Redaktionsanschrift Geschichte und Gesellschaft, Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin, FB Geschichts- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstr. 20, D-14195 Berlin E-Mail: [email protected] (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes) Olga Sparschuh, M.A. und Anna Barbara Sum, M.A. (Redaktionsass.): [email protected] Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. Geschichte und Gesellschaft (Zitierweise GG) erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Preis dieses Jahrgangs im Abonnement € 71,- / 73,- (A) / sFr 94,90; Inst.-Preis € 142,- / 146,- (A) / sFr 185,-; für persönliche Mitglieder des Verbandes der Historiker Deutschlands (bei Direktbezug vom Verlag) € 59,- / 60,70 (A) / sFr 78,90; Einzelheft € 20,45 / 21,10 (A) / sFr 29,50, jeweils zzgl. Versandkosten. 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KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen. *44/9 *44/9&+PVSOBM 1 Beilage: Vandenhoeck & Ruprecht. ipabo_66.249.66.96 Geschichte und Gesellschaft Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft Herausgegeben von Werner Abelshauser / Jens Beckert / Christoph Conrad / Sebastian Conrad / Ulrike Freitag / Ute Frevert / Wolfgang Hardtwig / Wolfgang Kaschuba / Simone Lässig / Paul Nolte / Jürgen Osterhammel / Margrit Pernau / Sven Reichardt / Rudolf Schlögl / Manfred G. Schmidt / Martin Schulze Wessel / Hans-Peter Ullmann Geschäftsführend Christoph Conrad / Ute Frevert / Paul Nolte Vandenhoeck & Ruprecht ipabo_66.249.66.96 Geschichte und Gesellschaft 38. Jahrgang 2012 / Heft 3 Herausgeber dieses Heftes: Cornel Zwierlein Vandenhoeck & Ruprecht Inhalt Cornel Zwierlein Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der Geschichtswissenschaften Security History. A New Field of Historical Research . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Christopher Daase Die Historisierung der Sicherheit. Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht The Historicization of Security. Remarks on Historical Security Research from a Political Science Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Steffen Patzold Human Security, fragile Staatlichkeit und Governance im Frühmittelalter. Zur Fragwürdigkeit der Scheidung von Vormoderne und Moderne Human Security, Fragile Statehood and Governance in the Early Middle Ages. Challenging the Limits of Premodernity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Cornel Zwierlein Grenzen der Versicherbarkeit als Epochenindikatoren? Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung des 19. Jahrhunderts Limits of Insurability as Epochal Indicators? From the European Sattelzeit to 19th Century Globalization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Eckart Conze Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz? Securitization. Diagnosis of the Present or an Approach for Historical Analysis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Diskussionsforum Roland Cvetkovski Schöne neue Welt. Zur Poetik des Museums in Frankreich, 1790 – 1795 Brave New World. On the Poetics of the Museum in France, 1790 – 1795 . 468 Jannis Panagiotidis “The Oberkreisdirektor Decides Who Is a German”. Jewish Immigration, German Bureaucracy, and the Negotiation of National Belonging, 1953 – 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der Geschichtswissenschaften von Cornel Zwierlein* Abstract: “Security” is such a general concept that, on the one hand, it is omnipresent in all fields of historical research; on the other hand, a closer look reveals that there seems not to exist a real specialized sub-discipline or field that bears this title. While in political sciences, criminology, sociology and jurisprudence, and especially in the field of international relations, security studies is a well established and broad field of research, history has not yet established a corresponding field. This special issue about “Security and Epochal Frontiers” shows that important contemporaneous changes in concept and practices of “security production” after the end of the Cold War (the emergence of “extended, comprehensive, human security”, the fading away of the border between internal and external security) have caused our historical perception of “security” to change massively and historiography to respond to this challenge. „Sicherheit“ ist ein so genereller Gegenstand und ein so umfassendes Konzept, dass es einerseits ubiquitär in unterschiedlichsten Bereichen der Geschichtswissenschaft vorkommt; andererseits muss man bei näherem Hinsehen aber verblüfft konstatieren, dass es kein eigenes Feld der Geschichte von Sicherheitsproduktion und -kommunikation in der longue dure gibt. In den Gegenwartswissenschaften der Politikwissenschaft, der Kriminologie, der Soziologie und der Rechtswissenschaft, insbesondere auch im Bereich des Völkerrechts und der Internationalen Beziehungen ist Sicherheitsforschung ein längst breit etabliertes Feld. Hier wird vor allem beklagt, dass es an einer „integrierende[n] Perspektive auf den Wandel von Sicherheit als einen Prozess, der die nationale und internationale Gesellschaft produziert, reproduziert und transformiert“, fehlt.1 Jenseits der Frage nach einer integrierenden Perspektive müsste der Historiker sich auch bei der nach dem Wandel * Die Beiträge dieses Hefts beruhen auf der Sektion „Grenzen der Sicherheit, Grenzen der (Spät)Moderne“ des Historikertags Berlin 2010. 1 Christopher Daase, Sicherheitskultur. Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung politischen und sozialen Wandels, in: Security and Peace 29. 2011, S. 59 – 65, hier S. 59. In anderen Bereichen, wie der Kriminologie wird hingegen ähnlich wie für die Geschichtswissenschaft mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass „security“ erst seit etwa zehn Jahren ein zentrales Thema wurde: Lucia Zedner, Security, London 2009, S. 1. Vgl. für einen Forschungsstand aus der Perspektive der Sicherheitsvorsorgeund Versicherungsgeschichte Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Göttingen 2011. Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 365 – 386 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012 ISSN 0340-613X 366 Cornel Zwierlein unmittelbar angesprochen fühlen – und doch finden sich erst seit einigen Jahren Ansätze mit dem generelleren Anspruch einer „Sicherheitsgeschichte“. Im Folgenden wird kurz ein Überblick gegeben, wie und mit welchen Fragestellungen in der historischen Forschung schon Ansätze zu einer „Sicherheitsgeschichte“ vorhanden sind (I). Es wird dann auf die gegenwärtigen einschneidenden Änderungen der Sicherheitskonzepte auf internationaler Ebene in dem, was man Post- oder Spätmoderne nennen mag, eingegangen, die zweifelsohne Auslöser für einen wahrgenommenen Bedarf auch einer erweiterten, umfassenderen Sicherheitsgeschichte sind (II). Schließlich werden kurz mögliche Formen der heuristischen Operationalisierung einer solchen Sicherheitsgeschichtsschreibung angesprochen. Hierzu zählt insbesondere auch die Frage nach dem Verhältnis der Sicherheitsproduktion und Sicherheitsregime zu den jeweiligen Grundkonstituenten einer „Epoche“ – wobei eine mögliche Antwort sogar in der Infragestellung klassischer Epochen-Unterteilungsmuster liegen kann (III). I. „Sicherheit“ als Thema der Geschichtswissenschaften Schon Lucien Febvre hatte 1956 aus der Perspektive der Sensibilitätsgeschichte, aus welcher später die französische Mentalitätsgeschichte wurde, in einer kurzen Skizze eine allgemeinere Sicherheitsgeschichte gefordert, aber dem folgte außer Jean Delumeaus Geschichte der „Angst im Abendland“ keine breite Sicherheitsforschung, zumal hier eher das Gegenstück, Sorge und Angst, untersucht wurde, nicht Sicherheit.2 Die Geschichte von „Sicherheitspolitik“ ist in der Zeitgeschichte immer mitbehandelt worden, solange und seitdem dieser spezifische Begriff in der Politikpraxis der Nachkriegszeit leitend wurde – aber dies war eine wenig allgemein konzeptualisierte Spielart der Politikgeschichte. Erst in jüngster Zeit haben hier Eckart Conze und Andreas Rödder 2 Lucien Febvre, Pour l’histoire d’un sentiment. Le besoin de scurit, in: Annales 11. 1956, S. 244 – 247. Febvre reagierte dort zunächst eigentlich auf die Arbeiten von Jean Halprin, La Notion de scurit dans l’histoire conomique et sociale, in: Revue d’Histoire conomique et Sociale 30. 1952, S. 7 – 25, die der Versicherungsgeschichte zuzurechnen sind. Dieser Strang blieb von Febvre dann auch berücksichtigt und wurde in der folgenden Generation der Annales (Braudel) noch einmal im Febvre’schen Sinne aufgegriffen bei Louis A. Boiteux, La fortune de mer. Le besoin de scurit et les dbuts de l’assurance maritime, Paris 1968; im Übrigen wurde dieser Aspekt dann aber kaum beachtet. Die andere, von Febvre angesprochene Linie des Gefühls von Unsicherheit im Glauben und seine Bändigung findet sich dann entfaltet bei Jean Delumeau, La peur en Occident, XIVe-XVIIIe sicles. Une cit assige, Paris 1978; ders., Le pch et la peur. La culpabilisaiton en Occident, XIIIe-XVIIIe sicles, Paris 1983; ders., Rassurer et protger. Le sentiment de scurit dans l’Occident d’autrefois, Paris 1989. ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 367 breiter angelegte Ansätze formuliert, allerdings mit einem speziellen Fokus auf die Zeitgeschichte.3 In einer leicht zu übersehenden Fußnote des erwähnten klassischen Aufsatzes zum „besoin de scurit“ betonte Febvre damals gegen Halprin, dass es sich bei „Sicherheit“ um ein Gefühl, nicht um ein Konzept handele. Diese Gegenüberstellung als Opposition zu verstehen, ist wahrscheinlich eher hinderlich, sie zeigt aber einen Problembereich auf, der auch in den neuesten Ansätzen wenig klar konturiert ist – das Verhältnis von Beschreibungs- und Objektebene sowie das Verhältnis von subjektivem Wahrnehmungsbereich und konzept-, struktur- und institutionengeschichtlichen Fragen. Schon die Begriffsgeschichte zu „Sicherheit“ in allen Derivatbegrifflichkeiten steckt noch in den Kinderschuhen; zwar ist der klassische Artikel Werner Conzes für den deutschen Sprachraum nach wie vor ein guter Ausgangspunkt,4 für eine breitere Betrachtung fehlt aber sowohl eine europäische (oder gar globale) Fundierung, selbst für den deutschsprachigen Bereich mangelt es an einer über Conze hinausgehenden Vertiefung. Etliche Quellenselektionen in seinem Überblick scheinen willkürlich und müssten auf epochale und thematische Repräsentativität geprüft werden. Das starke Gewicht, das etwa der Hobbes’schen Sicherheitskonzeption zugesprochen wird und das sich als Topos in vielen Abrissen zum Sicherheitsbegriff findet, dürfte für die Frühe Neuzeit selbst kaum haltbar sein, weder für Großbritannien selbst noch für Kontinentaleuropa; es handelt sich eher um die historisch rückprojizierte Bedeutung des im 19. und 20. Jahrhundert kanonisierten Hobbes als Vordenker des rigiden Sicherheitsstaats. Der europäische Ausblick wäre umso mehr von Bedeutung, als „Sicherheit“ als Abstraktum wohl überhaupt erst über die romanisch-neolateinische Vermittlung Einzug auch in die nicht-romanischen Länder hielt. Dies wiederum hat mindestens eine Korrespondenz auf der strukturgeschichtlichen Ebene: Werner Conze ist sicherlich Recht zu geben, dass für den kontinentaleuropäischen Raum die Faustregel gilt, dass Sicherheit als Leitbegriff und -konzept primär im Zusammenhang mit der Entstehung des Territorialstaates an Bedeutung gewinnt.5 Dass securitas/securit als 3 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 3. 2005, S. 357 – 380; Andreas Rödder, Sicherheitspolitik und Sozialkultur. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Geschichtsschreibung des Politischen, in: Hans-Christof Kraus u. Thomas Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 95 – 125. 4 Werner Conze, Art. Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner u. a., Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831 – 862. Obwohl vom Umfang her monographisch, erbringt Andrea Schrimm-Heins, Gewißheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas, Diss. Universität Bayreuth 1990 wenig tiefere Einsicht. 5 Entsprechend betont zuletzt Franz-Xaver Kaufmann, Erosion der „sicheren Normalgesellschaft“ in der Gegenwart?, in: Cornel Zwierlein u. a. (Hg.), Sicherheit und Krise. 368 Cornel Zwierlein politischer Ziel- und Leitbegriff also wohl zunächst im italienischen Raum auftaucht, ist insoweit nicht verwunderlich, da hier auch, im Gewand der stadtrepublikanischen Entwicklung, besonders frühe Formen von Territorialstaatlichkeit vorzufinden sind.6 Ein dünner Rezeptionsstrang mag hier aus der römischen Antike für die Begriffsbildungen mitverantwortlich sein, allerdings ist „Sicherheit“ dort auch nicht extrem prominent und scheint im römischen Imperium erst seit Nero und vor allem seit dem 2. Jahrhundert einen gewissen Stellenwert zu erhalten, so dass die Allegorie der securitas publica auf Münzprägungen (mindestens ab Antoninus Pius) zu finden ist. Einen breiteren Stellenwert scheint „Sicherheit“ auch als politischer Leitbegriff hier nicht einzunehmen, Forschung dazu gibt es aber kaum. Im nord- und westeuropäischen Mittelalter, also in vorterritorialstaatlicher Zeit, hatte der Begriff ebenfalls relativ wenig Prominenz und trat meist hinter dem Begriffscluster „Frieden“ zurück.7 Dieser Quellenbefund bedeutet natürlich nicht, dass man nicht auch für Antike und Mittelalter beschreibungssprachlich nach einer Geschichte von Sicherheitsbedrohungen und Sicherheitsproduktionsmitteln fragen könnte; aber man muss mit dem Phänomen umgehen, dass die Zeitgenossen selbst keinen Begriff (nicht nur speziell diesen Wortkörper) von Interdisziplinäre Beiträge, Paderborn 2012, S. 32 – 40, hier S. 35 – 37, dass heute vor allem die auf den Staat gerichteten Sicherheitserwartungen erodieren, weil der Staat selbst zerfasert (im Sinne von Stephan Leibfried u. Michael Zürn, Transformation of the State? Cambridge 2005). Zur Auseinandersetzung mit Kaufmanns sicherheitssoziologischer Grundlegung vgl. den Beitrag Zwierlein in diesem Heft. 6 Vgl. nur Giorgio Chittolini u. a. (Hg.), Origini dello stato. Processi di formazione statale in Italia fra medioevo ed et moderna, Bologna 1994. 7 Die securitas publica ist in der römischen Antike vor allem als eine politische Herrschertugend überliefert (etwa bei Macrobius). Neben Concordia, Libertas, Salus, Pax, Fides Exercituum, Victoria, Virtus haben die römischen Kaiser seit den JulioClaudiern immer wieder Münzen mit der allegorischen Frauengestalt Securitas (populi romani) oder Securitas publica geprägt. Vgl. Carsten Binder, Art. Securitas in: Der Neue Pauly online, http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/securitase1106320; Julian Bennett, Trajan. Optimus Princeps, Bloomington 20012, S. 72; Michael Dillon, Politics of Security. Towards a Political Philosophy of Continental Thought, London 1996, S. 125; Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Teil II, Bd. 17/2, hg. v. Wolfgang Haase, Berlin 1981, S. 903 f.; Hans Ulrich Instinsky, Sicherheit als politisches Problem des römischen Kaisertums, Baden-Baden 1952. Die antike securitas (publica), wie sie fast ausschließlich über Münzen überliefert war, wird erst in der Renaissance wieder so rezipiert, vgl. Sebastiano Erizzo, Discorso sopra le medaglie antiche, con la particolar dichiaratione di molti riuersi, Nuouamente mandato in luce, Venedig 1559, S. 394, S. 403, S. 434 u. S. 463. Zur außenpolitischen Friedensbegrifflichkeit in der Übergangszeit des Spätmittelalters vgl. Martin Kinzinger, Westbindungen im spätmittelalterlichen Europa. Auswärtige Politik zwischen dem Reich, Frankreich, Burgund und England in der Regierungszeit Kaiser Sigmunds, Stuttgart 2000, S. 348 – 359. ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 369 dem hatten, was seit der Neuzeit „Sicherheit“ meint. Das mag damit zusammenhängen, dass sich das Imperium Romanum als Herrschaftsgebilde einerseits extrem weit erstreckte, andererseits von der diskursprägenden Perspektive des Zentrums Rom her weniger räumlich als netzwerkförmig gedacht war. Denn „Sicherheit“ wird zunehmend in Zusammenhängen mit Raumbezug zum Leitbegriff, etwa bei Reisen im Mittelalter, wenn Geleitbriefe „securitas“ gewähren – Frieden herrscht so zwischen Personen, Sicherheit in einem Raum, einer Sphäre, wie sie insbesondere (aber nicht ausschließlich) die Stadt8 und der Staat schaffen. Das personenrelational ausgerichtete Mittelalter hatte für dieses Konzept noch wenig Gebrauch.9 Wann und wie „Sicherheit“ als Leitbegriff einer innere und äußere Sicherheit scheidenden und zugleich als interdependent wahrnehmenden Politik im Rahmen gouvernementaler Diskurse und Praktiken verstärkt auftaucht, ist noch wenig untersucht. Für den deutschen Sprachraum wird stets auf Leibniz’ berühmtes „Bedencken welchergestalt Securitas publica interna et externa und Status praesens im Reich 8 Peter Schuster, Hinter den Mauern das Paradies? Sicherheit und Unsicherheit in den Städten des späten Mittelalters, in: Martin Dinges u. Fritz Sack (Hg.), Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000, S. 67 – 84, betont, dass neben der allgemeinen Vorstellung, die Stadt biete ihren Bewohnern Sicherheit, auch die Vorstellung der Nachfolge des Himmlischen Jerusalems eine Rolle gespielt haben mochte. 9 Beispiel vom Ende des 11. Jahrhunderts: Der populus genieße die securitas im Stadtraum, die von Naturkatastrophen bedroht wird: Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium, hg. v. Claudia Zey (= MGH Scriptores LXVII), Hannover 1994, S. 200. Auch hier gibt es freilich die starke Tendenz, dass die Begriffe „securo/securt“ sich zuerst ganz primär auf Personen und nur selten auf das Territorium in seiner Herrschaftsräumlichkeit beziehen, wie etwa beim Geleitwesen: „Ceterum, iustissime princeps, ingenti iocunditate percepimus benignitatem vestram non obstantibus processibus per apostolicam sedem factis contra nostrum commune cunctis civibus et mercatoribus Florentinis securitatem plenissimam indulsisse.