in: Achim Landwehr (Hg.), Frühe Neue
Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld [2012].
46 LMA CLC/B/192/019/31522/156, S. 164.
440
Cornel Zwierlein
europäischen und der jeweiligen kolonisierten Bevölkerung ein stets behandelter Topos.47 Man kann diese zentrale Unterteilung nicht immer zugespitzt
als „rassische Segregation“ erfassen, wie es freilich für Kapstadt und andere
Städte zutrifft.48 Sicherlich ist ab den 1860er Jahren in nahezu allen Teilen des
British Empire (in Indien auch in Reaktion auf den Aufstand von 1857) eine
verstärkte, ideologisch unterfütterte Rassismuswelle zu verspüren.49 Aber die
Doppelgesichtigkeit der Städte konnte auch einfach auf der städtebaulichen
Entwicklung beruhen; nicht immer setzten die Kolonisierer ihre eigene Stadt
an die Stelle der alten,50 oft bauten sie die koloniale Neustadt schlicht neben die
indische Altstadt, wie die Briten in Kalkutta. In Bombay und Kalkutta
bezeichneten sich die Inder selbst auch als natives, die Unterteilung muss also
nicht als stark pejorativ-rassistisch aufgeladen aufgefasst werden, sondern
stellte eine der zentralsten Orientierungskategorien im Stadtleben dar.51
Einerseits war diese Kategorie also immer präsent und schien von selbst
Evidenz in der Alltagsrealität zu haben, andererseits war sie immer wieder
umstritten, an den Rändern unscharf, und wurde mit Wertungen aufgeladen,
die dann nicht mehr empirisch gedeckt waren. Die europäischen Versicherungen orientierten sich zunächst immer an dieser vorgegebenen Grenze
native/European und versicherten grundsätzlich nur europäischen Baubestand. Aber in den indischen und chinesischen Städten nahm man zunehmend
wahr, dass diese Unterteilung wirtschaftlich gesehen absurd war, denn trotz
der unterschiedlichen Bauweise brannten die asiatischen Häuser und Viertel
genausowenig oder sogar weniger als die europäischen. In Shanghai, wo
Chinesen im europäischen Bereich des Treaty Port keine Häuser besitzen
durften, ließen sie oft den Besitz durch Europäer erwerben, die Nutzung blieb
dann aber bei den Chinesen. Solche Praktiken durchlöcherten schon die klare
Grenze native/European und die Versicherer reagierten darauf flexibel, auch
wenn es ihnen nach wie vor wichtig erschien das komplexe Vertauschspiel von
native/European-Attributen hinsichtlich von Erbauern, Eigentümern und
Bewohnern penibel festzuhalten.52 Manchmal aber war man bei der statisti47 Mariam Dossal, Imperial Designs and Indian Realities. The Planning of Bombay City,
1845 – 1875, Oxford 1991, S. 16 – 20; Swati Chattopadhyay, Representing Calcutta.
Modernity, Nationalism, and the Colonial Uncanny, London 2005, S. 21 – 28; Prashant
Kidambi, The Making of an Indian Metropolis. Colonial Governance and Public Culture
in Bombay, 1890 – 1920, Aldershot 2007.
48 So das entsprechende Kapitel bei Home, Planting and Planning, S. 117 – 140.
49 Statt vieler vgl. Niall Ferguson, Empire. The Rise and Demise of the British World Order
and the Lessons for Global Power, New York 2002, S. 159 – 171.
50 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts,
München 2009, S. 415.
51 Dossal, Imperial Designs, S. 4.
52 „The Imperial and the Alliance take risks on buildings owned by Europeans and
occupied by Chinese as godowns only at the same rate as on buildings occupied and
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
441
schen Erfassung um ein genaues Hinausrechnen der Einheimischen aus den
europäischen Häusern bemüht, etwa in den englischen, französischen und
amerikanischen settlements von Shanghai: Man ließ sich von den lokalen
Agenten auf das Jahr und das Einzelhaus genaue Statistiken über den
Besitzstand nach London samt lithographischer Kartenverzeichnung schicken.53 Die geringe Brandhäufigkeit auch in den angrenzenden chinesischen
Häusergruppen oder Vierteln schlug sich aber erkennbar in den hervorragenden Geschäftszahlen von Shanghai nieder (vgl. Tab. 1). Yokohama, der
Hauptstützpunkt für das japanische Geschäft, war, nicht nur wegen des
Großfeuers 1867, sondern auch kontinuierlich wegen der leichteren und
holzintensiven Bauweise, sowie anderer klimatischer Bedingungen, ein fast
doppelt so riskanter und brandgefährdeter Standort, was die vor Ort
wirkenden Handelsvertreter nach etwa zwanzig Jahren Geschäftserfahrung
auch realisierten.54 In den beiden wichtigsten indischen Städten, Bombay und
Kalkutta, waren die Verluste noch geringer als in Shanghai, die Einnahmen
allerdings auch, weil die Nachfrage wegen ohnehin niedrigen Brandrisikos
gering blieb. Fast bizarr wirken die Bemühungen der verschiedenen, wie
üblich in einer association zusammengeschlossenen europäischen Versicherungen in Bombay, 1893 die Zonierung der „European Town“ schließlich ganz
exakt mit einer eigenen Karte und Grenzziehungen abzustimmen: weil einige
Versicherungen doch jenseits der Zone Geschäfte aufgenommen hatten,
owned by Europeans […] Risks on European built buildings owned by Europeans
occupied by Chinese, as before remarked we consider in every way as desirable as if
occupied by Europeans, indeed even more so, for as in the one case the property within
the godown being utterly uninsured (Insurance being unknown to the Chinese) it is but
reasonable to expect even greater precautions against Fire than where the property, as in
the case of Foreign occupation, is covered against fire.“ LMA CLC/B/192/019/31522/60,
S. 156 f. (August 1854).
53 „The French side contains a very great number of Native houses and as a rule we would
not accept risks there unless on property situated on the Bund or entirely separated by a
large open space from Native buildings, nearly all the respectable people live on the
Bund. The American side contains also a good many Native houses, but they are
clustered together and any risk we would be likely to be offered is quite away from
them.“ Agents Chapman/King & Co. an Sun Fire Office, 8. 4. 1869, London, LMA CLC/B/
192/019/31522/60, S. 166 f. Chapman fügt eine genaue Statistik der Anzahl bewohnter
und unbewohnter europäischer und chinesischer Häuser im englischen und amerikanischen settlement für das Jahr 1866/67 bei (ebd., S. 173): nur 354 europäische Häuser
kamen auf 11.774 chinesische; aber viele chinesische waren in europäischem Besitz,
denn „Chinamen cannot own property in the settlement; if they buy houses, it is in the
name of some European.“
54 Das war den Agenten vor Ort bewusst: „The buildings in Shanghai are very much more
substantially built than those in Japan. The Native houses are built of wooden framework
filled in with bricks and are very easily pulled down in the event of fire.“ LMA CLC/B/
192/019/31522/60, S. 160.
442
Cornel Zwierlein
wurden die Konkurrenten zunehmend unruhig und verlangten die Einhaltung
einer klaren Demarkation – dies alles, obwohl längst deutlich geworden war,
dass auch die aus Teak-Holz erbauten Häuser der Einheimischen mit ihrer
Verkleidung aus schwer brennbarem chunam-Mörtel kaum brandgefährdet
waren, auch wegen der langen Monsun-Perioden. Die native/European-Grenze
wurde hier trotz ihrer ökonomischen Dysfunktionalität als Entscheidungskriterium noch einmal genau gezogen und kartographisch festgehalten.55 In
Istanbul war die Dysfunktionalität der ethnischen Segregationsgrenze als
Versicherbarkeitskriterium in den 1860er/70er Jahren ebenso gegeben, allerdings bei genau umgekehrter brandökologischer Realität: auch das am besten
situierte Viertel der Stadt, der VI. Bezirk von Pera und Galata, der in den
Tanzimat-Reformen als Vorzeigeort von europäisierender Stadtplanung und
-gestaltung ausgewählt worden war, brannte in kleineren Feuern und Großbränden ständig nieder, und zwar unterschiedslos im europäischen wie im
muslimisch besiedelten Teil. Alle orientalistisch geprägte Wahrnehmung der
europäischen Baubestands-Analytiker ging hier fehl, die Versicherungen
wurden beim Großbrand 1870 gerade im Kern ihres vermeintlich sorgfältigst
ausgewählten europäischen Stein-Baubestands getroffen. Hier war die entlang
der ethnischen Segregation (muslimische, jüdische, griechische, armenische,
europäische Häuser und Viertel) vorgenommene Inklusion/Exklusion in das
Versicherungsgeschäft, deren Grundlage eine vom Agenten der Zentrale in
einem hochaufgelösten Stadtplan mit Tusche vorgenommene Rot-Markierung
gewesen war, in umgekehrter Richtung sinnlos wie im indischen und
abgeschwächt im chinesischen Fall.56 Inzident und an diesem Fallbeispiel
entwickelt zeigen diese Beobachtungen übrigens, dass nicht, wie bei Lionel
Frost, hinsichtlich des Umgangs mit dem Brandproblem von einem asiatischen
Stadttypus die Rede sein kann, der ganz Asien von Istanbul bis Tokyo
umfassen würde, sondern dass hier schon in basaler materieller Hinsicht
erhebliche Unterschiede bestanden.57
Für die vorliegende Fragestellung zeigt sich hingegen, dass die rationalplanerischen, schließlich sogar kartographischen Versuche der genauen
Festlegung der Versicherbarkeitsgrenze durch die kolonialen Unternehmen
eigentlich zu dysfunktionalen Ergebnissen führten, obwohl sie von „Experten“
vorgenommen wurden, die auf langjährige, ja institutionell hundertjährige
Expertise zurückgreifen konnten. Letztlich ergab sich nur eine Reifizierung
55 Vgl. die Abbildung bei Cornel Zwierlein, Insurances as Part of Human Security, their
Timescapes, and Spatiality, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 253 – 274, hier
S. 264 – 266.
56 Vgl. hierzu Cornel Zwierlein, The Burning of a Modern City? Istanbul as Perceived by
the Agents of the Sun Fire Office, 1865 – 1870, in: Greg Bankoff u. a. (Hg.), Flammable
Cities. Fire, Urban Environment, and Culture in History, Madison 2012, S. 82 – 102.
57 Lionel E. Frost, Coping in Their Own Way. Asian Cities and the Problem of Fires, in:
Urban History 24. 1997, S. 5 – 16.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
443
dessen, was auch vorher schon gegeben war, die jeweilige European/nonEuropean-Unterscheidung. Das Modellieren und Operieren mit dieser Grenze
führte allerdings teilweise zu Praktiken der Unterlaufung ihrer selbst und vor
allem zeigte sich immer wieder, dass die Brandgefahr sich nicht an der
ethnischen, nicht einmal an der Bautypus-Grenze orientierte. Obwohl wir hier
die zunächst beeindruckende Bewegung globalen Ausgreifens in einem
Unternehmen wie der Sun beobachten können, ist diese Bewegung zunächst
nur auf ein Wiederfinden der Europäer im Europäischen gerichtet. Der
peniblen Zonierung des Versicherbaren liegt ja die paradoxe Heuristik
zugrunde, dass Sicherheit nur dort produziert werden soll, wo schon
(vermeintlich) mehr Sicherheit ist. Diese Logik der „Stärkung des Starken“,
bei der seltenen, nur langsam im Kollateraleffekt erfolgten Hereinnahme
Einheimischer oder bei konkurrierender Gründung einheimischer Versicherungen, die dann oft sehr rasch den Markt fast monopolisierten, dürfte aber
der generellen wirtschaftlichen Expansionslogik gerade solcher Dienstleistungselemente entsprechen. Die Besonderheit der Versicherbarkeitsgrenze im
Hochkolonialismus scheint aber ihre spatiale Fixierung zu sein. Es mag auch
an der Entfernung Agentur/Zentrale und daran gelegen haben, dass hier
teilweise völlig neue, fremde Städte und Märkte erschlossen wurden; aber das
Drängen auf kartographische Repräsentation der Versicherbarkeitsgrenze,
räumliche Zonierung als Technik zur Schaffung von „Sicherheits-Ghettos“, ist
ein Aspekt, der in der Versicherungspraxis und -theorie des 17./18. Jahrhunderts kaum vorkommt – teilweise freilich, weil die territorialen beziehungsweise städtischen Bezugsräume damals vorgegeben waren. In dieser (wirtschaftlich teilweise sinnlosen) Wiederholung der bestehenden Segregation von
Kolonisierern und Kolonisierten als Sicherheitsgrenze war natürlich auch die
Vorstellung einer gewissen Unterscheidung von Tradition und Moderne
eingelassen – etwa wenn die osmanischen Löschmannschaften und -techniken
in Istanbul 1870 mit dem verglichen werden, was man in England vor dem
großen Londoner Brand 1666 zu Verfügung hatte. Die Rhetorik der Unterscheidung bedient sich aber viel stärker der Orts- und Ethnien-Merkmale als
einer Epochenrhetorik. Wenn in den 1960er Jahren in den USA Überschwemmungs- und Straßengewalt-Versicherungen sowie staatliche Rückversicherungsprogramme auf die Risiko-Zonierung als Mittel der operativen Orientierung für Inklusions/Exklusions-Entscheidungen zurückgriffen und dabei –
mitunter vorsatzlos – black/white-Segregationen in den Städten nachvollzogen und so verstärkten, wurde hier offensichtlich unbewusst ein koloniales
Schema weiter bedient.58 Einmal mehr hat diese Versicherbarkeitsgrenze
nichts mit dem zu tun, was Beck seit 1991 als indikatorischen „Grenzbaum“
zwischen den Gefahren der Ersten und den erweiterten Unsicherheiten der
58 Vgl. hierzu Uwe Lübken, Governing Floods and Riots. Insurance, Risk, and Racism in
the Postwar United States, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 275 – 288.
444
Cornel Zwierlein
Zweiten Moderne feststellen zu können meinte. Sehr wohl aber – und hier
muss man die Versicherbarkeitshistorisierung eben ganz gelöst von den
Beck’schen Problemstellungen sehen – lässt sich beim Studium dieser
spatialisierenden Versicherbarkeitsheuristik zeigen, wie und dass die neue
kontrafaktische Erwartungshaltung der Aufklärung seit etwa 1680/1700,
(Natur-)Katastrophen seien nicht Normalität, sondern Ausnahme, bei ihrem
Transfer im Zuge der Globalisierungsprozesse zunächst zur (Re-)Produktion
von Inseln kolonialer europäischer Sicherheitsgesellschaften in den Handelsund Hafenstädten führte. Innerhalb dieser Inseln gilt dann grundsätzlich die
gleiche Zeithorizont-Kombination als Wahrnehmungsmuster auf Seiten der
Akteure im kolonialen Wirtschaftssystem wie für die Sattelzeit dargestellt,
allerdings bringt die quer dazu stehende spatiale native/European-Grenze als
Globalisierungseffekt eine Irritation auch der Zeithorizonte mit sich: die
spatiale Grenz-Aushandlung markiert auch, dass und wie der Machbarkeitsund Planungshorizont als begrenzt gesehen wurde. So kann man diese
Grenzscheide schon als Ankündigung einer neuen Schließung des gesamtgesellschaftlichen „timescape“ sehen, weil sich in der native/European-Konfrontation eine Komplexitätszunahme von Planung und Planbarkeit andeutet,
die auch einen Verlust an Vertrauen in die dem Planen zugrundegelegte
„Geöffnetheit“ des gesamtgesellschaftlichen Zukunftshorizonts mit sich
bringt. Denn sie hält stets präsent, dass das Referenzsubjekt „Gesamtgesellschaft“ eigentlich nicht existiert.
IV. Versicherbarkeitsgrenzen und Apokalyptikhorizonte
Versicherbarkeit kann man in der europäischen, jedenfalls der deutschen
Aufklärung also als Grenze der Planbarkeit, als Grenze der Machbarkeitsvorstellung und damit als Grenze des diesseitigen neuzeitlichen Zukunftshorizonts der Verwaltungs- und Wirtschaftspraktiker hinsichtlich der Produktion
von Wert-Sicherheit verstehen. Für den britischen Bereich lässt sich durchaus
ähnliches sagen, auch wenn die Form des Versicherns eine ganz andere war. Im
hochkolonialen setting erscheint diese dominant zeit- und zukunftsbezogene
Füllung von Versicherbarkeit durch eine dominant spatiale ZonierungsGrenzlogik ersetzt. Vor dem Aufkommen von Versicherung in dieser insbesondere institutionell fundierten Form kann man von einer Versicherbarkeitsgrenze im engeren Sinne kaum sprechen. Zwar hatte auch jeder einzelne
Kaufmann im Spätmittelalter eine Vorstellung davon, bis zu welcher unsichtbaren Grenze er Risiken zeichnete, aber wir können hieraus mangels
Institutionalisierung wenig hinsichtlich eines gesellschaftlichen Gesamtbezugs aussagen. Noch weiter, vor das Aufkommen der Prämienversicherung
zurückgehend, kann man den Begriff der Versicherbarkeitsgrenze nicht mehr
anwenden, auch wenn man aus der Höhe von geforderten Einlagen, etwa in die
Laden von Gilden und Genossenschaften, ein implizites Bewusstsein für die
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
445
maximale Schadenstragfähigkeit solcher vormoderner Institutionen ablesen
kann.59
Wenn also mit der zunächst speziellen, dann aber immer mehr gesellschaftliche Bereiche erfassenden Versicherungspraxis, die hier nur hinsichtlich der
grundständigsten Versicherung vor Naturgefahren in den Blick genommen
wurde, die Entwicklung eines Horizonts der Abschätzung von Sicherheitsmöglichkeit und Risikoreichweite greifbar wird, so ist dies ein auf das aktuelle
Handeln und Planen der Verwalter bezogener, innerweltlicher Horizont.
Dieser ist aber im größeren Vorstellungsrahmen der Gesamtgesellschaft
verortet, der wiederum andere Möglichkeitsgrenzen aufweist. Als hier ausreichende Minimaldefinition soll im Folgenden unter einem Apokalypsehorizont
die in einer gegebenen gesellschaftlichen Kommunikation verfügbare und
(mehr oder weniger) gängige Vorstellung gemeint sein, dass der Untergang des
größtmöglichen Kollektivsubjekts Menschheit/bewohnte Welt aufgrund des
Eintritts bestimmter Handlungen oder Ereignisse als in naher Zukunft
denkbar erachtet wird; dies formt die Struktur des Wahrnehmungshorizonts
im Sinne eines „timescape“. Um an dieser Stelle den oben nur kurz
eingeführten Begriff mit Barbara Adam weiter zu präzisieren, ist für einen
solchen „timescape“ das implizite Bewusstsein einer als überschüssig angenommenen Wirkwelt typisch, die in der Merkwelt zwar nicht vorkommt, aber
von der angenommen wird, dass sie entweder schon auf das eigene Umfeld
einwirkt, oder dass sie es (gegebenenfalls in plötzlicher Form) bald tun wird.
Dies gilt genauso für das Nahen des Jüngsten Gerichts in einem vormodernreligiösen Kontext wie für den Klimawandel in der Gegenwart: sie kommen in
der sinnlich erfassbaren Merkwelt nicht vor, werden aber als in der Wirkwelt
präsent angenommen und strukturieren so den Vorstellungs- und Wahrnehmungshorizont.60 Erst die Kombination aus diesem Wahrnehmungsrahmen
und der engeren, innerweltlichen Versicherbarkeitsgrenze kann als Epochenindikator dienen.
Für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit gibt es eine hoch differenzierte
Forschung zur Apokalyptik als Motiv und Diskurselement, das gerade in
Krisenzeiten immer wieder bedient wird, es sei nur an die jüngeren Studien
zum apokalyptischen Horizont protestantischen wie, abgeschwächter, auch
katholischen Denkens und Fühlens erinnert, der in vielen solchen Krisenmo59 Zu den verschiedenen genossenschaftlichen Vorformen von Versicherung vgl. in der
Gesamtschau neo-gierkianisch zuletzt Dieter Schewe, Geschichte der sozialen und
privaten Versicherungen im Mittelalter in den Gilden Europas, Berlin 2000, dazu
Zwierlein, Der gezähmte Prometheus, S. 25 f.
60 Vgl. hierzu Barbara Adam, Timescapes of Modernity. The Environment and Invisible
Hazards, London 1998, bes. S. 34 f., S. 57 – 59 u. S. 74 f.: Adam übernahm die Merkwelt/
Wirkwelt-Unterscheidung vom frühen Ökologen Jakob v. Uexküll, die in der Verhaltensforschung und Biologie weitgehend ad acta gelegt ist, die aber für die hier gemeinte
Unterscheidung undefiniert gebraucht werden kann.
446
Cornel Zwierlein
menten greifbar wird, etwa während der frühen Reformation in den SintflutProphezeiungen 1524, in Thomas Müntzers Reden, bei den Belagerungen
Magdeburgs 1551/52 und 1631, in den westeuropäischen Religionskriegen und
im Dreißigjährigen Krieg. Speziell die lutherische Geschichtssicht ist grundsätzlich als apokalyptisch gekennzeichnet worden.61 Jenseits dieses engeren
Apokalypsebegriffs, der einfordert, dass man in entsprechenden Texten und
Diskursen genau ausmacht, welche Zitate (der Bücher Daniel, der Johannesapokalypse, des zweiten Briefs an die Thessaloniker) genau zur Anwendung
61 Vgl. hier nur einige exemplarisch genannte Titel: Johannes Fried, Aufstieg aus dem
Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001; ders., 1000. Ritual und Vernunft. Traum und
Pendel des Thietmar von Merseburg, in: Lothar Gall (Hg.), Das Jahrtausend im Spiegel
der Jahrhundertwenden, Frankfurt 1999, S. 15 – 63. Zum täuferischen Endzeitbewusstsein vgl. Hans-Jürgen Goertz, Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen, Göttingen 2007; John D. Roth u. James M. Stayer (Hg.), Anabaptism and
Spiritualism, 1521 – 1700, Leiden 2007; Gary K. Waite, Apocalyptical Terrorists or a
Figment of Governmental Paranoia? Reevaluating Anabaptist Violence in the Netherlands and Holy Roman Empire, 1535 – 1570, in: Anselm Schubert u. a. (Hg.), Grenzen
des Täufertums, Gütersloh 2009, S. 105 – 125; Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie
und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften,
1488 – 1528, Tübingen 1990; Sarah Slattery, Astrologie, Wunderzeichen und Propaganda. Die Flugschriften des Humanisten Joseph Grünpeck, in: Klaus Bergdolt u. Walther
Ludwig (Hg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, S. 329 – 347;
Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Hergotts Kanzlei“
(1548 – 1551/2), Tübingen 2003, insbesondere das Schlusskapitel zum apokalyptischen
Deutungshorizont der Magdeburger ; ähnlich Anja Moritz, Interim und Apokalypse. Die
religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen
Publizistik, 1548 – 1551/52, Tübingen 2009; zur calvinistischen Distanzierung vom
Apokalypsediskurs vgl. Arno Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der
neueren Geschiche. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen
deutschen Protestantismus, Köln 1990 und als ein konkretes Beispiel Cornel Zwierlein,
Heidelberg und „der Westen“ um 1600, in: Christoph Strohm (Hg.), Philosophie,
Jurisprudenz und Theologie in Heidelberg an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert,
Tübingen 2006, S. 27 – 92, hier S. 56 – 61; Denis Crouzet, Les guerriers de Dieu. La
violence au temps des troubles de religion (vers 1525 – vers 1610), 2 Bde., Paris 1990;
Markus Meumann, The Experience of Violence and the Expectation of the End of the
World in Seventeenth-Century Europe, in: Joseph Canning u. a. (Hg.), Power, Violence,
and Mass Death in Promodern and Modern Times, Aldershot 2004, S. 141 – 159. Zur
Konstitutivität apokalyptischen Denkens für das Luthertum vgl. Volker Leppin,
Antichrist und jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im
deutschen Luthertum, 1548 – 1618, Gütersloh 1999 sowie zu apokalyptischen Horizonten der lutherischen Geschichtsschreibung Matthias Pohig, Zwischen Gelehrsamkeit
und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung, 1548 – 1617, Tübingen 2007.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
447
kommen, geht es mir hier um einen viel weiteren und generellen Begriff des
Apokalypsehorizonts, der nur das Kriterium zum Inhalt hat, ob dem
gesellschaftlichen Diskurs ganz grundsätzlich ein Erwartungshorizont eingeschrieben ist, dass die Welt als Ganze in naher oder unmittelbarer Zukunft
untergehen könnte. Und dies trifft grundsätzlich auf Mittelalter und konfessionelles Zeitalter, ja durchaus – schicht-, diskurs- und regionsabhängig – auch
noch auf die gesamte Frühe Neuzeit vollumfänglich zu. Versicherung und die
innerweltliche Versicherbarkeitsgrenze konturieren sich also vor diesem
allgemeineren Hintergrund und Vorstellungshorizont seit Ende des 17. Jahrhunderts. In den grundlegenden, aber sehr allgemein gehaltenen Skizzen
Kosellecks ist für diese Kategorie immer von der Ablösung eines älteren
apokalyptischen Weltbilds durch das einer offenen Zukunft die Rede.62 Wie
eingangs betont ist es aber wichtig, die Koexistenz solcher Zeithorizonte zu
berücksichtigen: die planbare, bearbeitbare „offene“ Zukunft entsteht zunächst nur in bestimmten kommunikativen und funktionalen Bereichszusammenhängen, wie hier im Bereich institutionalisierter pekuniärer Schadensnachsorge und Wertversicherung und ist eingebettet in einen latenten
oder expliziten apokalyptischen Gesamtbewusstseinsrahmen. Man könnte
dies an der Figur des ersten bedeutenden Praktikers und Theoretikers
institutioneller Versicherung illustrieren, Nicholas Barbon, der selbst aus einer
Familie millenaristischer Prägung stammte (der Vater war Prediger der
Fifth-Monarchy Men) und der in seinen schon auf Wachstum ausgerichteten
Wirtschaftstheorien – was zu diesem Zeitpunkt noch ganz ungewöhnlich ist –
gleichsam ein Säkularisat dieser teleologischen, im religiösen Fall aber immer
noch apokalyptischen Zeitkonzeption herstellt.63
In der Vollmoderne scheint hingegen zumindest im engeren Funktions- und
Tätigkeitsumfeld von Wirtschaft und Staatlichkeit die Öffnung der Zukunft für
das Kollektivsubjekt Menschheit als Ganzes universalisiert. Zwar mag man
auch für das 19. Jahrhundert (wie im Fin de Sicle) apokalyptische Diskurse
identifizieren,64 man kann aber wohl mit Fug behaupten, dass diese Apokalypsekommunikation eher auf der Ebene der gepflegten Semantik stattfand
und dass sie weniger die Struktur des Zeit- und Wahrnehmungshorizonts im
Sinne einer im alltäglichen Handeln bewussten „timescape“ beschreibt. Im
Bewusstsein des ganz überwiegenden Teils westlicher Akteure von Moderni62 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S. 131 – 201.
63 Andrea Finkelstein, Nicholas Barbon and the Quality of Infinity, in: History of Political
Economy 32. 2000, S. 83 – 102; Zwierlein, Der gezähmte Prometheus, S. 211 f.
64 Exemplarisch nur einige Titel zum deutschen Sprachraum: Klaus Vondung, Die
Apokalypse in Deutschland, München 1988, bes. S. 152 – 161; Arthur Herman, Propheten des Niedergangs. Der Endzeitmythos im westlichen Denken, Berlin 1998, S. 41 – 181;
Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische
Zukunftsvorstellungen im Kaiserreich, Stuttgart 1989.
448
Cornel Zwierlein
sierung und Fortschritt65 in Wirtschaft, Politik, Städtebau oder Staatsbildung
im nationalen Rahmen dürfte eher eine Kongruenz von angenommener
Wirkwelt und Merkwelt vorgeherrscht haben. Apokalyptik, wenn sie diskursiv
vorkam, hatte im Wesentlichen nichts mit den Bereichen wirtschaftlicher und
politischer Planung oder Organisation zu tun. Die spatial und gegebenenfalls
ethnisch segregativ fokussierte Versicherbarkeitsgrenze an den Rändern
dieser Konstellation westlicher Moderne im kolonialen Bereich ist vor diesem
Hintergrund eher ein Symptom der expansiven Globalisierungsbewegung; der
Zusammenhang zwischen den allgemeineren prägenden und verfügbaren
Zeit- und Zukunftshorizonten und dem auf die Operationalität des Versicherns bezogenen spezielleren Planungshorizont ist entzerrt. Das scheint
schon auf die nächste Stufe vorauszuweisen, denn diese spatialen Zonierungen
lassen das Moment der Zeitlichkeit und des Zukunftsbezugs von Versicherung
in den Hintergrund treten.
In der Zeit nach 1945 hingegen scheint mit Atomangst,66 Angst vor Ressourcenknappheits- und -erschöpfungs67 sowie zuletzt vor allem mit der Erwart-
65 Vgl. die zum Verzeitlichungs-/Zukunftsöffnungstheorem passende Ausarbeitung Reinhart Koselleck, Art. Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, hg. v. Otto
Brunner u. a., Stuttgart 1975, S. 363 – 423 und ders., „Fortschritt“ und „Niedergang“.
Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur
Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt 2006,
S. 159 – 182.
66 Zum Atomangst-Diskurs vgl. nur Frank Biess, „Everybody Has a Chance“. Nuclear
Angst, Civil Defence, and the History of Emotions in Postwar West-Germany, in:
German History 27. 2009, S. 215 – 243; Bernd Greiner u. a. (Hg.), Angst im Kalten Krieg,
Hamburg 2009. Zur freilich lokaleren Angst vor Atomkraftwerk-Unfällen vgl. die noch
wenig reiche historisch-wissenschaftliche Literatur zur Tschernobyl-Rezeption und
Diskussion, etwa das Sonderheft der Zeitschrift Osteuropa 2006 sowie Karena
Kalmbach, Tschernobyl und Frankreich. Die Debatte um die Auswirkungen des
Reaktorunfalls im Kontext der französischen Atompolitik und Elitenkultur, Frankfurt
2011; Melanie Arndt, Verunsicherung vor und nach der Katastrophe. Von der AntiAKW-Bewegung zum Engagement für die „Tschernobyl-Kinder“, in: Zeithistorische
Forschungen/Studies in Contemporary History 7. 2010, S. 240 – 258.
67 Vgl. nur exemplarisch den bekanntesten Text Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des
Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972; dazu Kai
F. Hünemörder, Die umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in:
Frank Uekötter u. Jens Hohensee (Hg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher
Ökoalarme, Stuttgart 2004, S. 78 – 97 und Patrick Kupper, Weltuntergangs-Visionen aus
dem Computer. Zur Geschichte der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, in:
ebd., S. 98 – 111; Friedemann Hahn, Von Unsinn bis Untergang. Rezeption des Club of
Rome und Grenzen des Wachstums in der Bundesrepublik der frühen 1970er Jahre, Diss.
Freiburg 2006, http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2722/pdf/hahn_friedemann_2006_von_unsinn_bis_untergang.pdf.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
449
barkeitsvorstellung des totalen Klimakollaps68 wieder ein Auseinandertreten
von Wirk- und Merkwelt in den „timescapes“ der Moderne erfolgt zu sein. All
diese Gefahren sind zwar im Alltag nicht sichtbar und spürbar, aber der
säkular-apokalyptische Horizont einer Komplettauslöschung der Menschheit,
oder jedenfalls des „Endes der Welt, wie wir sie kannten“69 wird als gegebene
Möglichkeit angenommen. Und diese unsichtbare Wirkwelt-Annahme greift
nun auch wieder in die Handlungs- und Wahrnehmungsebenen in allen
Gesellschaftsbereichen, von lokalen Nachhaltigkeitsagenden bis zu globalen
Klimakonferenzen. Dies ist ein Phänomen, das etwa bei Koselleck nie recht
reflektiert wurde, weil er sich primär um die Ablösung der – in seiner
Terminologie – „geschlossenen Zukunft“ der Vormoderne durch die „offene
Zukunft“ der Moderne gekümmert hat.70 In der Zeitsoziologie bei Helga
Nowotny, Barbara Adam und auch bei Hartmut Rosa hat sich aber inzwischen
eine Art Konsens herausgebildet, dass in der Gegenwart, die man wohl in der
Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ansetzen muss, das Bewusstsein einer
Entzeitlichung und Entschleunigung eintritt, dass die geöffnete Zukunft
wieder verloren geht beziehungsweise einer eher „erstreckten Gegenwart“
weicht.71 Vor diesem Hintergrund hat historisch wie wohl auch zeit- und
allgemeinsoziologisch der epochale Dreischritt Vormoderne, Moderne und
dann, unter welcher genauen Bezeichnung sei einmal dahingestellt, Post-,
Spät- oder Zweite Moderne durchaus Sinn.72
68 Da zu diesem Thema noch wenig im engeren Sinne historisierende Literatur vorliegt, sei
stellvertretend für die Unzahl aktueller sozialwissenschaftlicher Beiträge auf Anthony
Giddens, The Politics of Climate Change, Cambridge 2009 verwiesen.
69 So etwa Claus Leggewie u. Harald Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima,
Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt 2009.
70 Auch bei Hölscher, Entdeckung der Zukunft, S. 229 nur vorsichtig angedeutet.
71 Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt
1989, bes. S. 47 – 76; Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur
in der Moderne, Frankfurt 2005, S. 460 – 490; Barbara Adam, Time and Social Theory,
Philadelphia 1990, S. 138 – 142 und Gerda Reith, Uncertain Times. The Notion of „Risk“
and the Development of Modernity, in: Time and Society 13. 2004, S. 383 – 402 bes.
S. 386 – 393. Von dieser Diagnose ist die parallel bestehende Tendenz in der Ethik, im
Rückgriff auf Jonas’ Zukunftsethik die Forderung nach einer gedachten Zukunftsschließung, einer „Projektzeit“, in die die Menschheit einzuspannen sei, zu trennen,
wenngleich sich ihre Evidenz wohl aus derselben Wahrnehmung speist, wie sie bei
Nowotny u. a. formuliert ist: Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer
Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1979; Jean-Pierre Dupuy, Pour un
catastrophisme clair. Quand l’impossible est certain, Paris 2002; ders., petite
mtaphysique des tsunamis, Paris 2005; ders., retour de Tchernobyl. Journal d’un
homme en colre, Paris 2006.
72 Auf ganz allgemeine Kritik an Epochenbildungen sei hier verzichtet; natürlich kann
man, etwa aus der Perspektive der Historischen Anthropologie und der Area Studies, die
Sinnhaftigkeit der Setzung von und die Frage nach Epochengrenzen als Reifizierung
450
Cornel Zwierlein
Das Kriterium der Versicherbarkeit durch privaten Versicherungsschutz im
oben ausgeführten Beck’schen Sinne ist hingegen weder hinreichend historisiert und kontextualisiert noch tauglich, auch nur die Epochenunterscheidung zwischen Erster und Zweiter Moderne zu gewährleisten. Zwar ist es sehr
wohl fruchtbar danach zu fragen, welche Rolle Versichern auch in der
Gegenwart einnimmt und zwar gerade mit Bezug auf jene Gefahren, die den
Charakter der angenommenen Wirkwelt ausmachen. Versicherer und Rückversicherer sind seit dem 18. Jahrhundert die professionellen seriellen Katastrophenbeobachter schlechthin73 – und so fungieren sie auch gegenwärtig in
den ständig kommunizierten Berichten über die Statistik der Naturkatastrophenschäden, etwa wenn 2011 wegen des Erdbebens in Japan mit 380 Milliarden US-Dollar zum teuersten Jahr hinsichtlich Naturkatastrophen in der
bisherigen Geschichte wurde. Außer im Erdbebenfall wird auf den Klimawandel als für den generellen Frequenz- und Schadensanstieg im Naturkatastrophenbereich sehr wohl verantwortlichen (obgleich auch durch die Versicherungen nicht in seiner Kausalität klar bestimmbaren) Faktor hingewiesen.74 Ein intellektueller Weggefährte Becks, Anthony Giddens, betrachtet
entsprechend die Versicherbarkeitsgrenze nicht als analytisches Tool, sondern
behauptet, dass in Zeiten des Klimawandels alle überkommenen Modi der
Versicherungskalkulation nicht mehr griffen und fordert aktiv, dass „[n]ew
thinking will be needed to push back the boundaries of insurability“.75
Natürlich werden nie alle Schäden bei solchen Großkatastrophen durch
Versicherungen beglichen. Auch bei Atomkraftwerken werden immer nur
Nebenschäden wie Netzausfallkosten oder simple Beschädigungen von Maihrer selbst dekonstruieren. Ein wenig in diese Richtung argumentiert der Beitrag von
Steffen Patzold in diesem Heft. Aus der Perspektive von Entwicklungsgeschichten und
einer immer noch legitimen longue dure-Betrachtung hingegen stellt sich die Frage
weiterhin.
73 Etwa 1906 bei der für die globale Versicherungsbranche zentralen Verarbeitung der
Erdbeben- und Feuerkatastrophe von San Francisco. Vgl. dazu Tilmann J. Röder,
Rechtsbildung im wirtschaftlichen „Weltverkehr“. Das Erdbeben von San Francisco und
die internationale Standardisierung von Vertragsbedingungen (1871 – 1914), Frankfurt
2006; oder 2005 nach Katrina, als die Diskussion der Versicherer sich darum drehte, ob
der Schaden auf den Hurrikan oder auf den mangelnden Dammbau zurückzuführen sei,
vgl. Ted Steinberg, Acts of God. The Unnatural History of Natural Disaster in America,
Oxford 20062, S. 197 – 211.
74 Vgl. etwa die Quellen des Berichts UN-Habitat, Global Report on Human Settlements
2007. Enhancing Urban Safety and Security, London 2007. Die einzige konkurrenzfähige
nicht versicherungsbasierte Katastrophendatenbank ist an der Universität Leuven
angesiedelt, vgl. http://www.emdat.be/ und Verlaufsübersicht 1900 – 2005 http://
www.unisdr.org/disaster-statistics/pdf/isdr-disaster-statistics-occurrence.pdf.
Zur
Pressemeldung von MunichRe zur Bilanz 2011 http://www.munichre.com/de/media_relations/press_releases/2012/2012_01_04_press_release.aspx.