“ (Brief Coluccio Salutati an König Karl V., 15. 5. 1376, Die Staatsbriefe Coluccio Salutatis, hg. v. Hermann Langkabel, Köln 1981, S. 127, Hervorhebung C.Z.). Auch im berühmten Fresko Lorenzettis im Palazzo del Governo von Siena, in dem die securitas allegorisch dargestellt ist, schwebt sie sicherheitsgewährend über der Straße und den Reisenden (vgl. hierzu nur Quentin Skinner, Ambrogio Lorenzetti’s Buon Governo Frescoes: Two old Questions, Two new Answers, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 62. 1999, S. 1 – 28; zuletzt Gerrit J. Schenk, „Human Security“ in the Renaissance? Securitas, Infrastructure, Collective Goods and Natural Hazards in Tuscany and the Upper Rhine Valley, in: Cornel Zwierlein u. a. (Hg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History, Historical Social Research 35. 2010, S. 213 – 237. Bei Machiavelli (Il Principe, Kap. III, IV, VI, XV, XIX) ist immer wieder die Sicherheit von Fürsten/Fürstentümern als politisches Ziel erwähnt („securit del re e del regno“). 370 Cornel Zwierlein ietzigen Umbständen nach auf Festen Fuß zu stellen“ von 1670 hingewiesen, das auf die Bedrohungen des Reichs durch Ludwig XIV. reagierte und von Kurmainz angeregt war ; dass der antik-römische Begriff der securitas publica sicher aber schon früher in Europa neu rezipiert wurde, wurde soeben dargelegt.10 Eine genauere Entwicklungsgeschichte dieses Denkens in innerer und äußerer Sicherheit und ihrer Interdependenz sowie der daraus folgenden Entscheidungsmuster oder Institutionsbildungen liegt nicht vor, eine solche müsste jedenfalls schon im Spätmittelalter ansetzen. Erst jüngst hat an einem zunächst überraschenden Beispiel David Cressy gezeigt, wie die Privy Councillors der englischen Regierung im Jahr 1601 eine merkantilistische Wirtschaftspolitik auch als Sicherheitspolitik verstanden, wenn sie zum Beispiel die Produktion von Salpeter als entscheidendem Rohstoff für die Schießpulverproduktion im eigenen Land als Grundbedingung für die Sicherheit aller Untertanen, ihrer Güter und der Krone selbst beschrieben: The benefit of making saltpetre and gunpowder within this land is so infinite that it stretcheth not only to the security of the goods, lands, and lives of all her majesty’s subjects, but also to the preservation of her highness’s royal person, her crown and dignity, and the maintenance of true religion.11 In der Tat ist man geneigt, dies als frühe Form eines gesamtstaatlichen Sicherheitsdenkens zu verstehen, in dem die militärrelevante Ressourcenverfügbarkeit in einem weiten Interdependenzverhältnis gedacht wird. Wer aber jenseits solcher Einzelbeobachtungen nach größeren synchronen oder diachronen Vergleichen und Synthesen sucht, wird rasch enttäuscht. Internationale wie nationale geschichtswissenschaftliche Bibliographien vermitteln einem schnell den Eindruck, dass das Sicherheitsthema, wenn überhaupt, dann in der Zeitgeschichte schon stärkere Beachtung gefunden hat. Die Fäden bleiben aber jeweils unverknüpft; oft findet man auch 10 Vgl. Anm. 5 und zu Leibniz Kirsten Hauser, „Securitas Publica“ und „Status Praesens“. Das Sekuritätsgutachten von Gottfried Wilhelm Leibniz (1670), in: Sven Externbrink u. Jörg Ulbert (Hg.), Formen internationaler Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Frankreich und das Alte Reich im europäischen Staatensystem. Festschrift für Klaus Malettke zum 65. Geburtstag, Berlin 2001, S. 443 – 466; Karl Härter, Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedensordnung, 1648 – 1806, in: ZHF 30. 2003, S. 413 – 431, bes. S. 415 – 419; Gerhard Fritz, Sicherheitsdiskurse im Schwäbischen Kreis im 18. Jahrhundert, in: Karl Härter u. a. (Hg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt 2010, S. 223 – 269, hier S. 226 – 229. 11 David Cressy, Saltpetre, State Security and Vexation in Early Modern England, in: Past and Present 212. 2011, S. 73 – 111, hier S. 90. Außer diesem und einem zweiten Zitat taucht in Cressys Beitrag allerdings der Sicherheitsbegriff nicht mehr auf und auch auf der methodisch-beschreibungssprachlichen Ebene reflektiert Cressy seinen Titelbegriff nicht. ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 371 „Sicherheit“ mitverhandelt als Subthema im Rahmen von Studien zu anderen politischen Leitbegriffen oder Ideologemen, etwa zum Liberalismus.12 Insofern kann hier auch kein echter „Forschungsstand“ gegeben, sondern nur ein Blick auf einige schon existierende Verdichtungen von Sicherheitsgeschichte geworfen werden. Beispielsweise wurde für die amerikanische New DealPolitik der 1930er und 1940er Jahre, die auch auf die Gewährleistung von social security mit dem gleichnamigen Act von 1935 zielte, betont, dass sie unter dem Eindruck des Kriegs die härtere Linie des „National Security State“ mit seinen Organen, dem National Security Council und der CIA 1947 vorbereitet habe.13 Die Geschichte der Polizei und Inneren Sicherheit ist ein Feld, das eine ähnliche Dynamik entfaltet hat, aber wenig in größere Zusammenhänge eingeordnet wird.14 Zu den Organen der nationalen oder Staatssicherheit eines jeden Landes und insbesondere verschiedener Diktaturen gibt es eine Fülle von biographischen und institutionengeschichtlichen Einzeluntersuchungen. Aber häufig ist man beim näheren Hinsehen erstaunt, dass die angewandten Heuristiken wie Alltags- oder Institutionengeschichte dazu führen, dass das eigentlich namensgebende Zentralkonzept dieser Institutionen gar nicht mehr vorkommt: Sicherheit. Dies gilt für große Teile der DDR-StaatssicherheitForschung,15 weniger für den einschlägigen Bereich der Geschichte der 12 „Job security, life-cycle security, financial security, market security – however it might be defined, achieving security was the leitmotif of virtually everything the New Deal attempted.“ David M. Kennedy, Freedom from Fear. The American People in Depression and War, 1929 – 1945, New York 1999, S. 365. 13 Michael J. Hogan, A Cross of Iron. Harry S. Truman and the Origins of the National Security State, 1945 – 1954, Cambridge 1998; zum National Security Act und den durch ihn gegründeten Institutionen nun Douglas T. Stuart, Creating the National Security State. A History of the Law that transformed America, Princeton 2008, der hervorhebt, dass dieses Gesetz das wohl zweitprägendste und -wichtigste des 20. Jahrhunderts in der Geschichte der USA nach dem Civil Rights Act von 1964 ist, dass aber im Vergleich zu letzterem eine erstaunlich geringe Anzahl von Studien vorliegt. Für einen Vergleich der 1975 eingesetzten Church-Kommission (benannt nach Senator Frank Church, Demokrat aus Idaho) zur Überprüfung der Arbeitsweise der Intelligence Services mit der Analyse der gegenwärtigen extremen Ausweitung der National Security Institutionen seit 9/11 vgl. Russell A. Miller (Hg.), US National Security, Intelligence and Democracy. From the Church Committee to the War on Terror, London 2008. 14 Vgl. nur beispielhaft Alf Lüdtke (Hg.), „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1992; Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit. Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003; ders., Youth Crime, Urban Spaces and Security in Germany since the 19th Century, in: Zwierlein u. a., The Production of Human Security, S. 89 – 104. 15 Vgl. nur exemplarisch Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007 (keiner der 18 Beiträge reflektiert genauer das Sicherheitskonzept des MfS); Henry Leide, NS-Verbrecher und Staats- 372 Cornel Zwierlein außenpolitischen und militärischen Sicherheitspolitik;16 aber auch hier, etwa für die USA mit dem National Security Act von 1947, überwiegen derzeit noch biographische, ereignis- und institutionengeschichtliche Ansätze.17 In der historischen Terrorismusforschung, die einen neuen Schub erhalten hat, werden immer wieder auch Reaktionen im Bereich staatlicher Sicherheitsdispositive auf die anvisierte Gefahr in den Fokus gerückt. So etwa bei Carola Dietze und Frithjof Benjamin Schenk, die zeigten, wie zunächst eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der soldatisch-aristokratischen Selbstinszenierung und der Sakralisierung des Zarentums und der modernen Terrorismus-Gefahr herrschte, und wie dann nach dem Attentat von 1879 zunehmend „moderne“ Gefahrantizipationen in die Instruktionen der Sicherheitskräfte und überhaupt in die staatlichen Sicherheitsdispositive Eingang fanden. Oft wird eine solche sicherheitsbezogene Perspektive aber nicht systematisiert.18 Denn trotz mancher solcher Einblicke dürfte die Anzahl von sicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005; Siegfried Mampel, Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei. Zur Bedeutung einer Heilslehre als Mittel zum Griff auf das Bewußtsein für das Totalitarismusmodell, Berlin 1996 (trotz des blumig auf die Ideologieanalyse zielenden Programms kommt „Sicherheit“ kaum vor); gleiches gilt für Georg Herbstritt u. Helmut Müller-Enbergs (Hg.), Das Gesicht dem Westen zu… DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 20032 ; Quelleneditionen wie Siegfried Suckut (Hg.), Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2009 zeigen, dass „Sicherheit“ als Quellenbegriff nicht formelhaft in diesem Quellentypus auftaucht, zu untersuchen und zu systematisieren wäre aber, was alles dem Aufgabenbereich der Staatssicherheit zugeordnet wird. 16 Vgl. etwa schon die Bände Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, 1945 – 1956, 4 Bde., München 1982 – 1997. 17 Etwa die Kollektivbiographie der nationalen Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Ivo H. Daalder u. I. M. Destler, In the Shadow of the Oval Office. Profiles of the National Security Advisers and the Presidents They Served – From JFK to George W. Bush, New York 2009; ähnlich z. B. Ernest R. May u. Philip D. Zelikow (Hg.), Dealing with Dictators. Dilemmas of U.S. Diplomacy and Intelligence Analysis, 1945 – 1990, London 2006; Scott C. Monje, The Central Intelligence Agency. A Documentary History, Westport 2008. 18 Carola Dietze u. Frithjof Benjamin Schenk, Traditionelle Herrscher in moderner Gefahr. Soldatisch-aristokratische Tugendhaftigkeit und das Konzept der Sicherheit im späten 19. Jahrhundert, in: GG 35. 2009, S. 368 – 401. Zum Terrorismus vgl. neben den anderen Beiträgen des entsprechenden GG-Heftes etwa Matthias Dahlke, Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa, 1972 – 1975, München 2011; Tobias Hof, Staat und Terrorismus in Italien, 1969 – 1982, München 2011; Markus Lammert, Die französische Linke, der Terrorismus und der „repressive Staat“ in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren, in: VfZ 59. 2011, S. 533 – 562; Johannes Hürter (Hg.), Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepubik Deutschland und Italien, 1969 – 1982, München 2010. Zum Thema ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 373 geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, die Geschichte ausschließlich von der anderen Seite der Sicherheits-Gegenbegriffe her untersuchen, rein quantitativ überwiegen: Seit Koselleck bis zu jüngsten Arbeiten hat etwa der Krisenbegriff – in unausgesprochener Spätwirkung marxistischer und prätermarxistischer Faszination – sowohl als Untersuchungsgegenstand wie als heuristisches Instrument, als explanans und explanandum offenbar größere Faszination ausgeübt als die Frage nach korrespondierenden Sicherheitsdispositiven.19 Auch die jüngere, auf gesamtgesellschaftliche Befindlichkeiten wie die Atomangst bezogene Gefühlsgeschichte knüpfte nicht bei Febvres besoin de scurit, sondern, wie schon Delumeau, bei der Angst an.20 Schließlich formierte sich auch im Übergang zwischen Allgemein- und Umweltgeschichte das neue Feld der Katastrophengeschichte sowohl hinsichtlich der Studien zum Katastrophenbegriff wie hinsichtlich der Einzeluntersuchungen zu Katastrophensituationen, Katastrophenkollektiven oder Resilienz allermeist vom „spektakulären“ Pol der Katastrophe, weniger vom korrespondierenden Pol der Sicherheitsdispositiv-Entwicklungen aus.21 Hier wirkt auch die gegenwartsarbeiten in Deutschland derzeit auch Fabian Lemmes (Bochum) für Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts, Petra Terhoeven (Göttingen) für Italien in den 1960ern/70ern. 19 Vgl. etwa zuletzt Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Krisendeutungen in Deutschland, 1918 – 1933, München 2008; Daniel Siemens, Das Narrativ der Krise in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Zwierlein, Sicherheit und Krise, S. 63 – 82. 20 Frank Biess, „Everybody Has a Chance“. Nuclear Angst, Civil Defence, and the History of Emotions in Postwar West Germany, in: German History 27. 2009, S. 215 – 243; für die USA nach wie vor Paul Boyer, By the Bomb’s Early Light. American Thought and Culture at the Dawn of the Atomic Age [1985], Chapel Hill 19942. Hinsichtlich der TerrorangstPolitik vgl. A. Trevor Thrall u. Jane K. Cramer (Hg.), American Foreign Policy and the Politics of Fear. Threat inflation since 9/11, London 2009. 21 Die Literatur ist hier inzwischen immens, im deutschsprachigen Kontext wird als Pionierarbeit immer hingewiesen auf Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung, in: HZ 233. 1981, S. 529 – 569. Bei genauer Betrachtung fordert der fulminant geschriebene Aufsatz aber nicht mehr ein als eine stärkere Beschäftigung mit dem Thema, eine spezifische Heuristik o. Ä. wird nicht angeboten. Die Katastrophengeschichte ist dann stark v. a. in der Frühneuzeitgeschichte, vgl. eine kleine Auswahl: Bartolom Bennassar (Hg.), Les catastrophes naturelles dans l’Europe mdivale et moderne, Toulouse 1996; Ren Favier (Hg.), Les pouvoirs publics face aux risques naturels dans l’histoire, Grenoble 2002; Michael Kempe u. Christian Rohr (Hg.), Coping with the Unexpected. Natural Disasters and their Perception, Environment and History 9. 2003; Monika Gisler u. a. (Hg.), Naturkatastrophen/Catastrophes naturelles, Traverse. Zeitschrift für Geschichte/Revue d’histoire 10. 2003; Gerrit Jasper Schenk u. Jens Ivo Engels (Hg.), Historical Disaster Research. Concepts, Methods and Case Studies, Historical Social Research 32. 2007; Ren Favier u. Claudine Remacle (Hg.), Gestion sociale des risques naturels/Gestione sociale dei rischi naturali, Valle d’Aosta 2007; Ren Favier u. Anne-Marie Granet-Abisset (Hg.), Histoire 374 Cornel Zwierlein orientierte Risikosoziologie nach, die ebenfalls eher vom Risiko als von der Sicherheit her denkt.22 Im Bereich der Wohlfahrtsstaatsgeschichte gibt es freilich eine nun schon längere Tradition, staatliche Systeme sozialer Sicherheit historisch zu untersuchen.23 Dem deutschen Vorlauf des Bismarck’schen et mmoire des risques naturels, Grenoble 2000; Dieter Groh u. a., Einleitung, in: dies. (Hg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen 2003; Ren Favier (Hg.), Rcits et reprsentations des catastrophes depuis l’Antiquit, Grenoble 2005; Ted Steinberg, Acts of God. The Unnatural History of Natural Disaster in America, Oxford 20062 ; Anne-Marie Mercier-Faivre u. Chantal Thomas (Hg.), L’invention de la catastrophe au XVIIIe sicle. Du chtiment divin au dsastre naturel, Genf 2008; FranÅois Walter, Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2010; Michael Matheus u. a. (Hg.), Le calamit ambientali nel tardo medioevo europeo. Realt, percezioni, reazioni, Firenze 2010; Andrea Janku u. a. (Hg.), Historical Disasters in Context. Science, Religion, and Politics, London 2011. 22 Niklas Luhmann schließt Sicherheit als Gegenbegriff von Risiko als Begriff der Beobachtungsperspektive erster Ordnung zugunsten von Risiko versus Gefahr systematisch aus, was in seiner Terminologie verständlich ist, aber damit zu einer Unterbestimmtheit der Reflexion (auch zweiter Ordnung) über Sicherheit als gesellschaftlichem Ziel- und Aushandlungsbegriff führt. Vgl. ders., Soziologie des Risikos, Berlin 2003, S. 27 ff. Auch in der Risikophilosophie ist Sicherheit unterbestimmt: Stefano Maso, Fondements philosophiques du risque, Paris 2006, etwas stärker profiliert bei Dominique Pcaud, Risques et prcautions. L’interminable rationalisation du social, Paris 2005, etwa S. 238 ff. Einigermaßen aktuelle Einblicke in das risikosoziologische Feld geben Claudine Burton-Jeangros u. a. (Hg.), Face au risque, Genf 2007; Patrick Peretti-Watel, Sociologie du risque, Paris 2007, das Beispiel einer Modellierung von Unsicherheitsgefühl-Messung S. 161 – 170. Ein wenig ideengeschichtlich ausgreifend Birger P. Priddat, Zufall, Schicksal, Irrtum. Über Unsicherheit und Risiko in der deutschen ökonomischen Theorie vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert, Marburg 19992. Jean-Baptiste Fressoz, L’apocalypse joyeuse. Une histoire du risque technologique, Paris 2012. Zur Beck’schen Risikosoziologie vgl. auch den Beitrag von Zwierlein in diesem Heft. 23 Vgl. Florian Tennstedt, Risikoabsicherung und Solidarität. Bismarck, Lohmann und die Konflikte um die gesetzliche Krankenversicherung in ihrer Entstehungsphase, in: Herber Obinger u. Elmar Rieger (Hg.), Wohlfahrtsstaatlichkeit in entwickelten Demokratien. Herausforderungen, Reformen und Perspektiven. Festschrift für Stephan Leibfried, Frankfurt 2009, S. 65 – 94; für aktuelle Synthesen und Forschungsüberblicke siehe Ernest P. Hennock, The Origin of the Welfare State in England and Germany, 1850 – 1914. Social Policies Compared, Cambridge 2007; Larry Frohman, Poor Relief and Welfare in Germany from the Reformation to World War I, Cambridge 2008; FranÅois Ewald, L’tat-Providence, Paris 1986, immer noch als eine der besten konzeptuell generalisierten Fallstudien zur Arbeiterunfallversicherung im Frankreich des 19. Jahrhunderts; Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland, 1880 – 1940, Göttingen 2009; Ulrich Becker u. a., Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegen- ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 375 Systems und dem Social Security Act von 1935 folgten als wichtige Etappen die Philadelphia-Konferenz der International Labour Organization 1944 und die Aufnahme von social security als universelles Menschenrecht in die Universal Declaration of Human Rights der Vereinten Nationen vom 6. 12. 1948 (Art. 22).24 Aber auch in den jüngeren geschichtlichen Abrissen zur Aufnahme dieser „weichen“ sozialen Sicherheitsziele in die globale security policy bleibt diese Sicherheitspolitik-Facette eher unverknüpft mit den anderen „harten“ Seiten von militärisch-außenpolitischer Sicherheitspolitik.25 Von einer solchen zentralen Verankerung auf globaler Politikebene ausgehend müssten die Verstrebungen mit anderen staatlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken und Konzepten von „Sicherheit“ aufgezeigt werden: wie fungiert zum Beispiel soziale Sicherheit interdependent zur außenpolitischen, internationalen Sicherheit? Wie hängt sie mit der Katastrophenvor- und -nachsorge zusammen? Noch allgemeiner kann man für eine Geschichte von Sicherheitsproduktionsmechanismen als Leitfragen benennen, welche Gegenwarts- und Zukunftshorizonte sich in ihnen manifestierten, mit welchen Zielen und Effekten in der Geschichte Themen und Gegenstände zu Sicherheitsmaterien gemacht wurden; wie sich Sicherheitsgewährung und Freiheitsansprüche und wie sich staatliche und privat(wirtschaftlich)e Sicherheitsproduktion zueinander verhalten. Inwieweit, ab wann, wo und in welchen Formen begann man Sicherheit auch transnational zu begreifen, zu glauben, Sicherheit der eigenen Rechts-, Macht-, Staatssphäre auch jenseits der eigenen Grenzen schützen und produzieren zu müssen? Das ist nur eine kleine Anzahl denkbarer Fragen. II. Gegenwärtiger Wandel der Sicherheitskonzepte Die Wahrnehmung, dass es an einer allgemeineren Sicherheitsgeschichte fehlt, die Fragen wie die zuletzt gestellten behandeln würde, kommt weniger aus geschichtswissenschaftsinternen Gründen auf; sie stellt vielmehr eine Reaktion auf starke, ja dramatische Wandlungen der Sicherheitskonzepte unserer wart, Bonn 2010; Hans Günter Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011. 24 Vgl. zeitgenössisch Edwin E. Witte, 1944 – 1945. Programs for Postwar Social Security and Medical Care, in: The Review of Economics and Statistics 27. 1945, S. 171 – 188; Johannes Morsink, The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting, and Intent, Philadelphia 1999, S. 130 – 134 u. S. 196 – 206. 25 Vgl. etwa Susan Waltz, Reclaiming and Rebuilding the History of the Universal Declaration of Human Rights, in: Third World Quarterly 23. 2002, S. 437 – 338, hier S. 444; Margaret E. McGuinness, Peace v. Justice. The Universal Declaration of Rights and the Modern Origins of the Debate, in: Diplomatic History 35. 2011, S. 749 – 768, hier S. 765 f. 376 Cornel Zwierlein Gegenwart seit den 1990er Jahren dar. Viele dieser Wandlungen mögen schon länger vorbereitet gewesen sein oder auch weit zurück liegende Vorläufer haben – als allgemeine Verschiebung der geltenden Parameter zunächst insbesondere der Politik auf der Ebene internationaler Beziehungen, damit verbunden und rückwirkend aber auch im innenpolitischen Bereich, wurden sie erst jetzt konkretisiert. Eine Fülle miteinander verbundener neuer Prinzipien wie extended, comprehensive oder human security, die state security ersetzen und eine korrespondierende Pflicht der UN oder anderer ad hoc-Staatengemeinschaften zur humanitären Intervention als responsibility to protect (R2P) zur Folge haben, stehen im Brennpunkt der Diskussion und auch der politischen Praxis internationaler Beziehungen. Innenpolitisch ist die Ausweitung der Funktionen von „Polizei“ und eine Überblendung und Vermischung von Polizei- und Armeefunktionen feststellbar. Als erstes offizielles UN-Dokument hatte der Human Development Report 1994 das Konzept der „Human Security“ aufgenommen als safety from the constant threats of hunger, disease, crime and repression. It also means protection from sudden and hurtful disruptions in the pattern of our daily lives – whether in our homes, in our jobs, in our communities or in our environments.26 Weiterhin führte der Bericht als Untergruppen der „humanen Sicherheit“ eine Vielzahl von „Sicherheiten“ auf wie „Job security, income security, health security, environmental security, security from crime“, die die „emerging concerns of human security all over the world“ seien. 2003 verkündete die UN Commission on Human Security : The international community urgently needs a new paradigm of security. Why? Because the security debate has changed dramatically since the inception of state security advocated in the 17th century. According to that traditional idea, the state would monopolize the rights and means to protect its citizens. State power and state security would be established and expanded to sustain order and peace. But in the 21st century, both the challenges to security and its protectors have become more complex. The state remains the fundamental purveyor of security. Yet it often fails to fulfil its security obligations – and at times has even become a source of threat to its own people. That is why attention must now shift from the security of the state to the security of the people – to human security.27 Das sogenannte „Westfälische System“ löse sich auf, und die Staatengemeinschaft sei mehr und mehr in der Pflicht, nicht nur Sicherheit zwischen souveränen Nationalstaaten als den einzigen Akteuren und Adressaten internationaler Sicherheitspolitik zu gewährleisten, sondern sie müsse bei den individuellen Sicherheitsbedürfnissen der Menschen ansetzen, insbesondere dann, wenn Diktaturen oder failing states deren Sicherheit in allen Dimensionen des Lebens bedrohten oder nicht mehr gewährleisten könnten. 26 UN Human Development Report 1994, S. 3. 27 UN Commission on Human Security 2003, S. 2. ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 377 Mindestens drei Ebenen des Nachdenkens über Sicherheit werden hier verknüpft: Erstens die Betonung des Individuums, zweitens die Inklusion und Anerkenntnis der Bedürfnisse von bislang marginalisierten Gruppen, drittens die Ausweitung der überhaupt in Betracht gezogenen möglichen Sicherheitsbedrohungen. Man hat diesen viel diskutierten Perspektivenwechsel in der Sicherheitspolitik funktional analysiert und gezeigt, wie der Human SecurityDiskurs gerade von einigen mittelgroßen Staaten wie Kanada, Norwegen und Japan instrumentalisiert wurde und wird, um hierdurch mehr Bedeutung auf der internationalen Ebene zu gewinnen.28 Üblicherweise definiert man dabei Human Security in der Kurzformel als freedom from fear und freedom from want und erfasst damit zwei Dimensionen: die (gegebenenfalls militärische) Schutzdimension und die eher entwicklungspolitische Dimension. Hier lässt sich aufzeigen, dass die erste Variante – Freiheit von Angst – insbesondere von der kanadischen Regierung als Vorreiterin der UN-Blauhelm-Einsätze vorangetrieben wurde; Außenminister Lloyd Axworthy fokussierte hier auf die Absenz von Gewalt und Bedrohungen der physischen Sicherheit von Individuen. Von diesem Ansatz her war die Propagierung und zunehmende Akzeptanz einer neuen völkerrechtlichen Institution und Legitimationsgrundlage, der R2P, der weitere Schritt: die kanadische Regierung hatte 2001 die Einsetzung der International Commission on Intervention and State Sovereignty durch die UN beantragt, die einen entsprechenden Bericht ausarbeitete. Der Gedanke der R2P ist es, die gängige Prozedur der Legitimierung von humanitären Interventionen umzukehren: Statt der üblichen Perspektive der Staatengemeinschaft „von oben“ auf das Geschehen, wonach man zwar das Leid der Bevölkerung von Staaten wahrnehmen konnte, jedes Handeln aber an der Grenze des jeweiligen Staates Halt machen musste, sollte das Internationale Recht nun eine Perspektive „von unten“ ermöglichen: Dem Heimatstaat wird die Verantwortung zum Schutz seiner Bevölkerung gegenüber dieser selbst und gegenüber der Staatengemeinschaft auferlegt. Bei Verletzung dieser Schutzpflicht wird subsidiär der Staatengemeinschaft die Verantwortung und das Handlungsrecht zum Schutz der Bevölkerung, notfalls auch gegen die nicht oder unrechtmäßig handelnde Regierung des Heimatstaates, zuerkannt.29 Die zweite Dimension des erweiterten Sicherheitsbegriffs (freedom from want) wurde insbesondere von der japanischen Regierung unter Premierminister Keizō Obuchi vorangetrieben und artikulierte sich insbesondere im oben 28 Roland Paris, Human Security. Paradigm Shift or Hot Air?, in: International Security 26. 2001, S. 87 – 102. Fen O. Hampson u. Christopher K. Penny, Human Security, in: The Oxford Handbook on the United Nations, hg. v. Thomas G. Weiss u. Sam Daws, Oxford 2007, S. 539 – 560. 29 Vgl. Christopher Verlage, Responsibility to Protect. Ein neuer Ansatz im Völkerrecht zur Verhinderung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Tübingen 2009. 378 Cornel Zwierlein zitierten Expertenbericht „Human Security Now“ der vom ehemaligen UN High Commissioner for Refugees Sadako Ogata und Friedensnobelpreisträger Amartya Sen geführten UN Commission on Human Security 2003. Die Grundidee ist, dass Human Security auch meint, dass jedem Individuum ein Anspruch auf bestimmte minimale Versorgung hinsichtlich Nahrung, Energie, Bildung oder Sicherheit im Alltag (etwa vor Kriminalität und sogar vor überschießend gefährlichem Straßenverkehr) zukomme.30 Katalysator für die freedom from fear-Dimension waren der Völkermord in Ruanda 1994 und der Kosovo-Konflikt 1999, für die freedom from want-Dimension war es die asiatische Finanzkrise 1997.31 Mit diesen beiden Dimensionen wird der herkömmliche Begriff zwischenstaatlicher Sicherheit als Gegenstand der Politik internationaler Beziehungen und insbesondere der UN-Politik geradezu explosionsartig erweitert, was natürlich auch starke Kritik hervorruft. So kritisieren die einen, dass die erste Dimension von Human Security und R2P nur als Legitimationsinstrument für militärische Interventionen ohne Erlaubnis und Resolution des UN-Sicherheitsrats dient,32 die anderen, dass die zweite Dimension letztlich eine endlose Vielzahl von Gegenständen wie eine „shopping list“ aufführe, und dass hier Human Security eine Strategie sei, um „almost everything that could be considered as a threat to well-being“ als Sicherheitsprobleme zu camouflieren und so insbesondere eine Fülle von Politikfeldern, die früher als Gegenstände von Entwicklungspolitik behandelt wurden, in den höchsten institutionellen Formen der UN traktabel zu machen.33 In der Tat scheinen diese Erweiterungen des Sicherheitsbegriffs zu einer Auflösung der seit dem Spätmittelalter und verstärkt dem 17. Jahrhundert gewachsenen Trennung in innere und äußere Sicherheit und zur Erosion des klassischen Souveränitätsprinzips zu führen. Es wirkt so, als ob sie implizit den Zielhorizont einer QuasiWeltregierung durch die Staatengemeinschaft, in der alles „innere Sicherheit“ ist, in sich tragen. 30 So auch ausgeführt in UN-Habitat, Global Report on Human Settlements 2007. Enhancing Urban Safety and Security, London 2007. 31 Fen Osler Hampson u. a., Madness in the Multitude. Human Security and World Disorder, Oxford 2001; Cornelia Ulbert u. Sascha Werthes (Hg.), Menschliche Sicherheit. Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven, Baden-Baden 2008; Manuel Fröhlich u. Jan Lemanski, Human Security. The Evolution of a Concept and its Doctrinal as well as Institutional Manifestations, in: Christoph Schuck (Hg.), Security in a Changing Global Environment. Challenging the Human Security Approach, Baden-Baden 2011, S. 21 – 49, bes. S. 26 – 30. 32 Julie MacArthur, A Responsibility to Rethink? Challenging Paradigms in Human Security, in: International Journal 63. 2008, S. 422 – 443. 33 Keith Krause, Human Security. An Idea Whose Time Has Come?, in: Security and Peace 23. 2005, S. 1 – 6, hier S. 3. ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 379 Dabei macht sich die UN inzwischen sogar das damit verbundene, gleichsam neozyklische Geschichtsbild zu eigen, dass man in eine neue Epoche eintrete, in der die alten gewachsenen Unterscheidungen und „Errungenschaften“ der Moderne wie Nationalstaatlichkeit und Trennung innerer Konflikte von äußeren Kriegen nicht mehr gelten würden und man damit in ein „vorwestfälisches System“ zurückkehre: Der neue expansive Sicherheitsbegriff sei keine neue Erfindung, sondern eher die Wiederaufnahme vor- oder frühmoderner Vorstellungen. So hatte schon 1977 der Politikwissenschaftler Hedley Bull versucht zu analysieren, welche Formen das internationale System in der Zukunft wohl annehmen würde. Als vierte der von ihm durchgespielten Möglichkeiten einer nach-westfälischen Ordnung des internationalen Systems hielt er einen „new medievalism“ für möglich, ein Nebeneinander staatlicher, supra- und substaatlicher Akteure, so wie im Mittelalter auch neben Staaten andere supra- und substaatliche Akteure wie einzelne Ritter, Papst und Kaiser, Ritterorden und Städtebünde koexistierten.34 Während Bull selbst diese Option schließlich für unwahrscheinlich hielt und ablehnte, wurden Begriff und Konzept des „new medievalism“ seit den 1990ern Jahren wieder stark rezipiert und nun von einigen Autoren als zutreffende Beschreibung für das Nebeneinander von UN, NGOs, G8, Staaten und Individualperspektiven im internationalen Feld betrachtet.35 Parallel hierzu gibt es auch die bekannte Diskussion über die neuen asymmetrischen Kriege, die mit den Kriegen des Spätmittelalters bis zum Dreißigjährigen Krieg verglichen werden: die neuen Phänomene privater Söldnerkriegsführung, der corporate warriors, würden mit altem Söldnertum 34 Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 20023, S. 240 – 271. Es existieren keine Untersuchungen dazu, woher Bull diesen Begriff nahm, schon in den 1930ern wurde er allerdings mit noch anderer Bedeutung eingesetzt: Stebelton H. Nulle, The New Medievalism, in: The South Atlantic Quarterly 36. 1937, S. 254 – 272. 35 James Anderson, The Shifting Stage of Politics. New Medieval and Postmodern Territorialities?, in: Environment and Planning D: Society and Space 14. 1996, S. 133 – 153; ders. u. James Goodman, Regions, States and the European Union. Modernist Reaction or Postmodern Adaptation?, in: Review of International Political Economy 2. 1995, S. 600 – 631; David Marquand, The New Reckoning. Capitalism, States and Citizens, Cambridge 1997, S. 110 – 137; Jessica T. Mathews, Power Shift, in: Foreign Affairs 76. 1997, S. 50 – 66; Anthony C. Arend, Legal Rules and International Society, Oxford 1999, S. 165 – 188; Jörg Friedrichs, The Meaning of New Medievalism, in: European Journal of International Relations 7. 2001, S. 475 – 501; Andrew Gamble, Regional Blocs, World Order and the New Medievalism, in: Mario Tel (Hg.), European Union and New Regionalism. Regional Actors and Global Governance in a Posthegemonic Era, Aldershot 2009, S. 21 – 36; Parag Khanna, The Second World. Empires and Influence in the New Global Order, New York 2008. 380 Cornel Zwierlein korrespondieren;36 die neue Somalia-Piraterie als Effekt fragiler Staatlichkeit wird zuweilen mit der frühneuzeitlichen Piraterie der Barbaresken-Halbstaaten im Mittelmeer verglichen.37 Manche vergleichen die Ausweitung heutiger Polizei-Funktionen und Überlappungen zwischen Militär und Polizeiwesen in Innen- und Außenpolitik und zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit mit dem vormodernen Konzept und der vormodernen Weite von „Policey“, das ähnlich expansiv Schutz und Sicherheit des Einzelnen und der Gesamtheit vor einer Überfülle von Widrigkeiten, von den Naturkatastrophen bis zum Kleiderordnungsverstoß, umfasst habe.38 Einige Autoren, wie etwa die einzigen, die bisher als Historiker des Konzepts Human Security aufgetreten sind, MacFarlane und Khong, betonen, dass „we are speaking more of the recovery of very old understandings of security rather than the generation of new ideas“.39 Die profilierte Ideenhistorikerin, keine Politikwissenschaftlerin, Emma Rothschild vertritt ebenfalls die Auffassung, dass „the new security principles of the end of the twentieth century constitute a rediscovery, of sorts, of […] late eighteenth and early nineteenth-century politics“, das heißt in ihrer Interpretation der Sicherheitskonzepte des Liberalismus der Spätaufklärung 1770 bis 1820.40 Man sollte davon ausgehen, dass allen an der Diskussion Beteiligten bewusst ist, dass es keineswegs um eine „echte Rückkehr“ ins Mittelalter oder eine vorherige Zeit gehen kann, obgleich in den einschlägigen Texten die Metaphorik dieser Sprechweise nicht immer deutlich wird.41 Von geschichtswissenschaftlicher Seite wie auch durch die Analyse der entsprechenden politikwissenschaftlichen Rhetorik hat man darauf hingewiesen, dass die Rede von einem „Westfälischen System“ historisch überhaupt wenig Sinn hat, da ein solches wohl zu keinem Zeitpunkt zwischen 1648 und heute real existent war, es sei denn, und auch das nur mit Abstrichen, in kurzen Phasen des 36 Herfried Münkler, The New Wars, Cambridge 2005; Mary Kaldor, New and Old Wars. Organised Violence in a Global Era, Cambridge 1999; Paul W. Singer, Corporate Warriors. The Rise of the Privatized Military Industry, Cornell 2003, S. 19 – 39. 37 Michael Kempe, Fluch der Weltmeere. Piraterie, Völkerrecht und internationale Beziehungen, 1500 – 1900, Frankfurt 2010. 