75 Giddens, Politics of Climate Change, S. 174.
ipabo_66.249.66.96
Grenzen der Versicherbarkeit
451
schinen und Gebäuden versichert in einer Kombination verschiedener
Praktiken – Zonierung von „heißen“ und normalen Orten innerhalb des
Kraftwerks, Pooling von Risiken in internationalen Versicherungszusammenschlüssen. Humanitäre Katastrophenfolgen eines Großschadens werden nie
versichert. Gleichwohl kann man in den ensprechenden Akten der Versicherer
die Einstreuung des apokalyptischen Diskurses der Anti-AKW-Bewegungen
und Umweltmahner vorfinden: die Akteure in den Unternehmen nahmen dies
stets aufmerksam wahr, wurden immer wieder auch in politischen Konflikten
sowohl von Atomkraftwerkbetreibern wie Atomkraftgegnern als Experten zur
Risikokalkulation angerufen.76 Insoweit teilen Atomplaner, Versicherer, Atomkraftgegner, Klima-Praktiker und Klimawandel-Aktionisten unter ideologisch
verschiedenen Vorzeichen den gleichen Apokalypsehorizont, vor dessen
Hintergrund sich der ältere operative Planungshorizont von Versichern nun
wieder als begrenzt und beschränkt wirksamer Ausschnittshorizont abhebt.
Diese in die Gegenwart ausgreifenden Überlegungen sind nötig, um zumindest
grob den nötigen Dreischritt der Epochenabfolge abzuschreiten, der im
Narrativ der Risikosoziologie vorgegeben ist. Im Unterschied zur letzteren
liegen für den Historiker die Akzente freilich gerade auf den historischen
Epochen der Sattelzeit und Vollmoderne.
Prämienversicherungen sind also durchaus ein sehr spezieller Typus von
Sicherheitsproduktion, der, als quasi neuzeitliches Element, im Spätmittelalter
aufkommt, ab der Frühaufklärung institutionalisiert wird, und keineswegs
neben anderen Formen von Sicherheitsproduktion (Sicherheit durch Policey/
Polizierung, alle Formen innerer und äußerer Sicherheit im weitesten Sinne)
überbewertet werden darf. In seiner Spezialität, die Wertewelt von Natur- und
anderen Katastropheneinwirkungen abzukoppeln, ist das Versicherungsinstrument aber besonders gut fassbar und kann Indikatorfunktion für
sicherheitshistorische Entwicklungen beanspruchen. Die vorgeschlagene
Trennung zweier historisierbarer Zeithorizonte, dem operativen Zeithorizont
von Versicherern, der in der Versicherbarkeitsgrenze (im engeren, nicht
Beck’schen Sinne) eingefangen ist, auf der einen, der gesamtgesellschaftlichen
„timescapes“ und hier spezieller der Apokalyptikhorizonte auf der anderen
Seite, führt durchaus zur Bestätigung und Füllung des groben epochalen
Dreischritts Vormoderne, Vollmoderne und Nach- oder Zweite Moderne für
diesen Bereich, was, wie gezeigt wurde, nicht nur mit der Risikosziologie,
sondern auch mit der Zeitsoziologie konform geht. Versicherbarkeit wird so
aber zugleich allgemeiner und präziser als ein Epochenindikator gefasst.
76 Zur Geschichte der Atomkraftwerk-Versicherung fehlt jede tiefergehende Arbeit, vgl.
vorerst Christoph J. Wehner, Risiko und Routine. Die deutsche Versicherungswirtschaft
und die Herausforderung der Kernenergie, 1955 – 1979, MA-Arbeit Universität Bochum
2010. Wehner arbeitet inzwischen im Rahmen eines DFG-Projekts bei Constantin
Goschler an einer Dissertation zu dieser Thematik.
452
Cornel Zwierlein
Für eine allgemeinere Sicherheitsgeschichte jenseits von Versicherung ließe
sich von den Ergebnissen her dahingehend abstrahieren und generalisieren,
dass man für Instrumente der Sicherheitsproduktion zum einen wohl immer
spezifische Inklusions/Exklusions-Mechanismen und -Strategien bezüglich
derer, die von der gebotenen Sicherheit profitieren sollen, wird festlegen und
historisieren müssen. Zum anderen ist stets die Relation der konkreten
institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen zu den Zeit- und Erwartungshorizonten, die im konkreten Wirkungszusammenhang wie auf den
gesellschaftlichen Meso- und Makroebenen verfügbar sind, zu untersuchen.
Sicherheit ist nicht schlicht zukunfts- und gegenwartsbezogen, wie es
Kaufmann in einem allgemein-systematischen Sinne ausführte, sondern es
kommt auf eine genauere Charakteristik der Zeithorizonte an, in denen die
Sicherheitsproduzenten und -adressaten operieren. Nur so ist das Verhältnis
zwischen Grenzen der Sicherheit und Epochengrenzen zu bestimmen.
Prof. Dr. Cornel Zwierlein, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für
Geschichtswissenschaft, R. GA 4/145, Universitätsstr. 150, D-44801 Bochum
E-Mail: [email protected]
ipabo_66.249.66.96
Securitization. Gegenwartsdiagnose oder
historischer Analyseansatz?
von Eckart Conze
Abstract: The article explores the potentials of the concept of “Securitization” for
historical research. Introduced as an analytical instrument by political scientists (the
Copenhagen School of International Relations), the concept of Securitization provides
answers on how security problems emerge, and why societies perceive certain issues
as relevant in terms of security. Since ideas and perceptions of security (and insecurity) change over time, Securitization can be applied not only to current developments, but also to historical processes. Concentrating on three possible fields of
research, the author underlines the use of the concept in a trans-epochal perspective:
a) the role of Securitization for the evolution and the legitimation of the state, b)
Securitization as a central element of political communication, and c) the relation
between Securitization and mechanisms of social integration and identity formation.
I.
Sicherheitsbegriff und Sicherheitsverständnis
Als im Jahre 2002 die rot-grüne Koalition wiedergewählt wurde, stand die erste
Regierungserklärung des im Amt bestätigten Bundeskanzlers unter der
Überschrift „Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung“. Doch der eigentliche Zentralbegriff des von Gerhard Schröder präsentierten Regierungsprogramms war nicht „Gerechtigkeit“, sondern „Sicherheit“. Seine Regierung
verstehe „Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht“, lautete ein Kernsatz der
Erklärung, und der Bundeskanzler vertrat sodann einen, wie er es nannte,
„erweiterten Sicherheitsbegriff“, der deutlich über „die Sicherheit von Leib
und Leben vor Krieg und Kriminalität“ hinausgehe.1 Fünf Jahre später, 2007,
verabschiedete die CDU unter der Führung von Bundeskanzlerin Angela
Merkel ein neues Grundsatzprogramm unter der Überschrift „Freiheit und
Sicherheit“. Die CDU stehe für eine Gesellschaft, heißt es dort, in der
angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ein neues Verständnis
von Sicherheit notwendig sei:
Es umfasst gleichermaßen die innere und äußere Sicherheit in einer Welt mit immer neuen
Bedrohungen. Es umfasst aber auch die soziale Sicherheit unter den Bedingungen einer
globalisierten Wirtschaft und der demografischen Veränderungen sowie die des Zusam1 Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen
Bundestag am 29. Oktober 2002: „Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung
schaffen. Für eine Partnerschaft in Verantwortung“, abgedruckt in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 85 – 1, 29. 10. 2002.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 453 – 467
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
454
Eckart Conze
menhalts in unserer Gesellschaft und die Sicherheit, auch in Zukunft in einer lebenswerten
Umwelt leben zu können, die jede Generation für die nächste bewahrt.2
Solche Programmaussagen spiegeln zum einen eine deutliche Erweiterung des
Sicherheitsbegriffs. Diese setzte in zeithistorischer Perspektive in den 1970er
Jahren ein und war eine internationale Entwicklung, die etwa zeitgleich in der
westlich-industriellen Welt und ihren Gesellschaften ablief. Die Debatte über
ein erweitertes Sicherheitsverständnis hängt ursächlich zusammen mit der
internationalen Krisenerfahrung der Mitte der 1970er Jahre und dem Ende des
ökonomischen Booms der Nachkriegsjahrzehnte, jenes „Goldenen Zeitalters“
der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten wie es Eric Hobsbawm genannt
hat.3 Die Rede von der erweiterten Sicherheit verweist aber zum anderen auch
auf einen Bedeutungsgewinn des Wertbegriffs „Sicherheit“ vor dem Hintergrund eines sich verändernden gesellschaftlichen Sicherheitsbewusstseins.4
Beide Entwicklungen – Erweiterung des Sicherheitsbegriffs und Veränderung
des Sicherheitsbewusstseins – sind aufeinander bezogen und verstärkten sich
gegenseitig. Nach 1990 kam es zu einem weiteren Schub in der öffentlichen
Debatte über neue Unsicherheiten und, damit verbunden, einen erweiterten
Sicherheitsbegriff, diesmal vor allem gespeist aus dem Wegfall der militärisch
bestimmten Systemlogik der internationalen Ordnung des Ost-West-Konflikts.
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht hat Christopher Daase verschiedene Teildimensionen des „erweiterten“ Sicherheitsbegriffs identifiziert und systematisiert. Die Erweiterung vollziehe sich in der Sachdimension von der
militärischen zur humanitären Sicherheit; in der Raumdimension von der
nationalen zur globalen Sicherheit; in der Gefahrendimension von der
Bedrohung zum Risiko; und in der Referenzdimension vom Staat zum
Individuum.5 Von einer sich entfaltenden neuen Sicherheitskultur sprachen
politiknahe wissenschaftliche Sicherheitsexperten schon in den 1990er Jahren.6 Die jüngere politikwissenschaftliche Forschung hat diesen Terminus
2 Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands (2007): „Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland“, http://www.grundsatzprogramm.cdu.de/doc/071203-beschluss-grundsatzprogramm-6-navigierbar.pdf
3 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts,
München 1995, S. 285 – 499.
4 Für die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland siehe dazu ausführlich Eckart
Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von
1949 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 463 – 578.
5 Christopher Daase, Der erweiterte Sicherheitsbegriff, in: Mir A. Ferdowski (Hg.),
Internationale Politik als Überlebensstrategie, München 2009, S. 137 – 153, hier S. 138;
vgl. auch ders., National, Societal and Human Security. On the Transformation of
Political Language, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 24 – 39.
6 Siehe beispielsweise Uwe Nerlich, Europäische Sicherheitskultur. Das Ziel und der Weg,
in: Albrecht Zunker (Hg.), Weltordnung oder Chaos?, Baden-Baden 1993, S. 21 – 36.
ipabo_66.249.66.96
Securitization
455
aufgegriffen, um damit politischen und sozialen Wandel interdisziplinär
erforschen zu können.7 In der Geschichtswissenschaft hat die englische
Historikerin Emma Rothschild eine Erweiterung des Sicherheitsbegriffs auf
vier Ebenen festgestellt: erstens eine Erweiterung von der Sicherheit der
Staaten zur Sicherheit von Gruppen und Individuen; zweitens eine Erweiterung von der Sicherheit der Staaten zur Sicherheit des internationalen Systems
oder zur Sicherheit der supranationalen Umwelt, der Biosphäre; drittens eine
Erweiterung in neue Bereiche hinein: Umweltsicherheit oder Versorgungssicherheit, beispielsweise mit Rohstoffen und mit Energie; und viertens
schließlich eine Erweiterung der politischen Zuständigkeit zur Herstellung
von Sicherheit: vom Staat hin zu internationalen, aber auch hin zu regionalen
oder lokalen Institutionen sowie zu Nicht-Regierungsorganisationen.8
Der zeitliche Bezugsrahmen dieser Befunde ist vergleichsweise gegenwartsnah; allenfalls die jüngste Zeitgeschichte wird damit erfasst. Für die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs mag dies zutreffend sein, und fraglos ist
Sicherheit nicht nur ein Leitbegriff der Gegenwart, sondern auch ein
Schlüsselbegriff aktueller politischer und sozialer Transformationsprozesse,
der als solcher das Interesse der Wissenschaft findet.9 Aber der Wandel von
Sicherheitsbegriffen, Sicherheitsverständnissen und Sicherheitswahrnehmungen führt doch deutlich über die jüngste Zeitgeschichte hinaus. Die Idee der
Sicherheit, so argumentiert Emma Rothschild, stehe seit dem 17. Jahrhundert
im Zentrum der europäischen Politik, und sie zitiert in diesem Zusammenhang eine Feststellung von Leibniz aus dem Jahre 1705: „My definition of the
State or of what the Latins call Respublica is: that it is a great society of wich the
object is common security [la seuret commune].“ Für das Verhältnis
zwischen Individuum und Staat und insbesondere alle vertragstheoretischen
Begründungen moderner Staatlichkeit ist das Ziel der Sicherheit also von
zentraler, ja konstitutiver Bedeutung. Die Herstellung und Gewährleistung von
Sicherheit war in diesem Sinne als legitimatorische Grundlage von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols.10
7 Christopher Daase, Sicherheitskultur. Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung
politischen und sozialen Wandels, in: Sicherheit und Frieden 29. 2011, S. 59 – 65.
8 Emma Rothschild, What Is Security?, in: Daedalus 124. 1995, S. 53 – 98, hier S. 55. Die
Originalstelle findet sich in: Die Werke von Leibniz, hg. v. Onno Klopp, Hannover
1864 – 1873, Bd. 9, S. 143.
9 Vgl. Patricia Purtschert u. a., Einleitung, in: dies. u. a. (Hg.), Gouvernementalität und
Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault, Bielefeld 2008,
S. 7 – 18, hier S. 7.
10 Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975; vgl.
auch Markus Jachtenfuchs, Das Gewaltmonopol. Denationalisierung oder Fortbestand,
in: Stephan Leibfried u. Michael Zürn (Hg.), Transformationen des Staates?, Frankfurt
2006, S. 69 – 91, hier S. 70.
456
Eckart Conze
Aber Sicherheit ist nicht ahistorisch. Sicherheit ist weder ein überzeitlich
gültiger und definierbarer Begriff noch eine räumlich universelle und
transkulturelle Kategorie (wenn man nicht extrem anthropologisch argumentiert). Sicherheit beziehungsweise die Wahrnehmung von Sicherheit ist stets
gesellschaftlich bestimmt und damit im historischen Prozess variabel.
Unterschiedliche Gesellschaften, aber auch unterschiedliche Gruppen in
einer Gesellschaft weisen – synchron und diachron – höchst unterschiedliche
Vorstellungen von Sicherheit – respektive Unsicherheit – auf. Die Wahrnehmung von Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit, und damit auch jede
Veränderung des Sicherheitsbegriffs, ist das Ergebnis einer Deutung von
Realität.11 Sicherheitskulturen – mit Christopher Daase die Gesamtheit der
Vorstellungen, Werthaltungen und Praktiken von Individuen, Gruppen und
Institutionen, die darüber entscheiden, (a) was als eine Gefahr oder eine
Unsicherheit im weitesten Sinne angesehen wird, und (b) mit welchen Mitteln
dieser Gefahr begegnet werden soll – verändern sich. Sie unterliegen
historischem Wandel.12 Was aber bestimmt diesen Wandel, und vor allem:
Welche Faktoren wirken auf den Wandel des Sicherheitsverständnisses ein?
Ähnlich wie „Freiheit“ oder „Gerechtigkeit“ ist „Sicherheit“ ein zentraler
Wertbegriff der politisch-sozialen Sprache. Hinter dem Begriff „Sicherheit“
verbergen sich Ideen eines soziokulturellen Wertsystems, aber auch politische
Ordnungsvorstellungen. Aus Wertbegriffen wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“
oder „Sicherheit“, die bestimmte Vorstellungen symbolisieren, werden individuelle oder kollektive Handlungsmaximen entwickelt, handlungsleitende
Ideen, ides directrices, institutionentheoretisch gesprochen.13 Als Wertbegriff
freilich ist Sicherheit nicht nur ein gesellschaftlich konstruiertes, sondern auch
ein „grundsätzlich umstrittenes Konzept“, ein „essentially contested concept“
im Sinne des englischen Philosophen Walter Gallie. Das Verständnis – und
damit auch jede Definition – von Sicherheit ist umstritten, weil es im Kern
nicht um objektive Bestimmungsfaktoren (zum Beispiel empirische Befunde)
geht, sondern um moralische, ideologische und normative Vorstellungen, die
geradezu zwangsläufig divergieren.14
11 Ekkehart Lippert u. a., Einleitung, in: ders. u. a. (Hg.), Sicherheit in der unsicheren
Gesellschaft, Opladen 1997, S. 7 – 20, hier S. 14; vgl. auch Wolfgang Bonß, Die
gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit, in: ebd., S. 21 – 41, hier S. 21, sowie
Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer modernen Politikgeschichte
der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 53. 2005, S. 357 – 380, bes. S. 362 – 365.
12 Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: APuZ 50. 2010, S. 9 – 16, hier S. 9.
13 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart
1973, S. 35.
14 William B. Gallie, Essentially Contested Concepts, in: Max Black (Hg.), The Importance
of Language, Englewood Cliffs 1962, S. 121 – 146; vgl. auch Barry Buzan, People, States
and Fear, Boulder 1991, S. 7.
ipabo_66.249.66.96
Securitization
457
Wie aber entwickelten sich in der Geschichte Vorstellungen von Sicherheit?
Wie wurde über diese Vorstellungen gestritten? Wie gelangten sie unter
unterschiedlichen historischen Bedingungen in den politischen Prozess
(verstanden als kommunikativer, auf kollektive Verbindlichkeit zielender
Prozess), um sich dort zu institutionalisieren? Man muss sich dabei von der
Annahme lösen, dass objektive Bedrohungen für diese Institutionalisierung
verantwortlich sein müssen. Vielmehr ist die politische Konzeptionalisierung
und Institutionalisierung von Sicherheit das Ergebnis historischer Prozesse,
von Auseinandersetzungen innerhalb von Gesellschaften, von Konflikten und
Spannungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen mit
divergierenden Interessen.15
II. Versicherheitlichung – Entsicherheitlichung
Um diese Prozesse zu untersuchen, bietet sich das Konzept der „Versicherheitlichung“ („Securitization“) an, für dessen Erprobung als historischen
Analyseansatz dieser Beitrag werben möchte. Als terminologisches und
konzeptionelles Angebot geht das Konzept der Securitization zurück auf die
Kopenhagener Schule der Internationalen Beziehungen, für die insbesondere
der dänische Politikwissenschaftler Ole Wæver und sein englischer Kollege
Barry Buzan stehen.16 Mit dem Konzept der Versicherheitlichung versuchte die
Kopenhagener Schule zunächst, Antworten zu finden auf die ebenso einfache
wie grundlegende Frage: Wie wird etwas zu einem Sicherheitsproblem? Hinter
dieser Frage steht die – begründete – Annahme, dass mit dem Sicherheitsbegriff beziehungsweise mit der Bezeichnung einer bestimmten Thematik als
sicherheitsrelevant oder als Sicherheitsproblem über die Priorität politischer
Ziele entschieden wird – bis hin zu politischen Forderungen, welche Handlungen jenseits der jeweils geltenden Grenzen und Beschränkungen politischen Handelns implizieren und legitimieren. Versicherheitlichung lässt sich
über politische Diskurse und Praktiken untersuchen und korrespondiert
daher mit einem zwar handlungsorientierten, aber zugleich kommunikativ
verstandenen Politikbegriff. Versicherheitlichung wird damit als ein akteursgesteuerter kommunikativer Prozess gefasst und als solcher lässt er sich auch
historisieren.17
15 Vgl. Ronnie D. Lipschutz, On Security, in: ders. (Hg.), On Security, New York 1995,
S. 1 – 23, hier S. 8.
16 Zur Kopenhagener Schule siehe den Überblick und die (Selbst-)Einordnung bei Barry
Buzan u. Lene Hansen, The Evolution of International Security Studies, Cambridge
2009, S. 212 – 218.
17 Vgl. Barry Buzan u. a., Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998, S. 24 f.,
oder auch Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Lipschutz, On Security,
S. 46 – 86. Vgl. ferner Thorsten Bonacker u. Jan Bernhardt, Von der security community
458
Eckart Conze
Aus der Historisierung des Ansatzes der Versicherheitlichung ergibt sich
jedoch zugleich eine Erweiterung. In der Politikwissenschaft wird nämlich das
Konzept der Versicherheitlichung vor allem auf den Staat bezogen. „In naming
a certain development a security problem, the ,state‘ can claim a special right“,
heißt es beispielsweise bei Ole Wæver.18 Das verweist auf die Genese des
Ansatzes der Versicherheitlichung vor dem Hintergrund eines seit den 1980er
Jahren breit konstatierten Bedeutungsverlusts des (National-)Staates und von
Prozessen der Entnationalisierung und Entterritorialisierung. In dem Moment, in dem ein Problem als Sicherheitsproblem wahrgenommen und auch
sprachlich als solches dargestellt wird, ergibt sich daraus, so wird argumentiert, eine spezifische Zuständigkeit des Staates. Staaten und ihre politischen
Eliten müssten, um sich zu legitimieren, um ihre fortgesetzte Daseinsberechtigung zu demonstrieren, ein Interesse daran haben, möglichst viele Entwicklungen zu „versicherheitlichen“.19
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Historisierung des Konzepts der
Versicherheitlichung fraglos auf den Aufstieg des Territorialstaats und die bis
heute zentrale Bedeutung des Staates als Sicherheitsakteur beziehen. Das muss
aber nicht auf ein Verständnis von Versicherheitlichung in einseitigem oder
gar ausschließlichem Staatsbezug hinauslaufen. Zu fragen wäre vielmehr nach
Dimensionen von Versicherheitlichung in staatsfernen Kontexten und ihrer
möglichen Funktion in Politisierungsprozessen beziehungsweise Prozessen
politischer Gemeinschaftsbildung. Versicherheitlichung meint gerade in
einem solchen Verständnis nicht eine lineare historische Entwicklung, die
sich in erster Linie in der Entstehung und der Entwicklung des modernen
(Territorial-)Staates verfolgen ließe. Wenn man davon ausgeht, dass Versicherheitlichung ein zentraler Aspekt politischer Kommunikation und politischen Handelns ist – mit je unterschiedlichen Ausformungen in verschiedenen
historischen Kontexten – wäre vielmehr zu fragen: Unter welchen Bedingungen, aus welchen Gründen und auf welche Weise werden bestimmte Entwicklungen zu Sicherheitsfragen, werden sie also versicherheitlicht? Welche
Akteure haben beziehungsweise hatten ein Interesse an solchen Versicherheitlichungen? Unter welchen Bedingungen sind solche Entwicklungen
erfolgreich, unter welchen scheitern sie?
Dieser Aufsatz präsentiert bewusst keine These, welche die sich verändernden
Modi und Bezugsfelder von Versicherheitlichung in einen historischen
Entwicklungszusammenhang bringt oder gar ein Verlaufsmodell vorschlägt.
Dafür ist der Forschungsstand noch zu disparat. Aber lässt nicht beispielsweise, so könnte man vermuten, die Steigerung gesellschaftlicher Komplexität
zur securitized community. Zur Diskursanalyse von Versicherheitlichungsprozessen am
Beispiel der Konstruktion einer europäischen Identität, in: Alexander Siedschlag (Hg.),
Methoden der Sicherheitspolitik, Wiesbaden 2006, S. 219 – 242.
18 Wæver, Securitization, S. 54.
19 Ebd.
ipabo_66.249.66.96
Securitization
459
in Verbindung mit der Zunahme von Information und/oder Wissen Versicherheitlichungspotentiale entstehen beziehungsweise wachsen? Der eingangs erwähnte Begriff der „erweiterten Sicherheit“ scheint darauf zu
verweisen. Er spiegelt einerseits wachsende soziale und politische Komplexität
und – infolgedessen – eine weitere Ausdifferenzierung von Sicherheit.
Andererseits ist die Verwendung des Begriffs in der politischen Sprache
auch als Teil eines Versicherheitlichungsprozesses – in diesem Fall von
staatlichen Akteuren ausgehend – interpretierbar.
Das hier dargelegte Verständnis von Versicherheitlichung impliziert zwingend
auch die analytische Aufnahme des Korrespondenzbegriffs der „Entsicherheitlichung“ („Desecuritization“). Wenn Versicherheitlichung im Sinne der
Kopenhagener Schule meint, dass bestimmte Problemlagen oder Konstellationen im politischen Raum als existentielle Gefährdung wahrgenommen
beziehungsweise dargestellt werden, um politisches Handeln auf diese Weise
von den etablierten Bedingungen und insbesondere normativen Vorgaben des
normalen politischen Kommunikations- und Entscheidungsprozesses befreien zu können, dann wäre mit Entsicherheitlichung eine umgekehrte Entwicklung beschrieben: also die Rückkehr zu normbestimmter und regelhafter
politischer Kommunikation angesichts einer nicht mehr als existenzgefährdend wahrgenommenen oder dargestellten Situation. Das bezieht sich in
dieser Wendung primär, wenn nicht ausschließlich, auf liberal-demokratische
Ordnungen mit demokratisch legitimierten Regierungen. Für eine historische
Analyse trägt ein solches stark gegenwartsbezogenes und normatives Verständnis nur bedingt. Dennoch ist die Frage nach Entsicherheitlichung wichtig
und notwendig, wenn man Versicherheitlichung nicht nur rein diskursiv,
sondern auch handlungs- und akteursbezogen versteht und die durch
Versicherheitlichung bewirkte Außerkraftsetzung von normalerweise geltenden Grenzen und Beschränkungen politischen Handelns nicht normativ an
demokratische Ordnungen bindet, sondern sie auf politische Systeme und
Ordnungen allgemein bezieht. Das Konzept der Securitization öffnet also den
Blick auf verschiedene Gegenstandsbereiche: auf die Legitimation des Staates
und staatlichen Handelns, auf das Handeln unterschiedlicher Akteure im
politischen Prozess, die ihre Interessen durch sicherheitsbezogene Argumentationen durchzusetzen versuchen, aber auch auf Prozesse und Mechanismen
sozialer Integration, der Vergemeinschaftung und Identitätsbildung.20
Aus der Sehnsucht nach Sicherheit der Bürger und aus seinem Anspruch
beziehungsweise dem Versprechen, Schutz und Sicherheit schaffen zu können,
bezieht der Staat seine Legitimität. Das ist mit Blick auf die frühneuzeitliche
Staatsbildung, auf die Herausbildung des modernen Territorialstaates immer
wieder betont worden. In Thomas Hobbes’ „Leviathan“ ist der Zusammen-
20 Zu letztgenanntem Aspekt vor allem Bonacker u. Bernhardt, Von der security
community.
460
Eckart Conze
hang zwischen Sicherheitsversprechen und Staats- beziehungsweise Herrschaftslegitimation in der politischen Theorie des 17. Jahrhunderts wohl am
deutlichsten hergestellt worden. Sicherheit begründet nicht nur staatliche
Souveränität und Sicherheit beziehungsweise ein Sicherheitsversprechen
legitimiert den Staat nicht nur, sondern Sicherheit stellt letztlich Ursache
und Ziel von Staat und Staatlichkeit dar.21 Auch im deutschen Sprachraum
verbarg sich hinter dem „Interesse des gemeinen Wohls“, das seit dem
17. Jahrhundert zur Rechtfertigung von Herrschaft angeführt wurde, von
Anfang an, selbst wenn der Begriff nicht verwandt wurde, die Idee der
Sicherheit. Sicherheit als gemeinsames Interesse lieferte „eine ,sachgerechte‘
und damit rationale Begründung […] für die herrschaftliche Organisierung
gesellschaftlicher Praxis“.22 Das schlug sich nieder im Anspruch einer
allumfassenden „Policey“, eine Vorstellung, hinter der sich ein weites Verständnis von Sicherheit verbarg. Herrschaft wurde in diesem Sinne versicherheitlicht.
Eine scharfe Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, charakteristisch
für die Hochphase der Nationalstaaten zwischen etwa der Mitte des 19.
Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, existierte zunächst
nicht. Gerade unter Sicherheitsgesichtspunkten wurden die innere Ordnung
von Staaten und die internationale Ordnung konstitutiv aufeinander bezogen.
Noch im beginnenden 19. Jahrhundert stand die Neuordnung Europas nach
der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft im Zeichen
der Wiedereinführung von Stabilität und das „System Metternich“ ganz unter
dem Imperativ von Ruhe und Sicherheit. Die innere Ordnung und das
internationale System sollten dadurch legitimiert und befriedet werden. Der
Wiener Kongress erbrachte, wenn man so will, eine gewaltige Versicherheitlichungsleistung, und wie kein Zweiter verstand der österreichische Staatskanzler Metternich sich auf das Instrumentarium der Versicherheitlichung.23
21 Vgl. Wolfgang Sofsky, Das Prinzip Sicherheit, Frankfurt 2005, S. 83 f.
22 Alf Lüdtke u. Michael Wildt, Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes,
in: dies. (Hg.), Staats-Gewalt. Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische
Perspektiven, Göttingen 2008, S. 7 – 38, hier S. 23; vgl. auch Alf Lüdtke, „Sicherheit“ und
„Wohlfahrt“. Aspekte der Polizeigeschichte, in: ders. (Hg.), „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1992,
S. 7 – 33, hier S. 12.
23 Zum „System Metternich“ siehe Wolfgang Hardtwig, Vormärz. Der monarchische Staat
und das Bürgertum, München 1985, S. 33 – 50, sowie noch immer Heinrich Ritter von
Srbik, Der Ideengehalt des Metternichschen Systems, in: HZ 131. 1925, S. 240 – 262; vgl.
ferner Wolfram Siemann, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne,
München 2010. Zum Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik bei Metternich
siehe auch Elisabeth Droß, Einleitung, in: dies. (Hg.), Quellen zur Ära Metternich,
Darmstadt 1999, S. 1 – 33, bes. S. 2 f.
ipabo_66.249.66.96
Securitization
461
Die Versicherheitlichung der internationalen Ordnung der post-napoleonischen Ära verschaffte dieser Ordnung – einschließlich ihrer innenpolitischen
Implikationen: Bekämpfung liberaler und nationaler Kräfte – insbesondere in
den ersten Jahren nach 1815 ein gewisses Maß an Legitimität und Stabilität.
Beide beruhten auf dem breiten Konsens, dass liberale und nationale
Entwicklungen die „Ruhe und Glückseligkeit Europas“, wie es zeitgenössisch
hieß, gefährdeten. Themen, Beziehungen oder Gegenstände, so sieht es das
Versicherheitlichungskonzept der Kopenhagener Schule, werden dort versicherheitlicht, wo sie als existentiell gefährdet betrachtet werden. Wie wir
wissen, traten jedoch die Vorstellungen über die Voraussetzungen europäischer Ruhe und Stabilität schon wenige Jahre nach dem Wiener Kongress weit
auseinander. Während die europäischen Ostmächte, Österreich, Preußen und
Russland, um Revolutionen zu verhindern, die Bekämpfung liberaler und
nationaler Entwicklungen ins Zentrum ihrer Politik stellten – bis hin zur Idee
eines automatischen antiliberalen und antinationalen Interventionsrechts der
Großmächte –, erkannten Großbritannien und bis zu einem gewissen Grade
auch Frankreich in den Jahren ab 1820 in moderaten Reformen und einer
behutsamen Politik der Liberalisierung die beste Strategie der Revolutionsverhinderung. Der Sicherheitskonsens über das Gefährdungspotential liberaler und nationaler Tendenzen hatte sich aufgelöst, und deshalb ließ seine
systemstabilisierende und ordnungslegitimierende Wirkung nach. Sicherheit
wurde von unterschiedlichen Akteuren verschieden interpretiert. Dabei waren
diese Akteure nicht nur Staaten, sondern auch gesellschaftliche Gruppen oder
Kräfte, die ihre Vorstellungen von Sicherheit – Revolutionsverhinderung nicht
durch Repression, sondern durch Reform – kommunikativ über Parlamente
und die Presse in den politischen Prozess einspeisten. Bedrohungen und
Sicherheitsgefährdungen, das wird hier deutlich, sind immer auch Teil einer
intersubjektiven Wirklichkeitskonstruktion. Das führt zu konkurrierenden
Vorstellungen von Sicherheit beziehungsweise dem geeignetsten Wege der
Herstellung von Sicherheit. Gerade weil Sicherheit einen so zentralen gesellschaftlichen Wertbegriff darstellt, eignen sich Versicherheitlichungsstrategien
in besonderer Weise als Mittel, einen politischen Dominanz- oder Führungsanspruch zu artikulieren und zu verfolgen.
Auch als sich innere und äußere Sicherheit seit Mitte des 19. Jahrhunderts
immer stärker ausdifferenzierten, vermochte doch der Staat, sich als Garant
von Sicherheit zu behaupten. Der Staat verwirklichte die Idee der Sicherheit.
Außenpolitische Sicherheit wurde nun als nationale Sicherheit (national
security) zu einer beherrschenden Denk- und Argumentationsfigur. Sicherheitsvorstellungen verbanden sich in diesem Kontext eng mit der Idee
nationaler, einzelstaatlicher Souveränität, eine Konstruktion, die im modernen Völkerrecht ihren Ausdruck fand und dort normativ befestigt wurde, die
aber auch gesellschaftliche Wirksamkeit entfaltete. Insbesondere in den
europäischen Nationalstaaten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versprach
vor dem Hintergrund binnengesellschaftlicher Nationalisierungsprozesse und
462
Eckart Conze
eines sich verschärfenden Nationalismus der argumentative Rekurs auf die
Sicherung beziehungsweise die Bedrohung nationaler Souveränität eine
gesellschaftliche Legitimation von Regierungshandeln. Die Idee nationaler
Souveränität wurde in diesem Sinne versicherheitlicht und gerade für den
deutschen Fall, die Geschichte des Kaiserreichs seit 1871, ließe sich argumentieren, dass diese Versicherheitlichung der Souveränitätsidee zur Legitimierung und Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen diente.
Das gilt in durchaus vergleichbarer Weise auch für den Bereich der sozialen
Sicherheit, wenn man die staatliche Genese moderner Sozialpolitik als ein
Mittel ansieht, um wie im deutschen Falle in der Arbeiterschaft Staatsloyalität
zu erreichen und dadurch politische Stabilität zu schaffen und – durchaus
bonapartistisch – Herrschaft zu sichern.24 In dieser Perspektive lassen sich die
Entstehung und Entwicklung moderner Sozialstaatlichkeit mit einiger Plausibilität auch als – herrschaftssichernde oder -stabilisierende – Versicherheitlichungsprozesse fassen. Da die konzeptionellen Ursprünge des Ansatzes der
Versicherheitlichung primär in den Internationalen Beziehungen liegen, ist
dieser Politikbereich indes bislang unterbelichtet geblieben, auch wenn
jüngere sozialwissenschaftliche Fortentwicklungen des Konzepts und seine
gegenstandsbezogene Anwendung in diese Richtung weisen.25
Innen- und außenpolitisch entwickelte sich der moderne Staat immer stärker
zum nationalen Sicherheitsstaat, der seinen Bürgern Sicherheit versprach und
dafür Loyalität gewann beziehungsweise zu gewinnen suchte. Das gilt für
demokratische Systeme, in denen konkurrierende politische Kräfte mit ihrer
jeweiligen Sicherheitskompetenz um die politische Macht streiten. Es gilt aber
auch für Diktaturen, in denen die Identifikation von Bedrohungen und eine
Politik der Sicherheit Herrschaftsanerkennung und Herrschaftsstabilität
bewirken sollen. Es ist vor diesem Hintergrund durchaus signifikant, dass
die Repressions- und Terrorapparate von Diktaturen geradezu durchsetzt sind
von Sicherheitsvokabular, wie etwa Reichssicherheitshauptamt, Komitee für
Staatssicherheit (KGB) oder Ministerium für Staatssicherheit.
III. Macht, Integration, Identität
Vor dem Hintergrund dieser hier nur äußerst knapp skizzierten Entwicklung
ist es kaum überraschend, dass in den Prozessen der De- und Entnationalisierung der jüngsten Vergangenheit das Sicherheitsargument auch Verwendung gefunden hat – und noch immer findet –, um den National- beziehungsweise Territorialstaat neu zu legitimieren und ihm eine fortgesetzte
24 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: 1849 – 1914, München 1995, S. 909 f.
25 Siehe den Band von Thierry Balzacq (Hg.), Securitization Theory. How Security
Problems Emerge and Dissolve, London 2011.
ipabo_66.249.66.96
Securitization
463
Daseinsberechtigung zuzuweisen. Sicherheit begründet Machtverhältnisse
und insbesondere staatliche Macht und Herrschaft. Für Foucault, der in
diesem Sinne in der Tradition der klassischen Staatstheorie steht, ist das
Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung im Kern das eines „Sicherheitsvertrags“: „Ich biete euch Sicherheit“, verspreche der Staat.26 Sicherheit ist
aber auch, so könnte man weiter im Anschluss an Foucault formulieren, eine
entscheidende Technik staatlicher Regierung. Für den gouvernementalen
Staat, so wie ihn Foucault konzipiert, ist Sicherheit konstitutiv, und Foucaults
Gouvernementalitätstheorie ermöglicht es, die Machtförmigkeit von Sicherheit zu denken und diese mit dem Staat in einen Zusammenhang zu bringen.
„Gouvernementalität“ ist für Foucault
die aus Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und
Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr
komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als
wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.27
Genau hier liegt der Anknüpfungspunkt zum Versicherheitlichungskonzept
der Kopenhagener Schule. Aus den aktuellen, politisch geprägten Diskussionen zum Thema Sicherheit stammt das Argument, die politische Debatte
steuere den Sicherheitsbegriff an, um unterschiedlichste soziale Bereiche für
eine Reihe von Interventionen zu formieren.28 Das dürfte nicht nur einen
gegenwartsbezogenen Befund darstellen, auch wenn sich in einer komplexeren
und differenzierteren Gesellschaft die Ansatzpunkte für derartige Argumentationen vermehren. Das Dispositiv der Freiheit ist für Foucault ein Dispositiv
der Unsicherheit. Als Rückseite der Sicherheitskalkulationen entsteht für ihn
unabweisbar eine Kultur der Gefahr.29 Auch dies bringt das Konzept der
Securitization in den Blick.
Von der Ebene des Staates sind wir auf der Ebene konkurrierender gesellschaftlicher Gruppen und politischer Interessen angelangt. Zu unterscheiden
ist in diesem Zusammenhang einerseits zwischen Bewegungen hin zu einer
Versicherheitlichung, zwischen Versuchen und Bemühungen, ein bestimmtes
Thema oder ein bestimmtes Problem zu versicherheitlichen, und der erfolgreichen Versicherheitlichung andererseits. Darüber, ob eine bestimmte Frage
26 Michel Foucault, Die Sicherheit und der Staat, in: ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 3,
1976 – 1979, Frankfurt 2003, S. 498.
27 Ders., Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I,
Frankfurt 2004, S. 162.
28 Vgl. beispielsweise Sven Opitz, Zwischen Sicherheitsdispositiven und Securitization.
Zur Analytik illiberaler Gouvernementalität, in: Purtschert u. a., Gouvernementalität
und Sicherheit, S. 201 – 228, hier S. 202.
29 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II,
Frankfurt 2004, S. 102; vgl. auch Opitz, Zwischen Sicherheitsdispositiven, S. 213.
464
Eckart Conze
tatsächlich versicherheitlicht wird und damit im politischen Prozess Priorität
erhält, entscheidet nicht derjenige, der danach strebt, diese Frage zu versicherheitlichen, sondern das „Publikum“, dem eine sicherheitsbezogene
Argumentation – als Sprechakt – präsentiert wird. Die entscheidende Frage
ist also: Akzeptiert das Publikum die Position, dass irgendetwas eine massive,
ja, existentielle Bedrohung eines gemeinsamen Wertes darstellt? Die Akteure,
die sich bemühen, bestimmte Themen zu versicherheitlichen, haben sich
verändert. Sie waren in frühneuzeitlichen Gesellschaften andere als in
Gesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Auch das Publikum, das
über den Erfolg einer Versicherheitlichung entscheidet, hat sich gewandelt, es
hat sich ausgeweitet und diversifiziert.
Vor diesem Hintergrund lassen sich zentrale politische Debatten und gesellschaftliche Auseinandersetzungen als Versicherheitlichungsprozesse fassen.
Denken wir beispielsweise, um diese zeithistorischen Beispiele anzuführen, an
die Auseinandersetzungen über die Nutzung der Kernkraft und über Atomkraftwerke. Jahrzehntelang argumentierten beide Seiten, Kernkraftgegner und
Kernkraftbefürworter, mit „Sicherheit“. Die einen versuchten, Energiegewinnung und Energieversorgung zu versicherheitlichen, die anderen die menschliche Gesundheit und die natürliche Umwelt des Menschen. Vergleichbare
Entwicklungen lassen sich im Blick auf die NATO-Nachrüstung und die
Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre beobachten. Stellten die
Befürworter der Nachrüstung die Stabilität der nuklearen Abschreckung und
damit die Sicherheit des Westens angesichts der sowjetischen Rüstung als
gefährdet dar, urteilten Angehörige der Friedensbewegung genau umgekehrt
und erkannten in der Dynamik des Wettrüstens und der Existenz von
Atomwaffen eine Gefahr für den Frieden und das Überleben der Menschheit.
Sowohl bezogen auf die zivile als auch auf die militärische Nutzung der
Kernkraft argumentierten Befürworter und Gegner zusätzlich vor dem
Hintergrund des seit den 1970er Jahren gebrochenen Fortschrittsnarrativs
der Moderne, in dem staatliche Sicherheitsversprechen nicht zuletzt an die
wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten der Industriemoderne geknüpft
waren.30
30 Zu den unterschiedlichen Verständnissen von Sicherheit im Zusammenhang mit der
nuklearen Rüstung der Zeit um 1980 gibt es ein Dissertationsprojekt von Jan Ole
Wiechmann an der Universität Marburg. Als Vorstudie dazu vgl. Jan Ole Wiechmann,
Sicherheit neu denken? Konzepte von Sicherheit in der protestantischen Friedensbewegung der Bundesrepublik (1977 – 1983), Staatsexamensarbeit Universität Marburg
2006; ferner Eckart Conze, Modernitätsskepsis und die Utopie der Sicherheit. NATONachrüstung und Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: ZHF 7. 2010, S. 220 – 239. Die zeitgeschichtliche Beschäftigung mit der
Geschichte der Kernenergie wird sich, nicht zuletzt im Rekurs auf sicherheitsbezogene
Ansätze, nach Fukushima zweifellos noch intensivieren.
ipabo_66.249.66.96
Securitization
465
Konzeptionell ist wichtig, dass die diskursbezogene und konstruktivistische
Verwendung des Sicherheitsbegriffs, so wie ihn der Ansatz der Versicherheitlichung ermöglicht, sich von einem starren Verständnis von Sicherheit löst.
Sicherheit ist ein Prozessbegriff und damit permanentem Wandel unterworfen. Sicherheit ist darüber hinaus keineswegs ausschließlich ein militärischpolitisches Problem, wie man es in den Internationalen Beziehungen und auch
in einer Politikgeschichte unter dem Primat der Außenpolitik lange gesehen
hat –, sondern eine Praxis, die in verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen anzutreffen ist, in denen je unterschiedliche Themen und Probleme als
Sicherheitsbelange konstruiert werden können: militärische Sicherheit, wirtschaftliche Sicherheit, soziale Sicherheit oder Umweltsicherheit, um nur einige
Beispiele zu nennen. Die Verteidigung eines Landes ist in diesem Sinne nicht a
priori versicherheitlicht. Erst wenn sie als existentiell gefährdet dargestellt
oder wahrgenommen wird, interessiert sie im Sinne des Versicherheitlichungsansatzes. Jetzt gewinnt die Thematik an Dringlichkeit und beansprucht
politischen Vorrang. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Prozesse der
Versicherheitlichung rechtfertigen außerordentliche Maßnahmen, die sofort
umgesetzt werden müssen, zu denen es keine Alternative gibt und die –
zumindest tendenziell – den normalen Strukturen des politischen Prozesses
und der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung entzogen
sind. „Wer an ihrer Legitimität zweifelt“, so ist formuliert worden, „wird für
die Bedrohung mit verantwortlich gemacht“.31
Die Geschichte des Ost-West-Konflikts – gerade die Genesephase des Kalten
Krieges unmittelbar nach 1945, aber auch innenpolitische und sozialkulturelle
Entwicklungen in den Jahrzehnten danach – liefert genügend Beispiele. Der
politische, gesellschaftliche und kulturelle Antikommunismus der Nachkriegsjahrzehnte war in diesem Sinn, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges
und einer tatsächlichen oder vermeintlichen, in jedem Falle aber wahrgenommenen Bedrohung, ein Modus, innenpolitische Themen und gesellschaftliche Fragen zu versicherheitlichen und damit politische Handlungen oder
Entscheidungen durchzusetzen beziehungsweise zu legitimieren. Autoren wie
Melvyn Leffler, Michael Hogan oder H. W. Brands haben gezeigt, wie die
Konstruktion und Darstellung einer kommunistischen Bedrohung (nicht nur
durch die Sowjetunion, sondern in den USA) in den Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg außerordentliche gesetzgeberische und budgetäre Maßnahmen
ermöglichten und wie in dieser Situation der amerikanische „National Security
State“ (Michael Hogan) entstand.32 Der McCarthyismus mit den außerordentlichen Befugnissen des „Ausschusses für Unamerikanische Aktivitäten“ und
31 Bonacker u. Bernhardt, Von der security community, S. 226.
32 H. W. Brands, The Devil We Knew. Americans and the Cold War, New York 1993; Melvyn
P. Leffler, A Preponderance of Power. National Security, the Truman Administration, and
the Cold War, Stanford 1992; Michael H. Hogan, A Cross of Iron. Harry S. Truman and
the Origins of the National Security State, Cambridge 1998.
466
Eckart Conze
die Ausweitung von Geheimdienstaktivitäten gehören ebenfalls in diesen
Zusammenhang. Aber für die Bundesrepublik der 1950er Jahre dürfte der
Versicherheitlichungsansatz neue Deutungsperspektiven eröffnen.33
Sicherheit beziehungsweise Versicherheitlichungsprozesse werden damit
wichtige Mittel – auch sprachlich-narrativ – der symbolischen Integration
von Gesellschaften. Gruppenbezogene Versicherheitlichung kann identitätsbildend oder identitätsverstärkend wirken. Die Nähe zu Identitäts- und
Alteritätskonstruktionen beziehungsweise Identitäts- und Alteritätsdiskursen
ist evident. Gemeinschaften können zu versicherheitlichten Gemeinschaften
werden, wenn sie sich bedroht fühlen und die Wahrnehmung einer Bedrohung
zur inneren Integration nutzen. Das ist für sich genommen nicht neu, wenn
man beispielsweise an identitätsstiftende und integrierend wirkende Bedrohungs- oder Feindbildkonstruktionen denkt, wie sie nicht zuletzt die Nationalismusforschung, aber auch die Forschung zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Zeit des Kalten Krieges herausgearbeitet hat.
Attraktiv aber ist, dass mit dem Versicherheitlichungsansatz Identitätsbildung
oder Vergemeinschaftungen analytisch noch stärker mit dem politischen
Prozess verknüpft werden können, wie es jüngst am Beispiel der europäischen
Integration gezeigt worden ist.34 Dabei bleibt es eine empirische Frage, wie
Identitäten konstruiert werden und welche Rolle Prozesse oder Strategien der
Versicherheitlichung im Einzelnen dabei spielen.
IV. Perspektive
Im Ansatz der Versicherheitlichung liegt ein großes Potential für historische
Untersuchungen. Das Konzept, so wie es von den Vertretern der Kopenhagener
Schule eingeführt worden ist und sich seit etwa 15 Jahren zu einer Theorie
ausgeformt hat, mag aus der Gegenwart gewonnen sein, es ist jedoch
keineswegs ausschließlich gegenwartsbezogen oder nur auf die jüngste
Zeitgeschichte anwendbar. Der Ansatz liefert einen theoretischen Rahmen
für zentrale Entwicklungen politischer Gemeinschaftsbildung, Entscheidungsfindung sowie Systemlegitimation und -stabilisierung. Er hat Erklärungskraft
für die Entstehung des modernen Territorial- beziehungsweise Nationalstaats
und das internationale System dieser Staaten, unterlegt diesem historischen
Prozess aber keine Teleologie oder Finalität. Vielmehr bietet das Konzept
Ansatzpunkte zur Erklärung politischer Entwicklungen vor dem Aufstieg des
33 Anknüpfend beispielsweise an Till Kössler, Abschied von der Revolution. Kommunisten
und Gesellschaft in Westdeutschland, 1945 – 1968, Düsseldorf 2005, oder an Joseph
Foschepoth, Staatsschutz und Grundrechte in der Adenauerzeit, in: Jens Niederhut u.
Uwe Zuber (Hg.), Geheimschutz Transparent? Verschlusssachen in staatlichen Archiven, Düsseldorf 2010, S. 27 – 58.
34 Siehe Bonacker u. Bernhardt, Von der security community.
ipabo_66.249.66.96
Securitization
467
modernen Territorialstaats und in der Phase der Relativierung seiner Bedeutung. Damit ermöglicht es einen frischen Blick auf zentrale politische
Entwicklungen in zeitlich und räumlich unterschiedlichen sozialen und
kulturellen Kontexten, einen Blick, der zwar den modernen Staat (als
Territorial- oder Nationalstaat) analytisch ausdrücklich einbezieht, aber
nicht jenem methodologischem Nationalismus verhaftet bleibt, der über den
klassischen Nationalstaat als Referenzrahmen der Analyse nicht hinaus
gelangt.35
Prof. Dr. Eckart Conze, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte,
Wilhelm-Röpke-Str. 6 C, D-35032 Marburg
E-Mail: [email protected]
35 Anthony D. Smith, Nationalism in the Twentieth Century, Oxford 1979, S. 191; vgl. auch
Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus, Antworten auf
Globalisierung, Frankfurt 1997, S. 46 f.
Diskussionsforum
Schöne neue Welt
Zur Poetik des Museums in Frankreich, 1790 – 1795
von Roland Cvetkovski
Abstract: In shaping the institution of the museum, the French revolutionaries similarly established it as a cultural agent resting upon specific cultural techniques which
still account for its modernity down to the present day. On the backdrop of the allembracing notion of the “new world” which the revolutionaries repetitiously made
use of, the discussions about the creation of the Louvre outlined the museum’s genuine cultural performance in terms of museification. The following article tries to
develop this argument and expounds a poetics of the modern museum being essentially grounded, first, on the present as most important time line, second, on the
aesthetics of the exhibits, and third, on the utopian moment.
Invente: tu vivras.
Antoine-Marin Le Mierre, Paris [1769]1
Als Charles-Gilbert Romme in seinem Bericht vom 20. September 1793 mit
Nachdruck den Mitgliedern des Nationalkonvents in Erinnerung rief, dass die
Zeit ein neues Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen habe, hatte er gewiss
nicht nur den Revolutionskalender im Blick, der ja gerade auf sein Betreiben
hin – rückwirkend zum 22. September 1792 – faktisch eine neue, wie auch vom
metrischen System neuartige Zeitrechnung eingeführt hatte.2 Die historische
Zeit war im Laufe der Revolution tatsächlich auch qualitativ eine andere
geworden, und dies nicht nur, weil der Baum der Freiheit gepflanzt war, sein
Stamm sich erstaunlich schnell in der alten Erde des Ancien Rgime verwurzelt
zu haben schien und jeder an den Früchten, die er trug, sich nunmehr laben
konnte. Inmitten der politisch-ideologischen Vereinnahmungen hatte die
Vokabel der Freiheit nämlich einen grundlegend neuen Erfahrungsraum
geöffnet, der in erster Linie die zeitlichen Horizonte neu strukturierte. Denn
nur in einer Szenerie, in der die Freiheit nicht als Erbe, sondern als Bedingung
des Erbens und damit auch des Gestaltens auftrat, war es möglich, dass etwa
Henri Grgoire, wortgewaltiger Redner der Revolution und Bischof von Blois,
1 Antoine-Marin Le Mierre, La peinture. Po
me en trois chants, Paris [1769], S. 74.
2 Gilbert Romme, Rapport sur l’re de la Rpublique, sance du 20 septembre, [Paris
1793], S. 2.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 468 – 502
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
469
ein Jahr später am 31. August 1794 vor dem Nationalkonvent in seinem
berühmt gewordenen Bericht über die Schädlichkeit des Vandalismus geradezu pathetisch formulieren konnte, dass „Frankreich tatsächlich eine neue
Welt ist“.3 Eine Zukunft schien erst jetzt denkbar, gerade weil die Gegenwart
verheißungsvoll war, ebenso wie sie die Vergangenheit nun als endgültig
Vergangenes ablösen konnte, da die neu errungene Freiheit eine Absetzung
von ihr ermöglichte und dadurch ihre Aneignung erlaubte. Hinter dieser
Emphase des Abb verbarg sich offenkundig der Wunsch, diesem Neubeginn
seine Zeit und vor allem seinen konkreten Ort in der erfahrbaren Gegenwart zu
geben. Das Neue, das sich über alle Bereiche der französischen Gesellschaft
erstrecken und diese ordnen sollte, hatte seinen Anfang unwiderruflich im
Jetzt.
Es scheint daher zunächst nicht weiter verwunderlich, dass in diesem
Zusammenhang auch das Musum central des Arts im Louvre entstanden
war. Diese im August 1793 aus der Taufe gehobene Institution war sowohl in
ihrem Profil als auch in ihrer Wirkmächtigkeit in der Tat neu: Die Revolutionäre hatten durch den freien Zugang zu den Museumssälen gleichsam eine
Verbürgerlichung der Exponate erwirkt, durch die betonte Zurichtung auf die
Neuheit der anbrechenden Epoche den Weg zu gezielten Sammel- und
Ausstellungspraktiken geebnet, überdies auf die Relevanz der musealen
Restaurierung verwiesen und schließlich die sichtbare gesellschaftliche Verankerung des Museums als Anstalt öffentlicher Unterweisung nunmehr
unwiderruflich festgeschrieben.4 Bemerkenswert indessen ist vielmehr, dass
nicht nur der landläufigen Meinung nach das Bewahren und Konservieren zu
den wichtigsten Aufgaben des Museums zählt, sondern es tatsächlich triftige
3 Henri Grgoire, Rapport sur les destructions opres par le Vandalisme, et sur les
moyens de le rprimer. Sance du 14 Fructidor, l’an second de la Rpublique une et
indivisible, Fructidor an II [1794], S. 22. Das Dokument findet sich auch vollständig
abgedruckt in: James Guillaume, Grgoire et le vandalisme, in: La Rvolution FranÅaise.
Revue d’histoire moderne et contemporaine 41. 1901, S. 155 – 180 und die Fortsetzung
S. 242 – 269; der Rapport S. 176 – 180 und S. 242 – 269, Zitat hier S. 263. Sofern nicht
anders angegeben, wurden die Zitate vom Autor übersetzt. Neuerdings vgl. die
Übersetzung mit ausführlichem Kommentar von Christine Tauber, Bilderstürme der
Französischen Revolution. Die Vandalismus-Berichte des Abb Grgoire, Freiburg 2009,
bes. S. 59 – 81.
4 Vgl. etwa Walter Grasskamp, Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums, München 1981; Dominique Poulot, La naissance du
muse, in: Philippe Bordes u. Rgis Michel (Hg.), Aux armes et aux arts! Les arts de la
rvolution, 1789 – 1799, Paris 1988, S. 201 – 232; Andrew McClellan, Inventing the
Louvre. Art, Politics, and the Origins of the Modern Museum in the Eighteenth-Century
Paris, Berkeley 1994; Tony Bennett, The Birth of the Museum. History, Theory, Politics,
London 1995; Hildegard Vieregg, Geschichte des Museums. Eine Einführung, Paderborn 2008.
470
Roland Cvetkovski
Gründe gibt, die Tätigkeiten der Museen als einen spezifischen Ausdruck für
die Pflege gerade der Vergangenheit und Tradition zu verstehen. Schließlich
galten sie schon seit dem frühen 19. Jahrhundert als wichtige, sich über die
Vergangenheit rückversichernde Bestandteile von sich formierenden Nationalkulturen.5 Nach einer neuen Welt sucht man dabei allerdings vergeblich;
vielmehr schien gerade die alte Welt einen entscheidenden Einfluss auf die
Zeitgenossen genommen zu haben. Und doch wurde während der Revolution
dieses Bild der grundsätzlichen zeitlichen Differenz, in der sich die neue
Gegenwart positiv von der Vergangenheit absetzte, geradezu gebetsmühlenhaft in die Debatten eingebracht, welche die Konturierung, Organisierung und
schließlich Installierung des revolutionären Museums im Louvre zur Folge
hatte.
Vor allem die französische Forschung hat sich ausgiebig mit der Bedeutung des
Museums insbesondere im Hinblick auf seine revolutionäre Genese befasst
und verdient gemacht. Auf historischer, politischer und philosophischer
Ebene bezeichnete sie die Kontexte, die zunächst den Louvre als Ursprung des
modernen Museums beschrieben, beleuchtete in diesem Zusammenhang die
Rolle der Kunst, umriss vor allem den Umgang der Revolutionäre mit ihrem
historischen Erbe, dem patrimoine, und stellte nicht zuletzt die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Institution in den Vordergrund, die im 19. Jahrhundert einen so erheblichen Anteil an der kulturellen sowie politischen
Selbstbestimmung von Volksgemeinschaften hatte.6 Weniger Beachtung aller5 Etwa Marie-Louise von Plessen (Hg.), Die Nation und ihre Museen, Frankfurt 1992;
Chantal Georgel, Le muse, lieu d’identit, in: La jeunesse des muses. Les muses de
France au XIXe sicle. Sous la direction de Chantal Georgel, Paris 1994, S. 105 – 112, bes.
S. 110; Marlies Raffler, Museum – Spiegel der Nation? Zugänge zur historischen
Museologie am Beispiel der Genese von Landes- und Nationalmuseen in der Habsburgermonarchie, Wien 2008; Sally Price, Le muse. Lieu d’une reprsentation d’une
identit, in: Jean Galard (Hg.), L’avenir des muses. Actes du colloque organis au muse
du Louvre par le Service Culturel les 23, 24 et 25 mars 2000, Paris 2001, S. 455 – 469. Zum
Pakt zwischen Museum und Gedächtnis grundlegend Susan A. Crane (Hg.), Museums
and Memory, Stanford 2000.
6 Neben der in Anm. 3 bereits angeführten Literatur weiter etwa Dominique Poulot, Une
histoire des muses en France XVIIIe–XXe sicle, Paris 2005; ders., Patrimoine et
muses. L’institution de la culture, Paris 2001; ders. (Hg.), Patrimoine et modernit,
Paris 1998; ders., Muse, nation, patrimoine, 1789 – 1815, Paris 1997; ders., „Surveiller
et s’instruire“. La Rvolution franÅaise et l’intelligence de l’hritage historique, Oxford
1996; Jean-Louis Dotte, Le muse, l’origine de l’esthtique, Paris 1993; ders., Oubliez!
Les ruines, l’Europe, le muse, Paris 1994; douard Pommier, L’art de la libert.
Doctrines et dbats de la Rvolution FranÅaise, Paris 1991; ders., Der Louvre als
Ruhestätte der Kunst der Welt, in: Gottfried Fliedl (Hg.), Die Erfindung des Museums.
Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution, Wien 1996,
S. 7 – 25; Robert W. Scheller, La notion de patrimoine artistique et la formation du
muse au XVIIIe sicle, in: douard Pommier (Hg.), Les muses en Europe la veille de
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
471
dings fand die Figur der neuen Welt, wie sie eingangs von Romme und
Grgoire heraufbeschworen wurde, vor allem in ihrem direkten Zusammenhang mit der formalen und funktionalen Ausprägung des Museums: Die
Musealisierung gilt ja heute noch als bedeutende Technik zur öffentlichen
Kennzeichnung und Verfügbarmachung vermeintlich relevanter gesellschaftlicher Vorgänge. Die neue Welt nach 1789 beziehungsweise 1793 hatte nicht
nur neuer Inhalte bedurft, sondern konsequenterweise auch nach einer neuen
Gestalt verlangt. Insofern sind Fragen nach dem Museum als spezifischer
Kulturform in besonderem Maße bedeutsam, denn gerade diese verweisen
darauf, dass zum einen den Vorstellungen und Realisierungen von Kultur als
„symbolischen Repräsentationen von Werten, vor allem von solchen, die im
Zuge des Bildungsprozesses fortgesetzt und aufrecht erhalten werden“,
bestimmte funktionale Voraussetzungen zugrunde liegen, welche diese Repräsentationen überhaupt erst ermöglichen.7 Und zum anderen wird sich
zeigen, dass gerade durch die Debatten über die noch näher zu erörternden
Musealisierungsfunktionen erstmals zu Bewusstsein kam, dass Kultur als
solche gestaltbar war.
Grundgedanke der nachstehenden Ausführungen ist daher, dass das revolutionäre Bild der neuen Welt maßgeblich und im positiven Sinne an der
Konstitution der Musealisierung beteiligt war, obwohl dieses kulturelle
Verfahren mittlerweile alles andere als revolutionär gilt, sondern eher im
Gegenteil als alarmierendes Symptom gerade für ein Abhandenkommen der
Gegenwart diskreditiert wurde.8 Und doch – zieht man die kulturpessimistischen Mutmaßungen einmal ab – bezeichnet die Musealisierung in erster
Linie die wesentliche museale Aktivität, gleichsam die Rahmenbedingung
musealen Vermögens, und bestimmt, um mit Mieke Bal zu sprechen, nach wie
vor die dem modernen Museum innewohnende „kulturelle Kraft“.9 Diese
museale Kraft, so die hier vertretene These, formierte sich zur Zeit der
l’ouverture du Louvre, Paris 1995, S. 111 – 124; FranÅoise Mardrus, La naissance du
Muse du Louvre, in: Guiseppe Pavanello (Hg.), Antonio Canova e il suo ambiente
artistico fra Venezia, Roma e Parigi, Venedig 2000, S. 491 – 521.
7 Zitat Emmet Kennedy, A Cultural History of the French Revolution, New Haven, CT
1989, S. XXII. Zur Repräsentation vgl. den grundlegenden Text von Roger Chartier, Le
monde comme reprsentation, in: Annales 44. 1989, S. 1505 – 1520. Man muss sich nur
kurz in Erinnerung rufen, dass Denken und Verstehen stets von den – vor allem
institutionellen – Milieus abhängig ist, deren jeweilige epistemische Horizonte die in
deren Sichtfeld entstandenen Begriffe entsprechend ausrichten, vgl. dazu die nach wie
vor beeindruckende ethnologische Studie von Mary Douglas, How Institutions Think,
Syracuse, NY 1986.
8 Vgl. die Stimmen in Wolfgang Zacharias (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das
Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990. Eine
kurze Aufarbeitung bietet Eva Sturm, Konservierte Welt. Museum und Musealisierung,
Berlin 1991.
9 Mieke Bal, Kulturanalyse, Frankfurt 2006, S. 9.
472
Roland Cvetkovski
Revolution und setzte sich zusammen aus unterschiedlichen, doch sehr
spezifischen Zugängen – gewissermaßen Kulturtechniken –, durch welche die
Wirklichkeit sich neu fassen und über das Museum verstehen ließ. Wie noch
später darzulegen sein wird, wies gerade die Kombination dieser Kulturtechniken das Museum als unumschränkt innovative und zukunftsträchtige
politische, kulturelle sowie soziale Manifestation aus und band es stets an
seinen revolutionären Ausgangspunkt zurück. Unter den besonderen revolutionären Umständen, die vom Diktat der neuen Welt beherrscht wurden,
wurde das Museum nun zu einer zweckgebundenen, gleichsam poietischen
Einrichtung, welche mit Exponaten die Aktualität sowie die Permanenz der
Gegenwart zu beglaubigen und auszudrücken hatte.10
Um also die Poetik des modernen Museums zu entwerfen, gliedert sich der
Beitrag in fünf Teile. Zunächst erfolgt eine kursorische Darstellung der
Museumsgeschichte in Frankreich für das 18. Jahrhundert sowie eine äußerst
knappe Kontextualisierung des revolutionären Museums. Danach werden die
drei musealen Grundfunktionen vor dem Hintergrund der Figur der neuen
Welt herausgearbeitet: Die erste streicht die Bedeutung der Gegenwart heraus,
die nun zur Grundvoraussetzung aller politischer und kultureller Aktivität
wurde. Die zweite Grundfunktion bestimmt sich über die Ästhetik sowie über
die Ästhetisierung der Ausstellungsstücke, wodurch das Museum erstmals als
möglicher Raum für ein Narrativ sichtbar wurde, und die dritte endlich
erschließt sich über den utopischen Aspekt, der die Musealisierung insgesamt
als gestaltende Kraft festschrieb. Abschließend folgt ein kurzer Ausblick auf
den praktischen Umschlag der Musealisierung.
I. Kontexte
Nachdem 1753 der französische Generalpostmeister und Universalgelehrte
Louis-Lon Pajot Ons-en-Bray seine ansehnliche naturhistorische und technische Sammlung der im Louvre ansässigen Akademie der Wissenschaften
geschenkt hatte, begann man in Paris nun ähnliche Pläne für ein museales
Großprojekt zu schmieden, wie dies auch in London geschehen war. Dort hatte
das Parliament im gleichen Jahr die umfangreiche natur- und kunsthistorische
Privatsammlung von Sir Hans Sloane erworben, woraus nur wenige Jahre
später, 1759, das British Museum entstand.11 Etwa zur gleichen Zeit gab der
10 Ähnlich argumentierte – allerdings in einem zeitgenössischen Zusammenhang –
kürzlich Julian Spalding, The Poetic Museum. Reviving Historic Collections, München
2002.
11 Carol Duncan, From the Princely Gallery to the Public Art Museum. The Louvre
Museum and the National Gallery, London, in: David Boswell u. Jessica Evans (Hg.),
Representing the Nation. A Reader. Histories, Heritage and Museums, London 1999,
S. 304 – 331.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
473
Kunstliebhaber tienne La Font de Saint-Yenne in Paris zwei Schriften in
Druck, in denen er sich für die Einrichtung einer öffentlichen Kunstgalerie
aussprach und die Auffassung vertrat, dass Kunst grundsätzlich breiter
rezipiert werden müsse. Damit erhob er erstmalig die Forderung nach
allgemeiner Zugänglichkeit von Kunstsammlungen und schlug als geeigneten
Ausstellungsort dafür ebenfalls den Louvre vor.12 Auch wenn im Palais du
Luxembourg bereits am 14. Oktober 1750 das erste öffentliche Kunstmuseum
mit 110 Bildern und 20 Zeichnungen aus der königlichen Gemäldesammlung
eingerichtet worden war und der Öffentlichkeit immerhin mittwochs und
samstags unentgeltlich für jeweils drei Stunden Zugang gewährt wurde,13
bildete dies lediglich den Anfang für ein eigentlich größer gedachtes und
sowohl die Kunst als auch die Wissenschaften umschließendes Museumsprojekt im Louvre.14 Der seit 1751 amtierende Directeur et ordonnateur gnral des
btiments, jardins, arts, acadmies et manufactures royales Abel-FranÅois
Poissons Marquis de Marigny hatte sich an solchen Plänen versucht, doch die
durch den Siebenjährigen Krieg vollständig geschröpfte Staatskasse verhinderte zunächst dieses Vorhaben. Doch selbst in den späten Regierungsjahren
Ludwigs XV. waren angesichts der politischen Machtkämpfe, in welche die
Akademie, aber vor allem der 1769 zum Finanzminister berufene JosephMarie Terray verstrickt waren, die Museumsprojekte immer noch liegen
geblieben. Erst durch die Ernennung von Charles Claude Flahaut de La
Billarderie, Comte d’Angiviller 1774 zum Generalintendanten der königlichen
Gebäude wurden die Pläne Marignys wieder aufgenommen, nun in nicht zu
übersehender Analogie zum British Museum unter der Bezeichnung Musum
franÅais. Obwohl man zunächst daran festhielt, neben dem Kabinett der
Medaillen sowohl die Gemäldesammlung des Königs als auch dessen Natu12 tienne La Font de Saint-Yenne, Rflexions sur quelques causes de l’tat prsent de la
peinture en France. Avec un examen des principaux Ouvrages exposs au Louvre le mois
d’Aot 1746, [Paris] 1747; ders. Le gnie du Louvre aux Champs lises. Dialogue entre
le Louvre, La ville de Paris, l’Ombre de Colbert, & Perrault. Avec deux Lettres de l’auteur
sur le mÞme sujet, [Paris] 1756.
13 FranÅois Benot, L’art franÅais sous la Rvolution et l’Empire. Les doctrines, les ides, les
genres, Paris 1897, S. 110 f. Dazu auch Andrew L. McClellan, The Politics and Aesthetics
of Display. Museums in Paris, 1750 – 1800, in: Art History 7. 1984, S. 438 – 464. Das
Museum im Palais du Luxembourg wurde jedoch 1779 wieder geschlossen, als der
Bruder Ludwigs XVI., der Comte de Provence, das Palais zu seiner Residenz machte. Zu
den königlichen Sammlungen allgemein vgl. Stphane Castelluccio, Les collections
royales d’objets d’art. De FranÅois Ier la Rvolution, Paris 2002.
14 Damit knüpfte man an ältere Traditionen dieses Ortes an, denn im Louvre waren bereits
früher etwa Gewerbeausstellungen abgehalten worden, vgl. Louis Hautecœur, L’histoire
des chteaux du Louvre et des Tuileries tels qu’ils furent nouvellement construit,
amplifis, embellis, sous le rgne de Sa Majest le roi Louis XIV, dit le Grand […], Paris
1927.
474
Roland Cvetkovski
ralienkabinett mit aufzunehmen, ließen sich die Pläne, im Louvre einen
gleichsam universalen Ort für die Künste sowie für die Wissenschaften
einzurichten, erneut nicht umsetzen. Dies begründete sich nicht zuletzt im
Auseinandergehen der Ausstellungsprinzipien, die sich in beiden Bereichen
unterschiedlich zu entwickeln begannen;15 der parallele Aufbau eines abgesonderten naturhistorischen Museums ließ an einer endgültigen Aufteilung in
zwei Museen schließlich keinen Zweifel. Letztlich war d’Angiviller pragmatisch
zu Werke gegangen, hatte die Möglichkeiten erwogen und sich zuletzt für die
Einrichtung lediglich eines Kunstmuseums im Louvre entschieden. Neben der
generellen Erweiterung der Sammlung durch alte wie auch moderne Meisterwerke maß er gezielten Aufkäufen von französischen Kunstwerken besondere
Bedeutung zu, um, so seine erklärte Absicht, den Louvre – bislang Sinnbild der
französischen Monarchie – in ein nationales Symbol zu verwandeln.16 Die
beeindruckenden architektonischen Entwurfskizzen, die gerade in den 1780er
Jahren in diesem Zusammenhang entstanden und eine nicht zu übersehende
Monumentalisierung des Museums vorsahen, liefen in augenfälliger Weise
parallel zu d’Angivillers Bemühungen, den Louvre nunmehr symbolisch
aufzuwerten.17 Während sich die finanzielle Situation offenbar deutlich
15 Vgl. dazu Cornelius Steckner, Museen im Zeichen der Französischen Revolution. Vom
evolutionären zum revolutionären Museum, in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in
Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800,
Opladen 1994, S. 817 – 853, bes. S. 828 – 838; Stacey Sloboda, Displaying Materials.
Porcelain and Natural History in the Duchess of Portland’s Museum, in: EighteenthCentury Studies 43. 2010, S. 455 – 472; Bert van de Roerner, Neat Nature. The Relation
between Nature and Art in a Dutch Cabinet of Curiosities from the Early Eighteenth
Centuries, in: History of Science 42. 2004, S. 47 – 84; Colin B. Bailey, Conventions of the
Eighteenth-Century Cabinet de tableaux. Blondel d’Azincourt’s La premire ide de la
curiosit, in: The Art Bulletin 69. 1987, S. 431 – 447.
16 Michel Laclotte, Der Louvre. Von den königlichen Sammlungen zum nationalen
Museum, in: Plessen, Die Nation und ihre Museen, S. 33 – 44. Zur nationalen Gemäldehängung vgl. Andrew McClellan, Nationalism and the Origins of the Museum in France,
in: Gwendolyn Wright (Hg.), The Formation of the National Collections of Art and
Archaeology, Hanover, NH 1996, S. 29 – 39, bes. S. 32 – 36; ders., D’Angiviller’s „Great
Men“ of France and the Politics of the Parlements, in: Art History 13. 1990, S. 175 – 192.
Zur unmittelbaren Nachgeschichte vgl. Thomas W. Gaehtgens, Das Muse Napolon und
sein Einfluss auf die Kunstgeschichte, in: Winfried Engler (Hg.), Frankreich an der
Freien Universität. Geschichte und Aktualität, Stuttgart 1997, S. 69 – 94.
17 Etwa James L. Connelly, The Grand Gallery of the Louvre and the Museum Project.
Architectural Problems, in: Journal of the Society of Architectural Historians 31. 1972,
S. 120 – 132; Paula Young Lee, The Musaeum of Alexandria and the Formation of the
Musum in Eighteenth-Century France, in: The Art Bulletin 79. 1997, S. 385 – 412, bes.
S. 390 – 400; Mona Ozouf, Architecture et urbanisme. L’image de la ville chez ClaudeNicolas Ledoux, in: Annales 21. 1966, S. 1273 – 1304; Günter Metken (Hg.), Revolutions-
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
475
verbessert hatte – zwischen 1775 und 1789 konnte d’Angiviller über eine
Million Livres für Bildankäufe aufwenden –, ergaben sich Schwierigkeiten vor
allem aus der technischen Umsetzung des Museumsprojekts, denn es stellte
sich heraus, dass es größere Probleme bereitete, die riesige Grande Galerie in
einen dezidierten Ausstellungsort für Kunst umzurüsten. Streit hatte sich
insbesondere an der Frage der richtigen Ausleuchtung entzündet: Am
günstigsten wäre, so lautete der Vorschlag, ein zenitaler, also durch Deckenfenster dringender Lichteinfall, doch dies hätte erhebliche bauliche Maßnahmen erforderlich gemacht.18 Bis zur Revolution sollten sich daher d’Angivillers
Ambitionen, im Louvre ein öffentliches und national ausgerichtetes Kunstmuseum aufzubauen, nicht verwirklichen lassen.19
Die Eröffnung schließlich des Musum central des Arts zum ersten Jahrestag
der französischen Republik gilt gemeinhin als Startschuss einer besonderen
institutionellen Erfolgsgeschichte der Moderne, auch wenn dieses Datum am
Vorabend der terreur Georges Bataille dazu bewogen hatte, gerade den
Ursprung des modernen Museums unmittelbar in Verbindung mit der
Guillotine zu sehen.20 Doch das Musum central des Arts war weder eine
Erfindung der Revolution noch war es das einzige Museum, das zu dieser Zeit
seine Pforten öffnete: Daneben war kurz zuvor, am 10. Juni 1793, bereits das
Musum d’histoire naturelle geschaffen worden, am 29. September 1794 dann
auf Betreiben Henri Grgoires das Conservatoire des Arts et des Metiers, bevor
dann ein weiteres Jahr später, am 21. Oktober 1795, das berühmte Muse des
monuments franÅais von Alexandre Lenoir offiziell eingeweiht wurde; zwischenzeitlich war noch im Jahr III (1794/95) das zum Teil ethnographisch
ausgerichtete Musum des Antiques enstanden, das allerdings schon 1795
wieder geschlossen wurde.21 Aber der Louvre war mit Abstand diejenige
18
19
20
21
architektur. Boulle, Ledoux, Lequeu, Baden-Baden 1970; Werner Szambien, JeanNicolas-Louis Durand, 1760 – 1834. De l’imitation la norme, Paris 1984.
Vgl. Jean-Pierre Babelon, Le Louvre. Demeure des rois, temple des arts, in: Pierre Nora
(Hg.), Les lieux de mmoire, Bd. 2: La Nation, 3. Halbbd., Paris 1986, S. 169 – 216, bes.
S. 199 f.; McClellan, Inventing the Louvre, bes. S. 56 – 60; Sonja Kobold, Der Louvre.
Bildungsinstitution und Musentempel. Rezeption eines Museums im Medium Text vom
ausgehenden 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Rezeptionsverhalten exemplifiziert anhand der Kataloge, München 2005, S. 113 - 117; Connelly, The Grand Gallery,
S. 123 u. S. 126.
Vgl. Louis Courajod, Alexandre Lenoir. Son Journal et le Muse des monuments
franÅais, Bd. 1, Paris 1878, S. XXV–XXX.
Georges Bataille, Art. Muse, in: Documents. Doctrines, archologie, beaux-arts,
ethnographie 2. 1930, S. 300.