38 Alf Lüdtke, Zurück zur „Policey“? Sicherheit und Ordnung in Polizeibegriff und Polizeipraxis. Vom 18. bis ins 21. Jahrhundert, in: Helmut Gebhardt (Hg.), Polizei, Recht und Geschichte. Europäische Aspekte einer wechselvollen Entwicklung. Beiträge des 14. Kolloquiums zur Polizeigeschichte, Graz 2006, S. 12 – 29. 39 Stephen N. MacFarlane u. Yuen F. Khong, Human security and the UN. A Critical History. United Nations Intellectual History Project, Bloomington 2006, S. 19. 40 Emma Rothschild, What is Security?, in: Daedalus 124. 1995, S. 53 – 98, hier S. 65. 41 „No one suggests that there could be a [sc. real] return to the medieval era.“, Gamble, Regional Blocks, S. 30. ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 381 19. Jahrhunderts.42 Darüber hinaus wurde die Chiffre des Westfälischen Systems, deren Grundinhalt allgemein in den drei eng miteinander verknüpften Prinzipien Souveränität, Territorialität, und Nicht-Intervention gesehen wird, im Diskurs der Internationalen Beziehungen eigentlich erst ab Ende der 1960er gerade insoweit prominent gemacht, als man eine Gegenfolie für das Anzustrebende oder jedenfalls als das kommend Erachtete benötigte: Erst als die erwähnte Erosion der Nationalstaatlichkeit fühlbar wurde, konstruierte man gleichsam das Westfälische System als Gegenmodell. Weil Globalisierungseffekte zunehmend zu einer Internationalisierung von Menschenrechten, Umwelt- und Ökonomie-Problemen und auf vielen anderen Ebenen führen, kam dieses Wahrnehmungsbild der Bewegung weg von einem vorherigen scheinbar klaren Zustand nationaler und internationaler Ordnung und Regelungsbezug hin zu einem anderen auf – ob der vorherige Zustand je so historisch feststellbar war, steht auf einem ganz anderen Blatt.43 Dass die Wahrnehmung einer Erosionsbewegung und auch die mehr oder minder neozyklische Geschichtsvorstellung sich wohl auf einer allgemeineren Ebene mit Effekten der Globalisierung auf das Zeit- und Geschichtsbewusstsein erklären lässt, kann hier nicht weiter vertieft werden.44 III. Grenzen der Sicherheit und Epochengrenzen Die knapp skizzierte Entwicklung von der state zur human, extended oder comprehensive security ist historisch für die jüngste Zeitgeschichte fassbar. Eine solche Verschiebung der Bedeutung von „Sicherheit“ ist aber nicht nur in der Zeitgeschichte zu untersuchen – die Wahrnehmung eines Eintretens in eine neue Epoche der Internationalen Beziehungen zurück öffnet erst den Frageraum einer auch allgemeineren Sicherheitsgeschichte, wie dies oben im keineswegs vollständigen Abschreiten ausgewählter historischer Literatur zu Sicherheitsthemen sichtbar wurde. Erst die (auch unbewusst ablaufende) Verschiebung in der heutigen Wahrnehmung lässt das „Fehlen“ einer allgemeineren Sicherheitsgeschichte und Sicherheitsperspektive auf historische Gegenstände, Epochen und Gesellschaften hervortreten. 42 Heinz Duchhardt, „Westphalian System“. Zur Problematik einer Denkfigur, in: HZ 269. 1999, S. 305 – 315; ders., Das „Westfälische System“. Realität und Mythos, in: Hillard von Thiessen (Hg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, Köln 2010, S. 393 – 401. 43 Vgl. die präzise Analyse von Sebastian Schmidt, To Order the Minds of Scholars. The Discourse of the Peace of Westphalia, in: International Relations Literature 55. 2011, S. 601 – 625, der zeigt, wie die Chiffre „Westfälisches System“ eigentlich erst mit Richard Falk 1969 ihre heutige Form angenommen hat und klar der UN Charter Order gegenübergestellt wurde. 44 Vgl. dazu einige Hinweise im Beitrag von Zwierlein in diesem Heft. 382 Cornel Zwierlein Eine Schlussfolgerung aus dem gegenwartsbezogenen Anstoß zu einer neuen, erweiterten Sicherheitsgeschichte ist also, dass gerade jenseits der klassischen nationalstaatsbezogenen Begrifflichkeiten Sicherheit, Sicherheitsbegriffe, Sicherheitsgefühle, Sicherheitsproduktion und Sicherheitsregime zu historisieren sind: Eine Beschränkung nur auf außenpolitische oder innenpolitische Sicherheit im engeren Sinne kann nicht sinnvoll sein, wenn gerade die Historizität etwa dieser Scheidungsform innen/außen zu untersuchen wäre. Man muss also auch Zeiten in den Blick nehmen und wird von ihrer Analyse lernen können, in denen der Sicherheitsbegriff im oben angedeuteten Sinne noch nicht prominente Bedeutung erfahren hat. Dies ist auch der Grund, warum hier, im Rahmen der einst 1975 vorgegebenen Programmatik der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft ungewohnter Weise der Beitrag eines Frühmittelalter-Spezialisten aufgenommen wurde. Grundsätzlich kann man nun Heuristiken für eine Sicherheitsgeschichte auf verschiedenen Ebenen entwickeln: Bei der Konzeption einer Entwicklungsgeschichte und Definition allgemeiner und regional spezifischer Epochenschwellen und -schnitte müsste man gleichzeitig Felder bestimmen, innerhalb derer Entwicklung stattfindet – Felder, die aus genannten Gründen nicht mit dem Nationalrahmen identisch sein dürfen, sondern auf Themen und Funktionen von Sicherheitsgewährung bezogen sind. Wichtiger ist aber, verschiedene Beziehungsdimensionen kombinativ im Blick zu haben, die teilweise schon anklangen: – Sicherheit als Begriffs- und Konzeptgeschichte – Sicherheit und seine Gegenbegriffe (Risiko, Angst, Gefahr, Terror) – Sicherheit/Staat, Kommune, kleinere Kollektive – Sicherheit/Wirtschaft – Sicherheit/Kulturelle, religiöse, emotionale Dimensionen – Sicherheit/Bild vom Menschen, vom Individuum – Sicherheit/Zeit- und Raumhorizonte Hinsichtlich dieser Dimensionen wäre die Entstehung, Entwicklung und Änderung von Sicherheitsproduktionsmechanismen zu untersuchen. Betrachtet man etwa eine Monographie wie jene der Politikwissenschaftler MacFarlane und Khong, die als Vorgeschichte von Human Security im raschen Schritt durch die Ideengeschichte von Cicero bis zur UN einen dünnen Faden durch Zitate legen, in denen „individuelle“ Sicherheitsbedürfnisse im Vordergrund stehen, und die suggerieren, dass es sich hierbei um eine Tradition handele, die dann zum Human Security-Konzept geführt habe, wird deutlich, wie groß die Gefahr eines einfachen Rückprojizierens der gegenwärtig aktuellen Konzepte ist. Manch einer wird vielleicht radikal fragen, ob die Suche nach Epochengrenzen innerhalb solcher Entwicklungsgeschichten überhaupt noch sinnvoll ist, ob man mit ihr nicht stets Epochen reifiziert, während postkoloniale Theorie, historische Anthropologie und neo-hermeneutische Ansätze uns eher nahelegen, überhaupt nicht mehr nach Epochen zu fragen, sondern Lebenswelten ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 383 in welcher räumlich-zeitlichen Alterität auch immer zu rekonstruieren. Vielleicht wird solches Denken durch das gegenwärtige Geschichtsbild einer globalen „erstreckten Gegenwart“ (Helga Nowotny) und einer Schließung der einst geöffneten Zukunftshorizonte nahegelegt. Die Tiefe der Geschichte geht verloren, die einst Historismus und auch noch folgende entwicklungsgeschichtlich konturierte Geschichtsbilder beförderten. Fordert die gegenwärtige Verflüssigung der Konturen des Sicherheitskonzepts auch eine Aufgabe von Epochenkonzepten überhaupt heraus? – Mit Fug könnte man auch genau das Gegenteil vertreten, und das ist ein Ansatzpunkt dieses Heftes: Die Entgrenzung des Sicherheitskonzepts in der Gegenwart fordert den Historiker heraus, die vergangenen Begrenzungen in ihrem historischen Gewordensein und der jeweiligen epochalen Bezogenheit zu rekonstruieren. Es kann nicht die Aufgabe eines Themenheftes sein, alle Dimensionen zukünftig möglicher Sicherheitsgeschichte grundlegend zu entfalten, angesichts gegenwärtig pluraler Wissenschaftsentwicklung ist es auch unrealistisch, einen „Masterplan“ zu entwerfen, wie man vielleicht in den 1960ern oder 1970ern Prolegomena zu einer umfassenden Sicherheitsgeschichtstheorie verfasst hätte. Wichtig erschien dem Herausgeber und den Beiträgern zu diesem Themenheft zunächst die klare Identifizierung des gegenwartsbezogenen Problemhintergrunds und ein Nachspüren der Auswirkung auf die Geschichtswissenschaften. Neben der angedeuteten Entwicklungsgeschichte werden dann durch die drei chronologisch das Mittelalter, die Frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert und Neuzeit bis Zeitgeschichte erfassenden Beiträge exemplarisch drei Versuche unternommen, das Problem einer Sicherheitsgeschichtsschreibung hinsichtlich des angesprochenen Problems zu systematisieren, wie sich Sicherheitskonzeptgrenzen und Epochengrenzbildung zueinander verhalten. Das Heft setzt ein mit einem Beitrag von Christopher Daase, der zu den wenigen Vertretern der systematischen Politikwissenschaften gehört, die an der Zusammenarbeit auch mit den Geschichtswissenschaften – etwa hinsichtlich der Ansätze der Begriffsgeschichte und der political-language-Analyse – seit längerem Interesse zeigt.45 Er legt aus der Perspektive der politikwissenschaftlichen Sicherheitsforschung die Anknüpfungspunkte zur Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und hinsichtlich der dann folgenden Beiträge von Steffen Patzold, Cornel Zwierlein und Eckart Conze im Besonderen dar. Alle drei Beiträge versuchen dabei, einschlägige politik-, wirtschafts- oder sozialwissenschaftliche Konzepte der Gegenwartsanalyse – „Human Security“/ „failed states“, „Insurability“ und „Securitization“ – kritisch in eine historische Heuristik umzuwandeln. 45 Christopher Daase, National, Societal and Human Security. On the Transformation of Political Language, in: Zwierlein u. a., The Production of Human Security, S. 24 – 39. 384 Cornel Zwierlein Steffen Patzold hinterfragt in diesem Sinne gerade die Trennung zwischen Moderne und Vormoderne insoweit diese auf „Sicherheit“ bezogenen Epochen-Kategorien implizit auf einen Begriff des Staates bezogen sind, wie er um 1900 geformt wurde. Er konzediert, dass die Verunsicherungen in den Begriffsbildungen offenbar durch ein spät- oder post-modernes Bewusstsein erzeugt werden, dessen Form noch diskutiert wird und im Fluss ist. Human Security wie MacFarlane und Khong einfach im Mittelalter zu suchen, sei nicht angebracht, da das auf individuellen Menschenrechtsbesitz aufbauende Individualitätskonzept noch gar nicht vorhanden war. Dies bedeutete, dass eine kontinuierliche Genealogie von Human Security vielleicht erst im Spätmittelalter oder der Frühen Neuzeit einsetzen kann: wenn calvinistische Territorialherrscher oder Adlige den durch katholische Herrscher bedrohten Glaubensgenossen im 16. Jahrhundert bewaffnet zu Hilfe eilten, und wenn hierfür erste proto-völkerrechtliche Legitimationstheorien entwickelt wurden, scheint früh schon das Individualrecht der Gewissens- und Glaubensfreiheit interventionsähnlich schützenswert angesehen worden zu sein.46 Wenn etwas Vergleichbares im Mittelalter zuvor so nicht vorkommt, muss man in der Tat Sicherheitsgeschichte jenseits einer solchen Genealogie zu schreiben versuchen. Zugleich können dann Blicke wie Patzolds auf besonders „frühe“ und ferne Situationen, auch wenn hier viele Parameter fehlen, die für derzeitige Problemlagen wie etwa der Koexistenz fragiler Staatlichkeit bei gleichzeitiger globalisiert verfügbarer westlicher Menschenrechtsdiskurse charakteristisch sind, stimulierend für den Gegenwarts-Analysten sein: wie kann man das Sicherheit/Mensch-, Sicherheit/Herrschaft-, Sicherheit/Gewalt-Verhältnis verstehen, wie funktionierte es, wenn territoriales Raumdenken, bürokratische Erschließung des Herrschaftsraum durch verstetigte (papiergestützte) Zentrum-Peripherie-Kommuikation und vieles andere nicht gegeben war? Human Security wird hier nicht als schlicht übertragbares Konzept verwendet, Argumentation und Thesenbildung werden aber gerade durch die Abstoßung von den damit vorliegenden heuristischen Parametern konturiert. Patzolds Beitrag steht so exemplarisch für die angeführten Verhältnisse Staat/Sicherheit und Individuum/Sicherheit. 46 Etwa in den monarchomachischen Widerstandsrechtstraktaten wie den Vindiciae contra tyrannos (1579), die meist nur hinsichtlich ihrer „innenpolitischen“ Widerstandsrechtslegitimierung (französische Hugenotten versus französischer König) gelesen werden; fast ihr eigentlicher Hauptimpetus war aber, die trans-territoriale Unterstützung für und seitens protestantische(r) Bundesgenossen zum Schutz des individuellen Glaubens zu befördern, wogegen noch Hobbes allergisch anschrieb. Vgl. Cornel Zwierlein, Les saints de la communion avec le Christ. Hybridations entre glises et tats dans le monde calviniste dans les annes 1560, in: Axelle Guillausseau u. Florence Buttay (Hg), Les saints entre l’glise et l’tat. Politique et saintet au temps du concile de Trente, Paris 2012, S. 35 – 50 mit weiterer Literatur. ipabo_66.249.66.96 Sicherheitsgeschichte 385 Der Beitrag von Cornel Zwierlein setzt sich mit dem in der Risikosoziologie Ulrich Becks zentralen Konzept der „Insurability“ (Versicherbarkeit) auseinander, das dort als entscheidender Prüfstein für die Zugehörigkeit einer Bedrohung zur Ersten oder Zweiten Moderne Anwendung findet. Lange Zeit weder in der Soziologie noch in der Geschichtswissenschaft genauer beachtet, stellt es bei Beck und der ihm folgenden Risikosoziologie-Strömung die überhaupt systematischste Begründung des historischen Narrativs als Rückgrat der freilich meist nur nach vorn blickenden Risikosoziologie dar, die aber für dieses „Nach-vorn-Blicken“ einen geschichtlichen Abstoß-Hintergrund benötigt: Der so gängige und für die Risikosoziologie überhaupt die Daseinsberechtigung liefernde Dreischritt Vormoderne, Erste Moderne, Spät-, Postoder Zweite Moderne mit all den Implikationen – etwa, dass die Risikogesellschaft der Zweiten Moderne eine sei, in der die nicht intendierten Spätfolgen der Ersten Moderne in übermächtiger Form auf ihre Verursacher zurückwirken – ist nirgendwo so genau definiert wie dort, wo Beck den Lackmustest der Versicherbarkeit für sich entdeckte. Die wohl richtige Ausgangsintention, dass mit dem Kriterium der Versicherbarkeit eine sehr gut historisierbare „Prüfsonde“ vorliegt, wird hier, freilich nach einer Kritik des Beck’schen historischen Narrativs, aufgegriffen und viel genereller ausgeformt. Hierzu wird als Instrument das Konzept der Zeit-, Gegenwarts- und Zukunftshorizonte einer Gesellschaft und ihrer bereichs- und gruppenspezifischen Teilhorizonte eingeführt und mit der Frage nach der Entwicklung eines so faszinierenden wie spezifisch neuzeitlichen Sicherheitsproduktionsmittels wie der antizipativen Prämienversicherung in europäischen und globalen Zusammenhängen verbunden. Der Beitrag steht so exemplarisch für die Verhältnisse Zeit/ Sicherheit, Raum/Sicherheit, Zeit/Wirtschaft – letzteres auch im Vergleich zwischen eher staatlicher oder privater Wirtschaft. Eckart Conze historisiert den Prozessbegriff der Securitization, Versicherheitlichung: Hiermit ist in der gegenwärtigen internationalen Politik die Eingemeindung unterschiedlichster Themenbereiche, die vorher zum Beispiel der Entwicklungspolitik zugehörten, in die Sicherheitspolitik gemeint. Teilweise wird er hier als analytischer Begriff zur Erfassung eines schlicht ablaufenden Prozesses verwandt, andererseits wird Securitization gegenwärtig auch höchst reflexiv als Strategie politischer Akteure betrieben. Von diesem funktional oder intentional konzipierten Begriff der Gegenwart abstrahiert der Beitrag einen historisch-heuristischen Begriff der longue dure: Sicherheit selbst wird hier zum Schluss als Prozess erfasst. Dabei löst sich der Beitrag deutlich von den politikwissenschaftlichen Vorgaben, die für die historischen Gegenstandsbereiche nicht passen können. Der Beitrag berührt auf diese Weise eine Fülle der oben genannten Beziehungen, die zwischen „Sicherheit“ und anderen gesellschaftlichen Bereichen, Gruppen oder Regelungsgegenständen besteht. Die vorliegenden Beiträge können weder das Fehlen eines schon klar konturierten Felds einer übergreifenden Sicherheitsgeschichte beheben, 386 Cornel Zwierlein noch ist es das Ziel, eine einheitliche Heuristik zu entwickeln und der Forschung vorzugeben. Sie öffnen aber einige Wege und versuchen zu zeigen, wie man, auf Gegenwartsentwicklungen reagierend, ohne sozial- und politikwissenschaftlichen Begriffe einfach unreflektiert zu übernehmen, die kognitive Bewegung, die in den Wahrnehmungsschemata der Gegenwart zu verzeichnen ist, als Herausforderung auch für die Geschichtswissenschaft annehmen kann – nicht zuletzt durch die Infragestellung der selbstverständlichen Konzepte von Epochengrenzen in ihrem Verhältnis zu den Grenzen der Konzepte und Praktiken von Sicherheitsproduktion. Prof. Dr. Cornel Zwierlein, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Geschichtswissenschaft, R. GA 4/145, Universitätsstr. 150, D-44801 Bochum E-Mail: [email protected] ipabo_66.249.66.96 Die Historisierung der Sicherheit Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht von Christopher Daase Abstract: This article inquires into the contribution which history as an academic discipline can make to security research. By critically discussing articles by Steffen Patzold, Cornel Zwierlein, and Eckart Conze, three ways of historicizing security are presented. First the analysis of security practices in the Middle Ages that show that even without state structures basic security can be provided. Second the problematization of insurability in early modern times, which draws the traditional classification of historical epochs into question. Third the utilization of the concept of “securitization” to historical settings in order to reconstruct different ways to deal with danger and uncertainty. Historical accounts of security, these contributions demonstrate, are an essential corrective to the rather static understanding of security in political and social sciences. At the same time, social science concepts promise a fruitful field of application if taken as historicized heuristics for the exploration of specific problems of a “security history”. Es wird eng in der Sicherheitsforschung. Immer mehr wissenschaftliche Disziplinen entdecken die Sicherheit als Thema und analysieren die vielen Formen der Unsicherheit – wie Gefahren, Bedrohungen, Risiken oder Katastrophen – um einen Beitrag zur Erforschung ihrer Ursachen und zur Vermeidung oder Reduzierung ihrer Folgen zu leisten. Das ist nur verständlich, ist doch „Sicherheit“ zum zentralen Wertbegriff unserer Gesellschaft aufgestiegen,1 der andere Werte wie Frieden oder Freiheit zunehmend in den Schatten stellt. Hinzu kommt, dass die Sicherheitsforschung, nachdem es im Zuge des Endes des Ost-West-Konflikts eine kurzfristige Reduzierung der Fördermittel gab, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf nationaler und internationaler Ebene wieder massiv gefördert wird.2 Auch dies 1 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit. Das Leitbild beherrschbarer Komplexität, in: Stephan Lessenich (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt 2003, S. 73 – 104; Ekkehard Lippert u. a. (Hg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997. 2 Zu nennen sind insbesondere das Sicherheitsforschungsprogramm „Forschung für die zivile Sicherheit“ im Rahmen der High-Tech-Strategie der Bundesregierung unter Federführung des BMBF (http://www.bmbf.de/de/6293.php9) und das Forschungsprogramm der EU-Kommission im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms (http:// cordis.europa.eu/fp7/security/home_en.html). Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 387 – 405 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012 ISSN 0340-613X 388 Christopher Daase führt dazu, dass die Sicherheitsforschung (bei ansonsten tendenziell abnehmender Forschungsförderung aufgrund der Finanzkrise) ein immer attraktiveres Forschungsfeld wird, in dem die unterschiedlichsten Disziplinen um Forschungsaufträge und Drittmittel konkurrieren. Begünstigt wird diese Entwicklung durch die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, die spätestens seit den 1970er Jahren die nationale und internationale Sicherheitskultur verändert.3 Verstand man Sicherheit innenpolitisch lange als Schutz vor Verbrechen („innere Sicherheit“) und als Gewährleistung elementarer Lebenschancen („soziale Sicherheit“), haben sich im Laufe der letzten fünfzig Jahre sowohl der Fokus von der Strafverfolgung auf die Prävention ausgedehnt, als auch die Liste schützenswerter Grundrechte erheblich erweitert. Verstand man außenpolitisch in den fünfziger und sechziger Jahren unter Sicherheit vor allem die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Abwehr militärischer Bedrohungen, erweiterte sich das Verständnis sukzessive in verschiedenen Dimensionen, so dass heute auch eine funktionierende Wirtschaft („ökonomische Sicherheit“), eine intakte Umwelt („ökologische Sicherheit“) und die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse („menschliche Sicherheit“) vom Sicherheitsbegriff erfasst werden. Im Zuge dieser Entwicklung wurde zudem deutlich, dass die strikte Trennung von innerer und äußerer, nationaler und internationaler Sicherheit sowie die Unterscheidung von ziviler und militärischer Sicherheit immer weniger zweckmäßig ist. Eine sichere Wirtschaftsordnung ist zum Beispiel nicht nur abhängig von sicheren Handelswegen und dem entsprechenden Zugang zu Ressourcen und Märkten, sondern auch vom sozialen Frieden im Inneren, der wiederum auf sozialer Sicherheit und dem Schutz des Arbeitsplatzes basiert. Ähnlich hängt ökologische Sicherheit von nationalen und internationalen Umweltstandards ab, aber auch konkret von der technischen Sicherheit großer Industrieanlagen, die, wie im Falle der Reaktorsicherheit, wiederum im Zusammenhang mit der Frage der Energiesicherheit diskutiert werden muss. Schließlich betreffen die Probleme des Terrorismus sowohl die nationale als auch die internationale Sicherheit und erfordern die Integration militärischer, polizeilicher und politischer Sicherheitsstrategien zu ihrer Bekämpfung. Diese Verschränkung unterschiedlicher Sicherheitsaspekte macht es zunehmend notwendig, jenseits der herkömmlichen Kategorien über die Bedingungen von Sicherheit nachzudenken und sowohl die Wissensbestände unterschiedlicher akademischer Disziplinen, zum Beispiel der Technikwissenschaften oder der Geistes- und der Sozialwissenschaften, als auch die Erfahrungen unterschiedlicher Praxisbereiche, wie der Polizeiarbeit, der 3 Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: APuZ 50. 2010, S. 9 – 16; Hermann Lübbe, Sicherheitskultur und Unsicherheitserfahrung in der modernen Gesellschaft, in: Hugo Tschirky u. Andreas Suter (Hg.), Wieviel Sicherheit braucht der Mensch?, Zürich 1989, S. 5 – 29. ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 389 Verteidigungspolitik und der Wissenschaft, zu integrieren. Sicherheitsforschung konstituiert sich in diesem Sinne als interdisziplinäres und transdisziplinäres Forschungsprogramm, das sowohl theorie- als auch praxisorientiert die Ursachen von Unsicherheit und die Bedingungen der Sicherheit technischer und sozialer Funktionszusammenhänge analysiert. Auch die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahren mit Konferenzen und Publikationen verstärkt im Feld der Sicherheitsforschung engagiert.4 Die hier vorgelegten Beiträge wurden als Vorträge auf dem 48. Deutschen Historikertag 2010 in Berlin auf dem Panel „Grenzen der Sicherheit, Grenzen der (Spät-)Moderne?“ vorgestellt. Wenn in diesem Rahmen einem Sozialwissenschaftler die Möglichkeit gegeben wird, aus politikwissenschaftlicher Perspektive die historische Sicherheitsforschung zu kommentieren, dann kann dies nicht dem Abstecken forschungspolitischer Besitzansprüche, sondern nur der Suche nach interdisziplinären Anschlussmöglichkeiten dienen. Denn viel zu wenig werden bislang Forschungsergebnisse über die Disziplinengrenzen hinweg wahrgenommen und noch weniger das interdisziplinäre Gespräch gesucht. In diesem Sinne will ich im Folgenden nach dem spezifischen Beitrag der Geschichtswissenschaft zur Sicherheitsforschung fragen und – aus einem durchaus disziplinär und persönlich geprägten Blickwinkel – die Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinärer Zusammenarbeit beleuchten. Dabei werde ich auf die folgenden Beiträge exemplarisch eingehen, ohne ihnen im Detail gerecht werden zu können. I. Zum Verhältnis von sozialwissenschaftlicher und historischer Sicherheitsforschung In den Sozialwissenschaften haben der Sicherheitsbegriff und die verschiedenen Gegenbegriffe von jeher einen hohen Stellenwert. Schon früh wurde in der Soziologie erkannt, dass mit „Sicherheit“ ein zentraler Wertbegriff als Korrelat zum Freiheitsbegriff entstand, der sowohl die Bedingung als auch die Beschränkung liberaler Gesellschaften markierte.5 Mit der Präzisierung der Unsicherheit als Gefahr, Ungewissheit oder Risiko wurden zeitdiagnostische Analysen verbunden, die den Umgang mit Unsicherheit und Sicherheit 4 Verwiesen sei hier nur auf drei Themenhefte historischer Fachzeitschriften: Barbara Lüthi u. Patricia Purtschert (Hg.), Sicherheit und Mobilität – Scurit et mobilit, Traverse. Zeitschrift für Geschichte/Revue d’histoire 16. 2009; Rüdiger Graf u. a. (Hg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History, Historical Social Research 35. 2010; Jan-Holger Kirsch u. a. (Hg.), Sicherheit, Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7. 2010. 5 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 19732. 390 Christopher Daase sozialtheoretisch zum Strukturmerkmal moderner Gesellschaften erhoben.6 Im Anschluss daran werden bis heute gesellschaftliche Transformationsprozesse anhand sich wandelnder Sicherheitspraktiken beschrieben.7 In besonderem Maße fand die Sicherheitsproblematik in der Politikwissenschaft ein disziplinäres Zuhause. Dabei hat sich bis heute die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit erhalten. In der politikwissenschaftlichen Systemforschung wird Sicherheit als innerstaatlicher Schutz vor Kriminalität und Gewalt und als Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“ angesehen und als ziviler Teil der Innenpolitik begriffen.8 In den Internationalen Beziehungen wird demgegenüber Sicherheit traditionell als Schutz vor externer, zumeist militärischer Bedrohung verstanden und Sicherheitspolitik folglich als Teil der Außenpolitik konzeptualisiert.9 Vor allem in den Internationalen Beziehungen galt Sicherheit lange als das alles dominierende Kernthema, so dass sich – insbesondere in den Vereinigten Staaten – mit den Security Studies eine akademische Subdisziplin bildete, die den Sicherheitsdiskurs weitgehend monopolisierte.10 Schon in den 1950er Jahren hatte 6 Adalbert Evers u. Helga Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft, Frankfurt 1987; Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986; Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin 1991. 7 Vgl. die Beiträge in Axel Groenemeyer (Hg.), Wege der Sicherheitsgesellschaft. Gesellschaftliche Transformationen der Konstruktion und Regulierung innerer Unsicherheiten, Wiesbaden 2010; Fritz Böhle u. Margit Weihrich (Hg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009; Ulrich Bröckling u. a. (Hg.), Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Sonderheft Leviathan 25. 2010; Matthias Bohlender u. a. (Hg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010; Rita Haverkamp u. a. (Hg.), Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken, Bielefeld 2011; Christopher Daase u. a. (Hg.), Sicherheitskultur. Gesellschaftliche Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt 2012. 8 Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit. Grundlagen, Praxis und Kritik, Opladen 1991; Hans-Jürgen Lange, Innere Sicherheit im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1999; ders. u. a. (Hg.), Auf der Suche nach neuer Sicherheit. Fakten, Theorien und Folgen, Wiesbaden 20092. 9 Daniel Frei, Sicherheit. Grundfragen der Weltpolitik, Stuttgart 1977; Helga Haftendorn, Sicherheit und Entspannung. Zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, 1955 – 1982, Baden-Baden 1983; Stephan Böckenförde u. Sven Bernhard Gareis (Hg.), Deutsche Sicherheitspolitik. Herausforderungen, Akteure und Prozesse, Opladen 2009. 10 Helga Haftendorn, The Security Puzzle. Theory-Building and Discipline Building in International Security, in: International Studies Quarterly 35. 1991, S. 3 – 17; Barry Buzan, People, States and Fear. An Agenda for International Security Studies in the PostCold War Era, Boulder 1991; Stephen M. Walt, The Renaissance of Security Studies, in: International Studies Quarterly 35. 1991, S. 211 – 239; Ole Wæver u. Barry Buzan, After ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 391 John Herz das sogenannte „Sicherheitsdilemma“ identifiziert, nach dem das Sicherheitsstreben des einen Staates die Sicherheit des anderen herabsetzt und Unsicherheit auf diese Weise im internationalen System endemisch werde.11 Die Theoretiker der sogenannten Realistischen Schule erhoben in der Folge das Sicherheitsdilemma zum Strukturmerkmal internationaler (und interethnischer) Politik,12 und Generationen von Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftlern arbeiteten sich an der „Null-Hypothese“ ab, die davon ausgeht, dass internationale Organisationen und andere Kooperationsformen keine unabhängige Wirkung auf die internationale Politik hätten, weil das Sicherheitsbedürfnis Staaten dazu zwinge, egoistisch auf ihre relative Machtposition im internationalen System zu achten und Abhängigkeiten zu vermeiden.13 Dabei wurde Sicherheit zumeist essentialistisch definiert, als gleichsam natürliches, vom internationalen Selbst-Hilfe-System diktiertes Bedürfnis der Staaten nach Souveränität und Selbstbestimmung und nicht selten normativ als nicht zu hinterfragende Zweckbestimmung nationaler Interessenspolitik überhöht.14 Aber auch noch die zahlreichen „Erweiterungsrunden“ des Sicherheitsbegriffs in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren wurden damit begründet, dass es die unabweisbare Bedeutung ökonomischer Interessen sei, die Dringlichkeit ökologischer Probleme oder die Dramatik humanitärer Katastrophen, die ein erweitertes Verständnis von 11 12 13 14 15 the Return to Theory. The Past, Present, and Future of Security Studies, in: Alan Collins (Hg.), Contemporary Security Studies, Oxford 2007, S. 383 – 402. John Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, in: World Politics 2. 1950, S. 157 – 180. Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, New York 1979; Michael Mandelbaum, The Fate of Nations. The Search for National Security in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Cambridge 1988; Barry R. Posen, The Security Dilemma and Ethnic Conflict, in: Michael E. Brown (Hg.), Ethnic Conflict and International Security, Princeton 1993, S. 103 – 124; David A. Baldwin, The Concept of Security, in: Review of International Studies 23. 1997, S. 5 – 26. Robert O. Keohane u. Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in Transition, Boston 1977; Robert O. Keohane (Hg.), Neorealism and Its Critics, New York 1986; Joseph M. Grieco, Anarchy and the Limits of Cooperation. A Realist Critique of the Newest Liberal Instituionalism, in: International Organization 42. 1988, S. 487 – 507. Stephen D. Krasner, Defending the National Interest. Raw Materials Investments and U.S. Foreign Policy, Princeton 1978; Richard Smoke, National Security and the Nuclear Dilemma, New York 1987. Vgl. z. B. Jessica Tuchman Mathews, Redefining Security, in: Foreign Affairs 68. 1989, S. 162 – 177; Walter F. Mondale, Beyond Dtente. Toward International Economic Security, in: Foreign Affairs 53. 1974, S. 1 – 23; Norman Myers, Environment and Security, in: Foreign Policy 74. 1989, S. 23 – 41; Lloyd Axworthy, Canada and Human Security. The Need for Leadership, in: International Journal 52. 1997, S. 183 – 196. 392 Christopher Daase Sicherheit erfordere.15 „Wirkliche“ Sicherheit sei eben nur als wirtschaftliche, ökologische oder menschliche Sicherheit denkbar. Erst mit der konstruktivistischen Wende in den Internationalen Beziehungen und der Entstehung einer kritischen sicherheitspolitischen Forschung entstand ein Bewusstsein für die historische Kontingenz des Sicherheitsbegriffs und die soziale Konstruiertheit von Sicherheit und Unsicherheit.16 Gleichwohl zielt die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung, und zumal die politikwissenschaftliche, auf theoretische Aussagen, die auf mehr als einen Fall Anwendung finden. Dazu zählen verallgemeinerungsfähige Beobachtungen (wie über das Verhalten in Krisensituationen), vergleichende Typologien (zum Beispiel über Formen des Krieges), kausale Ursache-Wirkungs-Verhältnisse (etwa über die Entstehung von Terrorismus) und abstrakte Modelle (beispielsweise über die Kooperationsbereitschaft von Konfliktparteien). Die mit der sozialwissenschaftlichen Theorieorientierung in Kauf genommene begriffliche Abstraktion und empirische Generalisierung sind – nicht nur von Historikern – immer wieder kritisiert worden.17 Das Denken in Paradigmen, die Verwendung generischer Begriffe und die Fokussierung auf möglichst hohe Fallzahlen drohe den Blick für die Komplexität politischer Konstellationen zu verstellen und Erkenntnisse von einer Allgemeinheit zu produzieren, die banal oder irreführend sei. Insbesondere in Hinsicht auf das Ende des Kalten Krieges ist den Internationalen Beziehungen Versagen vorgeworfen und die Schwäche politikwissenschaftlicher Prognosefähigkeit mit der Stärke historischer Rekonstruktion kontrastiert worden.18 Freilich ist weder die Fähigkeit zur Vorhersage das entscheidende Kriterium politikwissenschaftlicher Theoriebildung, noch ist die retrospektive Gewissheit historischer Analyse ein Ersatz für policy theory, das heißt für das auf praktische Bewältigung politischer Probleme orientierte theoretische Wissen der Polito16 Ole Wæver, Security The Speech Act. Analysing the Politics of a Word, in: Copenhagen Centre for Peace and Conflict Research, Working Paper 19. 1989; Christopher Daase, Sicherheitspolitik und Vergesellschaftung. Ideen zur theoretischen Orientierung der sicherheitspolitischen Forschung, in: ders. u. a. (Hg.), Regionalisierung der Sicherheitspolitik, Baden-Baden 1993, S. 39 – 64; Peter Katzenstein (Hg.), The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics, New York 1996; Barry Buzan u. Ole Wæver, (Hg) Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998; Raymond Duvall u. a. (Hg.), Cultures of Insecurity. States, Communities, and the Production of Danger, Minneapolis 1999. 17 Albert O. Hirschman, The Search for Paradigms as a Hinderance to Unterstanding, in: World Politics 22. 1970, S. 329 – 343; Charles Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984. 18 John Lewis Gaddis, International Relations Theory and the End of the Cold War, in: International Security 17. 1992, S. 5 – 58; ders., We Now Know. Rethinking Cold War History, Oxford 1997; Richard Ned Lebow u. Thomas Risse-Kappen (Hg.), International Relations Theory and the End of the Cold War, New York 1997. ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 393 logie.19 Und doch ist es nicht verkehrt, den Sozialwissenschaften insgesamt eine gewisse Neigung zum Unhistorischen vorzuwerfen und den Hang zu kritisieren, mit jeder vermeintlichen Neuigkeit – seien es „Neue Kriege“, „Neue soziale Bewegungen“, oder „Neue Diplomatie“ – ein neues Zeitalter auszurufen. Da ist es gut, dass die Geschichtswissenschaft die Kontinuitäten sieht und die longue dure im Blick hat. Andererseits ist die zeitdiagnostische Zuspitzung aktueller Trends und ihre prononcierte Absetzung von Bekanntem eine wichtige Funktion der Sozialwissenschaften, die sich – stärker als die Geschichtswissenschaft – auch immer in einem Rechtfertigungszwang sieht, sozial und politisch „relevante“ Erkenntnisse zu liefern. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, worin der spezifische Beitrag der Geschichtswissenschaft zur Sicherheitsforschung liegen kann, in welchem Verhältnis das historische zum sozialwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse steht und in welchem Maße sich beide Disziplinen hinsichtlich ihrer Konzepte, Theorien und Methoden voneinander abgrenzen oder aufeinander zubewegen sollten. Dabei scheint sich in der sicherheitspolitischen Debatte eine alte Diskussion zu wiederholen, in der sich nicht nur Sozialwissenschaften und Geschichtswissenschaft, sondern auch theorieorientierte und idiographische Ansätze innerhalb dieser Disziplinen gegenüberstehen. Denn nach wie vor gibt es nicht nur die von Gilbert Zibura 1990 in dieser Zeitschrift identifizierte „Entfremdung der Geschichtswissenschaft von den Sozialwissenschaften“, sondern auch die „kämpferisch zur Schau gestellte Theoriefeindlichkeit“ insbesondere konservativer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in beiden Fächern, die Ziburas Meinung nach auf einen „fächerübergreifenden idiologischen Konsens“ schließen lasse.20 So hat Andreas Rödder unlängst die politikwissenschaftliche Diskussion über den Einfluss gesellschaftlicher Akteure auf die deutsche Sicherheitspolitik einer historischen Generalkritik unterzogen und vor der Übernahme sozialwissenschaftlicher Konzepte in die Geschichtswissenschaft gewarnt.21 Das Beispiel des NATO-Doppelbeschlusses zeige, dass „die empirischen Befunde der Theorie beziehungsweise dem apriorischen Postulat von der gesellschaftlichen Bedingtheit von Außenpolitik“ widersprechen und die „herkömmlichen Wege philologisch-hermeneutischer Interpretation“ zu einer „wider19 Alexander L. George u. Richard Smoke, Theory for Policy in International Relations, in: dies. (Hg.), Deterrence in American Foreign Policy. Theory and Practice, New York 1974, S. 616 – 642; Alexander L. George, Bridging the Gap. Theory and Practice in Foreign Policy, New York, 1993; Stephen M. Walt, The Relationship Between Theory and Policy in International Relations, in: Annual Review of Political Science 8. 2005, S. 23 – 48. 20 Vgl. Gilbert Zibura, Die Rolle der Sozialwissenschaften in der westdeutschen Historiographie der internationalen Beziehungen, in: GG 16. 1990, S. 79 – 103, hier S. 84. 21 Andreas Rödder, Sicherheitspolitik und Sozialkultur. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Geschichtsschreibung des Politischen, in: Hans-Christof Kraus u. Thomas Nichlas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 95 – 125. 394 Christopher Daase spruchsfreieren Erklärung [kommen] als neue Theorien und Modelle“. Hier ist nicht der Ort, die politikwissenschaftlichen Studien im Detail zu verteidigen, doch muss darauf hingewiesen werden, dass die ideographische Kritik der nomothetischen Zielrichtung dieser Forschung möglicherweise nicht gerecht wird. In diesem Zusammenhang wäre nämlich kritisch nach der Rolle des Einzelfalls „NATO-Doppelbeschluss“ in Rödders Argumentation zu fragen, die vermutlich ganz anders ausfallen müsste, wenn man auch die Ablehnung der Bundesregierung, sich am Irakkrieg 2003 zu beteiligen und die Weigerung 2011, die libyschen Rebellen gegen Gaddafi zu unterstützen, als weitere Fälle berücksichtigen würde. Der „Ideologieverdacht“,22 unter den Rödder liberale Ansätze Internationaler Beziehungen stellt, also solche, die innenpolitische Faktoren zur Erklärung von Außenpolitik geltend machen,23 lässt ihn auch vor einer stärkeren interdisziplinären Kooperation warnen. Denn die Neigung der Geschichtswissenschaft, sich an politikwissenschaftlichen Ansätzen zu orientieren, schlage sich in konkreter Unklarheit über Begriff und Gegenstand des Politischen und einem Mangel an probaten, genügend umfassenden und zugleich präzisen Konzepten nieder, zumal politikwissenschaftliche Ansätze in historischer Perspektive oftmals kaum anwendbar sind oder sich als empirisch unzureichend herausstellen.24 Es muss an dieser Stelle gewiss nicht betont werden, dass der Paradigmenstreit über die Rolle gesellschaftlicher Akteure in der Sicherheitspolitik keine politikwissenschaftliche Erfindung ist, sondern ihren Ausgang in der geschichtswissenschaftlichen Debatte um den Primat der Außen- oder Innenpolitik nahm.25 Auch ist hervorzuheben, dass in der Politikwissenschaft längst komplexere Modelle zur Analyse des Zusammenwirkens von innen- und außenpolitischen Faktoren existieren, die geeignet sind, den unproduktiven Paradigmenstreit zu überwinden.26 Gleichwohl ist die Forderung Rödders sicher ernst zu nehmen, dass 22 Rödder, Sicherheitspolitik, S. 107. 23 Vgl. Thomas Risse-Kappen, Public Opinion, Domestic Structure, and Foreign Policy in Liberal Democracies, in: World Politics 43. 1991, S. 479 – 512; Andrew Moravcsik, Taking Preferences Seriously. A Liberal Theory of International Politics, in: International Organization 51. 1997, S. 513 – 553; Siegfried Schieder, Neuer Liberalismus, in: ders. u. Manuela Spindler (Hg.), Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen 2003, S. 169 – 198. 24 Rödder, Sicherheitspolitik, S. 110. Eine ähnliche Argumentation findet sich bereits bei Andreas Hillgruber, Methodologie und Theorie der Geschichte der internationalen Beziehungen, in: GWU 27. 1976, S. 193 – 210. 25 Vgl. Zibura, Die Rolle der Sozialwissenschaften, bes. S. 85 – 94. 26 Zu erwähnen wären hier etwa die Arbeiten im Anschluss an Robert Putnam, Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, in: International Organization ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 395 Theorien, Modelle und Zugänge anderer Disziplinen […] für ihre geschichtswissenschaftliche Verwendung kritisch daraufhin abzuwägen [sind], ob sie als konkrete inhaltliche Beschreibungen mit den Quellen vereinbar und diachron anschlussfähig sind und ob solche aus anderen Disziplinen und wissenschaftlichen Zusammenhängen entnommenen Konzepte auf andere historische Kontexte übertragbar sind.27 In dieser Hinsicht ist Eckart Conze weitaus optimistischer als Andreas Rödder und kommt folglich zu einer positiveren Einschätzung des Verhältnisses von Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften. Conze tritt für eine „moderne Politikgeschichte“ ein und glaubt mit dem Sicherheitsbegriff eine analytische Leitkategorie gefunden zu haben, mit der eine „auf Staat und Regierung, auf Staats- und Regierungshandeln und auf Entscheidungen fixierte […] Politikgeschichte“ überwunden werden kann.28 Dabei wird ausdrücklich auf sozial- und kulturwissenschaftliche Begriffe und Methoden zurückgegriffen, die erlauben sollen, den Wandel von Sicherheitsbegriffen und Sicherheitsverständnissen zu rekonstruieren: Sicherheit ist also eine zutiefst historische Kategorie, die Aufschluss verspricht über den geschichtlichen Wandel, der mit der Veränderung von Sicherheitsbedürfnissen und dem damit korrespondierenden Sicherheitsbewusstsein eng verschränkt ist.29 Dieser Ausgangsintuition sind auch die drei folgenden Aufsätze verpflichtet. Auf unterschiedliche Weise versuchen sie, Kontinuität und Wandel von Unsicherheitswahrnehmung und Sicherheitsgewährleistung zu analysieren, um das Verständnis historischer Epochen und Epochenbrüche zu schärfen – oder zu erschüttern. Sie bedienen sich dabei auf unterschiedliche Weise sozialwissenschaftlicher Begriffe und Methoden und setzen sich kritisch mit politikwissenschaftlichen und soziologischen Theorien auseinander. 42. 1988, S. 427 – 460 oder die Versuche, die konstruktivistische Idee der Kodeterminiertheit von Akteur und Struktur in der Außenpolitikforschung umzusetzen, vgl. Walter Carlsnaes, The Agency-Structure Problem in Foreign Policy Analysis, in: International Studies Quarterly 36. 1992, S. 245 – 270. 27 Rödder, Sicherheitspolitik, S. 123. 28 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 53. 2005, S. 357 – 380. 29 Ders., Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, Berlin 2009, S. 17. 396 Christopher Daase II. Die Historisierung von Sicherheit Die Historisierung des Sicherheitsbegriffs, wie sie von Eckart Conze vorgeschlagen wurde, ist kompatibel mit konstruktivistischen und diskurstheoretischen Arbeiten zur Sicherheitspolitik in den Sozialwissenschaften.30 Sie geht aber insofern über diese hinaus, als – zumindest potentiell – der üblicherweise knappe Zeitrahmen politikwissenschaftlicher Analysen (nämlich die Nachkriegszeit oder maximal das 20. Jahrhundert) überschritten wird und dadurch größere Zeiträume untersucht und Epochen verglichen werden können. Die Wandelbarkeit dessen, was als schutzbedürftig angesehen wird, und der Wandel von Strategien, die für diesen Schutz für zweckmäßig gehalten werden, wird in zeithistorischen und begriffsgeschichtlichen Analysen greifbar. Werner Conze hatte bereits Mitte der 1980er Jahre die vielfältigen Bedeutungen des Sicherheitsbegriffs in einem großen historischen Bogen beschrieben.31 Hier setzen neuere begriffsgeschichtliche Analysen an und konzentrieren sich entweder auf die aktuelle Erweiterung des Sicherheitsbegriffs oder gehen weiter zurück, um Begriffsdyaden oder semantische Felder in ihrer historischen Entwicklung zu rekonstruieren.32 Dabei ergibt sich für eine historische Semantik des Politischen die interessante interdisziplinäre Fragestellung, wie sich Erwartungshorizonte und Gestaltungsspielräume der Sicherheitspolitik nicht nur durch Begriffswandel, sondern auch durch die Verschiebung von Begriffsbeziehungen, zum Beispiel zwischen Sicherheit und Freiheit, Frieden und Sicherheit oder Sicherheit und Gewissheit, verändert haben und verändern. 1. Sicherheit und Staatlichkeit Dabei werden Sicherheit und Sicherheitspolitik in der Regel als spezifisch moderne Phänomene angesehen und mit der Entstehung von Nationalstaaten, der rationalen Kalkulation von Gefahren und einem wachsenden Sicherheits30 Vgl. z. B. Ronnie Lipschutz, On Security, New York 1995; Keith Krause u. Michael C. Williams (Hg.), Critical Security Studies, Minneapolis 1997; Lene Hansen, Security as Practice. Discourse Analysis and the Bosnian War, London 2006. 31 Werner Conze, Art. Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, hg. v. Otto Brunner u. a., Stuttgart 1984, S. 831 – 862. 32 Vgl. Ole Wæver, Peace and Security. Two Evolving Concepts and Their Changing Relationship, in: Globalization and Environmental Challenges (Hexagon Series on Human and Environmental Security and Peace) 3. 2008, S. 99 – 111; Christopher Daase, National, Societal, and Human Security. On the Transformation of Political Language, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 22 – 37; Karl Härter, Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedensordnung 1648 – 1806, in: ZHF 30. 2003, S. 413 – 431; Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandels der Begriffe certitudo und securitas, Bayreuth 1990. ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 397 bedürfnis säkularisierter Gesellschaften in Zusammenhang gebracht.33 „Zumal aus der Optik der Sozial- und Geschichtswissenschaft,“ so Emil Angehrn, „präsentiert sich die uns vertraute Sicherheitskultur als Spätprodukt: Mag das Sicherheitsstreben eine anthropologische Konstante sein, so bildet seine auffallende Steigerung (und zunehmende Aporetik) einen zu interpretierenden Befund“.34 Zweifellos trifft zu, dass sich der Begriff „Sicherheit“ im Sinne von securitas erst seit dem 16. Jahrhundert durchsetzt. Doch hat schon Karl Härter darauf hingewiesen, dass sich bereits vor Etablierung des Nationalstaates Friedens- und Sicherheitsfunktionen zu differenzieren begannen. Am Beispiel des Alten Reiches zeigt Härter, dass selbst ein politisches Gebilde wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das nicht bruchlos in die europäische Staatenbildung eingegliedert werden kann sondern eher für eine abgebrochene Entwicklungslinie steht, zur konzeptionellen Differenzierung von Frieden und Sicherheit beziehungsweise innerer und äußerer Sicherheit beigetragen hat. Damit werde deutlich, dass es sich „bei Frieden und Sicherheit um historisch veränderbare diskursive Produkte und Wertideen [handelt], die sich aber durchaus in konkreter Sicherheits- bzw. Friedenspolitik manifestieren können“.35 In diesem Sinne werden auch in einem jüngst erschienenen Sammelband Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskurse als Ordnungsdiskurse verstanden […], in denen sich Gesellschaften über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verständigen und in denen Konzeptionen von gut und böse, gesund und krank, richtig und falsch verhandelt werden.36 Dabei lasse sich eine Differenzierung des Sicherheitsbegriffs beobachten: einerseits die Sicherheit des Bürgers vor unerlaubten Zugriffen auf seine Person, sein Eigentum und seine Rechte und andererseits die Sicherheit des Staates sowie seiner Organe und Amtsträger vor unerlaubten Eingriffen seiner Bürger und Fremder. Während das erste 33 Vgl. etwa Wolfgang Bonß, (Un-)Sicherheit in der Moderne, in: Rita Haverkamp u. a. (Hg.), Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken, Bielefeld 2011, S. 43 – 69; Wolfgang Bonß u. a., Die Konstruktion von Sicherheit in der reflexiven Moderne, in: ders. u. Ulrich Beck (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt 2001, S. 147 – 158; Simon Dalby, Security, Modernity, Ecology. The Dilemmas of Post-Cold War Security Discourse, in: Alternatives 17. 1992, S. 95 – 134; Peter L. Bernstein, Wider die Götter. Die Geschichte der modernen Risikogesellschaft, München 1997; Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne, Hamburg 1995. 34 Emil Angehrn, Das Streben nach Sicherheit. Ein politisch-metaphysisches Problem, in: Heinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann (Hg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt 1993, S. 218 – 243, hier S. 218 f. 35 Härter, Sicherheit und Frieden, S. 415. 36 Karl Härter u. a. (Hg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt 2010, S. 1. 398 Christopher Daase Thema die Beziehungen der Bürger oder Untertanen untereinander oder das Verhältnis zu fremden Obrigkeiten berührt, geht es beim zweiten um die Beziehung zwischen Staat und Bürgern und damit um die Grundfesten staatlicher Macht.37 Auch hier wird also letztlich Sicherheit und die Differenzierung von Sicherheitspolitik und Sicherheitsinstitutionen in den Entwicklungsrahmen moderner Staatlichkeit gestellt. Steffen Patzold geht mit seinem Beitrag einen bedeutenden Schritt weiter, indem er sich einerseits vom Begriff „Sicherheit“ als historischem Gegenstand löst und andererseits mit Hilfe aktueller Begriffe aus der sozialwissenschaftlichen Sicherheitsforschung einen verfremdenden Blick auf die politischen Praktiken des Frühmittelalters wirft. Sein Ziel ist es zum einen, die konzeptionelle Verbindung von Staatlichkeit und Sicherheitsgewährleistung zu problematisieren und damit zum anderen die scharfe Unterscheidung von Moderne und Vormoderne, die in der deutschen Mediävistik (aber eben auch darüber hinaus) über die Existenz des Staates und seine Sicherheitsfunktionen konzeptualisiert wird, in Frage zu stellen. Patzolds Kritik richtet sich dabei sowohl gegen die Geschichtswissenschaft als auch gegen die Sozialwissenschaften. Der ersten wirft er vor, an einem überholten Kriterium für die Unterscheidung von Moderne und Vormoderne festzuhalten und durch die Abkopplung von den Sozialwissenschaften das Gespür für politische Veränderungen und konzeptionelle Innovationen verloren zu haben. Den zweiten hält er entgegen, voreilig aus dem Bedeutungsverlust des Nationalstaates auf eine Wiederkehr vormoderner Zustände zu schließen und damit abermals, ex negativo, Staatlichkeit zum Kriterium effektiver Sicherheit zu machen. Durch die aktuellen politischen Veränderungen durch Globalisierung und Denationalisierung verliere aber nicht nur der Staat an Bedeutung, sondern auch die Unterscheidung von Vormoderne und Moderne an Plausibilität: Was um 1900 als ,moderner Staat‘ definiert worden ist, eignet sich heute, weil es auch für unsere Gegenwart inadäquat geworden ist, nicht mehr ohne weiteres als Kriterium, über das sich die Andersartigkeit einer ,Vormoderne‘ oder eines ,Mittelalters‘ konturieren ließe.38 Immerhin räumt Patzold ein, dass die Politikwissenschaft in jüngster Zeit mit konzeptionellen Innovationen auf die Phänomene sicherheitspolitischer Globalisierung und den Wandel von Staatlichkeit reagiert habe. Allerdings sei die sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit häufig inadäquat und politisch umstritten. Human Security sei zum Beispiel bislang eher ein politischer Kampfbegriff als eine analytische Kategorie. Mit Blick auf die Maßnahmen Karls des Großen gegen die Hungersnot von 779 zeigt Patzold, dass Sicherheitsgewährleistung im Mittelalter weniger auf menschliche Sicherheit im 37 Ebd., S. 10. 38 Vgl. den Beitrag von Patzold in diesem Heft, S. 416. ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 399 Sinne optimaler Ressourcenallokation gerichtet war, als darauf, das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen wieder herzustellen. Daraus schließt er : Wer behaupten wollte, die Forderung nach Human Security bedeute eine Wiederkehr der Vormoderne, weil die Sicherheitsdebatte damit ihren staatlichen Rahmen verliere, der übersähe, wie unterschiedlich man über das Verhältnis von Körper und Seele nachdenken kann.39 Allerdings ist mir niemand bekannt, der behauptet, Human Security würde ins Mittelalter zurückführen; im Gegenteil ist dieses Konzept dezidiert Teil eines politischen und wissenschaftlichen Fortschrittsnarrativs, das unter kosmopolitischen Vorzeichen der Gewährleistung globaler Menschenrechte Vorrang vor staatlicher Souveränität einräumt.40 Die Kritik an Human Security richtet sich folglich auch nicht gegen den Verlust staatlicher Steuerungskompetenz, sondern gegen begriffliche Unschärfe und die potentielle Überforderung nationaler und internationaler Sicherheitsinstitutionen.41 Die Idee von Patzold ließe sich gleichwohl aufnehmen und systematisieren. Über den Begriff Human Security könnte dann problematisiert werden, was jeweils historisch als grundlegende menschliche Bedürfnisse angesehen wurde und wie sich die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse gewandelt haben. Um dabei nicht wieder in die konzeptionelle Falle zu treten, Sicherheit mit Staatlichkeit zu identifizieren, empfiehlt Patzold den Begriff „Governance“, der in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere in der Politikwissenschaft gemacht hat.42 Zwar trifft auch auf den Governancebegriff zu, dass es keine verbindliche Definition gibt und unterschiedliche konkurrierende Ansätze 39 Vgl. ebd., S. 420. 