Zu den einzelnen Museen vgl. Paula Young Lee, The Logic of the Bones. Architecture and
the Anatomical Sciences at the Museum d’Histoire Naturelle, Paris, 1793 – 1889, Chicago
1999; Michel LeMo
l (Hg.), Le Conservatoire National des Arts et Mtiers au cœur de
Paris, 1794 – 1994, Paris 1994; Bertrand Daugeron, Entre l’antique et l’exotique, le projet
comparatiste oubli du „Musum des Antiques“ en l’an III, in: Annales Historiques de la
476
Roland Cvetkovski
Institution, deren Einrichtung und Organisierung die meisten Diskussionen
ausgelöst hatte. Er wurde zum Ort, an dem sich die französischen Bürger ihrer
neuen Identität im großen Stil versichern konnten. Denn hier wurde jedem
potenziell in Aussicht gestellt, durch einen Museumsbesuch gleichsam aktiv
am Zivilisationsprozess teilnehmen zu können – nicht etwa die Geschichte
Frankreichs stand im revolutionären Museum im Vordergrund, sondern, wie
es Dominique-Joseph Garat in seinen Memoiren festhielt, nichts weniger als
die Neuaufnahme der Menschheitsgeschichte in Frankreich stand auf dem
Spiel.22
II. Politik der Gegenwart
Das Beharren der Revolutionäre auf der Präsenz einer neuen Welt lag
spätestens nach der Ausrufung der französischen Republik am 10. August
1792 in der Logik der Ereignisse. Eine neue Ära war angebrochen, die
allerdings noch keinen stabilen Modus gefunden hatte, mit ihrer monarchischen Vergangenheit umzugehen. Daher erscheint auch die Dringlichkeit allzu
verständlich, zu der Henri Grgoire am 8. August 1793 vor dem Konvent
aufgerufen und in dem ihm eigenen Pathos gefordert hatte, „im Angesicht des
Rvolution FranÅaise 356. 2009, S. 143 – 176; ders., Collections naturalistes entre science
et empires, 1763 – 1804, Paris 2009. Zu Lenoir und dem Muse des monuments franÅais
ist die Literatur zahlreich, vgl. Louis Courajod, Alexandre Lenoir. Son Journal et le
Muse des monuments franÅais, 3 Bde., Paris 1878 – 1887; ders., L’influence du Muse
des monuments franÅais sur le dvelopement de l’art et des tudes historiques, in: Revue
historique 30. 1886, S. 107 – 118; Dominique Poulot, Alexandre Lenoir et les muses des
Monuments franÅais, in: Nora, Les lieux de mmoire, Bd. 2: La Nation, S. 497 – 531.
Weiter Stanley Mellon, Alexandre Lenoir. The Museum versus the Revolution, in:
Proceedings of the Consortium on Revolutionary Europe 9. 1979, S. 75 – 88; Christopher
M. Greene, Alexandre Lenoir and the Muse des monuments franÅais during the French
Revolution, in: French Historical Studies 12. 1981, S. 200 – 222; Paul Duro, „Un Livre
Ouvert a l’Instruction“. Study Museums in Paris in the Nineteenth Century, in: Oxford
Art Journal 10. 1987, S. 44 – 58; McClellan, Inventing the Louvre, bes. S. 155 – 197;
Poulot, Muse, nation, patrimoine, bes. S. 285 – 339; Suzanne Glover Lindsay, Mummies
and Tombs. Turenne, Napolon, and Death Ritual, in: The Art Bulletin 82. 2000,
S. 476 – 502; Alice von Plato, „Von Menschen und Göttern verlassene Leichname“ –
Totenkult im „Muse des Monuments FranÅais“ (1791 – 1816)?, in: Zeitenblicke 3. 2004,
http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/plato/index.html.
22 Dominique Joseph Garat, Memoirs of the Revolution; or, an Apology for my Conduct in
the Public Employments which I have held [Paris 1795], Edinburgh 1797, bes. S. 204,
auch S. 165, S. 265 u. S. 275. Zum zivilisierenden Charakter des Museumsbesuchs vgl.
Carol Duncan u. Alan Wallach, The Universal Survey Museum, in: Art History 3. 1980,
S. 448 – 469; ausführlich Carol Duncan, Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums,
London 1995.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
477
Himmels“ endlich „der Freiheit Gesetzeskraft“ zu verleihen, um nunmehr eine
neue gültige Legitimationsgrundlage für die Republik zu schaffen.23 Zweifellos
ging es dabei um die Identität der Revolution, aber insbesondere um neue
Richtlinien, die nun gerade im Namen der Freiheit neue Handlungsspielräume
öffnen und die Gegenwart als bedingungslosen Ausgangspunkt setzen sollten.
Letzten Endes war es das Museum, das als Gehäuse wie auch als kulturelles
Format das offene Verhältnis zwischen Altem und Neuem nachhaltig ausrichtete. Diese Spannung zwischen neuer und alter Welt, zwischen Vergangenheit
und an die Gegenwart zu überliefernden Traditionsresten, den so genannten
monuments, entlud sich schließlich im Begriff des patrimoine.24 Die Revolutionäre hatten sich zwar eifrig darum bemüht, die Geschichte mit der
Scheidemarke 1789 in zwei unterschiedliche Hälften zerbrechen zu lassen und
dafür den Begriff Ancien Rgime geprägt, so blieb aber ihre Furcht, diese
Zeitenwende lediglich als eine über die Revolution gelegte diskursive Folie
enden zu sehen,25 dennoch bestehen, zumal sich die neue politische Kultur
vorläufig gezwungen sah, sich der alten Symbolsysteme zu bedienen.26
23 Zitat Henri Grgoire, Rapport et projet de dcret, prsent au nom du Comit
d’instruction publique, la sance du 8 aot, Paris [1793], Zitat S. 1.
24 Ausführlich Poulot, „Surveiller et s’instruire“; ders., Le patrimoine universel. Un
modle culturel franÅais, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 39. 1992,
S. 29 – 55; Antoine de Baecque, Le corps de l’histoire. Mtaphores et politique,
1770 – 1800, Paris 1993; Annie Jourdan, Les Monuments de la Rvolution, 1770 – 1804.
Une histoire de reprsentation, Paris 1997; FranÅoise Choay, L’allgorie du patrimoine,
Paris 2007; dies., Le patrimoine en questions. Anthologie pour un combat, Paris 2009,
bes. S. 77 – 109.
25 Eine „Zäsurideologie“ wurde im bereits weiter oben erwähnten Zusammenhang mit der
Einführung des Revolutionskalenders deutlich, vgl. Rolf Reichardt, Zeit-Revolution und
Revolutionserinnerung in Frankreich, 1789 – 1805, in: Hans-Joachim Bieber u. a. (Hg.),
Die Zeit im Wandel der Zeit, Kassel 2002, S. 150 – 190, bes. S. 152 – 166; weiter Reinhart
Koselleck, Hinweise auf die „Neue Zeit“ im Französischen Revolutionskalender, in: ders.
u. Rolf Reichardt (Hg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen
Bewusstseins, München 1988, S. 61 – 64. Zum Kalender selbst etwa James Friguglietti,
Gilbert Romme and the Making of the French Republican Calendar, in: David G.
Troyansky u. a. (Hg.), The French Revolution in Culture and Society, New York 1991,
S. 13 – 22. Vor allem aber Michael Meinzer, Der französische Revolutionskalender,
1792 – 1805. Planung, Durchführung und Scheitern einer politischen Zeitrechnung,
München 1992.
26 Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Die Aneignung der Tradition. Destruktion und Konstruktion
im Umgang der Französischen Revolution mit Monumenten des Ancien Rgime, in:
Rolf Reichardt u. a. (Hg.), Symbolische Politik und politische Zeichensysteme im
Zeitalter der Französischen Revolutionen, 1789 – 1848, Münster 2005, S. 101 – 111;
Nicholas Mirzoeff, Signs and Citizens. Sign Language and Visual Sign in the French
Revolution, in: Ann Bermingham u. John Brewer (Hg.), The Consumption of Culture,
1600 – 1800. Image, Object, Text, London 1995, S. 273 – 292; Lynn Hunt, Symbole der
478
Roland Cvetkovski
Paradigmatisch hierfür war die Neubestimmung des Verhältnisses von
Vergangenem und Gegenwärtigem, die nun auf eine Inversion der bislang
üblichen historischen Legitimierungsstrategien hinauslief. Dem revolutionären Verständnis nach hatte nun allein die Gegenwart darüber zu bestimmen,
welche Objekte des Ancien Rgime das Recht auf eine Weiterexistenz erhielten,
und man bemaß dieses Recht stets unter dem Aspekt, inwieweit sie der
Nachwelt als nützliche Belehrung dienlich sein könnten. Die Überlieferungen
erhielten daher ihren Bedeutungsinhalt nicht vorrangig über deren Begründungsleistung für die Gegenwart, sondern umgekehrt befand nun die
gebieterische Geste der Gegenwart allein über die Bewahrungswürdigkeit
dieser Denkmäler.27 So erst wurde es möglich und verständlich, das Museum
als einen Ort historisch verbürgter und gleichzeitig konstruierter sowie
fiktiver Geschichten zu gestalten, die bewussten wie unbewussten Wünschen
nachkamen. Der neuen Welt als aktueller sowie aktualisierender Gegenwart
fiel demnach eine entscheidende Rolle zu, und diese kam gerade in den
Debatten über das Bewahren von historischen Denkmälern deutlich zum
Vorschein.
Bereits die Konstituante, die grundlegende verfassungsgebende Nationalversammlung, hatte die Bedeutsamkeit erkannt, die gerade das Bewahren der
monuments betraf. In einem Bericht vom 13. Oktober 1790 stellte ihr
Abgeordneter Charles Maurice de Talleyrand dieses rigoros in den Dienst
der Revolution, als er verkündete, dass es „die Freiheit ist, die sie [die
bewahrten Kunstwerke, R.C.] zum Blühen bringt, und daher müssen diese
gerade unter ihrer Herrschaft in Demut bewahrt werden“. Noch am gleichen
Tag verabschiedete die Nationalversammlung eine entsprechende Resolution,
die vorsah, dass der Staat „mit allen Mitteln über die Bewahrung der
Denkmäler, Kirchen und Häuser, die in den nationalen Besitz übergegangen
waren, zu wachen“ habe und wies die Stadt Paris im gleichen Atemzug an, mit
ihren zahlreichen Monumenten in eigener Regie ebenso zu verfahren.28 Damit
Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer
politischen Kultur, Frankfurt 1989.
27 Zur allgemeinen Differenzbestimmung zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit, zu den davon abhängigen Verhältnissen zueinander und den sich daraus
ergebenden Entwürfen von „Geschichte“ vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft.
Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979.
28 Zitate in: Jrme Mavidal et Emile Laurent (Hg.), Archives parlementaires de 1787 1860. Recueil complet des dbats lgislatifs et politiques des chambres franÅaises,
82 Bde., Paris 1867 – 1913, hier Bd. 19: Du 16 septembre 1790 au 23 octobre 1790, Paris
1884, S. 589. Vgl. auch Bernard Deloche u. Jean-Michel Leniaud, Le premier dossier du
patrimoine, in: dies. (Hg.), La culture des sans-culottes. Le premier dossier du
patrimoine, 1789 – 1798, Paris 1989, S. 7 – 40, bes. S. 13; Pommier, L’art de la libert,
S. 47 f. Schon am 15. September 1792 allerdings ging die Verantwortung für die
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
479
begann die eigentliche Geschichte des patrimoine. Die maßgeblichen vier
Beschlüsse, die das Bewahren als offizielle Aufgabe der Revolution festsetzten
und zu einer nationalen Pflicht erhoben, fasste die am 8. November 1790 ins
Leben gerufene Commission des monuments zwischen Ende November 1790
und Mitte Mai 1791.29 Die erste der von ihr auf den Weg gebrachten
Instruktionen vom 22. November 1790 zeigte nicht nur die Bandbreite der zu
rettenden Gegenstände an – sie reichte von Manuskripten, Karten, Siegeln
über Münzen, Medaillen, Gräbern bis hin zu Drucken, Teppichen und Vasen –,
sondern hob in ihrer Präambel überdies den hohen Stellenwert hervor, den das
Bewahren im revolutionären Kulturverständnis grundsätzlich einnahm:
Unter dem Mobiliar […], das nunmehr Teil des nationalen Besitzes ist, findet sich eine
Unmenge an Denkmälern, die für die Literatur, die Wissenschaften und die Künste von
Interesse sind. Um sie zu bergen, ist es notwendig, sie davor zu bewahren, sich in alle Winde
zu zerstreuen und ihren Verfall zu verhindern.30
Die Einführung des Begriffes monument historique erfolgte etwa zur gleichen
Zeit. Jenseits der Versuche, die Deutungshoheit über die Vergangenheit
moralisch zu begründen, hatte der Archäologe Aubin-Louis Millin bereits 1790
eine konkretere Vorstellung davon entwickelt und ihm ein museales Profil
verliehen. Neben seiner erstaunlich modern anmutenden Zuversicht, dass
historische Denkmäler den Rohstoff für eine Kulturgeschichte unter volkskundlichen Aspekten liefern und diese schließlich in eine „histoire de la vie
prive“ einmünden lassen würden, begründete er die museale Erhaltung dieser
monuments historiques vor allem mit ihrer Zweckbestimmung, insofern als sie
nämlich der Entwicklung der Wissenschaften im Allgemeinen und der
Denkmalpflege allein an den Innenminister über, vgl. Archives Nationales (künftig
A.N.) F17 1.039 A, dossier 1.
29 Diese Kommission stellte einen Präzedenzfall in der französischen Geschichte dar :
Erstmals wurden offiziell Experten eingesetzt, die sich explizit der Inventarisierung der
künstlerischen Reichtümer Frankreichs annahmen wie auch Überlegungen über deren
weitere Verwendung anstellten, vgl. Louis Tuetey (Hg.), Procs-verbaux de la Commission des monuments, 1790 – 1794, 2 Bde., Paris 1902/03. Zum Auftrag der Commission
des monuments kurz Emmet Kennedy, The King’s Two Bodies. Monuments, Mausoleums, and Museums of the French Revolution, in: Troyansky, The French Revolution,
S. 3 – 12; zur Bildung vgl. James Guillaume (Hg.), Procs-verbaux du Comit d’instruction publique de la Convention nationale, 7 Bde., Paris 1891 – 1907, hier Bd. 2,
S. LXXII – LXXIV.
30 Instruction Concernant la conservation des Manuscrits. Chartes, Sceaux, Livres
imprims, Monuments de l’antiquit et du Moyen Age, Statues, Tableaux, Dessins, et
autres objets relatifs aux beaux-arts, aux arts mcaniques, l’histoire naturelle, au
mœurs et usages des diffrents Peuples, tant anciens que modernes, provenant du
mobilier des maisons ecclsiastiques, et faisant partie des biens nationaux, Paris 1790,
S. 1. Alle vier Instruktionen außerdem abgedruckt in Deloche u. Leniaud, La culture des
sans-culottes, S. 51 – 73.
480
Roland Cvetkovski
Archäologie im Speziellen von Nutzen wären.31 Denn in seinen Augen, so
zumindest führte er in einer kurze Zeit später erschienenen Abhandlung aus,
würde man „sogar in andern Wissenschaften keine Fortschritte ohne Kenntniß
des Alterthums machen“, zumal sich die „Geschichte der gesamten Gelehrsamkeit […] auf den [sic] alten Denkmälern [stützt]“. Es ist daher einleuchtend, wenn er zu dem Schluss kommt: „Wo kann man indessen mehr
Fortschritte […] machen als in einem Museum, worin derjenige, der es erklärt,
das vereinigt hat, was für den Unterricht notwendig ist.“32 Bemerkenswert war
an Millins Konzeption, dass sie die Objekte als Material ausschließlich für die
Geschichtswissenschaft – offenbar in ihrer noch nicht hinterfragten Funktion
als magistra vitae – isolierte, was jedoch die Konservatoren zugleich auf den
politischen Auftrag verpflichtete, die eigentlich erhaltenswerten Monumente
nun konkret bestimmen zu müssen.
Diese heikle Mission wurde aber zunächst für kurze Zeit überdeckt von den
Forderungen, den Ort, an dem diese historischen Denkmäler versammelt
werden sollten, in seiner nationalen Bedeutung herauszustellen. Zu Beginn des
Jahres 1791 hatte der Kunstkritiker Quatremre de Quincy den Vorschlag
unterbreitet, diese Reichtümer in Paris zu versammeln und den dafür
ausersehenen Louvre in ein lyce universel zu verwandeln, um darin ein
alles bislang überbietendes „nationales Institut für die Wissenschaften,
Literatur und die Künste“ anzusiedeln.33 Diese Idee wurde unverzüglich
aufgegriffen, und so dekretierte die Nationalversammlung bereits am 26. Mai
1791, dass der Louvre und die Tuilerien nicht nur Aufenthaltsort des Königs
31 Elke Harten, Museen und Museumsprojekte der Französischen Revolution. Ein Beitrag
zur Entstehungsgeschichte einer Institution, Münster 1989, S. 115 – 118. Allgemein dazu
Dominique Poulot, Naissance du monument historique, in: Revue d’histoire moderne et
contemporaine 32. 1985, S. 418 – 450.
32 Aubin-Louis Millin, Allgemeine Einleitung in das Studium der alten Kunstdenkmäler.
Mit einigen Zusätzen des Übersetzers [Paris 1796], Halle 1798, Zitate S. 14, S. 18 u. S. 40.
Zu Millin auch Frdric Rücker, Les origines de la conservation des monuments
historiques en France, 1790 – 1830, Paris 1913, S. 180.
33 Antoine Quatremre de Quincy, Seconde suite aux Considrations sur les arts du dessin,
ou projet de rglement convenable l’Institut nationale des sciences, lettres et arts, Paris
1791, S. 93. Paris war in diesem Zusammenhang zwar von zentraler Bedeutung, schloss
aber weder die Zirkulation der Exponate noch die Ausweitung des musealen Diskurses
in die Provinzen aus, vgl. dazu grundlegend douard Pommier, Naissance des muses de
province, in: Nora, Les lieux de mmoire, Bd. 2, S. 451 – 495; für das 19. Jahrhundert
ausführlich Daniel J. Sherman, Worthy Monuments. Art Museums and the Politics of
Culture in Nineteenth-Century France, Cambridge, MA 1989; Paulette Girodin, Le
muse en France depuis 1815. Territoires et fonctions, in: Historiens et gographes 85.
1994, S. 61 – 68; Chantal Georgel, L’tat et „ses“ muses de province ou comment
„concilier la libert d’initiative des villes et les devoirs de l’tat“, in: Le Mouvement
Social 160. 1992, S. 65 – 77.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
481
wären, sondern zudem dazu bestimmt seien, „alle Denkmäler der Wissenschaften und Künste zu versammeln sowie die obersten Einrichtungen der
öffentlichen Bildung in sich aufzunehmen“.34 Mit diesem Dekret wurde
letztlich auch der Diskurs über die Bedeutung speziell der Kunstdenkmäler als
nationale lieux de mmoire offiziell eröffnet, und im Zuge dessen avancierte
der Louvre selbst zu einem „Denkmal des Ruhmes“, da es ihm nun offiziell
zugefallen war, als „Tempel der Natur und des Geistes“ die revolutionären
Ideale gänzlich umzusetzen.35
Indes stellte die Ungewissheit darüber, 1789 nicht doch lediglich als Chiffre des
Neuanfangs begreifen zu müssen, die Revolutionäre spätestens nach der
Ausrufung der Republik im August 1792 vor eine Zerreißprobe; Zerstörung
lief nun Hand in Hand mit dem Aufbau, Denkmalsturz mit Denkmalsetzung
und endete schließlich im tatsächlichen Abriss der monarchischen Überreste.
Der vandalisme war ein Ausdruck der offiziellen Haltung, eine Übereinstimmung der Kulturlandschaft mit dem politischen Regime zu erzwingen und die
Bürger als unerbittliche Richter über die Vergangenheit einzusetzen.36 Doch
hatte er sich für die Revolution letztendlich als systemdestabilisierend
erwiesen, und so gewann in den Sturmjahren zwischen 1792 und 1794
zusehends das Argument an Gewicht, das sich für eine Musealisierung des
Erbes aussprach – nicht zuletzt aus einem Gefühl heraus, das von einer tiefen
Verachtung gegenüber dem Pöbel geprägt war und dem Entsetzen vor allem
darüber, welche Spuren verheerender Verwüstungen der eigentlich konterrevolutionäre Zerstörungsrausch in ganz Frankreich hinterlassen hatte.37
34 Archives parlementaires, Bd. 26 : Du 12 mai au 5 juin 1791, Paris 1887, S. 471, Art. 1.
35 So Armand-Guy Kersaint, Discours sur les monuments publics, prononc au conseil du
dpartement de Paris, le 15 dcembre 1791, Paris 1792, S. 39 – 42.
36 Bronislaw Baczko, Vandalismus, in: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, hg. v. FranÅois Furet u. Mona Ozouf, Frankfurt 1996, Bd. 2, S. 1354 – 1368; Stanley
J. Idzerda, Iconoclasm during the French Revolution, in: The American Historical
Review 60. 1954, S. 13 – 26; Louis Rau, Histoire du vandalisme. Les monuments dtruits
de l’art franÅais, 2 Bde., Paris 1959; Gabriele Sprigath, Sur le vandalisme rvolutionnaire, 1792 – 1794, in: Annales Historiques de la Rvolution FranÅaise 282. 1980,
S. 510 – 535; Simone Bernard-Griffiths u. a. (Hg.), Rvolution franÅaise et vandalisme
rvolutionnaire. Actes du colloque international de Clermont-Ferrand 15 – 17 dcembre
1988, Paris 1992; FranÅois Souchal, Le vandalisme de la Rvolution, Paris 1993; Poulot,
„Surveiller et s’instruire“, bes. S. 284 – 319; douard Pommier, Museum und Bildersturm zur Zeit der Französischen Revolution, in: Sigrid Schade u. Gottfried Fliedl (Hg.),
Kunst als Beute. Zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten, Wien 2000,
S. 27 – 43; Tauber, Bilderstürme. Die erste Nennung des Begriffs vandalisme erfolgte
durch den Vorsitzenden des Comit d’instruction publique Joseph Lakanal, vgl. Deloche
u. Leniaud, La culture des sans-culottes, S. 34, Anm. 15. Der entsprechende Bericht vom
4. Juni 1793, abgedruckt in: ebd., S. 81.
37 Auch Romme appellierte am 24. Oktober 1793 angesichts der bereits angerichteten
Verheerungen an die Vernunft und offenbarte dabei seinen ungebrochenen, allein an
482
Roland Cvetkovski
Der erste praktische Aufruf zum Bewahren ging schließlich von der Commission temporaire des arts aus, die 1793 zwei ihrer Mitglieder, den Mediziner
Flix Vicq d’Azyr und den Benediktiner Dom Germain Poirier, mit der
Abfassung einer Instruktion beauftragte, welche die gesamte Republik mit der
nationalen Bedeutung des Bewahrens vertraut machen sollte.38 Zugleich aber
knüpfte nun das Bewahren an die Aktualität der freiheitlichen Nation an, die ja
allein über das Erbe der Vergangenheit bestimmen durfte. Ein am 1. September 1794 von Henri Grgoire im Nationalkonvent vorgestellter Bericht
verdeutlichte dies anhand des vermeintlichen Dilemmas, das sich aus dem
Gegensatz von statischem Bewahren und dynamischer Revolution ergeben
hatte, und er fügte hinzu, dass eine Lösung einzig aus der Gegenwart zu ziehen
sei:
Zweifellos muss für die Augen alles die republikanische Sprache sprechen. Doch würde man
die Freiheit verleumden, wenn man annähme, dass ihr Triumph von der Erhaltung oder
Zerstörung einer Figur abhinge, an welcher der Despotismus irgendwelche Spuren
hinterlassen hat. Wenn aber nun die Monumente eine hohe Kunstfertigkeit aufweisen,
kann ihre Erhaltung […] dem Geist Nahrung geben und gleichermaßen den Hass auf die
Tyrannen verstärken, indem sie diese durch genau dieses Bewahren dazu verurteilt, ewig am
Pranger zu stehen.39
Daher musste das patrimoine zwangsläufig dem präsentischen Imperativ
unterliegen, der das Bewahren nun wie selbstverständlich an die konkreten
Erfordernisse und Interessen der Gegenwart band und es in einen quasinatürlichen Vorgang der Selektion überführte. Jean-Baptiste Mathieu, Vorsitzender der Commission temporaire des arts, fasste diesen Punkt in einem
Bericht an den Konvent vom 18. Dezember 1793 auf geradezu spektakuläre
Weise zusammen:
der revolutionären Gegenwart geschulten Optimismus. „Wir müssen alles bewahren
und es [einzig] der Zeit und der Philosophie überlassen, unsere Biblioheken zu reinigen,
wie sie es schon seit fünf Jahren mit unseren Gesetzen und Sitten getan hat.“ CharlesGilbert Romme, Sur les abus qui se commettent dans l’excution du dcret du 18 du
premier mois, relatif aux emblmes de la fodalit et de la royaut, suivi d’un nouveau
dcret rendu dans la sance du 3 du deuxime mois ou du brumaire, [Paris] 3 brumaire
an II [24. Oktober 1792], abgedruckt in: Deloche u. Leniaud, La culture des sansculottes, S. 93 – 99, Zitat S. 96.
38 Flix Vicq d’Azyr, Instruction sur la manire d’inventorier et de conserver, dans toute
l’tendue de la Rpublique, tous les objets qui peuvent servir aux arts, aux sciences et l’enseignement, propose par la Commission temporaire des arts et adopte par le
Comit d’instruction publique de la Convention nationale, Paris an II [1794]. Dazu auch
Poulot, Muse, nation, patrimoine, S. 130 – 133. Zu Vicq d’Azyr vgl. Bernard Deloche,
Un prcurseur de la musologie scientifique. Flix Vicq d’Azyr, in: Musologie et
ethnologie (= Notes et documents des muses de France, Bd. 16), Paris 1987, S. 38 – 45.
39 Grgoire, Rapport sur les destructions, S. 11.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
483
Unter den Emigranten noch vielerorts verstreut werden nun diese unermesslichen
Reichtümer [der Kunst, R.C.] nach einer angemessenen, den Verordnungen entsprechenden
Auswahl in den Nationalmuseen zusammengetragen. Daraus wird wohl eine der interessantesten Sammlungen entstehen sowohl für diejenigen, die sich in den Künsten bilden
möchten, als auch überhaupt für das gesamte französische Volk, das nun alleiniger
Eigentümer dieser […] Werke ist, wie es auch schon von jeher ihr trefflichster Richter
gewesen war […]. All die Denkmäler und Altertümer, […] welche die Zeit nicht zerstört und
uns allein aus dem Grunde übergeben hat, damit die Geschichte sie zu Rate zieht, damit die
Künste sie studieren, damit die Philosophen über sie nachsinnen […] – alle diese unzähligen
Denkmäler waren Gegenstand der Bestandsaufnahmen und Recherchen der Commission des
arts.40
Seine Aussage gab nicht nur die Sorge um die Inventarisierung von Kunstwerken im Namen der Nation an, sondern ging weit darüber hinaus, indem sie
dieser monströsen Ansammlung von Dingen gleichsam eine eigene Rede
unterstellte: sie sprachen nicht von der Vergangenheit, sondern über sie. Auf
diese Weise wurde nicht nur der Grundstock des französischen Kulturerbes
definitorisch umrissen, sondern die Macht des Kulturellen überhaupt festgeschrieben. Mit der Bestimmung eines sich notwendig aus der Gegenwart
ergebenden patrimoine formulierte Mathieu neben einem moralischen und
pädagogischen Anliegen vor allem erste Ansätze einer Museumspolitik, die
den Umgang mit der Vergangenheit als einen universalen und gleichermaßen
national ausgerichteten Auftrag festlegte.41 Die Gegenwart war zum entscheidenden Scharnier geworden, das eine geräuschlose Bewegung von einer
Vereinnahmung der Vergangenheit hin zu einem Entwurf der Zukunft
ermöglichte.
Ganz im Sinne einer „Überinvestition in die Politik symbolischer Zeichen“42
war dabei nun außerordentlich bedeutsam, dass die offizielle Eröffnung des
Louvre am 10. August 1793 genau auf den Tag fiel, an dem die Feier zum ersten
Jahrestag der Republik ausgerichtet wurde. Der Innenminister DominiqueJoseph Garat hatte sich bereits im Frühjahr 1793 gerade für diesen Termin
stark gemacht. Als er am 4. Juli 1793 dem Präsidenten des Konvents abermals
sein Gesuch vortrug, hob er erneut hervor, dass die Einweihung des Museums
unbedingt mit den Feierlichkeiten der jungen Republik zusammenfallen
müsse, weil es der „Wunsch der Künstler“ sei, die „stets bereit sind, Ideen
aufzugreifen, die dem Kult der Freiheit verpflichtet sind“.43 Dies brachte er am
40 Rapport fait la Convention au nom du comit d’instruction publique par Mathieu,
dput, le 28 frimaire, l’an 2e de la rpublique franÅaise, in: Procs-verbaux du Comit
d’instruction publique, Bd. 3, S. 171 – 180, Zitat S. 178 f. Dazu auch Rücker, Les origines,
S. 93 – 96.
41 Vgl. Poulot, Le patrimoine universel.
42 So Poulot, La naissance du muse, S. 202.
43 Alexandre Tuetey u. Jean Guiffrey (Hg.), La Commission du Musum et la cration du
muse du Louvre (1792 – 1793), Paris 1910, Zitate S. 198 f.
484
Roland Cvetkovski
6. Juli 1793 vor den Nationalkonvent, der den Beschluss schließlich am 27. Juli
fasste.44 Da der 10. August gleichbedeutend war mit der Erringung nationaler
Einheit und der damit verbundenen Erneuerung des Volkes, lag es auf der
Hand, dass die zeitgleiche Eröffnung des Museums im Louvre als Akt zu
verstehen war, der die französische Nation nunmehr mit seinem Erbe
versöhnen sollte.45 Das Museum stabilisierte offenkundig zweifach diesen
Diskurs: Durch das symbolträchtige Eröffnungsdatum war es zum einen nun
endgültig zum „Tempel der Freiheit“ geworden,46 was es zum anderen dazu
berechtigte, als Bewahrer der französischen Kultur in den Dienst der neu
erstandenen freiheitlichen Nation zu treten.47
Diese museale Justierung des Bewahrensdiskurses zeigt an, dass die neue Welt
keinen völligen Bruch mit der Vergangenheit herbeiführen konnte, im
Gegenteil: Die dezidierte Ausrichtung der Bewahrensparameter auf die
Gegenwart nahm den monarchischen Relikten das Bedrohliche und Beunruhigende und ermöglichte dadurch, dass dieses Erbe gefahrlos in die neue
Kultur eingelassen werden konnte, indem es nicht mehr den alten Codes
unterworfen war. Das revolutionäre Museum wurde zum absoluten Ort der
neuen Welt, und es war einzig die dort präsentierte Auswahl an Denkmälern,
welche die Vergangenheit bestimmte. Dass dies so möglich war, lag vor allem
daran, dass die Ausstellungsobjekte ihres alten Symbolgehalts entledigt und
mit einem nunmehr ästhetischen Wert aufgeladen wurden.
III. Die Politik der Ästhetik
Das ästhetische Moment ist zweifellos das offensichtlichste Merkmal des
Kunstmuseums. Eine neue Welt verlangt im Besonderen nach einer neuen
Ästhetik. Auffällig ist allerdings, dass man es dabei mit einem inhaltlichen
sowie formalen Diskussionsstrang zu tun hat. Beide scheinen auf den ersten
Blick höchstens lose miteinander zusammenzuhängen, gingen jedoch in ihrer
44 Procs-verbaux du Comit d’instruction publique, Bd. 2, S. 152 – 155.
45 Vgl. Edouard Pommier, Idologie et muse l’poque rvolutionnaire, in: Michel
Vovelle (Hg.), Les images de la Rvolution FranÅaise, Paris 1988, S. 57 – 78, bes. S. 66.
46 Jacques-Louis David, Rapport sur la suppression de la Commission du Musum, [Paris]
Nivse an II [Dezember 1793/Januar 1794], Zitat S. 2. Der Bericht findet sich auch
abgedruckt in: Yveline Cantarel-Besson, La naissance du muse du Louvre. La politique
musologique sous la Rvolution d’aprs les archives des muses nationaux, Bd. 2, Paris
1981, S. 212 – 214.
47 Vom für die Republik „konsolidierenden“ Charakter des Museums sprach man ebenfalls
im Zusammenhang mit dem Wunsch nach der Errichtung eines Museums in Versailles,
vgl. hierzu die Sitzung der Commission temporaire des arts, undatiert, möglicherweise
Ende November 1794, in: Louis Tuetey (Hg.), Procs-verbaux de la commission
temporaire des arts, Bd. 1, Paris 1912, S. 674.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
485
Argumentationsentwicklung auseinander hervor und fixierten letztlich durch
eine doppelte Ästhetisierung des historischen Erbes die grundlegende Narrativität des Museums.
Zunächst war die Verkürzung des patrimoine auf eine ästhetische Hinterlassenschaft von grundlegender Bedeutung für ein ohnehin eher künstlerisches
Verständnis von Museumsexponaten.48 Hatte bereits das Ancien Rgime die
Kunst als Propagandamittel für sich einzusetzen gewusst,49 ging die Revolution
noch einen bedeutenden Schritt weiter, indem sie versuchte, Politik und Kunst
in ein sich bedingendes Verhältnis zu setzen.50 Der Architekt Athanase
Dtournelle verlieh diesem Ineinander in seiner 1794 erstmals erschienenen
Zeitschrift Aux armes et aux arts eine geradezu monumentale Form: „Man
muss aus der ganzen Kraft, die die Freiheit dem Volk verleiht, profitieren, um
es auf das wahre Schöne abzustellen, und damit die Republik unsterblich
machen.“51 Die Kunst übernahm für die Revolution insofern eine tragende
Rolle, als sich die Revolutionäre darin einig waren, dass sie die „Sprache aller
Zeiten und aller Völker“ darstelle,52 zumal sie – dies war zweifellos auch die
Grundannahme von Dtournelle – seit jeher „die öffentliche Moral beeinflusst“ hatte.53 Die ästhetisch-integrative Kraft des Museums offenbarte sich
daher durch die Anschaulichkeit seiner Objekte und sollte alle Bürger in den
Prozess der republikanischen Erneuerung einbinden. Der öffentliche museale
Raum war ein Medium kultureller Sozialisation und nationaler Erziehung, und
48 Jean-Rmy Mantion, Droutes de l’art. La destination de l’œuvre d’art et le dbat sur le
muse, in: Jean-Claude Bonnet (Hg.), La Carmagnole des muses. L’homme de lettres et
l’artiste dans la Rvolution, Paris 1988, S. 97 – 129; Dominique Poulot, Le sens du
patrimoine. Hier et aujourd’hui, in: Annales 48. 1993, S. 1601 – 1613.
49 Klassisch hierzu James A. Leith, The Idea of Art as Propaganda in France, 1750 – 1799.
A Study in the History of Ideas, Toronto 1965.
50 Die „göttliche Kunst“ wird „der Freiheit zurückgegeben“, so Vicq d’Azyr, Instruction
sur la manire d’inventorier, S. 60. Vgl. auch Poulot, Une histoire des muses, bes. S. 102.
Zur Kunstdebatte während der Revolution stammt das Standardwerk von Pommier,
L’art de la libert. In Kurzform vgl. douard Pommier, Les arts en Rvolution, ou le
patrimoine de la libert, in: Daniel Rabreau u. Bruno Tollon (Hg.), Le progrs des arts
runis 1763 – 1815. Mythe culturel, des origines de la Rvolution la fin de l’Empire?
Bordeaux 1992, S. 3 – 17. Einen sehr guten Überblick liefern auch Bordes u. Michel, Aux
armes. Weiterhin unverzichtbar ist die ältere Arbeit von Benot, L’art franÅais.
51 Athanase Dtournelle (Hg.), Aux armes et aux arts! Peintures, sculpture, architecture,
gravure. Journal de la socit rpublicaine des arts, Sance au Louvre, Salle du Laocoon.
Premire partie. Du premier Ventse au premier Prairial, Paris 1794, S. 3.
52 Jean-Baptiste-Pierre Le Brun, Quelques ides sur la disposition, l’arrangement et la
dcoration du Musum national, Paris an III [1795], S. 7.
53 Alexandre Lenoir, Description historique et chronologique des monumens de sculpture,
runis au muse des monumens franÅais. Suivie d’un trait historique de la Peinture sur
verre, par le mÞme auteur. Quatrime dition, revue, corrige et considrablement
augmente, Paris an VI [1797], Zitat S. 47.
486
Roland Cvetkovski
die Formung des neuen Menschen erfolgte über die Anschauung und
Erfahrung der ausgestellten Kunstwerke, gleichsam durch eine Affektion der
Sinne, wie es bereits der Sensualismus des 18. Jahrhunderts gelehrt hatte.
Insofern schlugen im Museum die ästhetischen Prinzipien von innerer und
äußerer Korrespondenz, ganz wie dies zuvor Johann Joachim Winckelmann
postuliert hatte, in die politische Diskussion durch:54 Die Idee des KlassischAntiken als einzig Bewahrungs- und Überlieferungswürdiges besaß eine
universale und damit eine ahistorische Dimension, die den aus unterschiedlichen Zeiten stammenden Denkmälern unterstellte, alle im gleichen Geist
erschaffen worden zu sein. Die freiheitliche Ahnenreihe der Revolution, wie sie
im Louvre präsentiert wurde, war daher zwar prominent und vertrat alle
Epochen der Kunstgeschichte, sie musste aber deshalb nicht zwingend
historisch sein, sondern hatte in erster Linie eine innere, freiheitlichästhetische Übereinstimmung mit der Politik der Revolution herzustellen.55
Die ästhetische Verengung des patrimoine war daher eine logische Konsequenz
dieses Konsenses, der sich schon zu Beginn der Revolution angedeutet hatte.56
Bereits am 19. April 1791 hatte der Maler und Bildhauer Jean Bernard Restout
vor der gesetzgebenden Nationalversammlung die Behauptung aufgestellt,
dass „die Künste nun Freunde der Verfassung sind“. Der Innenminister
Roland griff am 1. Dezember 1792 diesen Gedanken wieder auf und verkündete, dass es neben den Wissenschaften vor allem die Künste seien, auf deren
fruchtbarem Boden die wahren republikanischen Ideen gedeihen könnten.57
Zuvor hatte bereits die Nationalversammlung, ehe sie das Feld für den
Nationalkonvent räumen musste, mit einem ihrer letzten Dekrete vom
19. September 1792 diese bedeutsame Eingrenzung offiziell vorgenommen,
welche die Definition des patrimoine nun endgültig auf die schönen Künste
eindampfte. Die „Zusammenführung der Gemälde und Denkmäler der
schönen Künste im Musum franÅais“ galt als „dringlich“, wodurch dem
Louvre zugleich seine Bestimmung als Bewahrer eines vornehmlich ästhetisch
aufbereiteten patrimoine auferlegt worden war, und die Commission des
monuments hatte den entsprechenden Auftrag erhalten, die überall verstreuten Gemälde und Denkmäler der schönen Künste „unverzüglich […] in das
Depot des Louvre zu überstellen“.58 Die ästhetische Konzeption, die den
Louvre offenkundig durchwaltete, bezog sich dabei nicht lediglich auf die neue
Welt, sondern hatte zudem „die Aufklärung zu verbreiten“, indem die
54 Zur Winckelmannrezeption in Frankreich vgl. Edouard Pommier, Winckelmann und
die Betrachtung der Antike im Frankreich der Aufklärung und der Revolution, Stendal
1992.