40 Vgl. etwa Lloyd Axworthy, Human Security and Global Governance. Putting People First, in: Global Governance 7. 2001, S. 19 – 23; Tobias Debiel u. Sascha Werthes, Human Security. Vom politischen Leitbild zum integralen Baustein eines neuen Sicherheitskonzeptes?, in: Sicherheit und Frieden 23. 2005, S. 20 – 25; Jacqueline Stein-Kaempfe, Human Security. Völkerrechtliche Aspekte eines internationalen Sicherheitskonzeptes zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Berlin 2008. 41 Vgl. Roland Paris, Human Security. Paradigm Shift or Hot Air, in: International Security 26. 2001, S. 87 – 102. Vgl. aber für einen Versuch der rigorosen Operationalisierung von human security Gary King u. Christopher J. L. Murray, Rethinking Human Security, in: Political Science Quarterly 116. 2001, S. 585 – 610. 42 Vgl. zum Governancebegriff allgemein Ernst-Otto Czempiel u. James Rosenau, (Hg.), Governance Without Government. Order and Change in World Politics, Cambridge 1992; Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, Baden-Baden 20082 ; Arthur Benz u. a. (Hg.), Handbuch Governance, Wiesbaden 2007. Zu „Security Governance“ vgl. Elke Krahmann, Conceptualizing Security Governance, in: Cooperation and Conflict 38. 2003, S. 5 – 26; Christopher Daase u. Stefan Engert, Global Security Governance. Kritische Anmerkungen zur Effektivität und Legitimität neuer Formen der Sicherheitspolitik, in: Gunnar Folke Schuppert u. Michael Zürn (Hg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, Wiesbaden 2008, S. 475 – 498. 400 Christopher Daase existieren. Aber er eröffnet die Möglichkeit, die Herstellung öffentlicher Güter auch durch nicht-staatliche Akteure analytisch in den Griff zu bekommen. In Bezug auf das Mittelalter wäre dann etwa neu zu beschreiben, wie die Akteure Ende der 770er Jahre das kollektive Gut der Sicherheit herzustellen suchten. Der Blick wäre also zu richten auf die Instrumente, mit denen sie Gewalt einzudämmen trachteten und jenes Maß an gegenseitiger Erwartungsstabilität herbeiführten, ohne das soziale Ordnung nicht sein kann.43 Die dabei von Patzold identifizierten Rituale und symbolischen Praktiken sind allerdings keineswegs nur vormoderne Phänomene. Die Sicherheitsversprechen der Weltgemeinschaft im Rahmen der so genannten „UN-Millenniumsziele“44 oder die ökologischen Rettungspläne von Kyoto und Co. scheinen jedenfalls kaum mehr Realitätsgehalt zu haben, als die Almosenverordnung Karls des Großen;45 und die UNO-Schutzzonen in Bürgerkriegen bieten häufig nicht mehr Sicherheit als Kaiser Barbarossas Schutzversprechen an die Scholaren des Hochmittelalters.46 Insofern ergeben sich hier interessante interdisziplinäre Perspektiven auf die Rolle von symbolischer Kommunikation bei Sicherheits-Governance über die Jahrhunderte. Nicht nur für die deutsche Mediävistik wäre damit viel gewonnen, wie Patzold zeigt, sondern auch die Sozialwissenschaften würden präzisere Beschreibungen von „Semi-Souveränität“ und „begrenzter Staatlichkeit“ gewinnen, als sie in der politikwissenschaftlichen Forschung bislang üblich sind.47 Die Zeit rein staatlicher Sicherheitspolitik würde dabei historisch eingegrenzt und theoretisch relativiert werden. Nicht „Sicherheit“ als solche ist charakteristisch für die Moderne, sondern eine normative Ordnung, in der eine spezifische Form politischer Herrschaft – nämlich der Nationalstaat – für sich in Anspruch nimmt, seine eigenen und die Sicherheitsbedürfnisse seiner Untertanen bestimmen und autoritativ durchsetzen zu können. Die Auflösung dieser Ordnung, das, was in den Sozialwissenschaften die „postnationale Konstellation“ genannt wird,48 ermöglicht es, die selbstverständliche Identifizierung 43 44 45 46 Vgl. den Beitrag von Patzold in diesem Heft, S. 421. Vgl. die UN-Millenniumsziele, http://www.unric.org/html/german/mdg/index.html. Vgl. http://unfccc.int/resource/docs/convkp/kpger.pdf. Zu letzterem vgl. Stefanie Rüther, Sicherheit als Privileg. Möglichkeiten und Grenzen der Sicherheitspolitik zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, Vortrag auf dem 48. Historikertag, Berlin 2010. 47 Vgl. etwa Robert Jackson, Quasi-States. Sovereignty, International Relations and the Third World, Cambridge 1990; Stephen D. Krasner, Sovereignty. Organized Hypocracy, Princeton 1999; Thomas Risse, Regieren in „Räumen begrenzter Staatlichkeit“. Zur Reisefähigkeit des Governance-Konzeptes, in: Schuppert u. Zürn, Governance in einer sich wandelnden Welt, S. 149 – 170. 48 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt 1998; Michael Zürn u. Bernhard Zangl, Krieg und Frieden. Sicherheit in der nationalen und postnationalen Konstellation, Frankfurt 2003. ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 401 von Sicherheit und Staatlichkeit aufzuheben und das Denken in starren Epochenkategorien zu überwinden. Erst dann ist es möglich, wie Patzold zeigt, „in weiter Diachronie historische Formen der Organisation von Macht und der Herstellung von Sicherheit“ zu analysieren und den aktuellen Wandel von Sicherheitsbedürfnissen und Sicherheitspolitik im Rahmen einer historischen Governance-Forschung zu verstehen. 2. Sicherheit und Versicherbarkeit Einen anderen Weg der Historisierung von Sicherheit wählen die Beiträge von Cornel Zwierlein und Eckart Conze. Sie historisieren nicht politische Begriffe (wie Human Security), sondern sozialwissenschaftliche Begriffe (nämlich Versicherbarkeit und Versicherheitlichung), indem sie sie aus der engeren soziologischen und politikwissenschaftlichen Verwendung befreien und auf andere, ältere historische Zusammenhänge übertragen. Dabei verbindet Zwierlein seinen Ansatz mit einer deutlichen Kritik an den Sozialwissenschaften, insbesondere der Risikosoziologie von Ulrich Beck. Obwohl der Risikosoziologie und insbesondere der Rede von einer Zweiten Moderne „ein prononciertes epochentheoretisches Narrativ“ unterlegt sei, könne man ein echtes historisches Interesse nicht erkennen. Insbesondere der Begriff der „Versicherbarkeit“, den Beck in Anlehnung an FranÅois Ewald zur Unterscheidung von Erster und Zweiter Moderne verwendet,49 eigne sich zwar durchaus als Epochenindikator, nicht aber so, wie Beck ihn verwendet. Das zeige eine historische Untersuchung des Versicherungswesens und die Differenzierung unterschiedlicher Zeithorizonte. Neben dem operativen Zeithorizont, in dem Menschen wirtschaften und Versicherer kalkulieren, müsse nämlich ein zweiter, allgemeiner Zeithorizont des gesellschaftlich Erwartbaren bedacht werden. Erst aus dem Verhältnis dieser Zeithorizonte zueinander lasse sich ein Kriterium für Epochengrenzen entwickeln. Tatsächlich zeigt Cornel Zwierlein in seinen Fallstudien zum Versicherungswesen, dass nicht überall dort, wo Versicherung nicht mehr möglich ist, auch eine Epochengrenze überschritten wird. Darüber hinaus gelingt ihm durch die Kombination der Zeithorizonte eine präzisere Bestimmung historischer Epochen, die allerdings genau die Epochen sind, die auch der Beck’schen Theorie zugrunde liegen. Zwierlein resümiert: Vor diesem Hintergrund hat historisch wie wohl auch zeit- und allgemeinsoziologisch der epochale Dreischritt Vormoderne, Moderne und dann, unter welcher genauen Bezeichnung sei einmal dahingestellt, Post-, Spät- oder Zweite Moderne durchaus Sinn.50 Die Kritik, dass der Soziologe Beck sich für die historischen Details seiner zeitdiagnostischen Behauptung nicht interessiere, kann insofern gemildert 49 FranÅois Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt 1993; Jochen Petin, Versicherung und gesellschaftliche Risikoproblematik, St. Gallen 1992. 50 Vgl. den Beitrag Zwierlein in diesem Heft, S. 449. 402 Christopher Daase werden, als der Historiker Zwierlein die geschichtswissenschaftliche Begründung für die sozialwissenschaftliche Intuition liefert. Aber nicht nur das. Zwierleins Überlegungen zum Auseinandertreten von operativem Planungshorizont und gesellschaftlichem Erwartungshorizont könnten wichtige Anregungen für die Analyse aktueller Sicherheitsprobleme geben. Der von ihm beschriebene „säkular-apokalyptische Horizont“, der anders als in der Moderne die Zukunft eher geschlossen erscheinen lasse, wirkt nämlich zurück auf den operativen Planungshorizont von wirtschaftlichen und politischen Akteuren. Denn die Gefahren des Klimakollaps, der Ressourcenerschöpfung und der Atomkatastrophe mögen „zwar im Alltag nicht sichtbar und spürbar“ sein, sie kreieren aber – nicht nur nach Katastrophen wie in Fukushima – unmittelbaren Handlungsdruck für politische Entscheidungsträger und werden in der Gesellschaft zunehmend als Sicherheitsprobleme wahrgenommen, die politisches Handeln erfordern. Das gegenwärtige Auseinanderklaffen von sicherheitspolitischen Forderungen von Seiten der Gesellschaft und Fähigkeiten von Staaten und internationalen Organisationen, diese zu befriedigen, mag auch in den unterschiedlichen Zeithorizonten begründet sein, in denen unterschiedliche Akteure operieren. Nicht nur die Sicherheitsgeschichte im Allgemeinen und die Versicherungsgeschichte im Besonderen, sondern auch die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung würde dabei von einer begrifflich genaueren Unterscheidung von „Sicherheit“ und „Gewissheit“ profitieren, wobei sich Sicherheit auf die Abwesenheit konkreter Gefahren oder Bedrohungen bezieht, während Gewissheit die verlässliche Fähigkeit ihrer kognitiven Erfassung betrifft. Sowohl im Risikobegriff als auch im Begriff der Sicherheit werden aber diese beiden Aspekte häufig vermengt. Die gegenwärtige Sicherheitsproblematik, so könnte man nämlich argumentieren, ist nicht nur oder nicht in erster Line durch neue (substantielle) Bedrohungen charakterisiert, sondern eher durch steigende Unübersichtlichkeit und eine zunehmende (kognitive) Ungewissheit.51 Auch wenn existentielle Unsicherheiten ständig reduziert werden und ein Großteil der Risikoforschung argumentiert, Gefahren prinzipiell kalkulieren und damit politisch handhabbar machen zu können, ist doch die Wahrnehmung in der Gesellschaft verbreitet, dass die Unsicherheit zunimmt. Dieses Phänomen ist häufig als das Auseinanderfallen von „objektiver“ und „subjektiver“ Sicherheit beschrieben worden, wobei der ersten wissenschaftliche Rationalität und der 51 Michael Fitzsimmons, The Problem of Uncertainty in Strategic Planning, in: Survival 48. 2006/7, S. 131 – 146; Christopher Daase u. Oliver Kessler, Knowns and Unknowns in the War on Terror. Uncertainty and the Political Construction of Danger, in: Security Dialogue 38. 2007, S. 411 – 436. Allgemein zur Bedeutung von Ungewissheit in der Politik Claudio Cioffi-Revilla, Politics and Uncertainty. Theory, Models and Application, Cambridge 1998. ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 403 zweiten irrationale Unbeständigkeit zugeschrieben wird.52 Wichtiger aber als die eine gegen die andere Form der Gefahrenwahrnehmung auszuspielen, ist es, ihre jeweiligen Logiken und die politische Dynamik zu verstehen, die durch ihre Inkongruenz entstehen. Die historische Versicherungsforschung könnte hierzu einen wichtig Beitrag leisten, indem sie das Verhältnis der zu versichernden Gegenstände und das Wissen um sie, also Sicherheit und Gewissheit, explizit historisiert. 3. Sicherheit und Versicherheitlichung Auch Eckart Conze weist darauf hin, dass der Wandel von Sicherheitsbegriffen, Sicherheitsverständnissen und Sicherheitswahrnehmungen über die jüngste Zeitgeschichte hinausreiche und die Sicherheitsforschung deshalb um eine historische Komponente ergänzt werden müsse. Die Geschichtswissenschaft könne dabei helfen deutlich zu machen, dass „unterschiedliche Gesellschaften, aber auch unterschiedliche Gruppen in einer Gesellschaft […] – synchron und diachron – höchst unterschiedliche Vorstellungen von Sicherheit – respektive Unsicherheit“ haben. Zu diesem Zweck schlägt Conze vor, den politikwissenschaftlichen Begriff der „Versicherheitlichung“, wie er im Rahmen der sogenannten Kopenhagener Schule entwickelt wurde,53 zu historisieren und zur Analyse des Wandels von Sicherheitsvorstellungen zu nutzen. Die Stärke des Versicherheitlichungsansatzes ist, dass er ein relativ einfaches Narrativ bietet, wie und warum Phänomene (zum Beispiel Umweltzerstörung) zu Sicherheitsproblemen werden: indem nämlich interessierte gesellschaftliche Akteure (wie Umweltverbände oder Regierungsstellen) sie für sicherheitsrelevant erklären und damit außerordentliche Maßnahmen fordern oder rechtfertigen. Die Bedingungen allerdings, unter denen solche securitization moves erfolgreich sind, kann der Versicherheitlichungsansatz selber nicht erklären, weil nach gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen gefragt werden müsste, die eine Gesellschaft dazu bringen, Versicherheitlichungsversuche zu unterstützen und zu akzeptieren. Damit sind schon die Schwächen des Ansatzes angesprochen, die in den letzten Jahren in der sozialwissenschaftlichen Sicherheitsforschung heftig diskutiert wurden, in Conzes Aufsatz aber kaum reflektiert werden.54 Dabei wird 52 Christoph Gusy, Sicherheitskultur – Sicherheitspolitik – Sicherheitsrecht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 93. 2010, S. 111 – 128; Dina Hummelsheim u. a., Subjektive Unsicherheit, in: Christopher Daase u. a. (Hg.), Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt 2012, S. 301 – 324. 53 Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Ronnie Lipschutz (Hg.), On Security, New York 1995, S. 46 – 86; Barry Buzan u. a., Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998. 54 Vgl. etwa Michael C. Williams, Words, Images, Enemies. Securitization and International Politics, in: International Studies Quarterly 47. 2003, S. 511 – 531; Thierry 404 Christopher Daase kritisiert, dass der Ansatz einem starren, letztlich auf Staaten fixierten, Akteursverständnis verhaftet bleibt und mit seiner sprechakttheoretischen Ausrichtung komplexere Sprachhandlungen und Bedrohungsbilder nicht angemessen beschreiben kann. Dies scheint auch die historische Anwendung einzuschränken. Zwar sieht Conze das Potential, nicht nur staatliche Akteure, sondern auch gesellschaftliche Gruppen als Versicherheitlicher in den Blick zu nehmen, beschreibt Versicherheitlichung aber letztlich vor allem als Legitimationspolitik des Staates: „Sicherheit begründet Machtverhältnisse und insbesondere staatliche Macht und Herrschaft.“ Auch wenn das historisch gesehen nicht falsch ist, muss man doch betonen, dass in den letzten Jahren mit dem Begriff Human Security genau das Gegenteil eingetreten ist: dass nämlich über den Sicherheitsbegriff staatliche Macht geschwächt und Souveränität eingeschränkt wird, indem die internationale Gemeinschaft – wer immer das im konkreten Fall sein mag – ermächtigt wird, grundlegende Menschenrechte notfalls mit militärischer Macht durchzusetzen. Nicht alle Versicherheitlichungsprozesse laufen also nach dem gleichen Muster und nach der gleichen Logik ab. Um ein differenzierteres Bild der Versicherheitlichung zu zeichnen, müsste man darüber hinaus wahrscheinlich die Fixierung auf den Sicherheitsbegriff aufgeben und eher semantische Felder und soziale Praktiken der Sicherheit in den Blick nehmen. Hier ergäbe sich in Fortführung der Ideen von Michel Foucault, den Conze zitiert, eine weitere Anknüpfung an die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung – etwa der sogenannten Pariser Schule, die Sicherheitspolitik als Element von Gouvernementalität versteht und im Zusammenhang mit dem Wandel des sozialen Feldes Sicherheit den Wandel der Technologien des Regierens analysiert.55 III. Fazit Die hier besprochenen Beiträge zur historischen Sicherheitsforschung wählen verschiedene Wege zur Historisierung von Sicherheit. Dabei ergeben sich unterschiedliche Probleme und Erkenntnismöglichkeiten einerseits und unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die interdisziplinäre Sicherheitsforschung andererseits. Besonders schwierig scheint es zu sein, politische Begriffe wie Human Security zu analytischen Begriffen zu machen und auf andere Zeitkontexte anzuwenden. Die besondere Umstrittenheit dieser BeBalzacq, The Three Faces of Securitization. Political Agency, Audience and Context, in: European Journal of International Relations 11. 2005, S. 171 – 201; Matt McDonald, Securitization and the Construction of Security, in: ebd. 14. 2008, S. 563 – 587; Holger Stritzel, Towards a Theory of Securitization. Copenhagen and Beyond, in: ebd. 13. 2007, S. 357 – 383. 