55 Generell dazu Jean Starobinski, Die Erfindung der Freiheit, 1700 – 1789, Frankfurt 1988.
56 Vgl. Scheller, La notion de patrimoine artistique.
57 Zitate nach Pommier, Les arts en Rvolution, Zitat S. 4 f.
58 Archives parlementaires, Bd. 50: Du 15 septembre 1792 au soir au 21 septembre 1792 au
matin, Paris 1896, S. 151.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
487
ausgestellten Kunstwerke „der Belehrung aller Bürger dienen müssen“.59 Dies
offenbarte sich am deutlichsten darin, dass das Museum sich nicht mehr wie
bislang üblich der Tradition verpflichtet sah. Vielmehr wurde ein Wettstreit
unter den Künstlern initiiert, eine neue, republikanische Kunst zu erschaffen,
dabei das Volk zu unterweisen und der Nachwelt ausdrücklich neue Lektionen
zu erteilen, und das hieß: ästhetisch die neue Welt zu überliefern und zu
übergeben.
Für die Revolutionäre konnte der Louvre somit nichts anderes als eine
künstlerische Schule der republikanischen Tugend darstellen. Für den Maler
Gabriel Bouquier etwa wäre es ein offener Affront gewesen, die Franzosen mit
Gemälden von ehemals zum offiziellen klassizistischen Kanon zählenden
Malern, wie etwa FranÅois Boucher oder Charles Andr van Loo, zu
Republikanern zu erziehen. Hierzu benötige es vielmehr „stolzer Farben,
eines unruhigen Stils, eines verwegenen Pinsels, eines vulkanischen Charakters“.60 Die Hervorbringung republikanischer Künstler könne daher, so die
Kritiker der noch verantwortlichen Commission de Musum61 Jean-BaptistePierre Le Brun und Jean-Michel Picault, nur durch eine Hängung nach Schulen
bei gleichzeitig chronologischem Arrangement erreicht werden;62 eine solche
Anordnung wurde für den Louvre allerdings erst im Februar 1798 beschlossen.63 Zuvor hatte die Commission de Musum sich für eine Art der
59 Erstes Zitat aus der Sitzung der Commission temporaire des arts vom 26. September
1794, das zweite aus der Sitzung vom 20. Dezember 1794, beide in: Procs-verbaux de la
commission temporaire des arts, Bd. 2, S. 419 u. S. 653. Zur spezifisch ästhetischen
Konzeption des Louvre vgl. den Brief der Commission du Musum vom 24. Februar
1793 an den Innenminister Dominique-Joseph Garat in: La Commission du Musum,
S. 89.
60 Gabriel Bouquier, Rapport et projet de dcret, Relatifs la restauration des Tableaux et
autres monumens des arts, formant la collection du Musum national; Par G. Bouquier,
au nom du Comit d’Instruction publique, Paris [6. Messidor an II/24. Juni 1794], S. 2 f.
61 Die Commission du Musum wurde auf Betreiben ihres erbittertsten Gegners JacquesLouis David am 16. Januar 1794 vom Conservatoire du Musum abgelöst; zum
Führungswechsel samt Reorganisation der Museumsleitung, vgl. das Dekret vom
Nationalkonvent in: A.N. F21 569, dossier 1.
62 Le Brun war ein bekannter Kunsthändler wie -kenner, Picault Maler und Restaurator;
Jean-Baptiste-Pierre Le Brun, Rflexions sur le Musum national, par le citoyen Le Brun,
Paris 1793; ders., Observations sur le Musum national, par le citoyen Le Brun, peintre,
et marchand de tableaux; Pour servir de suite aux Rflexions qu’il a dj publies sur le
mÞme objet, Paris 1793. Picault etwa äußert seinen Unmut über die „Unordnung“ bei der
geplanten Hängung in einem Brief an Garat vom 1. April 1793 und fordert die
Anordnung nach Schulen, Brief abgedruckt in: La Commission du Musum,
S. 114 – 116.
63 Ausführlicher bei McClellan, Inventing the Louvre, S. 91 – 154 u. S. 205 – 211. In Wien
hatte man das Ausstellungsprinzip nach Malschulen bereits kurz zuvor erprobt, vgl.
Christian von Mechel, Verzeichniß der Gemälde der Kaiserlich Königlichen Bilder
488
Roland Cvetkovski
Präsentation entschieden, die zwar eine dreigliedrige Einteilung in italienische, holländisch-flämische und französische Malerei vornahm, die Gemälde
jedoch nicht nach einzelnen Schulen, sondern nach den bildnerischen
Merkmalen beziehungsweise Kompositionsmustern anordnete, was zu großen
Teilen noch den früheren Hängungsgewohnheiten entsprach. In ihrer Begründung führte sie an, dass die bloße Aufteilung nach Schulen nur für die
Kenner von Bedeutung sei, der Allgemeinheit allerdings die künstlerische
Eigenheit sowie die Darstellungsweisen der Kunst verschlossen blieben. Ihr
Fokus wurde eindeutig von einer in erster Linie künstlerisch-pädagogischen
Absicht geleitet, die den geschichtlichen Fortgang der Kunst, wie ihn die
Kritiker einforderten, in ihrem vermeintlich teleologischen Verlauf ausblendete.64
Die Politisierung der Kunst als inhaltlicher Bestandteil der Debatte um die
museale Ästhetik lief nun parallel mit einer Diskussion, die vom Archäologen
und Kunstkritiker Antoine-Chrysostme Quatremre de Quincy angestoßen
worden war. Er hatte an der Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft
Überlegungen vor allem zum formalen Aspekt des Museums angestellt und
erstmals die Ästhetisierung der musealen Objekte zur Sprache gebracht.
Anlass hierfür war aber die Kunst selbst. Im Grunde genommen argumentierte
er ähnlich wie Millin zuvor, der ja Museumsexponate als in Einheiten
aufgeteilte, instruktive Anschauungsmaterialien für den Unterricht und die
historischen Wissenschaften entworfen hatte, allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen.65 Quatremre wurde vor allem bekannt dafür, dass er eine
kompromisslose Haltung gegenüber den neu eingerichteten revolutionären
Museen, im Besonderen gegenüber dem Louvre, eingenommen hatte. Sein
Gallerie in Wien verfaßt von Christian von Mechel nach der von ihm auf Allerhöchsten
Befehl im Jahre 1781 gemachten neuen Einrichtung, Wien 1783, bes. S. XI–XXII; dazu
Debora J. Meijers, La classification comme principe. La transformation de la Galrie
impriale de Vienne en „histoire visible de l’art“, in: Pommier, Les muses en Europe,
S. 591 – 614.
64 Der Bericht der Commission de Musum zu ihrer Entscheidung über die Hängung
datiert vom 17. Juni 1793, in: La Commission du Musum, S. 179 – 189.
65 Ren Schneider, Quatremre de Quincy et son intervention dans les arts, 1788 – 1830,
Paris 1910; Michael Greenealagh, Quatremre de Quincy as a Popular Archaeologist,
Paris 1968; James Henry Rubin, Allegory versus Narrative in Quatremre de Quincy, in:
Journal of Aesthetics and Art Criticism 44. 1986, S. 383 – 392; Yvonne Luke, The Politics
of Participation. Quatremre de Quincy and the Theory and Practice of „Concours
publiques“ in Revolutionary France, 1791 – 1795, in: Oxford Art Journal 10. 1987,
S. 15 – 43; Sylvia Lavin, Quatremre de Quincy and the Invention of a Modern Language
of Architecture, Cambridge, MA 1992; douard Pommier, Quatremre de Quincy et le
patrimoine, in: Pavanello, Antonio Canova e il suo ambiente, S. 459 – 479; Steven
Adams, Quatremere de Quincy and the Instrumentality of the Museum, in: Working
Papers in Art and Design 3. 2004, http://sitem.herts.ac.uk/artdes_research/papers/
wpades/vol3/safull.html.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
489
radikaler Kulturpessimismus resultierte nicht zuletzt aus einer schmerzhaften
Verlusterfahrung, da er sich ganz und gar als Mensch des Ancien Rgime
verstand, der gerade die aufgeklärten Ideale und Ziele einer rpublique des
lettres hochhielt. Seine Kritik am revolutionären Museum gibt nicht nur
Aufschluss über die unterschiedlichen Positionen, die zwischen den anciens
und den modernes bezogen worden waren, sondern sein Veto offenbart
erstmalig die neuartige Funktion des Museumsobjekts, das, so die Schlussfolgerung, als Resultat eines Entfremdungs- sowie Ästhetisierungsprozesses
zu begreifen war.
Quatremres eigentliche Speerspitze richtete sich gegen das zeitgenössische
Verständnis von Ästhetik. Ein ästhetisches Urteil wurde im modernen, das
heißt im Kantischen Sinne, über die Rezeption einzelner Kunstwerke gefällt,
ohne, so Quatremre, ihre adäquate ästhetische Umgebung, ihre Aura zu
berücksichtigen. Für ihn besaß nach wie vor der klassizistische Leitsatz
Gültigkeit, demzufolge die Antike die höchste Kunstform hervorgebracht habe
und der es nachzueifern galt. Dadurch wurde eine klare Hierarchie, aber auch
eine Einheit der Kunst gewährleistet. Für Quatremre bestand die Revolution
in den Künsten in einer, wie kürzlich betont wurde, konsequenten „archäologischen Reproduktion der Antike“,66 und als entsprechendes Ambiente, das
Hierarchie und Einheit in höchstem Maße zu garantieren vermochte, kam nur
Rom in Frage. Das wahre Kunstwerk könne nur in seiner ihm angestammten
Umgebung seine volle Wirkung entfalten, da allein hier dessen Authentizität
zur Geltung komme. Unter diesen Voraussetzungen konnte das Museum,
welches wie der Louvre lediglich ein Punkt des Einsammelns und Zusammenstellens von Meisterwerken war, indessen nicht eine Umgebung bieten, in
der inhaltliche Einheit und auratische Präsenz gleichzeitig gewährleistet
werden konnten, im Gegenteil: Das Museum war ein Ort der Spaltung, der
Absonderung und der Diskontinuität, und für Quatremre bestand kein
Zweifel, dass „Trennen [immer] Zerstören bedeutet“.67 Das Museum war
Ausdruck einer Fragmentarisierung der ästhetischen Erfahrung und musste
daher ein den Kunstwerken im buchstäblichen Sinne wesensfremder Ort
werden. Hingegen galt ihm Rom als das „wahre Museum“, denn dort waren
jegliche Kunstwerke eingebettet in
Plätze, historische Orte, Berge, Steinbrüche, antike Straßen, Ruinenstädte, geografische
Eigenheiten, in die Wechselwirkungen aller Gegenstände untereinander, in die Erinnerungen, die lokalen Traditionen, die noch existierenden Bräuche – alles Parallelen und
Vergleiche, die nur in dem Land selbst gezogen werden können.68
66 So Jean-Louis Dotte, Rome, the Archetypal Museum, and the Louvre, the Negation of
Division, in: Susan Pearce (Hg.), Art in Museums, London 1995, S. 215 – 232, hier S. 217.
67 Antoine Quatremre de Quincy, Lettres Miranda sur le dplacement des monuments
de l’art de l’Italie [1796], hg. v. douard Pommier, Paris 1989, Zitat S. 100.
68 Zitat ebd., S. 102.
490
Roland Cvetkovski
Das endgültige Verdikt gegen die ästhetische Isolierung, wie sie der Kunst bei
ihrer Metamorphose in ein modernes museales Objekt, in ein im wahrsten
Sinne des Wortes Kunst-Werk widerfuhr, sprach Quatremre einige Jahre
später in seinen berühmten „Considrations“ aus:
Alle Monumente von ihrem Platz zu entfernen, so ihre Fragmente einzusammeln, ihre
Trümmer methodisch zu ordnen und aus einer solchen Ansammlung einen praktischen
Kursus in moderner Chronologie zu machen, bedeutet […] ihrem Begräbnis bei lebendigem
Leibe beizuwohnen, bedeutet, die Kunst zu töten, um aus ihr Geschichte zu machen. Man
schreibt dadurch aber nicht ihre Geschichte, sondern ihr Epitaph.69
Für Quatremre war der organische Zusammenhang durch das moderne
Museum außer Kraft gesetzt, und in letzter Konsequenz übermalte der Louvre
mit seiner Gewalt, die er der Kunst antat, das intakte Bild des aufgeklärten
Ancien Rgime, dessen ästhetisches Ideal durch einen inneren, gleichsam
natürlichen Zusammenhang begründet und von der Antike bestimmt worden
war. Quatremre monierte hier nichts anderes als das auratische und dadurch
moralische Verkommen des historisch-künstlerischen Denkmals.
Weniger aus seinem Urteil als vielmehr aus seiner Argumentation erschließt
sich die nicht zu überschätzende Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit
dem Verhältnis von Kunst und Museum, das sich in dieser Perspektive durch
eine neue, geradezu zerstörerische Dynamik auszeichnete. Und doch verbarg
sich hinter dieser destruktiven Gewalt eine schöpferische Kraft, die sich
gleichermaßen nach außen wendete und ihre Wirksamkeit zeigte: Denn erst
über die Vereinzelung der musealen Objekte, die ihrem eigentlichen Zusammenhang entrissen worden waren, wurde es überhaupt möglich, die symbolisch überfrachteten Relikte der Vergangenheit umzudeuten, indem man ihnen
nun einen erinnerungsfreien ästhetischen Wert zuerkannte, der diese historischen Hinterlassenschaften letztlich neutralisierte.70 Das moderne Museum
hatte daher eine fundamentale Umwandlung bewirkt, welche die Gegenstände
vom imago agens zum Kunstwerk transformiert hatte, und damit den Fokus
von der Funktion zur Form verschob:71 Entkontextualisierung durch Ästhetisierung bot die einmalige Gelegenheit, Geschichte neu beginnen zu lassen,
69 Antoine Quatremre de Quincy, Considrations morales sur la destination des ouvrages
de l’art, ou de l’influence de leur emploi sur le gnie et le got de ceux qui les produisent
ou les jugent, et sur le sentiment de ceux qui en jouissent et en reÅoivent les impressions,
Paris 1815, in: Quatremre de Quincy, Considrations morales sur la destination des
ouvrages de l’art suivi de Lettres sur l’enlvement des ouvrages de l’art antiques Athnes et Rome, hg. v. Jean Louis Dotte, Paris 1989, S. 48.
70 Günther Lottes, Damnatio historiae. Über den Versuch einer Befreiung von der
Geschichte in der Französischen Revolution, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik, Göttingen 1997, S. 22 – 48, bes. S. 41.
71 Vgl. McClellan, Inventing the Louvre, S. 113; auch Dominique Poulot, La morale du
muse, 1789 – 1830, in: Romantisme 31. 2001, S. 23 – 30, bes. S. 24 – 28.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
491
ohne auf die Vergangenheit verzichten zu müssen. Die Isolierung der musealen
Objekte und die sich dadurch eröffnende Möglichkeit ihrer Rekontextualisierung war ein Wesenszug des Museums, der vor allem in dem damit
verbundenen Anspruch auf Objektivität neu war. Als der Innenminister
Jean-Marie Roland de la Platire im Zusammenhang mit den laufenden Plänen
zur Errichtung des Museums im Louvre in einem Brief an Jacques-Louis David
schrieb, dass nun das Museum „zu einem der mächtigsten Mittel wird, um die
französische Republik zu veranschaulichen“,72 zeigte sich überdies, dass unter
dem Druck der revolutionären Ideologie die Wahrhaftigkeit musealer Erzählungen zusätzlich dadurch verstärkt wurde, dass die Träger dieser Erzählung –
die Museumsexponate – in ihrer Funktion beständig zwischen Präsentation
und Repräsentation oszillierten: Die Sammlung im Louvre und die Republik
galten offenbar als Synonyme.
IV. Die Politik der Utopie
Louis-Sbastien Mercier hatte sich in seiner erstmals 1771 noch anonym
erschienenen Schrift über eine zukünftige Gesellschaft im Jahre 2440 das
Museum als „Inbegriff des Universums“ vorgestellt.73 Es verstehe sich dabei
von selbst, so Mercier, dass dann „alle Künste und Professionen gleichermaßen
frei“ wären, dass es zudem nicht nur verboten sei, „mit der Kunst zu lügen“,
sondern auch überhaupt ein Kunstwerk anzufertigen, „was die Seele nicht
anspricht“. Hierzu gehöre vor allem, dass man nicht mehr damit fortfahre,
immerzu die Alten nachzuahmen, denn „die Wiederholung ist die Sprache der
Narren“. Nicht blutige Schlachten, nicht mythologische Szenerien gäben
weiter die Sujets ab, noch weniger Herrscher, die mit Tugenden dargestellt
würden, die sie überhaupt nicht besäßen, sondern lediglich diejenigen
Themen hätten im Vordergrund zu stehen, die „eine noblere Vorstellung des
Menschen“ vermittelten, denn allein dasjenige sei weiterzugeben, was eine
bessere Zukunft in Aussicht stelle, kurz: alle gezeigten „Künste verbünden sich
zum Vorteil der Menschheit zu einer großen Verschwörung“. Das Museum
hätte daher ausschließlich den Auftrag, „Lektionen der Tugend zu erteilen“,
und müsste folgerichtig der gesamten Öffentlichkeit zugänglich sein.74 Die
72 Lettre de M. Roland, ministre de l’Intrieur, M. David, peintre, dput la Convention
nationale du 17 octobre 1792, l’an 1er de la Rpublique franÅaise, abgedruckt in: Louis
Courajod, Alexandre Lenoir. Son Journal et le Muse des monuments franÅais, Bd. 1,
Paris 1878, S. XXXIV–XXXV, Zitat S. XXXV.
73 [Louis-Sbastien Mercier,] L’an deux mille quatre cent quarante. RÞve s’il en fut jamais,
London 1772, Zitat S. 271.
74 Zitate ebd., S. 298 – 313. Zu Mercier vgl. Riikka Forsström, Possible Worlds. The Idea of
Happiness in the Utopian Vision of Louis-Sbastien Mercier, Helsinki 2002; dies., L’an
deux mille quatre cent quarante. RÞve s’il en fut jamais, in: Histoire transnationale de
492
Roland Cvetkovski
museale Utopie Merciers stand unverkennbar unter dem strengsten Diktat der
Tugend und der Freiheit.
Indem die Revolution die Erschaffung einer neuen Welt für sich reklamierte
und diese nicht nur explizit vom Ancien Rgime absetzte, sondern sie zudem
als praktische Umsetzung einer lang geübten Kritik am absolutistischen Staat
sowie Gesellschaftssystem verstand, musste sie notgedrungen in die Nähe der
politischen Utopien rücken, an denen das 18. Jahrhundert nicht arm war.
Große Teile der zahlreichen gesellschaftsmodellierenden Entwürfe etwa von
Gabriel de Foigny, tienne-Gabriel Morelly, Denis Diderot, Nicolas Restif de la
Bretonne und auch Mercier schienen nun Wirklichkeit geworden zu sein; die
Revolution hatte offenbar das gesammelte kultur- und gesellschaftskritische
Arsenal des utopischen Denkens politisch umgesetzt. Dieser behauptete
gewaltige und wenn nicht gar riskante Umschlag von Fiktion in Realität war
aber nicht unbedingt etwa einer aufschneiderischen Rhetorik geschuldet, zu
der sich die Revolutionäre hätten hinreißen lassen. Die tatsächliche Möglichkeit eines solchen Umschlags war vielmehr die logische Folge, die sich aus der
ideengeschichtlichen Entwicklung sowie der sozialen Kontextualisierung der
Utopien ergeben hatte. Waren die frühneuzeitlichen klassischen Utopien in
ihrer Anlage noch von der realen Welt stets räumlich abgetrennt und, wie etwa
bei Thomas Morus, als bereits existierendes Gegenstück zu den tatsächlichen
Verhältnissen vorgefunden worden, so hatten die utopischen Entwürfe
besonders im Laufe des 18. Jahrhunderts eine bedeutsame Veränderung
durchlaufen: Die neue und bessere Welt wurde jetzt nicht mehr gefunden,
sondern von den Menschen begründet.75 Die nunmehr Gestaltbarkeit des
neuen Gemeinwesens hatte im utopischen Diskurs einen zentralen Platz
eingenommen, indem dieser sich offenkundig die aufklärerischen Grundprinzipien zu eigen gemacht hatte. Nachdem bereits im 17. Jahrhundert die
Utopien erste utilitaristische Züge angenommen und sich zunehmend auf die
Wohlfahrt der konkreten Gesellschaft ausgerichtet hatten, schlugen sie im
18. Jahrhundert nun endgültig in Bildungs- und Erziehungskonzepte um und
nahmen dadurch unmittelbar Einfluss auf das gesellschaftliche sowie politi-
l’utopie littraire et de l’utopisme. Coordonne par Vita Fortunati et Raymond
Trousson, avec la collaboration de Paola Spinozzi, Paris 2008, S. 357 – 363; Harvey
Chisick, Utopia, Reform and Revolution. The Political Assumptions of L. S. Merciers l’an
2440, in: History of Political Thought 22. 2001, S. 648 – 668.
75 Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991, bes. S. 77 – 150;
Raymond Trousson, Voyages aux pays de nulle part. Histoire littraire de la pense
utopique, Brüssel 19993 ; Bronislaw Baczko, Lumires de l’utopie, Paris 1978; ders.,
Lumires et Utopie. Problmes de recherche, in: Annales 26. 1971, S. 355 – 386.
Allgemein Gregory Claeys, Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie, Darmstadt 2011;
Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen
Utopie, Stuttgart 1982.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
493
sche Handeln. Utopien waren praktisch geworden.76 Das ideale Museum, wie
es sich Mercier vorstellte, wurde daher keineswegs als ein Ort entworfen, der
die Verhältnisse lediglich anders – besser – gestalten sollte: Als „Inbegriff des
Universums“ enthielt es bereits die neue Welt und stand zugleich in ihren
Diensten, hatte es doch den Auftrag, diese neue Welt zu etablieren, nachdem es
sie mit und in seiner Ausstellung erschaffen hatte. Während der Revolution
geriet das Museum daher zur wohl sichtbarsten Plattform, um Gesellschaftsutopien, wie sie etwa von Mercier formuliert worden waren, tatsächlich zu
materialisieren. Das Museum war und blieb ein prädestinierter Ort, an dem
Utopien praktiziert und dadurch evident wurden.77 Es entsprang der Gegenwart und gestaltete sie zugleich, und da diese als eingelöste Utopie anzusehen
war, schuf es gleichermaßen auch die Zukunft.
Eine solche Vorstellung brachte wohl am einprägsamsten Armand-Guy
Kersaint zum Ausdruck, ehemaliger Offizier der königlichen Marine und
überdies Teilnehmer an den amerikanischen Befreiungskriegen, der 1792 eine
Schrift über den Umgang mit öffentlichen Denkmälern in Druck gab. Er stellte
darin die politische Bedeutung der Monumente heraus und begründete dies
damit, dass die Bewahrung von Denkmälern der neuen revolutionären
Regierung zu mehr Stabilität verhelfen würde, denn die Franzosen „sollten an
die Nachwelt denken[:] Eine freie Nation, welche den Ruhm liebt, wünscht, in
der Zukunft zu leben und ihr die ruhmreichste Epoche in den Annalen des
menschlichen Geistes zu widmen.“78 Gerade die „Fertigstellung des Louvre
76 Vgl. hierzu den inspirierenden Aufsatz von Rudolf Schlögl, Alchemie und Avantgarde.
Das Praktischwerden der Utopie bei Rosenkreuzern und Freimaurern, in: Monika
Neugebauer-Wölk u. Richard Saage (Hg.), Die Politisierung des Utopischen im
18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution, Tübingen 1996, S. 117 – 142, hier bes. S. 118 f. u. S. 139 f. Zum vorhandenen „Wirklichkeitsgehalt“ von Utopien und deren zunehmende Nähe zu „Bildungsreformen“ bereits im
17. Jahrhundert vgl. Wolfgang Hardtwig, Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung. Von Thomas Morus zur Industriellen Revolution, in: ders., Hochkultur
des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 155 – 173, Zitate S. 163 f.
77 Als einer der wenigen bezeichnete Dominique Poulot das Museum als „transformation
utopique“, vgl. Poulot, Une histoire des muses, S. 73. Zum utopischen Potenzial der
Museen allgemein Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Refugium für Utopien. Das Museum.
Einleitung, in: Jörn Rüsen u. a. (Hg.), Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen,
Weilerswist 2004, S. 187 – 196, bes. S. 192. Sie spricht in diesem Zusammenhang von
musealer „Welterzeugung“ und vom Museum als „Wirklichkeit gewordener Konjunktivraum“, ebd., S. 187 u. S. 194.
78 Kersaint, Discours sur les monuments publics, Zitat S. VI. Hierzu kürzlich mit
ausführlichem Anmerkungsapparat Armand-Guy Kersaint, Abhandlung über die
öffentlichen Baudenkmäler. Paris 1791/92, hg. v. Christine Tauber, Heidelberg 2010.
Entsprechend geht es in Christine Taubers kenntnisreichem Kommentar zu Kersaint um
die „Leerstellen“ und „Freiräume“, welche die Revolution geschaffen habe und nun für
die Zukunft neu aufzufüllen, als Erinnerungsorte neu zu besetzen sind, S. 175 – 284. Vgl.
494
Roland Cvetkovski
wird [dabei] zu einer durchschlagenden Demonstration der Überlegenheit des
neuen Regimes über das alte“, und dieser „Tempel des Geistes“, so Kersaint
weiter, müsse so schnell wie möglich errichtet werden, damit „die Nachgeborenen“ in den Genuss der dort zusammengestellten Weltkunst kämen.79 Die
Utopie stand kurz davor, Wirklichkeit zu werden, und das bald darauf
eröffnete Museum war das Sprachrohr der Gegenwart für die darin zu
unterweisende Zukunft.
Aber wie beim ästhetischen Moment kann man auch hier zumindest zwei
Ebenen unterscheiden: Auf der einen Seite lassen sich Debatten verfolgen, die
sich entlang der Figur der rgnration bewegten,80 sich also dem pädagogischen Anspruch verschrieben hatten und die Errichtung der neuen Welt als
einen Erziehungsauftrag begriffen. Die Erneuerung, wie sie von den Revolutionären verstanden wurde, trug ja bereits per se das utopische Moment in
sich, und indem die Regeneration zur nationalen Pflicht ausgerufen wurde,
war die Utopie der neuen Gesellschaft gleichsam zu ihrer Praxis geworden. Auf
der anderen Seite enthüllten diese Diskussionen erneut einen formalen Aspekt
der Musealisierung und erhoben das revolutionäre Museum damit erstmals zu
einer eigenständigen kulturellen Kraft.
Zunächst aber galt es, die beiden Eckpfeiler der Kultur im nun neuen Sinn
erstarken zu lassen. Henri Grgoire hatte in seinem Bericht an den Nationalkonvent vom 8. August 1793 geäußert:
Ganz Frankreich ist der Überzeugung, dass das Siechtum der Wissenschaften und der
Künste der Verkümmerung der Existenz Frankreichs gleichkommt und ihr Grab zugleich
das Grab der Freiheit Frankreichs bedeutet.81
dazu auch James A. Leith, Space and Revolution. Projects for Monuments, Squares, and
Public Buildings in France, 1789 – 1799, Montreal 1991.
79 Zitate Kersaint, Discours sur les monuments publics, S. 40 u. S. 43 f.
80 Mona Ozouf, Erneuerung, in: Furet u. Ozouf, Kritisches Wörterbuch der Französischen
Revolution, Bd. 2, S. 1071 – 1086; dies., L’homme rgnr. Essais sur la Rvolution
franÅaise, Paris 1989, bes. S. 116 – 157; Antoine de Baecque, L’homme nouveau est
arriv. L’image de la rgnration des FranÅais dans la presse patriotique des dbuts de
la Rvolution, in: Dix-huitime Sicle 20. 1988, S. 193 – 208; Bronislaw Baczko (Hg.),
Une ducation pour la dmocratie. Texte et projets de l’poque rvolutionnaire, Paris
1982; Wiltrud V. Drechsel, Erziehung und Schule in der Französischen Revolution,
Frankfurt 1969; Frauke Stübig, Erziehung zur Gleichheit. Konzepte der „ducation
commune“ in der Französischen Revolution, Ravensburg 1974; Dominique Julia,
L’institution du citoyen. Die Erziehung des Staatsbürgers. Das öffentliche Unterrichtswesen und die Nationalerziehung in den Erziehungsprogrammen der Revolutionszeit,
1789 – 1795, in: Ulrich Herrmann u. Jürgen Oelkers (Hg.), Französische Revolution und
Pädagogik der Moderne. Aufklärung, Revolution und Menschenbildung im Übergang
vom Ancien Rgime zur bürgerlichen Gesellschaft, Weinheim 1989, S. 63 – 103; Gwynne
Lewis, The French Revolution. Rethinking the Debate, London 1993, bes. S. 91 – 105;
Lee, The Musaeum of Alexandria, bes. S. 403.
81 Grgoire, Rapport et projet de dcret, Zitat S. 2.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
495
Künstlern wie auch kulturellen Institutionen maß man eine privilegierte Rolle
in der Umsetzung des gesellschaftlichen Umbaus zu.82 Der Abgeordnete der
Ardche FranÅois-Antoine de Boissy d’Anglas stellte in seinem Bericht an den
Konvent vom 6. Januar 1794 kategorisch fest, dass von den „politischen
Institutionen, die in zunehmendem Maße das Gebäude der nationalen Freiheit
befestigen“, diejenigen von besonderer Wichtigkeit seien, die „auf den
menschlichen Geist Einfluss nehmen und […] öffentliche Sitten hervorbringen oder erneuern, ohne die jede Regierung nur kurzlebig und kraftlos ist“.
Überdies müssten sie, so der Generalanspruch, sogar „die Natur erneuern und
verschönern“.83 Das Schlagwort der rgnration in seinem grundlegenden
Sinn als Mittel der Zukunftsgestaltung lieferte den pragmatischen Leitgedanken, der dem revolutionären Museum seine Rolle im Neubau der ehemals
utopischen Gesellschaft eindeutig zuwies.
Der Deputierte aus dem burgundischen Mconnais und Mitglied der Commission des monuments FranÅois Puthod de Maison-Rouge hatte bereits am
4. Oktober 1790 in einer Petition an die Konstituante eindrucksvoll darauf
verwiesen. Er hatte früh erkannt, dass die Revolution zwar das Interesse der
französischen Nation an ihrer Geschichte wecken werde,84 doch schaffe die
Revolution, wie es bei ihm hieß, ein neues Fundament und mit ihm neue
Grundsätze für die Gesellschaft: „Menschen, die von Rechts wegen gleich sind,
benötigen nun keine Vorfahren mehr.“85 Der von Puthod derart entworfene
Museumsraum – denn um nichts anderes ging es dabei – würde demnach die
Grundlagen der neuen Gesellschaft bereitstellen: Das Museum war ein Ort, an
dem die Erneuerung gezeigt und praktiziert wurde.
Auch wenn sich daraus noch kein elaboriertes museologisches Programm
ergeben hatte, so schienen in dieser Hinsicht dennoch die Aufgaben in
Grundzügen festzustehen, in deren Pflicht man das revolutionäre Museum
sah. Hatte Alexandre Lenoir, der Begründer des Muse des monuments
franÅais, noch recht vage formuliert, dass man die Menschen unmittelbar
„durch die Pforten der Sinne“ ansprechen müsse, um ihnen „eine neue Hülle
zu geben“,86 so band Casimir Varon in dem ersten ausführlichen Bericht des
82 Vgl. Deloche u. Leniaud, Le premier dossier du patrimoine; Philippe Bordes, L’art et le
politique, in: Bordes u. Michel, Aux armes, S. 103 – 135.
83 FranÅois-Antoine de Boissy d’Anglas, Quelques ides sur les Arts, Sur la ncessit de les
encourager, sur les Institutions qui peuvent en assurer le perfectionnement, & sur divers
Etablissements ncessaires l’enseignement public, adresses la Convention nationale, et au Comit d’Instruction Publique, Paris 25. pluvise an II [14. Februar 1794],
Zitate S. 1 – 3.
84 Ausführlicher dazu Pommier, L’art de la libert, S. 44 – 52.
85 Zitat nach Poulot, Muse, nation, patrimoine, S. 127 f.; vgl. auch Poulot, La naissance du
muse, bes. S. 208 f.
86 Alexandre Lenoir, Essai sur le Musaeum de peinture, Paris an II [1793/94], S. 5; vgl auch
Harten, Museen und Museumsprojekte, S. 186 f.
496
Roland Cvetkovski
Conservatoire de Musum an das ihr übergeordnete Comit d’instruction
publique vom 26. Mai 1794 diese Idee der umfassenden Erneuerung ausdrücklich an das Museum und erklärte,
was ein Museum in einer mächtigen, erneuerten und freien Nation zu sein hat, wie der
Einfluss der Künste auf die öffentliche Meinung aussehen sollte, welchen Charakter sie [die
Museen, R.C.] dem Volk aufprägen und bis zu welchem Grad sie dem Glück der Nation
förderlich sind.87
Auch er schrieb das Museum ganz in das Gesamtprogramm der rgnration
ein und präzisierte es im weiteren Verlauf seines Berichts: Es gehe hierbei um
die Repräsentation der Würde der Republik, indem der Louvre zu einem Ort
der „Größe und Einfachheit“ werde und dadurch den Vergleich mit dem
antiken Griechenland nicht mehr zu scheuen brauche; es gehe darum, die
durchgehende öffentliche Zugänglichkeit des Museums zu garantieren, denn
dessen „Reichtümer gehören nicht einigen, sondern allen“, woraus folge, dass
es schließlich um die Unterweisung der Massen in der, wie es am Schluss im
Aufgabenkatalog unter dem sechsten Punkt heißt, „positiven Geschichte des
menschlichen Geistes“ gehe, denn gerade im Louvre strebe man „die größte
Vollkommenheit in der öffentlichen Bildung an“. Letztlich hatten die Revolutionäre einen utopischen Umschaffungsimperativ heraufbeschworen, der
nun im Museum in vollendeter Transparenz Wirklichkeit werden konnte.88
Die Unterordnung des mit der Leitung des Louvre beauftragten Conservatoire
de Musum unter das Comit d’instruction publique zeigte überdies an, dass
das utopische Moment zugleich auch administrativ eng an die revolutionäre
Erziehungsidee gekoppelt war. Standen die ersten Museumskonzeptionen
noch in der Tradition der gehobenen künstlerischen Bildung, so trat im Jahr II
(1793/94) dieses Modell hinter die Orientierung an utilitaristischer und
allgemeiner Bildung zurück; das Museum erhielt als Ort der republikanischen
Erziehung ein immer schärferes Profil. In diesem Sinn kam neben den Schulen
dem Museum daher das größte instruktive Potenzial zu.89 Es war wieder
Alexandre Lenoir, der dieses Bündnis des Utopischen mit dem Pädagogischen
besonders herausstrich: Hatte er noch in einem Bericht vom 27. Oktober 1794
87 Rapport du Conservatoire du Musum national des arts, fait par Varon, l’un de ses
membres, au Comit d’instruction publique, le 7 prairial l’an II de la Rpublique une et
indivisible, abgedruckt in: Cantarel-Besson, La naissance, Bd. 2, S. 226 – 229.
88 Ebd.
89 Allgemein zur Verbindung von Schule und Museum Herv Gunot, Muses et lyces
parisiens, 1780 – 1830, in: Dix-huitime sicle 18. 1986, S. 249 – 267; zur ästhetischen
Bildung durch Museen etwa Ingeborg Cleve, Kunst in Paris um 1800. Der Wandel der
Kunstöffentlichkeit und die Popularisierung der Kunst seit der Französischen Revolution, in: Francia 22. 1995, S. 101 – 131; vgl. auch Andrew L. McClellan, The Muse du
Louvre as Revolutionary Metaphor During the Terror, in: The Art Bulletin 70. 1988,
S. 300 – 313, bes. S. 306 – 308.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
497
mit großer Geste verkündet, dass „[w]ir nicht länger Schulen brauchen, denn
unsere einzige Quelle der Belehrung sind Denkmäler, Statuen und Gemälde –
sie sind unsere neuen Akademien“,90 so milderte er diese Behauptung kurze
Zeit darauf in seinem Bericht vom 18. Juli 1795 an das Comit d’instruction
publique insofern ab, als er sich nun lediglich mit dem Appell zufrieden gab,
dass die „französische Republik [einzig] nach öffentlichen Schulen und
Museen“ verlange.91 Aber auch Casimir Varon vom Conservatoire du Musum
hatte genau diesen Aspekt deutlich vor Augen, als er in seinem bereits
erwähnten Bericht an das Comit d’instruction publique ausdrücklich betonte,
dass sich die Mitglieder des Conservatoire unter keinen Umständen mit den
„eintönigen Aufgaben eines bloßen Aufsehers“ zufrieden geben würden,92
zumal gerade wenige Monate zuvor die Rede davon war, beim Ankauf darauf zu
achten, ausschließlich „für die öffentliche Bildung nützliche Objekte“ zu
erwerben.93 Und in diesem Sinne verwies schließlich auch Jacques-Louis David
darauf, dass das Museum unmöglich nur zur bloßen Befriedigung der Neugier
dienen könne, denn es stelle mitnichten eine „beliebige Ansammlung
luxuriöser oder gewöhnlicher Gegenstände“ dar, sondern es sei eine „bedeutende Schule“, in die „der Grundschullehrer seine Eleven, die Väter ihre
Söhne“ zu bringen hätten.94 Die hierbei überall wirksame Logik ist einleuchtend: der Unterweisungscharakter, den die Revolutionäre den Museumssälen
90 Abgedruckt in: Inventaire gnral des richesses d’art de la France. Archives du Muse
des monuments franÅais. Deuxime partie. Documents dposs aux Archives Nationales
et provenant du Muse des Monuments FranÅais, Paris 1886, S. 217 – 219. Dass die im
Museum ausgestellten Kunstwerke nicht lediglich der Erziehung zum Schönen dienten,
sondern als „unabdingbare Zeugen der Geschichte“ angesehen wurden, entnimmt man
auch der Satzung der Commune des arts vom 18. September 1793, der kurzlebigen
Folgeinstitution der am 8. August 1793 mit allen anderen königlichen Akademien
abgeschafften Kunstakademie, abgedruckt in: Procs-verbaux de la commune gnrale
des arts de peinture, sculpture, architecture et gravure (18 juillet 1793 – tridi de la 1re
dcade du 2e mois de l’an II) et de la socit populaire et rpublicaine des arts (3 nivse
an II – 28 floral an III), hg. v. Henry Lapauze, Paris 1903, S. XLII.
91 Der Bericht ist zu finden in: Inventaire gnral des richesses d’art de la France. Archives
du Muse des monuments franÅais. Premire partie. Papiers de M. Albert Lenoir,
membre de l’Institut, et documents tirs des archives de l’administration des beaux-arts,
Paris 1883, S. 22 – 31, Zitat S. 27.
92 Rapport du Conservatoire du Musum national des arts, fait par Varon, Zitat S. 226.
93 Sitzung des Conservatoire vom 15. Februar 1794, in: Cantarel-Besson, La naissance,
Bd. 1, S. 15.
94 Jacques-Louis David, Second Rapport sur la ncessit de la suppression de la
Commission du Musum, fait au nom des Comits d’instruction publique et des
finances, par David, dput du dpartement de Paris, dans la sance du 27 nivse, l’an II
de la Rpublique franÅaise [16. Januar 1794], in: Procs-verbaux du Comit d’instruction publique, Bd. 3, S. 274 – 277, Zitat S. 275. Auch zu finden in: Cantarel-Besson, La
naissance, Bd. 2, S. 215 – 217, Zitat S. 216.
498
Roland Cvetkovski
zuschrieben, machte es möglich, die Utopie im Museum als Wirklichkeit zu
institutionalisieren.
Diese ideologischen Debatten, die das moderne Museum in einen visionären
Zusammenhang einbanden, förderten auch einen formalen Aspekt zutage, der
es als eigenständige kulturelle Struktur beschrieb. Die während der Revolution
entstandene museale Denkfigur war vor allem deswegen bedeutsam, weil sie
geradezu einen epistemischen Wert erhielt, der sie als kulturellen Prozess –
gleichsam als moderne Technologie – festschrieb und dem Museum dadurch
in gewisser Weise zu einem Akteursstatus verhalf. Dabei stand weniger das
Museum als Institution im Vordergrund; vielmehr nahm das ihm innewohnende Funktionselement der Musealisierung eine zentrale Bedeutung ein, weil
es nämlich die revolutionären Überformungs- und Übersetzungsprozesse
eigentlich erst ordnete. Dies offenbarte sich am sichtbarsten in dem Wunsch,
die realisierte Utopie endlos fortdauern zu lassen und sie nicht feindlichen und
zersetzenden Kräften preiszugeben. Die Revolutionäre bemühten sich daher,
die üppige Gegenwart für die Zukunft gleichsam zu einem klassischen Zeitalter
werden zu lassen, indem sie ihr einen musealen Charakter verliehen. Die neue
Welt musste geschützt, bewahrt und dann übergeben werden. So waren sich
auch die Verantwortlichen des Conservatoire du Musum in ihrer Sitzung vom
21. Juni 1794 einig darüber, dass ihre höchste Aufgabe darin bestehe, „durch
Denkmäler, die sich dem französischen Volk als würdig erweisen, die
Ereignisse unserer erhabenen Revolution zu verewigen“.95 Alles, was für die
Zukunft von Wichtigkeit war, erhielt das Siegel des Bewahrungswürdigen – die
revolutionäre Inventarisierung und damit Musealisierung geriet auch von
dieser Seite zu einem Projekt, welches die Utopie nun in den Bereich des
Möglichen und Machbaren verlegt hatte. Nicht zuletzt aus diesem Grund
musste der Louvre zu einem gigantischen und geradezu beunruhigenden
Aufbewahrungsort werden, denn es ging ja in diesem Fall gerade nicht darum,
die Vergangenheit, sondern die Gegenwart zu konservieren und dadurch die
Realisierung der Utopie endgültig auszurufen. Durch das Einfrieren der
Revolution – und das heißt in seiner ideengeschichtlichen Entsprechung:
durch die Geschichtslosigkeit der Utopie – musste die Zukunft unwiderruflich
in der Gegenwart aufgehen.
Die derart am utopischen Denken entwickelte Musealisierungsfigur zog
weitere Kreise. Denn diese Funktion war keinesfalls an ein Museumsgebäude
gebunden, sondern konnte sich von ihm lösen und aus ihm heraustreten.
Darauf verwiesen etwa die überschwänglichen Äußerungen von Bertrand de
Barre de Vieuzac, Abgeordneter im Konvent und Mitglied des Wohlfahrtsausschusses, der in einer Rede vom 2. Juli 1794 dem Nationalkonvent den
95 Sitzungsbericht abgedruckt in: Cantarel-Besson, La naissance, Zitat Bd. 1, S. 61. Zum
Eternitätsaspekt vgl. die theoretisch fundierte Untersuchung von Bernard Deloche,
Museologica. Contradictions et logique du muse, Mcon 19892, bes. S. 21.
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
499
Vorschlag unterbreitete, nun ganz Paris in ein „neuartiges Monument zur
öffentlichen Erziehung“ umzuwandeln. Er drang darauf, aus der Hauptstadt
ein einziges gigantisches Revolutionsmuseum zu machen, eine „Stadt der
Hundert Tore, deren jedes einzelne einen Triumph oder eine revolutionäre
Epoche bezeichnen würde“, so dass „kein Bauer, kein Reisender und kein
Fremder durch Paris gehen könnte, ohne an den Siegesdenkmälern vorbeizuziehen“, und die französischen Bürger erhielten ihre „nationale Unterweisung“ von ebenjenen Steinen, welche die Tyrannei hinterlassen habe.96 Doch
bereits im Februar desselben Jahres hatte Jean-Baptiste Mathieu, Vorsitzender
der Commission temporaires des arts, die Musealisierung sogar als genuin
revolutionäres und zugleich naturwüchsiges Phänomen beschrieben, das sich
nicht einfach in den Dienst Frankreichs stelle, sondern Frankreich selbst
werde. Geradezu berauscht von ihrer Wirksamkeit verkündete er, dass „in
Anbetracht dessen, was die Natur und die Kunst alles in Frankreich
bewerkstelligen können, bald die gesamte Republik in ein außerordentliches
und prächtiges Museum verwandelt wird“.97 Musealisierung fand offenbar
überall statt, und in der neuen Welt war sie unabdingbarer Nexus zwischen
Kultur und Politik.
In dieser dritten Einstellung wird möglicherweise am deutlichsten, um welches
Format es sich gerade beim Musum central des Arts eigentlich handelte – es
war im engsten Sinne des Wortes eine Kunstform, das utopische Qualitäten
besaß. Indem das Museum als Medium zur Herstellung, Anordnung und
Einsetzung von nicht nur historischem Wissen mit Bildern diente, präsentierte
und repräsentierte es das spezifische, neue Verhältnis der drei Zeitachsen
zueinander : Es zeichnete sich dadurch aus, eine Kontinuität in der Veränderung wie auch eine Veränderung in der Kontinuität artikulieren, die Handhabung des Wandels wie auch die Kontrolle des Unterschieds steuern zu
können.98 Zugleich stellte die Musealisierung aber eine anhaltende sowie
aufwühlende Praxis dar, denn sie war aufgrund ihrer scheinbaren Allgegenwärtigkeit mittlerweile selbst ortlos geworden – buchstäblich eine Utopie.
96 Bertrand Barre de Vieuzac, Rapport fait, au nom du Comit de salut public, sur la suite
des vnements du sige d’Ypres et sur les monumens nationaux environnans Paris,
Sance du 13 Messidor l’an II [2. Juli 1794], Zitate S. 1 – 4; vgl. dazu auch Harten, Museen
und Museumsprojekte, S. 28 f.
97 Brief vom 11. Februar 1794 an das Comit d’instruction publique, abgedruckt in
Cantarel-Besson, La naissance, Bd. 2, S. 219.
98 Vgl. dazu Paul J. DiMaggio, Museums, in: Michael Kelly (Hg.), Encyclopedia of
Aesthetics, 4 Bde., Oxford 1998, Bd. 3, S. 302 – 313, bes. S. 302 u. S. 306.
500
Roland Cvetkovski
V. Die Praxis der Musealisierung
Das Museum war während der Revolution vornehmlich als ein Instrument in
Erscheinung getreten, das als eine wirkmächtige und letztlich nachhaltige
Manifestation der politischen Ideologie anzusehen war. Seine Funktionsweise
dagegen, die sich zusammensetzte aus der ausschließlichen Orientierung an
der Gegenwart, dem bewussten Einsetzen ästhetischer Dimensionen sowie
dem Einholen des Utopischen, drang freilich in viel tiefere Schichten vor,
indem sie Phänomene der Fragmentarisierung, Rekombination und Rekontextualisierung als formgebende Prinzipien des Museums bloßlegte und
dadurch kulturelle Wirklichkeit, die ja darin zum Vorschein kommen sollte,
erstmals als etwas Gestaltbares nicht nur darstellte, sondern tatsächlich auch
praktizierte. Anordnungsmuster, Klassifikationen und Kompositionen von
Ausstellungsgegenständen erhielten dabei ein neues Gewicht in der Auslegung
und Darstellung von Realität – Rationalität, Nationalität und gleichzeitig
Universalität gaben in dieser Anfangszeit die ersten musealen Narrative ab. Die
proklamierte neue Welt konnte nun den Anspruch erheben, die Utopien zum
realen Prinzip gemacht zu haben. Durch die Musealisierung konnte das
Museum zu einem kreativen Feld, ja zu einer Struktur werden, die eigene
Handlungslogiken entwickelte und zugleich neue Aussagen über Kultur im
Allgemeinen ermöglichte. Sie war daher nicht so sehr eingelassen in den
revolutionären Diskurs, vielmehr ordnete sie ihn.
Ein bemerkenswert frühes Beispiel hierfür liefert der bereits erwähnte LouisSbastien Mercier. Dieser war nämlich nicht nur einer der ersten ScienceFiction-Autoren, sondern in seinem mehrbändigen Werk über Paris auch ein
unerbittlicher Chronist der Revolution. Dabei kam er unter anderem auch auf
das seltsame Treiben in den Boutiquen des Palais-galit, also des ehemaligen,
nur wenige Meter neben dem Louvre gelegenen und später wieder so
benannten Palais-Royal, sowie auf die Auslagen der Juweliere zu sprechen, die
im merkwürdigen Kontrast stünden zu dem heruntergekommenen, sich daran
vorbeidrängenden Mob. Amüsant wirke diese Kulisse auf ihn, wenn er die
endlosen „Reihen an Uhren, halb mit Perlen, halb mit Diamanten besetzt“
erblicke, vor denen sich der Pöbel aufgestellt hätte und die Kostbarkeiten mit
giererfüllten Blicken verschlänge. Die dünne Glaswand der Auslage indes, die
die Preziosen von ihren langfingrigen Händen trenne, bewirke aber zugleich,
dass ebendieser Pöbel vor dem Schaufenster wie vor einem Kunstwerk „in
Ehrfurcht erstarre“. Geradezu grotesk werde dieses Schauspiel allerdings,
wenn nun noch das Innenleben der Boutiquen ins Bild trete: Die darin
arbeitenden, sich betont distinguiert gebenden Verkäuferinnen, so Mercier,
erweckten in diesem Gemisch aus Lärm und Gestank den unwiderstehlichen
Eindruck des Exotischen, als ob sie gleich „in die Türkei verschifft würden“,
ipabo_66.249.66.96
Zur Poetik des Museums
501
und man schaue sie sich daher „mit dem gleichen Blick an wie ein Gemälde im
Museum“.99 Mit dieser erstaunlichen Parallelisierung eines Museumsbesuches
mit einer städtischen Promenade hatte Mercier wohl in erster Linie im Sinn,
den rasanten Verfall zum Ausdruck zu bringen, in dem sich die Hauptstadt seit
dem Ausbruch der Revolution befand. Zugleich aber greift seine Metapher die
Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem sowie die Sterilität der
ausgestellten Objekte – Kunstwerke – auf, was beides Merkmale sind, die vor
allem im modernen Museum obwalteten, wie es gerade während der Revolution erschaffen worden war.100 Dieser frühe Versuch, kulturelle Phänomene
im Prisma des Museums zu verstehen, zeigt nicht nur an, dass bereits in den
letzten Jahren des 18. Jahrhunderts die museale Figur Wirksamkeit entfaltete,
sondern dass sie sogar in der Lage war, Kultur zu produzieren und zu
bewerten. Die neuartige funktionale Modellierung des Museums, für die hier
in erster Linie die Vereinzelung und die Distanznahme stand, stellte die alte,
noch in den engeren Grenzen des aufgeklärten Ancien Rgime gedachte
Soziabilität sichtlich in Frage, die mit den ehemaligen Kabinetten und
Ausstellungskammern verbunden gewesen war.101 Nun war das Museum zu
einem Topos geworden, der allgemeine Ordnungen scheinbar objektiv
herstellen konnte, indem er sie als eine neue Erzählung entwarf und zugleich
als kulturelle Praxis außerhalb der Museumsgebäude zur Verfügung stellte.
In der Folge ließ im 19. Jahrhundert die rasante Zunahme etwa des Ausstellungswesens zudem deutlich erkennen, wie Kunst-, Agrar- und Industriemessen wie auch die aufkommenden Kaufhäuser sich anschickten, gleichermaßen
museale Embleme zu übernehmen. Auch an diesen Orten wurde nun in
ästhetischen und inszenatorischen Dimensionen gedacht, angeordnet und
ausgestellt. All diesen Veranstaltungen war nämlich gemeinsam, dass sie
nicht lediglich unterweisen und aufklären wollten, sondern Anordnungsprinzipien und dingliche Systematisierungen als letztlich affirmative Aussagen zur Gegenwart präsentierten, die in erster Linie Zukunftsoffenheit und
-gestaltbarkeit nahe legten. Nicht ohne Grund verwischte bereits im 19. Jahrhundert gerade der museale Zugriff auf die Realität mithin die Grenzen
99 Sbastien Mercier, Paris pendant la Rvolution (1789 – 1798) ou Le nouveau Paris
[1798], Paris 1862, Kapitel XCI. Palais-galit, ci-devant Palais-Royal, S. 357 – 380, alle
Zitate S. 362.
100 Auch im Museum wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine ästhetische Distanz
sichtbar, als etwa im Louvre Schranken zwischen den Gemäldewänden und den
Besuchergängen eingezogen worden waren, vgl. dazu Steckner, Museen im Zeichen der
Französischen Revolution, S. 846 f.
101 Vgl. Pascal Griener, Pour une nouvelle histoire des lieux de la musologie. Les Salons de
peinture de Paris et Londres, 1785 – 1787, in: Pierre-Alain Mariaux (Hg.), Les lieux de la
musologie, Bern 2007, S. 139 – 160; Georg Friedrich Koch, Die Kunstausstellung. Ihre
Geschichte von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Berlin 1967, bes.
S. 137 – 171 zu Frankreich im 18. Jahrhundert.
502
Roland Cvetkovski
zwischen Exponat und Ware:102 Hatte bereits der rastlose David nicht nur den
ästhetisch-moralischen, sondern auch den kommerziellen Einfluss der schönen Künste hervorgehoben,103 so wurde das Zusammenführen eben dieser
beiden Ebenen in den arts utiles, also im Kunstgewerbe, noch vor der
Jahrhundertwende sichtbar. Dies zumindest ließ sich der Äußerung des
Innenministers Nicolas Louis FranÅois de Neufchteau entnehmen, der
anlässlich der ersten Industrieausstellung 1798 in Paris den hier präsentierten
Waren das Zeugnis ausstellte, nunmehr selbst Kunstwerke geworden zu sein
und im Kleinen als ästhetische „Träger des Glücksversprechens“ zu gelten.104
Die Frage, was denn nun ein Museum genau sei, wird sich nach wie vor nicht
eindeutig beantworten lassen. Wie selbst die unterschiedlichen Geschichten
der Museen schon zeigen, scheint ihm aber dieses Schillernde für seine
allgemeine kulturelle Bedeutung in modernen Gesellschaften offensichtlich
nicht abträglich gewesen zu sein. Der Blick auf seine Grundfunktionen, wie sie
im revolutionären Frankreich im Zuge der Erschaffung und Installierung der
neuen Welt erstmals definiert wurden, zeigt aber, dass das Museum kein
Untersuchungsgegenstand sui generis ist. Freilich, verstanden als Kulturinstitution besitzt es zweifellos eine wechselhafte und eng an die Herrschaft
beziehungsweise an disziplinarische Räume gebundene Geschichte. Berücksichtigt man jedoch zusätzlich seine Funktionsweise, seine Musealisierungstechnik, über die es verfügt, so wird deutlich, dass daraus eine neue Geschichte
ersteht, die den aktiven Charakter des Museums gewissermaßen als eigenständige Gegenkraft enthüllt und die es zugleich von einer Kulturinstitution in
einen Kulturmodus umwandelt. Aus dieser Perspektive erhält das Museum –
auch historisch – plötzlich wieder seine innovative und zugleich beunruhigende Kraft zurück: als eine dem Neuen unbedingt zugewandte Praxis.
Dr. Roland Cvetkovski, Historisches Institut, Abteilung für Osteuropäische
Geschichte, Kringsweg 6, D-50931 Köln
E-Mail: [email protected]
102 Chantal Georgel, The Museum as Metaphor in Nineteenth-Century France, in: Daniel J.
Sherman u. Irit Rogoff (Hg.), Museum Culture. Histories, Discourses, Spectacles,
London 1994, S. 113 – 122; Roland Cvetkovski, Modalitäten des Ausstellens. Musealisierungskultur in Frankreich, 1830 – 1860, in: Historische Anthropologie 18. 2010,
S. 247 – 274, bes. S. 266 – 272; Volker Barth, Mensch versus Welt. Die Pariser Weltausstellung von 1867, Darmstadt 2007; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte
Warenwelt um 1900, Wien 2009.
103 David ausführlich dazu in A.N. F17 1.039 A, dossier 1, Dokument undatiert, höchstwahrscheinlich Ende 1792 oder Anfang 1793.
104 Ingeborg Cleve, Der Louvre als Tempel des Geschmacks. Französische Museumspolitik
um 1800 zwischen kultureller und ökonomischer Hegemonie, in: Fliedl, Die Erfindung
des Museums, S. 26 – 64, Zitat S. 37. Ausführlich dies., Geschmack, Kunst und Konsum.
Kulturpolitik als Wirtschaftspolitik in Frankreich und Württemberg, 1805 – 1845,
Göttingen 1996.
ipabo_66.249.66.96
“The Oberkreisdirektor Decides Who Is a German”
Jewish Immigration, German Bureaucracy, and the
Negotiation of National Belonging, 1953 – 1990
von Jannis Panagiotidis*
Abstract: The article deals with the nexus between Jewish immigration to the Federal
Republic of Germany and legal definitions of German ethnicity (Volkszugehörigkeit).
It claims that the recognition of Jewish immigrants as Germans was continuously
negotiated between different bureaucratic and societal actors struggling over the
power to define who is a German. Examining the production of national belonging in
practice, it breaks open the “black box” of the often alleged “ethnocultural” and
“descent-based” German perception of nationhood. The fluid boundary between
“German” and “Jewish” immigrants was only fixed in 1991 with the creation of the
separate category of “Jewish quota refugee.”
In November 1978, the German center-left daily Frankfurter Rundschau
published an article by a young Jewish-German journalist, Henryk M. Broder :
“Wer Deutscher ist, bestimmt der Oberkreisdirektor” – “The Oberkreisdirektor
decides who is a German.”1 A play on a famous quote by Karl Lueger, the antiSemitic mayor of fin-de-sicle Vienna: “Wer Jude ist, bestimme ich” – “I decide
who is a Jew,” the title of Broder’s article was meant to bring into focus the fact
that the ascription of ethno-national identity in the late 1970s was in the hand
of petty bureaucrats, such as Oberkreisdirektoren. They had the power to
define who was a German and who was not.
* Research for this article has been enabled by the German Academic Exchange Service
(DAAD) and the ZEIT Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. For their comments on
previous versions of this paper the author would like to express his gratitude to Philipp
Ther (Vienna), the participants in the Thesis Writing Seminar at the European
University Institute in the Autumn Term of 2009, in the workshop “Migration, Mobility
and Movement in Modern German History” at Cambridge University in March 2011,
and in the History of East Central Europe Kroužek at the University of California,
Berkeley in September 2011. Special thanks go to Jan Plamper (Berlin) and Iris Nachum
(Tel Aviv) for their comments, suggestions and review of the manuscript.
1 Henryk M. Broder, Wer Deutscher ist, bestimmt der Oberkreisdirektor. Der beschwerliche Weg des Juden und Tierarztes Dr. Henric Feinkuchen durch die Instanzen von
Nordhorn, in: Frankfurter Rundschau, 23. 12. 1978, quoted from: Archiv für ChristlichDemokratische Politik, Pressedokumentation, Sign. 23/2. All newspaper articles quoted
hereafter are taken from this collection, unless otherwise noted.
Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 503 – 533
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012
ISSN 0340-613X
504
Jannis Panagiotidis
The case reported by Broder was sensational in that the object of the
Oberkreisdirektor’s definition was a Jew, a veterinarian from Romania by the
name of Dr. Henric Feinkuchen. Feinkuchen had settled in the Federal
Republic of Germany in June 1973, after emigrating from Romania to Israel in
November 1970. He immediately tried to obtain a so called expellee card
(Vertriebenenausweis) for himself and his family, which would entitle them to
certain welfare benefits and would qualify them for immediate access to
German citizenship. For this purpose, however, German law stipulated that he
had to prove his German Volkszugehörigkeit, a term that literally means
“belonging to the German people” but is usually translated as “German
ethnicity.”2 In attempting to do so, he got caught up in the intricate
mechanisms of German bureaucracy, so that at the time when Broder reported
about Feinkuchen’s case, half a decade later, the case was still pending at court.
We do not know how the Feinkuchen case, which caused a fair bit of public
controversy at the time, was resolved.3 What we do know is that it was not an
isolated incident. Jewish applicants were not only denied expellee cards, but
the authorities in some Länder also tried to strip Jewish immigrants of the
cards they had obtained in the past, claiming that they had been issued on false
premises. This even included large-scale police investigations.
As I will show in this article, both the police investigations and the public
controversy surrounding the Feinkuchen case were just an extreme form of the
contestation that had been going on since the late 1950s – to be sure, a lot more
discreetly and without the involvement of the public or the police. Since the
late 1950s German bureaucrats had to decide on Jewish applications for
expellee cards and hence determine the German Volkszugehörigkeit of Jews.
The applicants originated from Eastern Europe and had migrated to the
Federal Republic of Germany, often via Israel. In the absence of a regularized
immigration regime, these immigrants had two options in order to obtain a
permanent residence status: seeking asylum (which was likely to be unsuccessful for Israeli citizens), or seeking recognition as a German expellee
(Vertriebener), which was a possibility offered to people arriving from Eastern
Europe after the general expulsion had ended (so-called Aussiedler).4 The
2 This is the usage adopted for example in Christian Joppke, Selecting by Origin. Ethnic
Migration in the Liberal State, Cambridge, MA 2005, pp. 157 – 218, which is thus far the
most comprehensive study of ethnic selectivity in German (and Israeli) immigration
policy. In this article I will use the original German term Volkszugehörigkeit when
referring to the legal concept, and Volkszugehöriger when talking of the legal status as
“ethnic German”.
3 This controversy, in which Broder played a prominent role, is documented in Unsere
Stimme 1978, issue 12 and 1979, issues 1 – 8.
4 Germany Refuses Asylum to Israel Emigrs, in: Jerusalem Post, 19. 1. 1961; “Israel. A
Liberal State” (Hebrew), in: Maariv, 20. 1. 1961, both taken from Central Zionist Archives
(hereafter CZA), S71/3135. However, in 1973 a German court did grant asylum to a
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
505
second option was the most advantageous, for it promised immediate German
citizenship as well as substantial integration and retirement benefits. In order
to achieve the status of “expellee” one had to apply for an “expellee card.” The
awarding of this card mainly hinged on one condition: the German Volkszugehörigkeit of the applicant which was determined by German bureaucrats.
Since the legal definition of German Volkszugehörigkeit remained unchanged
until 1992, I argue that the essential struggle was about the application of this
definition in practice within the given institutional framework. The recognition of Jews as “ethnic Germans” (deutsche Volkszugehörige) was not
precluded a priori by the law. Yet it was an exception that had to be negotiated
and justified every time anew, a fact proven by the relatively large number of
such cases that went to court.5 The drawing of the line between “Germans” and
“Jews” crucially depended on who got to provide the necessary knowledge to
the deciding institutions, which made their decisions based on the advice of
different and competing expert bodies. The question “Who is a German?” was
thus replaced by the important preceding question: “Who gets to define who is
a German?”
Addressing the latter in the Jewish case offers an excellent opportunity to crack
open the “black box” of the often alleged “ethnocultural” and “descent-based”
German conception of nationhood, which supposedly found its expression in
the reception of ethnic Germans as immigrants. In what follows, I will take a
closer look at the contestation inside this “black box” – between different
narratives and conceptions of what “belonging to the German people” was
supposed to mean. I will examine how the Volkszugehörigkeit of Jewish
applicants was negotiated, interpreted and thereby effectively produced in a
continuous dialogue between the various state and semi-state institutions in
charge of the recognition process on the one side, and societal actors like
lawyers and immigrant interest groups on the other side.
I will first provide a brief overview of Jewish post-war immigration to
Germany, situating it in the larger context of Aussiedler migration from Eastern
“quarter Jew” from Poland who convinced the judges that he had been unable to
integrate in Israel because there he was considered a non-Jew (Verwaltungsgericht
billigte “Vierteljuden” Asylrecht zu, DPA, 21. 8. 1973).
5 Some of these rulings concerning Jewish applicants were deemed important enough to
be published in the official collection “Entscheidungen des Bundesverwaltungsgericht”
(BVerwGE), such as the decisions BVerwG VIII C 30.64, 26. 4. 1967 (BVerwGE 26, 344),
BVerwG VIII C 66.66, 26. 4. 1967 (BVerwGE 26, 352), BVerwG III C 121.67, 24. 10. 1968
(BVerwGE 30, 305), BVerwG III C 161.69, 23. 11. 1972 (BVerwGE 41, 189), BVerwG III C
42.73, 23. 1. 1975 (BVerwGE 47, 304), BverwG 3 C 19.80, 11. 11. 1980 (BVerwGE 61, 230),
BVerwG VIII C 62.81, 27. 9. 1982 (BVerwGE 66, 168). A ruling by the Federal
Constitutional Court of 16. 12. 1981 in the field of expellee law also concerned mainly
Romanian Jewish applicants (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 59. 1982,
pp. 128 – 172).
506
Jannis Panagiotidis
Europe. Then I will introduce the definition of Volkszugehörigkeit in the
Federal Expellee Law, the institutions of the “expellee bureaucracy” in charge
of implementing the law, as well as the semi-official bodies of institutionalized
knowledge that assisted them. As will become clear, the associations of German
expellees, the Landsmannschaften, played an important role in these expert
bodies. In the third section I will introduce the Association of Jewish Expellees
and Refugees (Verband der Jüdischen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge). It
was founded in 1962 to represent the interests of the East European Jewish
immigrants, trying to provide alternative expertise to the deciding institutions. In the fourth section, I will delve into cases that illustrate how the
negotiation of the German Volkszugehörigkeit of Jewish immigrants played out
in practice. I will then deal with the attempted systematization of the
recognition procedure through the introduction in 1980 of guidelines
concerning Volkszugehörigkeit which were created in a favorable spirit
towards Jewish applicants and in collaboration with Jewish representatives.
The sixth section analyzes the breakdown of this liberal approach in 1987,
when the Soviet nationality nomenclature was discovered by the authorities
and the Landsmannschaft narrative became the only valid interpretation of
Soviet German history for them. As we shall see, roughly three decades of
drawing and redrawing the boundaries between “German” and “Jewish”
immigrants ended in a neat separation into distinct groups – an outcome that
had been anything but clear at the outset.
I. Aussiedler Migration and Jewish Immigration to post-war
Germany
“Jewish” and “German” immigrations to Germany had different historical but
common geographic origins, and their historical trajectories merged in the
post-war decades before they parted again in the 1990s.6 The so-called
Aussiedlung (literally “out-settling”) of German citizens and ethnic Germans
from socialist Eastern Europe started in the early 1950s as the aftermath of the
preceding expulsions from Poland, Czechoslovakia and Hungary as well as
Yugoslavia towards and after the end of the Second World War. The initial
intention was to re-unite families that had been separated in the course of the
violent and unregulated expulsions. The first major operation for family
reunifications was appropriately called “Operation Link” and took place in
6 I have sketched this relational history in Jannis Panagiotidis, Deutsche und jüdische
Zuwanderer in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Beziehungsgeschichte, in:
Dmitrij Belkin and Raphael Gross (eds.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische
Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010, pp. 79 – 81.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
507
1950/51.7 In the following years, the resettlement of Germans from the East was
based on the 1952 International Red Cross conference resolution, which
obliged all participant states in the Geneva Convention to reunite families that
had been divided by the events of the War.8 Over time this limited family
reunification program developed into an established migration channel from
Eastern to Western Europe. Until the beginning of mass emigration from the
Soviet Union during Perestroika in 1987, some 1.4 million Aussiedler came to
West Germany through this channel, most of them from Poland and Romania.
Since then, approximately another 3 million migrants followed, most of them
from the Soviet Union and, after its breakup in 1991, the successor states.9
By contrast, Jewish post-war immigration to Germany had its origins in the
persecution, expulsion, and displacement of Jews by the Nazis. Contrary to the
persistent myth of Germany as “terra prohibita” for Jews after the Holocaust
and before Russian-Jewish mass immigration in the 1990s, there was
continuous Jewish immigration to the Federal Republic in the post-war
decades.10 This migration was often triangular and involved the migrants’
Eastern European countries of origin (provided these were not German Jews
7 Deutsches Rotes Kreuz, Generalsekretariat, 60 Jahre Suchdienst, Berlin 2005, p. 4,
https://www.drk-wb.de/wissensboerse/download-na.php?dokid=6356.
8 Dr. Curt Porella, Referat über die polnische Minderheitenpolitik und den innerpolitischen Umbruch in Polen, gehalten vor dem Abgeordneten des Bundestages am
12. 10. 1956 im Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, in: Bundestagsarchiv,
Ausschuss für Heimatvertriebene, 2nd period, 31st session, 12. 10. 1956.
9 For historical overviews of Aussiedler migration see Rainer Münz and Rainer Ohliger,
Long Distance Citizens. Ethnic Germans and Their Immigration to Germany, in: Peter
H. Schuck and Rainer Münz (eds.), Paths to Inclusion. The Integration of Migrants in the
United States and Germany, Providence 1998, pp. 155 – 210; Klaus J. Bade and Jochen
Oltmer, Aussiedlerzuwanderung und Aussiedlerintegration. Historische Entwicklung
und aktuelle Probleme, in: id. (eds.), Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa
(=IMIS-Schriften, 8), Osnabrück 1999, pp. 9 – 51.
10 In fact, the rate of Jewish immigration to the country was consistently above the
respective emigration rate during these years; see Barbara Dietz et al., The Jewish
Emigration from the Former Soviet Union to Germany, in: International Migration 40.
2002, pp. 29 – 48, esp. p. 41. That West Germany has been one of the main European
destinations for Jewish migrants during the post-war decades has been noted by Karin
Weiss, Between Integration and Exclusion. Jewish Immigrants from the Former Soviet
Union in Germany, in: Mike Dennis and Eva Kolinsky (eds.), United and Divided.
Germany since 1990, New York 2004, pp. 176 – 194, esp. p. 183. In contrast, the notion of
Germany being an “impossible” country for Jews to live in is perpetuated even in the
titles of recent studies that document amply and vividly the very Jewish-German postwar life that was not supposed to exist. See Anthony D. Kauders, Unmögliche Heimat.
Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, Munich 2007, and Olivier Guez,
L’Impossible Retour. Une Histoire des Juifs en Allemagne depuis 1945, Paris 2007
(German edition: Heimkehr der Unerwünschten, Munich 2011).
508
Jannis Panagiotidis
re-migrating to their homes), the State of Israel as the proclaimed new home of
all the Jews after the War and usually the only place that the socialist states of
Eastern Europe would allow Jews to emigrate to, and the Federal Republic of
Germany.
The small West German Jewish communities of stranded Displaced Persons
(DPs), people who had survived the Holocaust and the War inside Germany,
and returning migrs which developed after the War were reinforced by
several waves of immigration in the following years and decades. The first such
immigration wave lasted from 1954 to 1960 and comprised 12,000 to 15,000
people, most of them returnees from Israel.11 But by that time Eastern
European Jews, too, had started using Israel as a “transit country” for other
destinations.12 Among these destinations West Germany was considered so
popular that in 1958 the Israeli newspaper Maariv called it one of the “classic”
destinations of Israeli migrants, many of whom had just recently arrived.13
These returnees and newcomers were followed by a second immigration wave
from Eastern Europe and Israel from roughly 1964 until 1967. Most of these
immigrants originated from Romania (mainly Transylvania and the Bukovina)
and different parts of Poland.14 In the wake of the events of 1968, Jews from
11 Kauders, Unmögliche Heimat, p. 56. This is a high-end estimate: Guez, Heimkehr der
Unerwünschten, p. 96, mentions 9,000 returnees during the 1950s. A contemporary
report in Der Spiegel, 31. 7. 1963, p. 28, spoke of only 7,000 return migrants for the years
1952 – 1960. The time period 1954 – 1960 was suggested by the secretary general of the
Central Council of Jews in Germany, Hendrik George van Dam, in an interview entitled
“Rückwanderung nach Deutschland nicht zu empfehlen”, ibid., p. 29.
12 In the Year of Israel’s Tenth Anniversary – 10,000 Emigrs (Hebrew), in: Maariv,
17. 10. 1958 (CZA S71/3135).
13 Ibid.
14 I have no systematic data regarding the exact dimensions of this immigration wave. A
1970 report spoke of 3,000 recent immigrants from countries of the Eastern bloc,
Hedwig Biermann, Juden in Deutschland. Beobachtungen zu einem aktuellen Thema,
in: Publik, 27. 2. 1970, p. 3. The time period 1964 – 1967 was suggested by the head of the
Central Council, Hendrik G. van Dam, quoted in Lothar Labusch, Das deutsche
Verhältnis zu den Juden ist ein Testfall, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 20. 9. 1968, p. 3. It is
corroborated by the data I found in a list of 227 Jews living in the city of Mannheim in
1970 who had applied for an expellee card, Haupstaatsarchiv (hereafter HStA) Stuttgart
EA 12/201, AZ 2552, Nr. 14. Of those 227, 151 had come to Germany between 1964 and
1967. From the same list I have extrapolated the geographic origins of these immigrants:
163 of 227 or roughly 72 per cent of the Jews registered there came from Romania,
mainly from the city and the region of Oradea in Transylvania, and from Bukovina.
Another 28 of them had been born in Poland (including pre-war Galicia), and 16 had
been born in Hungary. The ratio between the countries of origin might have been
different in other cities.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
509
Czechoslovakia also sought refuge in West Germany.15 From the 1970s
onwards, the bulk of Jewish immigration came from the Soviet Union (at the
time mainly from the Baltics and Northern Bukovina), which was also going to
be the source of the great Jewish immigration in the 1990s.16
While it is difficult to come up with precise numbers for each of these later
migration waves, it is safe to say that none of them exceeded a few thousand
souls. For the whole period between 1955 and 1985 the number of 40,000
Jewish immigrants to West Germany can be found in the literature.17 This
number was just high enough to compensate for the birth rate below
replacement level and high death rates in the community and thus keep the
number of Jews in Germany constantly between 25,000 and 28,000 from the
mid-1960s to the onset of the (post-)Soviet exodus in 1990.18 But at any rate, the
significance of this immigration did not lie in its limited numerical impact, but
rather in the stir that it caused in German bureaucracy.
II. Expellee Law and Expellee Bureaucracy
“Jewish” and “German” migration trajectories to West Germany literally
converged once the immigrants had entered the country and turned to the
same offices in order to apply for an expellee card that would secure their
status and entitle them to social benefits. Before going into the administrative
details of this “expellee bureaucracy,” it is instructive to take a look at the legal
foundation for the work of these institutions: the Federal Expellee Law
(Bundesvertriebenengesetz, BVFG) of 1953.19 This law defined not only the
benefits a recognized German expellee was entitled to receive, but also the
criteria by which such a person could be identified. Precisely these criteria
created major difficulties for the Jewish applicants.
15 According to Kauders, Unmögliche Heimat, p. 59, some 900 Jews from the CSSR fled to
West Germany between August 1968 and February 1969.
16 Again, exact numbers are hard to come by. The chairman of the Jewish community of
Berlin, Heinz Galinski stated that 2,500 Soviet Jews had made Berlin their home between
1974 and 1980, which he claimed were 73 per cent of all Jewish immigrants to West
Germany, Heinz Galinski erwägt Rücktritt, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 10. 1980. This is
at least mathematically consistent with other newspaper reports claiming that some
1,000 Soviet Jews had settled in the city of Offenbach between early 1975 and August
1976, Georg Bönisch, Für 2000 Dollar eine Zuflucht am Main, in: Bonner Rundschau,
12. 8. 1976. For the 1980s the sources at my disposal do not provide any significant
numbers.
17 Weiss, Between Integration and Exclusion, p. 183.
18 Dietz et al., Jewish Emigration, pp. 38 – 41.
19 Bundesgesetzblatt I, p. 201, 22. 5. 1953.
510
Jannis Panagiotidis
1. The Legal Definition of German Volkszugehörigkeit
In order to receive an expellee card, an applicant had to fulfill the criteria for
German Volkszugehörigkeit formulated in Section 6 of the BVFG. According to
these, a German Volkszugehöriger was someone who had identified himself as
belonging to the German Volkstum (wer sich in seiner Heimat zum deutschen
Volkstum bekannt hat) in his country of origin, provided that this selfidentification (Bekenntnis) was based on certain characteristics like descent,
language, upbringing, culture (sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte
Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird).20 This
definition was not new at the time: it was taken almost verbatim from a March
1939 circular of the Nazi Ministry of the Interior. What had been omitted was
the second part of the Nazi definition: “Persons of foreign blood (artfremden
Blutes), especially Jews, are never such Volkszugehörige, even if they have so far
referred to themselves as such.”21 As both contemporary legal commentaries to
the Expellee Law and repeated court rulings explicitly stated, the current
definition was open to include Jews as well, since “race” and “blood” had
become non-categories and since religious affiliation was deemed volkstumsneutral, which meant that it neither excluded nor precluded belonging to a
certain Volkstum.
As we see from this definition, the primary criterion for the recognition as
belonging to the German Volkstum was the Bekenntnis, which was defined by
the Federal Administrative Court (Bundesverwaltungsgericht) as follows:
A person has made a Bekenntnis to his Volkstum according to section 6 BVFG if he has, by
means of his behavior, stated authoritatively and perceivably for a third party his
consciousness and his willingness to belong to a particular Volkstum and to no other.22
The Bekenntnis to the German Volkstum in particular had to be “made with the
aim to be considered German in the homeland [meaning the country of origin,
J. P.] and to be treated as such.”23 Thus there were two prerequisites for the
Bekenntnis: it had to be public, and it had to be unequivocal.24 Furthermore it
had to have been made in the country of origin and right before the onset of
20 Ibid.
21 Ministerialblatt des Reichsministers des Innern (1939), p. 783.
22 “Im Sinne von § 6 BVFG zu seinem Volkstum ‘bekannt’ hat sich derjenige, der durch sein
Verhalten das Bewusstsein und den Willen, einem bestimmten Volkstum und keinem
anderen anzugehören, für Dritte wahrnehmbar verbindlich kundgetan hat.” BVerwG
VIII C 30.64, 26. 4. 1967 (BVerwGE 26, 344).
23 Ibid.
24 The condition that the Bekenntnis be unequivocal was also formulated in the
authoritative commentaries to the Federal Expellee Law. See for example Walter
Straßmann et al., Bundesvertriebenengesetz. Gesetz über die Angelegenheiten der
Vertriebenen und Flüchtlinge. Kommentar mit Kennziffernverzeichnis und Sachregister, Munich 19582, p. 37.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
511
what was termed the “general expulsion measures” (allgemeine Vertreibungsmaßnahmen), that is before 1944/45.25 For Jewish applicants this deadline was
moved back to 1933, as it was considered unreasonable to expect them to have
identified with the German Volkstum after the Nazis had come to power.26
This overriding importance of public self-identification in the legal definition
of a German confounds the stereotypical idea that the German conception of
nationhood was “ethnocultural,” i. e. based on “descent” and “culture.”27 The
decisive criterion for admission into the German nationhood was neither
“descent” nor the mere partaking in the German language and culture, but
public subjective identification. Both “descent” and “culture” were merely
auxiliary criteria. Ironically, then, the definition of German Volkszugehörigkeit
according to this law was very close to an ideal-type “Renanian” definition of
nation as a “daily plebiscite” rather than to the notion of a “community of
descent.”28
An additional irony is that it was precisely the overriding importance of the
“plebiscitary” dimension of national belonging that made it more difficult for
Jewish applicants to be recognized as Germans. Based on a purely cultural
definition most of them would not have had a problem to gain recognition, as
they could easily prove their belonging to the “German linguistic and cultural
sphere” (deutscher Sprach- und Kulturkreis). Yet this type of belonging was not
identical with German Volkszugehörigkeit in the legal sense, which, as
commentators on the law pointed out time and again, was also not to be
25 BVerwG VIII C 118.65, 14. 3. 1968, in: HStA Stuttgart, EA 12/201, AZ 2552, Nr. 15.
26 This principle was affirmed as a summary of existing jurisdiction in BVerwG III C 42.73,
23. 1. 1975, (BVerwGE 47, 304).
27 This argument became an item of faith among citizenship and nationalism scholars in
the wake of the publication of Rogers Brubaker, Citizenship and Nationhood in France
and Germany, Cambridge, MA 1992. For a typical articulation of this idea consider, for
instance, Daniel Levy : “ethnic Germans from central and Eastern Europe […] have
enjoyed privileged access to citizenship on the grounds of Germany’s descent-based
laws. […] Ethnic Germans exemplify the notion of the ethno-cultural nation, an idea of
nationhood not bound by the territorial limits of the state but expressed by shared
language and culture (Kulturnation) and the principle of descent (Ethnonation).” Daniel
Levy, The Transformation of Germany’s Ethno-Cultural Idiom. The Case of Ethnic
German Immigrants, in: id. and Yfaat Weiss (eds.), Challenging Ethnic Citizenship.
German and Israeli Perspectives on Immigration, New York 2002, pp. 221 – 235, esp.
pp. 221 f. The most recent example is Douglas B. Klusmeyer and Demetrios G.
Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany. Negotiating
Membership and Remaking the Nation, New York 2009, p. 274, who call the
“ethnocultural lense” in the negotiation of difference a specifically German phenomenon.
28 The reference is to Ernest Renan, What is a Nation?, in: Geoff Eley and Ronald Grigor
Suny (eds.), Becoming National: A Reader, New York 1996, pp. 41 – 55.
512
Jannis Panagiotidis
confused with the ethnological notion of Germanness.29 Belonging to the
German Sprach- und Kulturkreis was sufficient for recognition according to
the Federal Restitution Law (Bundesentschädigungsgesetz, BEG), but not for
the purposes of the BVFG with its requirement of an explicit Bekenntnis.30
According to a ruling of West Germany’s highest administrative court, a
Bekenntnis could have been membership in an “association that pursued
volkstum-political aims or engaged at least in cultural politics with a Volkstumtendency.”31 On the other hand, mere membership in an apolitical association
like a chess club that only admitted Germans was not relevant for the
assessment of the German Bekenntnis, since “the game of chess is a hobby and
has no relation to Volkstum.”32 Not surprisingly, few Eastern European Jews
could boast membership in a German Volkstum-association, even before 1933,
which effectively decreased their chances of gaining recognition as German
Volkszugehörige.33
The identification as German in a national census could also count as an
explicit Bekenntnis.34 Yet this too was problematic for Jews from Eastern
Europe, where separate Jewish national minorities had been recognized in
most states and where “Jewish” was an official census category.35 The
significance of the registration as “Jewish” by the authorities of the state of
origin was a recurrent theme in the administrative recognition practice. At the
heart of the issue was the extent to which the categories used to define groups
of the population in different East European countries – such as natsional’nost’
in the Soviet Union or origina etnica in Romania – could be identified with the
German notion of Volkszugehörigkeit. Another question was to what extent
there could be a distinction between being of Jewish religion (“of the Mosaic
faith” as it was called in German administrative parlance) and of Jewish
nationality – a question that during the same period caused acrimonious
public debates in the State of Israel.36
29 Michael Silagi, Vertreibung und Staatsangehörigkeit, Bonn 1999, p. 129.
30 About this fascinating parallel case of ethnic recognition according to German law see
Jos Brunner and Iris Nachum, Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Wie und warum
israelische Antragsteller ihre Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis
beweisen mussten, in: Norbert Frei et al. (eds.), Die Praxis der Wiedergutmachung.
Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009,
pp. 387 – 424.
31 BVerwG VIII C 173.72, 14. 11. 1973, in: HStA Stuttgart EA 12/201, AZ 2555, Nr. 181.
32 Ibid.
33 Joppke, Selecting by Origin, p. 185.
34 According to the above quoted ruling of 26. 4. 1967 (BVerwGE 26, 344), it should even be
the main way of assessing a Bekenntnis.
35 Joppke, Selecting by Origin, p. 185.
36 The most prominent, if reversed, such case was that of Brother Daniel (Oswald
Rufeisen), a Jewish-born Catholic monk who despite his non-Jewish faith sought
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
513
2. The Institutions of Expellee Bureaucracy
The eligibility of applicants for an expellee card was assessed by a specialized
expellee bureaucracy, which had developed after the Second World War in
order to administer the masses of German expellees and refugees from Eastern
Europe. These so-called refugee administrations (Flüchtlingsverwaltungen)
operated semi-autonomously on the local and regional levels.37 The main body
coordinating their activities was the so-called Arbeitsgemeinschaft der Landesflüchtlingsverwaltungen (Argeflü), which played an increasingly important
role from the 1970s onwards (see chapter VI below). Within the Länder, the
refugee administrations were overseen by different ministries, such as the
Ministry for Social Affairs in Hesse or the Labor Ministry in North RhineWestphalia. By contrast, the Federal Ministry for Expellees, which in 1969
became part of the Federal Interior Ministry, did not have any direct control
over the refugee administration bodies.38
The original task of the refugee administration bodies was to implement the
integration of the actual expellees into society. Yet over time they also came to
play an important role in the process of Aussiedler migration. The attribution
of expellee cards to those applicants who fulfilled the legal criteria became one
of their key functions. This way, the ethnic recognition process was
institutionalized and a body of institutional knowledge about the identification of co-ethnics was created. Important knowledge for the assessment of an
applicant’s Volkszugehörigkeit came from two semi-official institutions: the
Heimatortskarteien (HOK), and the Heimatauskunftstellen (HASt). The HOK
were extensive card registers of the German refugee population maintained by
the charity organizations of the Catholic and Protestant churches, the Caritas
and the Diakonie. These records could help the refugee administration to
determine wether an Aussiedler was an ethnic German or descended from
recognition as a Jew in the State of Israel. With a 4:1 majority, the judges of the Supreme
Court of Israel decided that it was not possible to be of Jewish nationality while being of
non-Jewish faith, thus fully identifying the categories of nationality (leom in Hebrew)
and religion (dat) in the Jewish case. See State of Israel, the Supreme Court, Judgment:
High Court Application of Oswald Rufeisen v. The Minister of the Interior, Jerusalem
1963. See also the discussion of the case in Joppke, Selecting by Origin, p. 177, and
Nechama Tec, In the Lion’s Den. The Life of Oswald Rufeisen, New York 1990,
pp. 222 – 231.
37 Refugee in this case does not refer to refugees in the sense of the Geneva Convention on
Refugees of 1951, but to the German refugees (Flüchtlinge, interchangeably also called
expellees or Vertriebene) from Eastern Europe after the Second World War.
38 Rolf Messerschmidt, Die Flüchtlingsfrage als Verwaltungsproblem im Nachkriegsdeutschland. Das Phänomen der klientenorientierten Flüchtlingssonderverwaltung in
Ost und West, in: Dierk Hoffmann et al. (eds.), Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, Munich 2000, pp. 167 – 186, esp.
p. 168.
514
Jannis Panagiotidis
ethnic Germans.39 The more prominent role in this story of Jewish immigration to Germany was played by the HASt, however. They were initially created
for the implementation of the Equalization of Burdens Act (Lastenausgleichsgesetz, LAG). Their task was to assess the economic damage that expellees had
suffered.40 For their work, these institutions relied on networks of people with
intimate knowledge of the expellees’ regions of origin, especially former
officials. Expellee organizations (Landsmannschaften) cooperated with the
HASt by providing them with names and addresses of such experts, as well as
administrative personnel.41 Going beyond their original task, it became an
increasingly important part of the work of the HASt to provide expertise on the
question of the Volkszugehörigkeit of potential Aussiedler. Over time the HASt
and, indirectly, the expellee associations became important gatekeepers of the
German expellee law which provided a gateway into the German nation and
welfare-state.
III. “A Hupka and Czaja for Jews.” The Association of Jewish
Expellees and Refugees
In May 1962, a group of Jews from Eastern Europe living in Frankfurt am Main
founded the Association of Jewish Expellees and Refugees (Verband der
jüdischen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, henceforth called the Flüchtlingsverband).42 The use of the term Heimatvertriebene is striking in this
context. It was usually identified with Germans who had been expelled from
Eastern Europe after 1945 and was ideologically highly charged, as it
highlighted what was perceived to be the unjust loss of the homeland
(Heimat) in the East. In this it was the epitome of a German post-war discourse
of victimhood that ignored German crimes and stressed specifically the
39 Kirchlicher Suchdienst (ed.), HOK – 50 Jahre Kirchlicher Suchdienst. Die Heimatortskarteien der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, Munich 1996, p. 24 and p. 26. See also
Kirchlicher Suchdienst, Heimatortskarteien der Kirchlichen Wohlfahrtsverbände.
Expos zu den Aufgaben der Heimatortskarteien in Vergangenheit und Zukunft
(1958), in: Bundesarchiv (hereafter BArch) Koblenz B136/9437.
40 Heinrich Rogge, Eingliederung und Vertreibung im Spiegel des Rechts, in: Eugen
Lemberg et al. (eds.), Die Vertriebenen in Westdeutschland, vol. 1, Kiel 1959,
pp. 174 – 245, esp. p. 217.
41 25 Jahre Heimatauskunftstellen in Schleswig-Holstein, Kiel 1978, p. 55; 20 Jahre
Heimatauskunftstellen in Baden-Württemberg, Stuttgart [1973], p. 34.
42 Verband jüdischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge in der Bundesrepublik, Protokoll der Gründungs-Generalversammlung, 3. 5. 1962, in: Zentralarchiv zur Erforschung
der Geschichte der Juden in Deutschland (hereafter Zentralarchiv) B.1/17, Nr. 16.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
515
German suffering.43 This makes the use of the term by an explicitly Jewish
association all the more noteworthy. However, it does not seem to have raised
an eyebrow at the time. The Flüchtlingsverband arguably sought the terminological proximity because the expellees, unlike the Jewish victims of German
crimes, were by then already benefitting from German state money allocated
by welfare laws like the BVFG and the LAG. Its board even pondered joining the
Federation of Expellees (Bund der Vertriebenen, BdV) and took a positive vote
on it.44 Yet when the BdV returned this interest and suggested that the Jewish
Flüchtlingsverband join its ranks in 1965, the association backed off, allegedly
because joining would have contradicted its bylaws.45 Immediately after its
foundation the board also discussed a merger with the Central Council of Jews
in Germany (Zentralrat der Juden in Deutschland). Yet the board members did
not pursue this idea because of the association’s explicit focus on the concerns
of Jews from Eastern Europe and the ensuing “diverging interests.”46
Initially, the main aim of the Flüchtlingsverband was the equal treatment of
Eastern European and German Jews in matters of restitution according to the
BEG.47 Yet the recognition of these immigrants as ethnic German expellees
according to the BVFG soon acquired even greater importance. From the very
beginning, the association’s representatives were well aware of the importance
of advancing this cause directly at the deciding authorities. At the general
assembly in March 1965, chairman Ignac Lipinski noted among the successes
of the Flüchtlingsverband during its three years of existence that it had
managed to be heard and consulted by the responsible authorities for
restitution as well as by the expellee bureaucracy.48 At the same assembly, the
association’s secretary, Hermann Wenkart, even maintained that it had
achieved the “perforation” (Durchlöcherung) of section 6 of the BVFG which
defined German Volkszugehörigkeit.
Beyond variegated ad hoc activities concerning individual cases, the larger aim
of the lobbyist Flüchtlingsverband was to provide institutionalized knowledge
to the authorities and ultimately to play the role of an “expert” for Jewish
immigrants that the Landsmannschaften and the Heimatauskunftstellen
43 About the ideological connotations of this term see Samuel Salzborn, Grenzenlose
Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände, Berlin 2000,
pp. 40 – 42.
44 Protokoll der Vorstandssitzung, 13. 3. 1963, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 16.
45 Protokoll der Vorstandssitzung, 24. 10. 1965, in: ibid.
46 Protokoll der Vorstandssitzung, 20. 6. 1962, in: ibid. The “diverging interests” have to be
seen in the context of the gulf within post-war German Jewry between those who had
lived in Germany already before 1933, and those who arrived from Eastern Europe after
the War. The Zentralrat mainly represented the former group. See Kauders, Unmögliche
Heimat, pp. 164 – 169.
47 Protokoll der Vorstandssitzung, 12. 6. 1962, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 16.
48 Generalversammlung, 28. 3. 1965, in: ibid.
516
Jannis Panagiotidis
played for German expellees and Aussiedler.49 The board even explicitly
suggested the foundation of a Jewish Heimatauskunftstelle based on the data
that the association had already collected about Jewish refugees from the East,
sorted according to their regions of origin.50 In a 1973 article for the
association’s journal Unsere Stimme, Hans Meyer, a member of the board,
made these ambitions very clear. He criticized the excessive powers that the
HASt had assumed in his view:
Who defines who is or who can become an ethnic German (Volksdeutscher) and hence an
expellee? The government, or the Länder, or the refugee administration that has been created
for this purpose? No, the semi-official Heimatauskunftstellen do!
Yet he saw a solution on the horizon:
There seems to be a glimmer of hope since some of the offices and courts have begun to
consult the enquiry office of the Association of Jewish Expellees and Refugees in Frankfurt.
This office may be short in personnel, but it produces advice that does justice to history.51
In Meyer’s statement we have an articulation of the entire ethnic recognition
process’ crux, for the answer to the question “Who is a German?” depended
greatly on a different question: “Who gets to define who is a German?” The
Jewish refugee association had understood that it needed to create a
counterbalance to what it perceived to be the excessive defining power of the
HASt, which were controlled by the expellee Landsmannschaften and were not
very favorably disposed towards Jewish applications, as will be further
developed below.52
Even though a formal institutionalization of a Jewish Heimatauskunftstelle
never came about, the Flüchtlingsverband seems to have been happy enough
with its achievements, at least in hindsight. A January 1987 board report read
as follows:
49 These ad hoc activities, which are documented in the association’s archive, included
direct interventions with the refugee authorities on behalf of individuals, searching for
witnesses for investigations into applicants’ Volkszugehörigkeit, serving as an institution of reference for administration and courts alike in such matters, and providing help
and information to individuals that contacted the association for various other reasons.
50 Letter to H.G. van Dam, 16. 12. 1969, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 6; Vorstandssitzung,
3. 11. 1968, in: ibid., Nr. 16. The data in question might be contained in several lists with
hundreds of names of people from different regions of Poland, Czechoslovakia, and
Romania contained in: ibid., Nrs. 28 and 34.
51 H. Meyer, Oh, Du liebe Heimat(auskunftstelle), in: Unsere Stimme, 5. 1973, pp. 5 f.
52 An example about a direct encounter of the opinions of the association and the HASt
Polen I (Lodz) in an individual case is documented in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 6. The
lawyer Fritz Fafflok from Frankfurt had forwarded the HASt expertise in the restitution
case of Josef F. to chairman Lipinski and asked for an opinion (27. 6. 1969). In their
response, the undersigned Lipinski and Meyer provided him with a counter expertise
(4. 9. 1969).
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
517
Without exaggeration I can assert that our association has become an institution which
enjoys ever growing authority with offices, authorities and other institutions. For these
institutions we have equal status with the expellee associations and represent a kind of Hupka
or Czaja for them – just for Jews.53
And indeed, when the CDU/CSU group of the Bundestag looked for advice
regarding the integration of Aussiedler in March 1988, they automatically
addressed the Flüchtlingsverband alongside other expellee associations.54 Yet,
as I will argue below, despite these partial successes the Association never
succeeded in turning Jewish Aussiedler migration into more than an exception
to the rule that had to be justified on a case to case basis, and it could not
prevent the bureaucratic separation of “Germanness” and “Jewishness” that
was taking place at the very time when the board issued this self-glorifying
report.
IV. Jewish Immigrants between “Liberal” and “Restrictive”
Approaches
1. The Second Immigration Wave and the Mannheim Case
During the second immigration wave of the mid-1960s, Eastern European
Jews, mainly from Romania, came to West Germany via Israel but also directly
from their countries of origin or via other European countries, such as
Belgium, Austria, France, and Italy.55 Despite this new immigration, the
chairman of the Central Council of Jews in Germany, Hendrik George van
Dam, reaffirmed his standpoint that Germany was not a country of return or
immigration for Jews.56 This represented the viewpoint of many Jews in
Germany who thought they had to live “on packed suitcases” in the land of the
perpetrators, always ready to leave.57 Meanwhile, the Flüchtlingsverband and
53 Tätigkeitsbericht des Vorstands, 11. 1. 1987, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 8 (emphasis
supplied). Herbert Hupka and Herbert Czaja were prominent expellee activists over
many years, Hupka being the chairman of the Landsmannschaft Schlesien and Czaja of
the Bund der Vertriebenen.
54 Schreiben der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einer Arbeitsgruppensitzung zur
Aussiedlereingliederung, 10. 3. 1988, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 22.
55 These migration trajectories have been conjectured from the data provided by the
Mannheim list of 1970 (see footnote 15). Of the 227 registered Jews, at least 117 had spent
some time (in the range of six months to twenty years) in Israel. 18 had come through
Belgium, 14 through Austria, 7 through France, 5 through Italy, and 6 had come directly
to Germany.
56 Labusch, Das deutsche Verhältnis.
57 Kauders, Unmögliche Heimat, p. 10. While Kauders also shows that this notion was
increasingly questioned from the mid-1960s (p. 118), the trope has persisted to this day
to describe the approach of Jews to their life in post-Holocaust Germany.
518
Jannis Panagiotidis
its lawyers went to great lengths to ensure that the Eastern European
newcomers could stay. In particular they represented Jewish applicants whose
applications for expellee cards had been rejected. Two of the most active
lawyers were Horst F. K. Petri from Frankfurt, who also published articles on
legal affairs in Unsere Stimme, and Hano Ramge from Mannheim. Sometimes
these lawyers intervened directly at state institutions, for instance, in 1968/69,
when Ramge and his colleagues made a case on behalf of Jewish immigrants in
Mannheim. This case provides an interesting (and well documented) window
on the contestations involving Jewish applicants, and illustrates the clash of
perceptions that they could contain.
In letters of May and June 1968 to the Interior Ministry of Baden-Württemberg
and the Federal Ministry for Expellees and Refugees, Ramge and his colleagues
Gericke and Miess criticized the expellee bureaucracy’s practice of consulting
the Heimatauskunftstellen about Jewish applicants.58 The generic information
provided by these institutions, the lawyers argued, was hardly useful for the
assessment of individual cases. According to the lawyers, the HASt based their
expertise on the general observation that there had been a strong and separate
Jewish minority in the country of origin, reasoning that because of his or her
Jewish faith the applicant must have belonged to this Jewish minority and
could not be a German Volkszugehöriger. The assumption that foreign census
categories such as Romanian origina etnica were synonymous with German
Volkszugehörigkeit, the lawyers argued, was mistaken and contributed to the
HASt’s misjudgments. The Federal Expellee Ministry asked the BadenWürttemberg ministry for a statement, but it replied – true to the official
instructions – that an applicant’s Jewish faith was irrelevant to the question of
his ethnic belonging.59
Lawyer Ramge raised the issue again in late 1969, this time in a personal
hearing at the Federal Interior Ministry. In a follow-up letter to this meeting,
Ramge criticized the authorities for requesting more extensive documentation
from Jewish applicants than from others, which put Jews in a worse position.
He also brought forward a new criticism against the HASt and the Landsmannschaften, namely that their representatives were former German Volkstum-activists, whom he suspected of having an uneasy relationship with Jews
which they had preserved from their countries of origin. To counterbalance
this, he then suggested an institutional solution, namely to create special
councils at the HASt for the assessment of Jewish applications. These new
58 RAe. F. Gericke, H. Miess und H. Ramge an das Innenministerium Baden-Württemberg,
Abteilung Angelegenheiten der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten
(hereafter IM BW, Abt. VFK), 15. 5. 1968, in: HStA Stuttgart EA 12/201, AZ 2552, Nr. 13;
RAe. F. Gericke, H. Miess und H. Ramge an das Bundesministerium für Vertriebene und
Flüchtlinge, 7. 6. 1968, in: ibid., Nr. 14.
59 IM BW, Abt. VFK an den Herrn Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und
Kriegsgeschädigte, 28. 8. 1968, in: ibid., Nr. 14.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
519
councils should have Jewish members who would make sure that the
statements of the institutions remained free of “misunderstandings and
obvious resentment.”60 Since Ramge referred to two individual cases from
Mannheim where an expellee card had been denied or withdrawn, the BadenWürttemberg Interior Ministry sent a letter marked “very urgent” to the
Regional Council (Regierungspräsidium) of Northern Baden, where Mannheim is located, asking for an explanation.61
The Regional Council defended the more extensive examination of Jewish
cases, stating that “belonging to the Mosaic faith almost invariably justifies the
assumption of belonging to the Jewish people as well.”62 This and other
reactions by the Regional Council illustrate two things: first, the difficulty of
distinguishing between Jewish religion and Jewish nationality and second, the
actual prevalence of völkisch thinking, at least in the bureaucratic institution at
hand. Völkisch thinking looms large in its attempts to justify the withdrawal of
an expellee card that had been issued to a Romanian Jew by the name of Isidor
B. After receiving an initial rejection letter, Mr. B. was actually issued a card
following a personal encounter with the mayor of the city, Hans Reschke, who
had been impressed by his impeccable, Austrian-inflected German. The
Regional Council was less impressed, however. It argued that B.’s knowledge of
German did not prove anything, as it was normal for him, a merchant, to speak
this language. In addition, he did not give any convincing reason why he or his
parents should have identified as Germans in a city of 102,000 inhabitants
where there were only 980 Germans, but 34,662 Jews. Nor did the Regional
Council find the testimonies of the witnesses he cited convincing.63 In response
to a letter of protest by the mayor’s office, an unnamed official from the
Regional Council then articulated an explicitly völkisch worldview. He pointed
to “a certain life of their own” (ein gewisses Eigenleben) that the “ethnic
communities” (völkische Gemeinschaften) had had in Southeastern Europe.
This natural attachment (natürliche Zuordnung) to an ethnic community could only be
changed by means of declaration to belong to another ethnic community. This happened
only in exceptional cases and for cogent reasons.
60 RAe. Gericke, Miess und Ramge an das Bundesministerium des Innern (hereafter BMI),
Abteilung Angelegenheiten der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten,
8. 1. 1970, in: ibid.
61 IM BW, Abt. VFK an das Regierungspräsidium (hereafter RP) Nordbaden, 20. 1. 1970, in:
ibid.
62 RP Nordbaden an IM BW, 25. 2. 1970, in: ibid. To underline his credibility and expertise,
the responsible bureaucrat, a certain Mock, added that he and his deputy were expellees
from Bukovina and Banat themselves and hence knew the relationship of the Jews to the
German minority back in the homeland from their own experience.
63 RP Nordbaden an das Bürgermeisteramt Mannheim, 2. 4. 1970, in: ibid.
520
Jannis Panagiotidis
The regional council saw no exception to this “natural” rule in the particular
case.
According to his own statement, [the applicant] is a German speaking Jew from Romania. It
is true for him, too, that as a Jew he lived within his Jewish ethnic community
(Volksgemeinschaft). He has presented no evidence that he embraced the German ethnic
group in Romania and turned his back on his [sic!] Jewish ethnic community, to which he
was attached by birth.64
Apart from the problematic usage of a Nazi term like Volksgemeinschaft, this
statement projects a remarkably – and unrealistically – organic natural order
of Interwar Eastern Europe.65 In this homogenized picture, “German Jews”
could only appear as an anomaly. The police crackdowns on Jewish holders of
expellee cards in the 1970s that we will deal with next were the extreme
outcome of this perception: how, the expellee authorities and state attorneys
wondered, could there be so many exceptions to the rule? Fraud was the answer
they came up with.
2. The Third Immigration Wave and the Offenbach Case
The bulk of the third wave of Jewish immigration to West Germany from the
early 1970s onwards came from the Soviet Union. These were mainly so-called
Zapadniki (“Westerners”) from the Baltic Republics and Bukovina, regions
which were annexed by the Soviet Union only in 1939/40 and had a Jewish
population with a historically strong attachment to German culture.66 This
migration was a by-product of the more liberal stance that the USSR took
towards Jewish emigration during that period. While in theory the emigrants
were headed for Israel, many of them “dropped out” in the transit station in
Vienna, diverted their journey to Rome, where the Hebrew Immigrant Aid
Association (HIAS) had its central processing area for Jews from Eastern
Europe, and from there usually went on to the United States.67 Yet some of the
64 RP Nordbaden an Herrn Oberbürgermeister Dr. Reschke, Mannheim, 25. 8. 1970, in:
ibid.
65 The initially monolithic, static, and exclusivist perception of cultural belonging by
German restitution authorities is pointed out by Brunner and Nachum, Vor dem Gesetz,
pp. 410 – 419. This approach was only changed by a ruling by the Bundesgerichtshof in
1970 (ibid., p. 420).
66 Zvi Gitelman, “From a Northern Country”. Russian and Soviet Jewish Immigration to
America and Israel in Historical Perspective, in: Noah Lewin-Epstein and Paul
Ritterband (eds.), Russian Jews on Three Contintents. Migration and Resettlement,
London 1997, pp. 21 – 41, esp. p. 28.
67 Gitelman, From a Northern Country, p. 29; Gaynor I. Jacobson, Soviet Jewry.
Perspectives on the “Dropout” Issue, in: Journal of Jewish Communal Service
55. 1978, pp. 83 – 89, esp. pp. 87 f.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
521
“dropouts” (noshrim, as they were called in Israel) went to West Germany
instead, either directly or via Israel.68
Much like Mannheim in the 1960s, the communities that received the
immigrants tackled their absorption by means of the expellee law. As early as
1973, in the early stage of this immigration, the West German embassy in Rome
had acknowledged that most of the Jews who had approached the embassy
could be considered ethnic Germans, some reservations notwithstanding.69
West Berlin, whose relatively strong Jewish community was headed by a vocal
chairman, Heinz Galinski, was among the first cities to take in Soviet Jewish
migrants in 1973.70 And indeed, initially most of them were recognized as
ethnically German according to the BVFG.71 Yet as the numbers of immigrants
grew, the Berlin authorities found it increasingly difficult to recognize the
Jewish immigrants as Germans.72 This created the question how to deal with
this peculiar situation: while the authorities were cautious not to expel Jews
from Germany, they were also concerned about Israel’s reaction to a generous
stance towards these immigrants who, after all, were originally destined for the
Jewish state.73 After extensive deliberations between the city authorities, the
Länder, the Foreign Office and the German embassy in Tel Aviv it was decided
not to expel any of the Jewish immigrants. The Länder should decide
autonomously whether to grant residence permits. Anyone who would
immigrate illegally in the future, however, should not be allowed to stay.74
According to press reports, Berlin would only make an exception for those
people who could prove their German Volkszugehörigkeit according to the
BVFG. All the others would be asked to return to Israel after six months.75 In
general, Jewish immigrants would be subject to normal aliens law in the
Federal Republic.
68 According to a news agency report from November 1974, 80per cent of the approximately 500 Soviet Jews that had come to Berlin until then held an Israeli passport. See
Berlin befürchtet Schwierigkeiten durch Sowjet-Juden-Ausreisen, DPA, 13. 11. 1974.
69 Deutsche Botschaft Rom an Auswärtiges Amt (hereafter AA), 14. 3. 1973, in: Politisches
Archiv des Auswärtigen Amts (hereafter PAAA) B 85 1129.
70 Heinz Galinski an Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, 12. 11. 1974, in: ibid.
71 Der Regierende Bürgermeister von Berlin an den Senator für Bundesangelegenheiten,
13. 9. 1974, in: ibid.
72 Ibid. According to press reports at the time, by December 1974 only 180 – 200 of 546
Jewish immigrants to Berlin had received expellee status. See Berlin bremst jüdische
Zuwanderung, DPA, 3. 12. 1974.
73 Der Regierende Bürgermeister von Berlin an den Senator für Bundesangelegenheiten,
13. 9. 1974, in: PAAA B 85 1129, and Botschaft Tel Aviv an das AA, 20. 9. 1974, in: ibid.
74 BMI an AA, 17. 2. 1975, in: PAAA B 85 1338.
75 Berlin will nur deutsche Juden nicht aussperren, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung,
5. 12. 1974; Berlin drosselt die Zuwanderung von Juden, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 12. 12. 1974.
522
Jannis Panagiotidis
This murky situation created room for maneuver for the immigrants, but also
for illegal activity. In January 1975, the weekly magazine Der Spiegel reported
about investigations regarding large-scale fraud with expellee cards in the city
of Offenbach, which had been a popular destination among Jewish immigrants
for years.76 That same year the police started investigating cards issued in the
cities of Hamm, Ludwigshafen, Groß-Gerau, and Hagen.77 Sensitized by these
investigations, expellee authorities in Hesse, North Rhine-Westphalia and
Rhineland Palatinate tried to withdraw previously issued expellee cards on the
grounds that they had been obtained under false premises.78 The withdrawal of
already issued cards was possible according to section 18 of the BVFG and was
not sensational per se. Nor were Jewish card holders the only ones that were
investigated. However, given the much lower overall number of Jewish
compared to non-Jewish card holders, the attention they received by the
authorities seems disproportionate, in particular once investigations were
conducted by the law enforcement authorities.79
The Offenbach investigation became a cause clbre, not least because of the
young State attorney in charge, Gert Feldmeier, whose controversial investigation methods caused a lot of resentment in the Flüchtlingsverband. When
German and Israeli papers reported in August 1976 that Jews had been lured to
Offenbach by human traffickers, themselves Eastern European Jews, and had
received expellee cards with the help of expensive lawyers, the Israeli
authorities also became interested in the affair.80 However, it appears that
76 Der Grüne, in: Der Spiegel, 13. 1. 1975. According to data gathered by the Jewish
community in Offenbach, the bulk of these people arrived in the city between 1972 and
1975. See: Danny Meggido, Bonn, to Mr. M. Voron, Head of the Diaspora Department,
18. 8. 1976, “Offenbach Jews” (Hebrew), in: Israeli State Archives (hereafter ISA)
I30.23.13.393.
77 Der Präsident des Bundesausgleichsamts an die Ausgleichsverwaltung, 3. 12. 1975, in:
HStA Stuttgart EA12/201, AZ 2555, Nr. 191.
78 Stellungnahme zur Behandlung jüdischer Aussiedler und Flüchtlinge in der BRD,
attachment to: Verband jüdischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge an den Vorsitzenden der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag Otto Wilke, 2. 8. 1977; Horst K. F. Petri
an Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen (hereafter
MAGS NRW), 11. 7. 1977, both in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 34.
79 As the Labor Ministry of North Rhine-Westphalia pointed out in a letter to the Zentralrat
in 1977, the expellee authorities in the city of Aachen had re-examined 68 “non-Jewish”
expellee cards, 30 of which were withdrawn; of the 88 “Jewish” cards that were
examined, 14 were withdrawn. While these numbers show that non-Jewish expellees
were investigated, too, it is telling that the number of Jews under investigation was
higher even in absolute terms. See MAGS NRWan Alexander Ginsburg, Generalsekretär
des Zentralrats der Juden in Deutschland, 20. 10. 1977, in: ibid.
80 Juden von Menschenhändlern nach Offenbach gelockt?, in: Frankfurter Neue Presse,
11. 8. 1976, and Bönisch, 2000 Dollar. See also: Meir Shamir, Europe Directorate 1, to
Ambassador Ruppin, Bonn, 17. 8. 1976 (Hebrew), in: ISA I30.23.13.393.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
523
Israeli interest did not go beyond a meeting of an embassy representative with
the head of the Jewish community in Offenbach, Max Willner.81 In fact, there is
evidence that under the leadership of Prime Minister Menachem Begin the
Israeli government consciously chose not to cooperate with the German and
Austrian authorities in the struggle against the trafficking of migrants, lest the
Jewish traffickers should fall into the hands of the German police.82
State attorney Feldmeier on the other hand was persistent. He investigated the
Offenbach case from 1974 until his relocation to traffic court in 1978. The
Flüchtlingsverband and its associated lawyer Horst K. F. Petri criticized that at
Feldmeier’s behest police raided the homes of Jewish holders of expellee cards,
asking them if they were Jewish, confiscating their personal documents and
looking for evidence of their Germanness.83 In a letter to the head of the FDP in
the parliament of Hesse, Otto Wilke, the Association’s chairman Hans Meyer
even stated that “the wave of investigations and its brutal illegal methods raise
the most terrible memories of the times of Nazi persecution.”84 When
Feldmeier, who later became vice-chairman of the radical right-wing party Die
Republikaner, was removed from his post in 1978 it was purportedly not for
political reasons, as the Christian-Democratic opposition in Hesse suspected.85
And yet it would not come as a surprise if his relocation had something to do
with the Flüchtlingsverband’s protest against his investigation methods. At any
rate, the documentation of the Association suggests that investigations of
Jewish expellee card holders in Hesse and other Länder continued even after
Feldmeier’s removal.86
Judging from the available evidence it is quite clear that the allegations of
organized human trafficking and fraud were not just the product of the fantasy
81 Danny Meggido, Bonn, to Mr. M. Voron, Head of the Diaspora Department, 18. 8. 1976,
“Offenbach Jews” (Hebrew), in: ibid.
82 This is reported by Yasha Kedmi, the representative of the organization Nativ in Vienna
at the time. This organization was in charge of maintaining contacts with Eastern
European Jews. See Yakov (Yasha) Kedmi, Hopeless Wars (Hebrew), Tel Aviv 2011, p. 146.
83 Verband jüdischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge an den Hessischen Minister der
Justiz, 23. 3. 1977, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 34, with an article from the OffenbachPost and eyewitness accounts attached. The same file contains several subsequent
interventions by the association at the Ministry of Justice.
84 Schreiben des Flüchtlingsverbandes (gez. Der Vorsitzende Hans Meyer) an den FDPFraktionsvorsitzenden im Landtag, Otto Wilke, 2. 8. 1977, in: ibid.
85 Feldmeiers Ablösung. “Keine jüdische Mafia am Werk,” in: Frankfurter Rundschau,
4. 7. 1978; Keine politischen Gründe für Feldmeier Ablösung, in: Frankfurter Rundschau, 5. 7. 1978, both in: ibid.
86 See the cases of Thomas Mikulski, Unsere Stimme 11/12, 1979, p. 4, and Paul Nowak,
Unsere Stimme 1/2, 7/8, and 9/10, 1981, both in Neustadt an der Weinstraße in
Rhineland-Palatinate.
524
Jannis Panagiotidis
of a young attorney with right-wing inclinations.87 Yet my interest here is
different. If we take a closer look at the accusations and investigations by
Feldmeier and his colleagues we will discover some of the fundamental
difficulties of implementing ethnically coded expellee law. In a January 1975
Spiegel article, one of Feldmeier’s colleagues described how hired witnesses
were prepared to testify to an applicant’s Bekenntnis to German Volkstum:
“The witnesses remembered ‘German magazines and newspapers’ on the shelf
and even ‘felt German cultural influences with every step. They lied their heads
off ’.”88 But it is difficult to comprehend how this investigator could be so sure
about this. When it came to the assessment of a Bekenntnis that, as we have
seen in chapter II, had to have been consciously uttered by the applicant on the
one hand and had to be perceived as such by his environment on the other
hand, the application of the law hinged on the reconstruction of minor “facts”
which lay in the distant past and were difficult to prove or disprove. The only
thing investigators could do in the absence of meaningful evidence was to pose
the rather helpless question if the card holders were not, in fact, Jewish and to
raid their homes in search of evidence that would prove their “real” identity.
Given the virtual impossibility of obtaining such evidence for an abstract
notion like Volkszugehörigkeit, the awarding of expellee cards ultimately
boiled down to an act of faith in the applicants. Non-Jewish applicants were
generally accorded this faith and the benefit of doubt until the 1990s
immigration wave from the former Soviet Union. Jewish applicants were not
given the benefit of the doubt, not least because of the view that in the “natural
order of things” in inter-war Eastern Europe, a German was a German and a
Jew was a Jew, yet a Jew could not be a German.
Yet these generalizations should not create the illusion of a unified, nationwide policy of not accepting Jewish immigrants as Germans in the 1970s. With
the autonomy of the refugee administration services, the local offices had
significant room for maneuver. Thus implementation differed from state to
state, from office to office, from bureaucrat to bureaucrat. To illustrate,
whereas the judiciary in Hesse started large-scale investigations of Jewish
expellee card holders in the mid-1970s in an attempt to roll back past liberal
practices, West Berlin turned a blind eye to illegal Soviet-Jewish immigration.89
Jewish immigration to Berlin continued with the quiet consent of the
authorities until 1980, when it was stopped in the wake of another fraud
scandal.90
87 Apart from the quoted media reports see also Kedmi, Hopeless Wars, p. 146.
88 Der Grüne.
89 Der Regierende Bürgermeister von Berlin an den Senator für Bundesangelegenheiten,
13. 9. 1974, in: PAAA B 85 1129.
90 Hans-Rüdiger Karutz, Deutsches Vorleben kostet nur 2500 Mark, in: Die Welt,
12. 7. 1980; Aufnahmestopp für illegale jüdische Zuwanderer in West-Berlin, DPA,
22. 9. 1980.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
525
V. In Search of a Consistent Line. The 1980 Guidelines for the
Assessment of Volkszugehörigkeit
In the wake of the large-scale investigations of alleged fraud and cognizant of
the inconsistencies in the implementation of existing laws, the expellee
bureaucracy began looking for a more consistent recognition practice. First
there were complaints by lawyer Petri about the toughened stance of a formerly
liberal city like Offenbach. In response, the Ministry for Social Affairs of Hesse
launched an initiative to reverse the restrictive trend.91 To clarify the
notoriously difficult issues of Bekenntnis, Volkszugehörigkeit, and Sprachund Kulturkreis, the ministry also issued guidelines in March 1979.92 While
eliciting a positive response from the Flüchtlingsverband, the guidelines were
criticized by the judicial committee of the Argeflü for blurring the distinction
between German Volkszugehörigkeit on the one hand and Sprach- und
Kulturkreis on the other hand.93 As a reaction, a working group within this
body was created to produce solid guidelines for the lower authorities that all
the responsible Länder ministries would agree upon. It was the first attempt
ever during the almost thirty years of the Federal Expellee Law’s existence to
systematize the practice of assessing Volkszugehörigkeit according to section 6.
In fact, these guidelines did not offer anything substantially new, but
summarized existing legislation and jurisdiction. Significantly, they stressed
that the subjective dimension of German Volkszugehörigkeit – the often quoted
Bekenntnis – could result either from an explicit declaration or from
“conclusive behavior” (section 2. 2). Following the proposal made by the
Hesse Social Ministry in its own guidelines, the nationwide guidelines were
91 Horst F. K. Petri an den Hessischen Sozialminister, 13. 5. 1977, in: Zentralarchiv B.1/17,
Nr. 34. His intervention even received media attention: a major daily paper like the
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Anwalt kratzt an der liberalen Politur Offenbachs,
11. 6. 1977, p. 49, reported about Petri’s activities (article documented ibid.). It is not
clear from the available material to what extent interventions by Petri and the
Flüchtlingsverband were directly responsible for this initiative. Yet their influence seems
likely, given that in its new instructions to the lower authorities, the Social Ministry took
up some of the constant points of criticism raised by them: It admonished the
administration to give an unbiased assessment of the German Volkszugehörigkeit of
Jewish applicants, and urged them not to uncritically base their decisions on the opinion
of the Heimatauskunftstelle for Romania, which was suspected of reproducing the
exclusivist logic of the past that saw Germanness and Jewishness as incompatible. Der
Hessische Sozialminister an den RP Darmstadt, 22.3. and 19. 7. 1978, in: HStA Stuttgart
EA 2/811, AZ 2572, Nr. 13, items 1 and 2.
92 Der Hessische Sozialminister an die Herren Regierungspräsidenten, 22. 3. 1979, in: HStA
Stuttgart, EA 2/811, AZ 2572, Nr. 35, item 8.
93 Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses 1 (Rechtsausschuss) der Argeflü in
Leimen, 19./20. 4. 1979, in: HStA Stuttgart, AZ 2558, Nr. 16, item 20.
526
Jannis Panagiotidis
amended: now it should not be held against the applicant if his or her
environment did not assess this Bekenntnis by “conclusive behavior” correctly.
Implicit in section 2. 3. 2 of the guidelines must have been Jewish immigration,
for it specified the preconditions for a Bekenntnis if there had been another
group of people beside the Germans who used the German language. In such
cases, “conclusive behavior” would mean “use of the German language and
connection to German culture clearly above the habits of this other ethnic
group.”
Section 2. 5, which explicitly regulated the recognition of Jewish applicants,
followed the Hesse guidelines by stating that the exclusion of the Jews in the
past should not be repeated in the present by disadvantaging individual
applicants. In effect this meant that just because a Jewish person was not
perceived as German in the anti-Semitic climate of the inter-war period, this
should not mean that he or she could not be a German Volkszugehöriger now.
The section defined religious belonging as being neutral with regard to
Volkstum. Declaring oneself Jewish in a pre-1933 census was interpreted as a
Bekenntnis against German Volkstum. On the other hand, the fact that
someone had not been persecuted after 1945 should not be taken as an
indication that this person was not a German Volkszugehöriger. Likewise,
belonging to the Zionist movement did not preclude being a German
Volkszugehöriger. Finally, emigration from the homeland in Eastern Europe to
Israel alone could not be taken as evidence against German Volkszugehörigkeit.
Since the underlying purpose of the ethnicity guidelines was to define the
boundaries between “German” and “Jewish” Volkstum, Jewish associations
were consulted in the course of the drafting. The Labor Ministry of North
Rhine Westphalia consulted the chairman of the Jewish community of the
North Rhine, Simon Schlachet.94 Following Schlachet’s suggestion, section
4. 1. 4 stated in unequivocal terms that the opinion of the HASt about an
applicant’s Volkszugehörigkeit did not bind the responsible authority, and
section 4. 1. 5 made it clear that statistical data about the general behavior of
certain groups could not be used as evidence against the alleged Bekenntnis of
an individual. Both had been common ways to exclude Jewish applicants from
recognition in the past.
With these guidelines (published in February 1980) the Argeflü had come quite
a long way in accommodating Jewish applicants. Now neither a Zionist past
nor emigration to Israel could hamper an applicant’s chances. What is more,
the import of the HASt opinions was officially decreased. The power to define
who was to be considered a German Volkszugehöriger was shifted to
contemporary German authorities. For the Jewish associations this was a
94 Vermerk (15. 11. 1979) über ein Gespräch von LMR Zurhausen, Ref. Sareyko und
Reg.Ang. Diehl und dem Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde Nordrhein, Simon
Schlachet, am 15. 11. 1979 in Düsseldorf, in: HStA Stuttgart, AZ 2572, Nr. 20, item 8.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
527
success, and chairman Schlachet expressed his gratitude in a letter to the NRW
Labor Ministry.95 The position of Jewish applicants further improved when the
Federal Constitutional Court (Bundesverfassungsgericht) in December 1981
affirmed the principle that cumulated objective criteria could indicate a
Bekenntnis.96 Contrary to the claims of some scholars, this did not imply a
stronger “blood-oriented” definition in Germanness.97 If anything, it strengthened the cultural component of Volkszugehörigkeit, which in theory would
benefit the culturally German Jewish immigrants. And yet, relief was only
temporary.
VI. The 1987 Amendment to the Guidelines and the Beginning
Separation of “Germans” and “Jews”
The mid-1980s proved to be a turning point for the recognition of Jewish
Aussiedler as Germans. If the Social Ministry of Hesse had achieved significant
facilitations for this group in the late 1970s and early 1980s, it was the Foreign
Office that now worked for the introduction of significant restrictions. As a
consequence of this challenge from high above, and despite the fierce
resistance of Länder like Hesse and Berlin, the Argeflü judicial committee
eventually decided that Germanness and Jewishness were basically incompatible – at least in a Soviet context, which by then had become the most
significant one. The autonomous defining power of the expellee administration which had just been forcefully claimed in the guidelines about Volkszugehörigkeit was surrendered and transferred to none other than the HASt for
the Soviet Union on the one hand and the Soviet passport authorities on the
other hand.
The initiative taken by the Foreign Office in late 1985 was triggered by the
discovery of the Soviet nationality nomenclature, which fixed every person’s
natsional’nost’ (an ethnic category not equal to citizenship) in the internal
passport.98 The German embassy in Moscow had reported that this passport
95 Landesverband der jüdischen Kultusgemeinden von Nordrhein an Ltd.MR Guido
Zurhausen im MAGS NRW, 26. 3. 1980, in: ibid., item 9.
96 Beschluss des Ersten Senats vom 16. Dezember 1981, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 59. 1982, pp. 128 – 172, esp. p. 161.
97 See Joppke, Selecting by Origin, p. 176.
98 The fact that the Foreign Office came up with this revelation only in 1985 indicates short
institutional memory. Already in early 1974, the embassy in Moscow had suggested to
use passport nationality as a criterion to identify ethnic Germans (see Botschaft Moskau
an AA, 28. 1. 1974, in: BArch Koblenz B106/39944). By the mid-1980s, Soviet nationality
policy had also become the object of scholarly interest. See Rasma Karklins, Ethnic
Relations in the Soviet Union. The Perspective from Below, Boston 1986. The passport
system has since been analyzed by Rogers Brubaker, Nationhood and the National
528
Jannis Panagiotidis
nationality was unalterable, unequivocal, and strictly adhered to by the Soviet
authorities, which would allow only Germans to emigrate to Germany, while
Jews had to go to Israel.99 The implication was that whoever came to Germany
via Israel (or with an exit visa to Israel) could not be German. The Foreign
Office further based its new position on a 13-page expertise by the HASt for the
Soviet Union.100 It suggested examining the birth certificates of children, where
the natsional’nost’ of the parents was noted. The HASt then went on to compare
the histories of the German and Jewish minorities in the Soviet Union. The
author of the document told the story of the discrimination against the
German minority, the deportation of the Volga Germans to Siberia and
Kazakhstan in 1941, their suffering in the trudarmiia (“labor army”), and their
release from collective banishment only in 1955. The Jews, he claimed on the
other hand, had never been persecuted as a group by the Soviets. While the
HASt showed sympathy for the Jews’ present day wish to emigrate, it did not
see itself in a position to certify their German descent and Bekenntnis. The
author was absolutely certain that there had been no Germans of the Mosaic
faith in the Soviet Union – Soviet Germans were all Lutheran, Catholic, Baptist,
or Mennonite. Also, there had been no German-speaking Jews in the Soviet
Union: Jews spoke Yiddish, Hebrew or Russian, while Germans spoke Swabian
and Hessian dialects. The conclusion seemed crystal clear :
The Germans have always publicly declared their German Volkstum and have been registered
as Germans in their documents. […] The Jews have always declared their Jewish Volkstum.
They have been registered as Jews in their documents. They do not possess a Bekenntnis to
German Volkstum.101
The essentialist conclusion merits attention: “The” Germans have declared
“their” German Volkstum, while “the” Jews have declared “their” Jewish
Volkstum. The HASt obviously knew in advance who was supposed to belong
to each group. It developed a kind of “collective biography” for each minority.
For the Soviet Germans, this “collective biography” corresponded to the
narrative of suffering developed in publications like Volk auf dem Weg, the
journal of the Russian-German Landsmannschaft explicitly quoted in the text.
A life story that did not correspond to this “ideal” narrative could, by
definition, not be Soviet German. Consequently, the individual applicant
under consideration in the document, a certain Jakob G. from St. Petersburg,
Question in the Soviet Union and Post-Soviet Eurasia. An Institutionalist Account, in:
Theory and Society 23. 1994, pp. 47 – 78; Dominique Arel, Fixing Ethnicity in Identity
Documents. The Rise and Fall of Passport Nationality in Russia, in: Canadian Review of
Studies in Nationalism 30. 2003, pp. 125 – 136.
99 AA an BMI, Ref. VtK I 5, 8. 11. 1985, in: HStA Stuttgart EA 2/811, AZ 2570 – 4, Nr. 8, item
8, attachment 1.
100 AA an BMI, Ref. VtK I 5, 17. 12. 1985, in: ibid., attachment 2.
101 Ibid.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
529
Jewish by religion, Red Army officer during the War and resident of Leningrad
after 1946, was declared not to be German, since his biography did not match
this pattern.
An amendment to the guidelines about Volkszugehörigkeit concerning
Aussiedler who had come via Israel was subsequently endorsed at the session
of the judicial committee in Nuremberg in March 1987.102 Based on the
observation by the embassy in Moscow, the committee stipulated that the
Soviet authorities did not usually grant German Volkszugehörige emigration
permits for Israel. After next describing the Soviet passport system with its
mutually exclusive German and Jewish nationalities and the different emigration procedures for Germans and Jews, the committee concluded that section
2. 5. 7 of the ethnicity guidelines which stipulated that emigration to Israel was
not an indication against German Volkstum should be considered null and
void. An applicant whose documents stated that he or she (or his/her parents)
were “Jewish” or who had left the Soviet Union with an emigration permit for
Israel could only be considered a German Volkszugehöriger if he or she
managed to dispel all doubts. As a rule, however, Jewish natsional’nost’ and
emigration to Israel should preclude recognition as German. In general,
official certificates should be ordered from the Soviet Union for every
applicant from the Soviet Union whose fate did not correspond to the typical
fate of the Soviet Germans.
It would be unfair to highlight that this decision about the mutual exclusivity of
Germanness and Jewishness should have been made in Nuremberg of all
places. But apart from being polemic, it would also be misleading. The
“Nuremberg guidelines” were not about racial exclusivity. Instead they
represented the double surrender by the German expellee bureaucracy of its
defining power. For one thing, Volkszugehörigkeit in the sense of the German
expellee law came to be identified with the natsional’nost’ recorded in the
Soviet internal passport. According to this logic, the question “Who is a
German?” was no longer answered by the German authorities, but by the
Soviet authorities that had issued the passport. The Hesse Social Ministry had
criticized this aspect already before the amendment was passed, but to no
avail.103 Secondly, the historical narrative of the HASt Soviet Union, which was
the narrative of the Landsmannschaft, was fully embraced by the administration and used as an ideal type to fill the notion of German Volkszugehöriger
from the Soviet Union with content. And neither in the logic of the Soviets nor
of the Landsmannschaft of Germans from Russia could a Jew be a German.
102 Anita Kugler, Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses 1 (Rechtsausschuss) der
Argeflü in Nürnberg, 19./20. 3. 1987, in: HStA Stuttgart EA 2/811, AZ 2558, Nr. 52.
103 See the intervention by Hesse (and also North Rhine Westphalia) in: Niederschrift über die
Sitzung des Ausschusses 1 (Rechtsausschuss) der Argeflü in Berlin, 2./3.10.1986, in: ibid.,
Nr. 51. See also the letter by Prof. Dr. Dr. Kraus from the Hesse Social Ministry to the
Bundesausgleichsamt 19.1. 1987, in: HStA Stuttgart EA 2/811, AZ 2570– 4, Nr. 8, item 22.
530
Jannis Panagiotidis
VII. Conclusion. “Quota refugees” and the Ultimate
Separation of Germans and Jews
In spite of the Nuremberg guidelines, there were some last attempts to turn
Jews into Germans. In 1990, Green party city counselors in Frankfurt pushed
for an easier recognition of Jewish immigrants as Germans, claiming that the
entry “Jew” in a Soviet passport should not be considered as a Bekenntnis
against German Volkstum.104 Yet by that time events had already overtaken the
slow movement of German bureaucracy. In the meantime the continuous
trickle of Soviet Jews coming to Germany had started to turn into a stream.
Initially this new migration movement was directed to East Berlin, after the
GDR government had decided to grant asylum to Soviet Jews threatened by
persecution.105 After the reunification, it became an issue for the federal
authorities. There were initial considerations to treat the issue according to the
expellee law, as had been the approach in the past.106 Yet most of these Jews were
no longer German-speaking “Zapadniki” but “Russian” Jews from European
Russia or Ukraine with no knowledge of the German language or ties to
German culture.107 The administrative solution chosen was therefore a
different one: Soviet Jews who had entered the country on a tourist visa
after 1 June 1990 were retroactively recognized as “quota refugees” (Kontingentflüchtlinge), a legal category that had been used for Vietnamese boat
people before.108 Effective as of 10 November 1991, a new formal immigration
procedure included the filing of an application at a German embassy in the
former Soviet Union, its processing by the Federal Administration Office
(Bundesverwaltungsamt) and the Länder, and the eventual awarding by the
embassy of an entry permit to the successful applicant.109 This, however, meant
104 Hoffnung für Juden aus Osteuropa, in: Die Tageszeitung, 31. 8. 1990.
105 Barbara Dietz, German and Jewish Migration from the Former Soviet Union to Germany.
Background, Trends, and Implications, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 26.
2000, pp. 635 – 652, esp. p. 639.
106 Heribert Prantl, Verbales Versteckspiel um sowjetische Juden. DDR-Ausländerbeauftragte Almuth Berger empört über Bonner Einreisestopp, in: Süddeutsche Zeitung,
14. 9. 1990; Harald Günter, Quote für Juden aus der UdSSR. Stuttgart denkt an
Kontingente auch für Aussiedler, in: Die Welt, 5. 12. 1990.
107 Dietz, German and Jewish Migration, p. 643. According to non-representative numbers
calculated by Jeroen Doomernik for Berlin in the mid-1990s, 45 per cent of the Jewish
immigrants came from Ukraine (mainly from Dnepropetrovsk, Odessa, and Kiev),
31 per cent from Russia (almost exclusively from Moscow and St. Petersburg), and
19 per cent from the Baltic Republics. See Jeroen Doomernik, Going West. Soviet Jewish
Immigrants in Berlin Since 1990, Aldershot 1997, p. 76.
108 Dietz, German and Jewish Migration, p. 639.
109 Ibid.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
531
that from now on Jews would have to prove to the German bureaucracy that
they were Jewish rather than German in order to be accepted. From 1991 until
2004, 219,604 immigrants came to Germany on these new grounds.110
With the introduction of a separate Jewish immigration process, the almost
four-decades lasting contestation about the recognition of Jewish immigrants
as German came to an end. A definitive bureaucratic line was drawn between
Jews and Germans. The two categories became incompatible. As I have tried to
show in this article, the recognition of Jewish immigrants as ethnic Germans
had never been the rule, but an exception that had to be justified anew each
time. But for the most part there had been no intrinsic incompatibility between
being German according to the Federal Expellee Law and being Jewish, as long
as “Jewish” only referred to the “Mosaic faith” and not to the Jewish people as a
“nationality.” In fact, in the struggle over who was to define who was a German
Volkszugehöriger, the Association of Jewish Expellees and Refugees, their
associated lawyers, other Jewish associations, and sympathetic Länder like
Hesse and Berlin had been remarkably successful in promoting their narrative
of the compatibility of Germanness and Jewishness. A major sign of this
success were the very accommodating guidelines for the assessment of
Volkszugehörigkeit of 1980. Yet with the 1987 “Nuremberg guidelines” which
embraced the definitions of ethnic belonging of the Soviet authorities on the
one hand, and of the Landsmannschaft of Germans from Russia on the other,
the re-separation of the two categories began. The “quota refugee” procedure
was in a way the logical continuation of this measure.
In essence this meant a substantial “ethnicization” of the German immigration
policy in the early 1990s, at the very time when, as Christian Joppke has
pointed out, the “demise” of German co-ethnic immigration began.111 The only
thing distinguishing the Russian Jewish immigrants from the mostly “Russified” German Aussiedler from Kazakhstan and Siberia immigrating to
Germany at the same time was their a priori definition as “Germans” or “Jews”
by origin, based on the primordial Soviet nationality nomenclature and an
idealized collective biography of Russian German suffering. The “demise” of
ethnic selectivity did not result in an opening up of the legal category of “ethnic
Germanness,” but instead in the circumscription of the group of eligible
candidates for recognition. At the same time, a new category of “ethnic
selection” was introduced, namely the Jewish “quota refugee.” Seen from this
angle, German immigration policy actually became “more ethnic” rather than
less so, both quantitatively – now there were two categories of ethnic selection
110 Sonja Haug, Jüdische Zuwanderer in Deutschland. Ein Überblick über den Stand der
Forschung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Working Papers 3/2005, p. 8,
http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp03juedische-zuwanderer.pdf ?__blob=publicationFile.
111 Joppke, Selecting by Origin, pp. 157 – 218.
532
Jannis Panagiotidis
instead of one –, and qualitatively, since legally defined Germanness became
more exclusive and more focused on primordial descent than it had ever
been.112
While the German authorities changed the legal definition of German
Volkszugehörigkeit and its administrative implementation several times in the
course of the 1990s, they refrained from providing their own official definition
of who was a Jew. In effect, this defining power was again devolved to the Soviet
authorities which had issued the prospective immigrants’ papers: according to
instructions by the Foreign Office to the German embassies, applicants with
“Jewish” natsional’nost’ in their documents or descendants of at least one
parent with such a registration should be eligible for immigration as quota
refugees.113 This went beyond the narrower halachic definition of a Jew as
someone born of a Jewish mother or who had converted to Orthodox Judaism,
but was more restrictive than the Israeli Law of Return which extended
eligibility also to persons with a Jewish grandparent.114 Since the Jewish
communities in Germany adhered to the halachic definition, many of the
newcomers were actually excluded from official membership in the communities.115 This is why in 2001, the immigration commission headed by former
minister Rita Süssmuth suggested the introduction of the halachic criterion
into immigration policy.116 In doing so, it followed a Zentralrat recommendation.117 As the sociologist and Jewish community activist Irene Runge
pointed out, “immigration according to halacha” would have been something
112 Accordingly, the new version of section 6 BVFG introduced in 1993 made “descent” a
necessary “objective marker” to be proved alongside the “subjective” Bekenntnis, while
before it had just been one of the possible auxiliary criteria. See Silagi, Vertreibung und
Staatsangehörigkeit, p. 131.
113 Haug, Jüdische Zuwanderer in Deutschland, p. 8; Franziska Becker, Ankommen in
Deutschland. Einwanderungspolitik als biographische Erfahrung im Migrationsprozess
russischer Juden, Berlin 2001, p. 55.
114 Yinan Cohen and Irena Kogan, Jewish Immigration from the Former Soviet Union to
Germany and Israel in the 1990s, in: Leo Baeck Institute Year Book 50. 2005,
pp. 249 – 265, esp. p. 252.
115 This ever growing discrepancy becomes clearly visible in Dietz et al., Jewish Emigration,
p. 37, table 4. According to these statistics, in 1994, 8,811 people came to Germany as
Jewish quota refugees, but only 5,521 or 62.6 per cent were registered as Jews by the
communities. In 1997, only 7,092 of 19,437 quota refugees (36.5 per cent) were
recognized as halachically Jewish.
116 Zuwanderung gestalten, Integration fördern. Bericht der unabhängigen Kommission
Zuwanderung. Zusammenfassung, p. 11, http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/150408/publicationFile/9074/Zuwanderung_gestalten_-_Integration_Id_7670_de.pdf.
117 Irene Runge, Einwanderung nach der Halacha?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 46. 2001, pp. 1031 – 1034, esp. p. 1031.
ipabo_66.249.66.96
Negotiation of National Belonging
533
that not even the Orthodox in Israel had ever been able to impose.118 This
suggestion was never implemented, but had it been, it would have been yet
another twist in the twisted history of Jewish immigration to Germany within
the complicated triangle of German, Eastern European, and Jewish definitions
of belonging.
Jannis Panagiotidis, European University Institute, Department of History and
Civilization, Via Boccaccio 121, I-50133 Florence
E-Mail: [email protected]
118 Ibid.
ZEITHISTORISCHE FORSCHUNGEN
Studies in Contemporary History
Thema: Sicherheit
7. Jahrgang 2010/2
Einzelheft: € 26,45 D
ISSN 1612-6033
Aus dem Inhalt des Heftes:
Achim Saupe:
Von »Ruhe und Ordnung« zur
»inneren Sicherheit«
Eckart Conze
Nato-Nachrüstung und Friedensbewegung in der Bundesrepublik
Melanie Arndt
Von der Anti-AKW-Bewegung zum Engagement für die »Tschernobyl-Kinder«
Debatte
Die große Unsicherheit – Zur Historisierung der jüngsten Weltwirtschaftskrise
Die Zeitschrift Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History wird am
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H.
Jarausch und Martin Sabrow in Verbindung mit Zeitgeschichte-online.
Sie erscheint dreimal jährlich in zwei sich ergänzenden Ausgaben: einer Online-Ausgabe
(www.zeithistorische-forschungen.de) innerhalb des neuen Internetportals Zeitgeschichte-online und einer parallelen Druck-Ausgabe bei Vandenhoeck & Ruprecht mit etwa 160
Seiten je Heft (Bestellungen unter: [email protected]).
ipabo_66.249.66.96
Von Brandkatastrophen zur
Feuerversicherung
Cornel Zwierlein
Der gezähmte Prometheus
Feuer und Sicherheit zwischen
Früher Neuzeit und Moderne
Umwelt und Gesellschaft, Band 3
2011. 449 Seiten mit 7 Abb., 7 Tab., 21 Grafiken
und 18 Farbtafeln, gebunden
€ 49,99 D
ISBN 978-3-525-31708-2
In der Vormoderne stellten Stadtbrände eine der größtmöglichen Katastrophen
überhaupt dar: Sie vernichteten alles Hab und Gut, brannten Städte bis auf den
Grund nieder und markierten zugleich die Grenzen der Beherrschbarkeit der Natur. Feuerversicherungen waren seit dem 17. Jahrhundert als Vorläufer heutiger
Versicherungsgiganten die frühesten Formen institutioneller serieller Katastrophenbeobachtung.
Cornel Zwierlein verfolgt Umfang, Charakter und Wahrnehmung großer Brandkatastophen der Vormoderne, die Entwicklung des Versicherungsprinzips und der
Feuerversicherung in Deutschland und England von der Frühzeit im 15. bis in die
Hochzeit der Globalisierung im 19. Jahrhundert, von Istanbul über Kalkutta/Bombay bis in die USA. Die Studie liefert damit einen wesentlichen Beitrag zur
Katastrophen- und Sicherheitsgeschichte.
Aktuelle Sicherheitspolitik
Michael Staack (Hrsg.)
Zur Aktualität des
Denkens von Wolf
Graf von Baudissin
Innere Führung
Baudissin Memorial Lecture
2011. 57 Seiten. Kart.
7,90 € (D)
ISBN 978-3-86649-450-3
Mit seinen Konzepten des „Staatsbürgers in Uniform“
und der „Inneren Führung“ prägt Wolf Graf von Baudissin die Entwicklung der Bundeswehr bis heute.
Welche Bedeutung haben seine Konzepte für die aktuelle
Sicherheitspolitik? Die drei Beiträge der Veröffentlichung
beschäftigen sich mit der Aktualität seines Denkens.
Wissen, was läuft: Kostenlos budrich intern abonnieren!
Formlose eMail an: [email protected] – Betreff: budrich intern
Verlag Barbara Budrich •
Barbara Budrich Publishers
Stauffenbergstr. 7. D-51379 Leverkusen Opladen
Tel +49 (0)2171.344.594 • Fax +49 (0)2171.344.693 •
[email protected]
www.budrich-verlag.de • www.budrich-journals.de
ipabo_66.249.66.96
Volker Grieb / Sabine Todt (Hg.)
Piraterie von der Antike
bis zur Gegenwart
Unter Mitarbeit von Sünje Prühlen
Historische Mitteilungen – Beiheft 81
Volker Grieb / Sabine Todt (Hg.)
Piraterie von der Antike
bis zur Gegenwart
Unter Mitarbeit von
Sünje Prühlen
Piraterie ist aufgrund der zahlreichen Übergriffe
vor der Küste von Somalia und im Golf von Aden
wieder verstärkt in den Fokus einer größeren
Öffentlichkeit geraten. Dabei geht es nicht nur um
die Operation „Atalanta“ zum Schutz der zivilen
Seefahrt, sondern auch um Fragen, die Staatlichkeit, internationales Handeln und wirtschaftliche
Interessen betreffen.
Dieser Band beleuchtet im ersten Teil Piraterie in
Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Im zweiten
Teil wird das Problem der modernen Piraterie aus
verschiedenen Perspektiven eingehend betrachtet.
Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf Somalia und der
Piraterie vor der Küste des Landes. Der Band zeigt
somit unterschiedliche Facetten wie auch Kontinuitäten der Piraterie und trägt zu einem differenzierteren, epochenübergreifenden Verständnis dieses
Phänomens von der Antike bis zur Gegenwart bei.
.......................................................................................
2012.
313 Seiten mit 15 Abbildungen.
Kart.
¤ 59,–
ISBN 978-3-515-10138-7
Ebenfalls lieferbar
Jürgen Elvert / Sigurd Hess /
Heinrich Walle (Hg.)
Maritime Wirtschaft
in Deutschland
Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht
im 19. und 20. Jahrhundert
Historische Mitteilungen – Beiheft 82
2012. 228 Seiten mit 41 Abbildungen und 4 Tabellen.
Kart. ¤ 36,–. ISBN 978-3-515-10137-0
Franz Steiner Verlag
Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart
Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390
E-Mail: [email protected]
Internet: www.steiner-verlag.de
Schriften der Gesellschaft
für europäisch-jüdische Literaturstudien
Herausgegeben von Alfred Bodenheimer
und Barbara Breysach
Alfred Bodenheimer
Barbara Breysach (Hg.)
SCHRIFTEN DER
GESELLSCHAFT FÜR
EUROPÄISCH-JÜDISCHE
LITERATURSTUDIEN
BAND 5
Sylvia Jaworski
n
e
u
Vivian Liska (Hg.)
Am Rand
Grenzen und Peripherien
in der europäisch-jüdischen
Literatur
Band 5
AM RAND
Grenzen und Peripherien in der
europäisch-jüdischen Literatur
Gastherausgeber: Sylvia Jaworski
und Vivian Liska
etwa 230 Seiten, ca. € 28,–
ISBN 978-3-86916-203-4
Die »Schriften der Gesellschaft für europäisch-jüdische Literaturstudien« vermitteln jüdisches Schreiben in Europa von seinen Anfängen bis zur Gegenwart und bieten ein Forum für
interdisziplinäre Forschung im Bereich von Literaturwissenschaft und Jüdischen Studien.
Der aktuelle Band erkundet die europäisch-jüdische Literatur geografisch und konzeptuell
neu. Dabei werden in allen Beiträgen Grenzbereiche – räumliche und solche in den Köpfen –
des jüdischen Schreibens untersucht.
Ebenfalls in der Reihe erhältlich:
Band 1
Jüdische Literatur als europäische Literatur
Europäizität und Jüdische Identität 1880–1930
Gastherausgeber: Caspar Battegay
2009, 304 Seiten, € 29,–
ISBN 978-3-88377-941-6
Band 2
Rück-Blick auf Deutschland
Ansichten hebräischsprachiger Autoren
Gastherausgeberin: Anat Feinberg
2009, 176 Seiten, € 24,–
ISBN 978-3-86916-022-1
Band 3
Abschied von Europa
Jüdisches Schreiben zwischen 1930 und 1950
2010, 240 Seiten, € 24,–
ISBN 978-3-86916-099-3
Band 4
Alfred Bodenheimer
In den Himmel gebissen
Aufsätze zur europäisch-jüdischen Literatur
204 Seiten, € 26,–
ISBN 978-3-86916-149-5
Levelingstraße 6 a
81673 München
[email protected]
www.etk-muenchen.de
ipabo_66.249.66.96
Neu bei Mohr Siebeck
Informationen zum
eBook-Angebot:
www.mohr.de/ebooks
Karl R. Popper
Gesammelte Werke
Band 15: Ausgangspunkte.
Meine intellektuelle Entwicklung
Übers. v. Friedrich Griese
Hrsg. v. Manfred Lube
In 40 Essays schildert Karl R.
Popper die Impulse für seine
frühe geistige Entwicklung und
stellt die philosophischen Problemstellungen dar, mit denen er
sich jahrzehntelang auseinandergesetzt hat. Die Ausgangspunkte
eröffnen den Zugang zu Problemstellungen von Erkenntnistheorie, Logik, Wahrscheinlichkeit,
Marxismus, Historizismus,
Induktion, Quantenmechanik,
Kunst und Musik, Darwinismus,
Leib-Seele-Problem und dem
Konzept der Welt 3, und können als Einführung in Poppers
Lebenswerk gelesen werden.
2012. Ca. 500 Seiten.
ISBN 978-3-16-150288-0 Ln € 109,– ;
in der Subskription € 94,–;
ISBN 978-3-16-152069-3 Br € 49,–
(November)
Søren Gosvig Olesen
Transzendentale Geschichte
Aus d. Dänischen übers. v.
Monika Wesemann
Im Austausch mit der Philosophie des europäischen Kontinents von Kant und Hegel bis
Derrida und Agamben geht es
um zwei Zielsetzungen: Um den
Begriff der geschichtlichen Zeit
und die These, dass Geschichte
die Bedingung der menschlichen
Erkenntnis bildet.
2012. VIII, 161 Seiten (PhU 29).
ISBN 978-3-16-151984-0 Ln € 69,–
eBook
Eric L. Jones
Das Wunder Europa
Umwelt, Wirtschaft und
Geopolitik in der Geschichte
Europas und Asiens
Übers. v. Monika Streissler
»Für die vergleichende Zivilisationsforschung ein unentbehrliches Buch.«
Dieter Senghaas in
Das Historisch-Politische Buch
11 + 12 Jg. 40/1992, Nr. 837, S. 448
2. dt. A., erw. um d. Nachw. zur
3. engl. A. 2012. XLVII, 331 Seiten
(EdG 72). ISBN 978-3-16-152070-9
fBr € 34,–
Subsumtion
Schlüsselbegriff der Juristischen
Methodenlehre
Hrsg. v. Gottfried Gabriel u.
Rolf Gröschner
Die Logik des Syllogismus ist erst
der Anfang einer Philosophie der
Subsumtion.
2012. VIII, 468 Seiten (POLITIKA 7).
ISBN 978-3-16-152080-8 fBr € 59,–
Sprache – Recht –
Gesellschaft
Hrsg. v. Carsten Bäcker,
Matthias Klatt u. Sabrina
Zucca-Soest
Referenten aus den Gebieten der
Rechtswissenschaft, der Philosophie, der Linguistik und der
Politikwissenschaft beantworten
grundlegende und aktuelle Fragen im Feld von Sprache, Recht
und Gesellschaft.
2012. X, 362 Seiten.
ISBN 978-3-16-151829-4 Ln € 84,–
Mohr Siebeck
Tübingen
[email protected]
www.mohr.de
Wirtschafts- und Sozialgeschichte
des modernen Europa.
Economic and Social History of Modern Europe.
Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa
Economic and Social History of Modern Europe
Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa
Economic and Social History of Modern Europe
l 1
Hesse | Kleinschmidt | Reckendrees | Stokes [Hrsg.]
Ute Engelen
Europäische Wirtschaftsund Sozialgeschichte
Demokratisierung der
betrieblichen Sozialpolitik?
l 2
Das Volkswagenwerk in Wolfsburg und
Automobiles in Sochaux 1944 - 1980
Nomos
Nomos
Europäische Wirtschaftsund Sozialgeschichte
Demokratisierung der
betrieblichen Sozialpolitik?
Herausgegeben von Jan-Otmar Hesse,
Christian Kleinschmidt,
Alfred Reckendrees und Ray Stokes
Das Volkswagenwerk in Wolfsburg und
Automobiles in Sochaux 1944 – 1980
2012, Band 1, ca. 350 S., geb., ca. 64,– €
ISBN 978-3-8329-7760-3
2013, Band 2, ca. 680 S., brosch., ca. 59,– €
ISBN 978-3-8329-7759-7
Von Ute Engelen
Erscheint ca. Dezember 2012
Erscheint ca. Mai 2013
www.nomos-shop.de/19568
www.nomos-shop.de/19564
Der Auftaktband der „Wirtschafts- und
Sozialgeschichte des modernen Europas“
präsentiert eine Auswahl von Themen, die
das Profil der neuen Schriftenreihe umreissen. Renommierte europäische Autorinnen
und Autoren geben einen inhaltlichen Überblick über aktuelle Forschungsthemen und
verweisen auf Forschungskontroversen und
–perspektiven.
Die Studie an der Schnittstelle von Unternehmens- und Sozialgeschichte gibt
auf breiter Quellengrundlage nicht nur
Aufschluss über den inhaltlichen Wandel
und die zunehmende Aushandlung betrieblicher Sozialleistungen nach 1945. Neben
Entwicklungen in zwei Automobilbetrieben
analysiert sie auch gesellschaftliche Trends
in Deutschland und Frankreich.
Nomos
ipabo_66.249.66.96
Aus dem Inhalt von Heft 4-2012
Neue Menschenrechtsgeschichte
Herausgeber: Stefan-Ludwig Hoffmann
Stefan-Ludwig Hoffmann
Einleitung
Samuel Moyn
Die neue Historiographie der Menschenrechte
Jan Eckel
Humanitarisierung der internationalen Beziehungen? Menschenrechtspolitik
in den 1970er Jahren
Michal Kopeček
Human Rights Facing a National Past. Dissident ‘Civic Patriotism’ and the
Return of History in East Central Europe, 1968–1989
Diskussionsforum
Christian Marx und Karoline Krenn
Kontinuität und Wandel in der deutschen Unternehmensverflechtung.
Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, 1914–1938
Hilmi Ozan Ozavci
Liberal Thought and Public Moralists in Turkey. The Transmission of
Ideas and the Conceptions of the Self, 1891–1948