55 Vgl. etwa Didier Bigo, Security. A Field Left Fallow, in: Michael Dillon u. A.W. Neal (Hg.), Foucault on Politics, Security and War, London 2008, S. 93 – 114. ipabo_66.249.66.96 Historische Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht 405 griffe verhindert die notwendige Loslösung vom Ursprungskontext und macht eine Konzeptualisierung und Operationalisierung als wissenschaftliche Begriffe, die auch in anderen Kontexten Anwendung finden könnten, schwierig. Gleichwohl können sie wie im Beitrag von Steffen Patzold Anregung sein, nach den historischen Praktiken der Sicherheit zu fragen, die heute zum Beispiel mit dem Begriff „menschliche Sicherheit“ beschrieben werden. Weniger problematisch und wissenschaftlich ergiebiger scheint es zu sein, Sicherheit zu historisieren, indem sozialwissenschaftliche Begriffe zur Analyse gegenwärtiger Sicherheitsfragen auf andere historische Kontexte übertragen werden, wie Cornel Zwierlein und Eckart Conze zeigen. Sowohl der Begriff der „Versicherbarkeit“ als auch der der „Versicherheitlichung“ lassen sich nicht nur auf aktuelle sondern auch historische Situationen beziehen und zur Erklärung des Wandels im Umgang mit Sicherheit und Unsicherheit nutzen. Dabei gewinnen beide – Sozialwissenschaften und Geschichtswissenschaft – an analytischer Aussagekraft: die sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit erhält historische Tiefe, indem etwa das Problem der Versicherbarkeit historisch differenziert und der Prozess der Versicherheitlichung auch in anderen historischen Konstellationen nachgewiesen wird. Damit erhöht sich die Zahl der Beobachtungen und folglich die Aussagekraft der jeweiligen Theorie. Die historische Sicherheitsforschung erhält dagegen generische Begriffe, die auf größere Zeiträume angewendet werden können und einen innovativen analytischen Zugriff jenseits traditioneller begrifflicher Festlegungen und Epochengrenzen erlauben. Am wenigsten umstritten dürfte freilich die hier nicht vertretene Historisierung von Sicherheit durch die begriffsgeschichtliche Rekonstruktion sicherheitspolitischer Konzepte sein. Dabei kann auf unterschiedliche Traditionen der Begriffsgeschichte, conceptual history und Diskursanalyse zurückgegriffen werden, die anschlussfähig an sozialwissenschaftliche Analyseverfahren sind. Die Begrenzung begriffsgeschichtlicher Analysen kann dabei dann überwunden werden, wenn sicherheitspolitische Bedeutungsfelder, wie Varianten der Unsicherheit oder Formen des Krieges, erschlossen oder die Veränderung von Begriffsdyaden, wie Sicherheit und Freiheit oder Sicherheit und Frieden, analysiert und die Möglichkeiten genutzt werden, von der Begriffsanalyse zur Analyse sicherheitspolitischer Praktiken überzugehen. Die hier besprochenen Aufsätze nutzen den Dialog mit den Sozialwissenschaften in diesem Sinne und leisten einen Beitrag zur Erforschung des historischen Wandels der Sicherheitskultur.56 Prof. Dr. Christopher Daase, Goethe-Universität Frankfurt, Exzellenzcluster „Herausbildung normativer Ordnungen“, Senckenberganlage 31, D-60325 Frankfurt am Main E-Mail: [email protected] 56 Christopher Daase, Sicherheitskultur. Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung politischen und sozialen Wandels, in: Sicherheit und Frieden 29. 2011, S. 59 – 65. Human Security, fragile Staatlichkeit und Governance im Frühmittelalter Zur Fragwürdigkeit der Scheidung von Vormoderne und Moderne von Steffen Patzold Abstract: For a long time, medievalists have discussed whether there were states in medieval Europe or not. German medievalists have got used to the idea that the political order of medieval societies is not to be analyzed in terms of state, security, or governance. The article argues that we should not push the medieval orders aside as „premodern“, „strange“, or „alien“. Instead, the current shifts concerning the concepts of state, nation and security provide an opportunity to overcome the established dichotomy of premodernity vs. modernity as a pattern of interpretation. Thus, different historical forms of the organization of power and the production of security could be made accessible for present political debates. I. Ein Fallbeispiel. Das regnum Francorum 778/79 Im Herbst des Jahres 778 dürften Karl, dem König der Franken, die Zeiten wenig rosig erschienen sein. Ein Lichtblick mochte es sein, dass Hildegard, seine Gemahlin, im Spätsommer des Jahres in Chasseneuil mit Zwillingen niedergekommen war.1 Sonst aber stand es schlimm: Im Sommer hatte Karl einen Feldzug über die Pyrenäen geführt. Das Unternehmen hatte vielversprechend begonnen, mit Siegen in Pamplona und Saragossa. Aber auf dem Heimweg, am 15. August 778, griffen Basken in den Pyrenäen die Nachhut an und rieben Karls Truppe auf. Viele Männer aus der engsten Umgebung des Königs starben.2 Noch Jahrzehnte später formulierte ein fränkischer Annalist: 1 Astronomus, Vita Hludowici, hg. v. Ernst Tremp (= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Bd. 64), Hannover 1995, S. 279 – 556, hier c. 3, S. 288. 2 Vgl. den – späten – Bericht von Einhard, Vita Karoli, hg. v. Oswald Holder-Egger (= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Bd. [25]), Hannover 1911, c. 9, S. 12 f. Die zeitnahen Quellen sind konzis zusammengestellt bei Matthias Tischler, Tatmensch oder Heidenapostel. Die Bilder Karls des Großen bei Einhart und im Pseudo-Turpin, in: Klaus Herbers (Hg.), Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum PseudoTurpin (= Jakobus-Studien, Bd. 14), Tübingen 2003, S. 1 – 37, hier S. 21 f., Anm. 88; dazu und zu den weiteren Ereignissen der Jahre 778/79 ausführlich Dieter Hägermann, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes, Berlin 2000, S. 163 – 166, zum Spanienfeldzug insbesondere auch Robert-Henri Bautier, La campagne de Charlemagne en Espagne (778). La ralit historique, in: Bulletin de la Socit des Sciences, Lettres et Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 406 – 422 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012 ISSN 0340-613X ipabo_66.249.66.96 Sicherheit und Staat im Frühmittelalter 407 „Der Schmerz über die empfangene Wunde überschattete im Herzen des Königs den Großteil der Erfolge in Spanien“.3 Wie verheerend Karls Niederlage war, kann man am besten daran ermessen, dass sich die Verfasser der offiziösen Jahresberichte, die seit etwa 790 am Hof niedergeschrieben wurden, eifrig bemühten, die Niederlage mit dem Mantel des Schweigens zu bedecken.4 Aber damit nicht genug: Am anderen Ende des Reiches nutzten sächsische Gruppen die Niederlage der Franken aus. Schon seit 772 hatte Karl versucht, sie militärisch zu unterwerfen und zum Christentum zu zwingen.5 Seine Erfolge waren dürftig – und eben jetzt, nach seiner Niederlage in den Pyrenäen, drangen sächsische Gruppen wieder bis zum Rhein vor und plünderten, verheerten und verbrannten von Deutz aus südwärts bis zur Mosel die Höfe und Siedlungen. Auch die neue Burg in Paderborn machten Sachsen dem Erdboden gleich.6 Das war nicht irgendein Ort: Karl hatte Paderborn programmatisch als neues fränkisches Machtzentrum in Sachsen errichten und ausbauen lassen. In den zeitnahen Texten firmiert Paderborn unter dem Namen „urbs Karoli“, „Karlsburg“; ein Wahrzeichen fränkischer Eroberung war vernichtet.7 Eben in diesem Moment, im Herbst 778, blieb die Ernte so 3 4 5 6 7 Arts de Bayonne 135. 1979, S. 1 – 51; Helmut Brall-Tuchel, Das Herz des Königs. Karl der Große, Roland und die Schlacht von Roncesvalles in den Pyrenäen am 15. August 778, in: Gerd Krumeich u. Susanne Brandt (Hg.), Schlachtenmythen. Ereignis, Erzählung, Erinnerung (= Europäische Geschichtsdarstellungen, Bd. 2), Köln 2003, S. 33 – 62, hier S. 35 – 43. Annales qui dicuntur Einhardi, hg. v. Friedrich Kurze (= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Bd. [6]), Hannover 1895, a. 778, S. 51/53: „Cuius vulneris accepti dolor magnam partem rerum feliciter in Hispania gestarum in corde regis obnubilavit.“ Die Annales regni Francorum, hg. v. Friedrich Kurze (= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Bd. [6]), Hannover 1895, a. 778, S. 50, beenden ihren Bericht über das Unternehmen mit dem beschönigenden Fazit, Karl sei „Pampilona destructa, Hispani Wascones subiugatos, etiam et Nabarros, reversus in partibus Franciae“. In der überarbeiteten Fassung der Annales qui dicuntur Einhardi, a. 778, S. 51, heißt es dagegen offenherziger : „In hoc certamine plerique aulicorum, quos rex copiis praefecerat, interfecti sunt, direpta impedimenta et hostis propter notitiam locorum statim in diversa dilapsus est.“ Vgl. Annales regni Francorum, a. 772, S. 32/34. Annales regni Francorum, a. 778, S. 52; vgl. auch die Annales Fuldenses, hg. v. Friedrich Kurze (= MGH Scriptores rerum Germanicarum, Bd. [7]), Hannover 1891, S. 1 – 135, hier a. 778, S. 9 f., die von der Flucht der Fuldaer Mönche aus Angst vor marodierenden Sachsen berichten. Zum Geschehen vgl. Karl Hengst, Die Ereignisse der Jahre 777/78 und 782. Archäologie und Schriftüberlieferung, in: Peter Godman u. a. (Hg.), Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos „Karolus Magnus et Leo papa“ und der Papstbesuch in Paderborn 799, Berlin 2002, S. 57 – 74, hier S. 60 – 66. Vgl. Peter Johanek, Die Sachsenkriege Karls des Großen und der Besuch Papst Leos III. in Paderborn 799 im Gedächtnis der Nachwelt, in: Westfälische Zeitschrift 150. 2000, S. 211 – 233, hier vor allem S. 215 – 228 zur Zerstörung der Pfalz in Paderborn. Zur 408 Steffen Patzold dürftig, dass eine Hungersnot unabwendbar wurde. Zum Jahr 779 vermerken die „Lorscher Annalen“ dann in der Tat lapidar : „Großer Hunger und Sterben in der Francia“.8 Mit fast den gleichen Worten melden es auch andere Jahresberichte.9 Im Winter 778, spätestens im Frühjahr 779 bestand, was man heute wohl „Handlungsbedarf“ nennen würde. Karl verbrachte den Jahreswechsel 778/79 in der Pfalz Herstal bei Lüttich.10 Im März 779 versammelte er dort einflussreiche Männer um sich, Bischöfe, Äbte, Grafen und andere mehr. Ergebnis der Beratungen waren zwei Texte: Der eine zielt auf Grundsätzliches, auf Strukturen. Er definiert eine neue, bessere Ordnung. Dazu werden verschiedenste Punkte geregelt: Das Spektrum reicht vom Verhältnis zwischen Metropolitansitzen und Suffraganen bis zum Verbot von Gilden. Der Text ist in zwei verschiedenen Rezensionen in zahlreichen Handschriften auch schon des 9. Jahrhunderts überliefert; das spricht dafür, dass er vom Hof aus weit im Reich verbreitet wurde.11 Der zweite Text ist deutlich kürzer. Er reagiert auf die drohende Hungersnot: Karl und seine Ratgeber formulierten Sofortmaßnahmen, um die Katastrophe einzudämmen. 8 9 10 11 Bedeutung des Ortes auch Klemens Honselmann, Paderborn 777, Urbs Karoli: Karlsburg, in: Westfälische Zeitschrift 130. 1980, S. 398 – 402; Karl Hauck, Paderborn, das Zentrum von Karls Sachsen-Mission 777, in: Josef Fleckenstein u. Karl Schmid (Hg.), Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, Freiburg 1968, S. 91 – 140. Annales Laureshamenses, hg. v. Georg Heinrich Pertz (= MGH Scriptores, Bd. 1), Hannover 1826, S. 22 – 39, hier a. 779, S. 31: „Fames vero magna et mortalitas in Francia.“ Vgl. z. B. die mit den Lorscher Annalen verwandten Annales Alamannici, Continuatio, hg. v. Georg Heinrich Pertz (= MGH Scriptores, Bd. 1), Hannover 1826, S. 40 – 44, hier a. 779, S. 40; Annales Sangallenses breves, hg. v. Ildefons von Arx u. Georg Heinrich Pertz, ebd., S. 64 f., hier a. 779, S. 64; Annales Augienses, hg. v. Georg Heinrich Pertz, ebd., S. 67 – 69, hier a. 779, S. 67; Annales Mosellani, hg. v. Johann Martin Lappenberg (= MGH Scriptores, Bd. 16), Hannover 1859, S. 491 – 499, hier a. 779, S. 497. Die Feier des Weihnachts- und des Osterfests in Herstal vermerken die Annales regni Francorum, a. 779, S. 52: „Et celebravit supradictus clementissimus rex natalem Domini in villa, quae dicitur Haristallio, et pascha similiter“. Am 13. März des Jahres urkundete Karl in der Pfalz Herstal für das Kloster Hersfeld, am 27. März für St-Germain-des-Prs: D Karl I. 121, hg. v. Engelbert Mühlbacher (= MGH Diplomata Karolinorum, Bd. 1), Hannover 1906, S. 169 f., sowie ebd., Nr. 122, S. 170 f. (beide im Original überliefert). Er ist (schlecht) ediert als Capitulare Haristallense, ed. Alfred Boretius (= MGH Capitularia, Bd. 1), Hannover 1883, Nr. 20, S. 46 – 51; zur Überlieferung vgl. Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse (= MGH Hilfsmittel, Bd. 15), München 1995, S. 1081, s.v. „Capitulare Haristallense“. ipabo_66.249.66.96 Sicherheit und Staat im Frühmittelalter 409 Auch dieser Text ist in immerhin mehr als zwanzig Codices überliefert, dürfte also ebenfalls systematisch im Reich bekannt gemacht worden sein.12 II. Grenzen der Sicherheit – Grenzen historischer Epochen? Die Situation von 778/79 kann als Fallbeispiel dienen für die Reflexion über Sicherheit, über Grenzen der Sicherheit und über deren Bedeutung für die Definition historischer Epochengrenzen. Ein Gedankenspiel: Wie hätte ein Politikberater der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine derartige Situation analysiert, wie ein Politikberater heute? Wahrscheinlich hätte es in den sechziger Jahren geheißen: Die Sicherheitslage des fränkischen Staats ist schlecht. Die nationale Sicherheit ist im Westen wie im Osten durch Grenzkriege mit islamischen und anderen, nicht-christlichen sächsischen Gruppen bedroht. Im Inneren droht Abertausenden der Hungertod – mit katastrophalen Folgen für die staatliche Ordnung. Ein Politikberater unserer Gegenwart spräche wohl immer noch von einer dramatischen Sicherheitslage. Statt aber nur die staatliche Sicherheit zu beachten, dächte er vielleicht auch an die drohende humanitäre Katastrophe und die Wahrung der „Human Security“. Er hätte dann abzuwägen, ob der internationalen Gemeinschaft in diesem Falle eine responsibility to protect13 zukäme und ob sie intervenieren solle, weil der fränkische Staat schwach oder gar fragil ist und seine Regierung nicht mehr in der Lage, die kollektiven Güter Sicherheit und Wohlstand zu gewährleisten. Das Gedankenspiel mag absurd wirken. Gerade deshalb aber ist es für die Frage nach dem Zusammenhang von Epochengrenzen und Grenzen der Sicherheit nützlich: Es zeigt nämlich, wie weit sich Darstellungen aus der Feder von Mediävisten – und zumal von deutschen Mediävisten – von der gegenwärtigen Sprache der Politik und der Politologie entfernt haben. Ein deutscher Mittelalterhistoriker wird sich hüten, die Situation von 778/79 auf diese Weise zu beschreiben. Mediävisten sprechen anders über Politik und menschliches Zusammenleben. 12 Die alte Edition Capitulare episcoporum, ed. Alfred Boretius (= MGH Capitularia, Bd. 1), Hannover 1883, Nr. 21, S. 51 f., ist nun überholt durch den Druck bei Hubert Mordek, Karls des Großen zweites Kapitular von Herstal und die Hungersnot der Jahre 778/779, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 61. 2005, S. 1 – 52, hier S. 44 – 52, der zugleich, ebd., S. 23 – 31, gegen FranÅois Louis Ganshof, Note sur deux capitulaires non dats de Charlemagne, in: Miscellanea historica in honorem Leonis van der Essen, Brüssel 1947, Bd. 1, S. 12 – 133, den Text mit überzeugenden Argumenten in das Jahr 779 datiert und nach Herstal verortet hat. 13 Vgl. Carsten Stahn, „Responsibility to Protect“. Political Rhetoric or Emerging Legal Norm?, in: American Journal of International Law 101. 2007, S. 99 – 120; Christian Schaller, Gibt es eine „Responsibility to Protect“?, in: APuZ 46. 2008, S. 9 – 14. 410 Steffen Patzold Den Unterschied macht der Staat.14 Schon seit dem 19. Jahrhundert diskutiert die Mediävistik fleißig darüber, ob es im Mittelalter den Staat überhaupt gab. Wenn ja, wie könnte er dann ausgesehen haben? Und wenn nicht, was setzte dem politischen Handeln der Akteure stattdessen einen Rahmen? Spätestens seit den 1930er Jahren hat sich die deutsche Mediävistik bei diesen Fragen auf einen interessanten nationalen Sonderweg begeben. Otto Brunners Buch „Land und Herrschaft“ von 1939,15 aber auch andere Arbeiten der sogenannten Neuen Verfassungsgeschichte16 haben hierzulande eine Art Mantra etabliert: Hände weg von den Begriffen der Sozialwissenschaften! Hände weg von der Unterscheidung zwischen „Recht“ und „Macht“, zwischen „Privat“ und „Öffentlich“, zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“! All diese Unterscheidungen, so sah es Brunner, sind Kinder der Moderne; sie führen denjenigen in die Irre, der „Alteuropa“, die Zeit vor der Moderne, erforschen will. Inzwischen wissen wir : Das Brunnersche Mantra war geboren aus einem tiefen Unbehagen an der Moderne und ihrem liberalen Rechtsstaat, auch aus einer Sehnsucht nach der Rückkehr in jene untergegangene Welt „Alteuropas“, die Brunner nun, im NS-Regime der Gegenwart, gleichsam in sublimierter Form wiedergekommen sah. Wir wissen mithin, wie zeitgebunden die Neue 14 Es ist hier nicht der Ort, die nun schon mehr als ein Jahrhundert alte Debatte über den Staat im Mittelalter aufzuarbeiten. Stattdessen sei summarisch auf folgende jüngere Zusammenfassungen und Bilanzen verwiesen: Susan Reynolds, The Historiography of the Medieval State, in: Michael Bentley (Hg.), Companion to Historiography, London 1997, S. 117 – 138; Jörg Jarnut, Anmerkungen zum Staat des frühen Mittelalters. Die Kontroverse zwischen Johannes Fried und Hans-Werner Goetz, in: ders. u. a. (Hg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 41), Berlin 2004, S. 504 – 509; Bernhard Jussen (Hg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005; Stuart Airlie u. a. (Hg.), Staat im frühen Mittelalter (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften, Bd. 334; Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 11), Wien 2006; Walter Pohl u. Veronika Wieser (Hg.), Der frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften, Bd. 386; Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 16), Wien 2009. 15 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Baden bei Wien 1939. 16 So etwa Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchung vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen (= Sächsische Forschungen zur Geschichte, Bd. 1), Dresden 1941; weitere klassische Beiträge dieser Forschungsrichtung sind zusammengefasst in dem Band von Hellmut Kämpf (Hg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter (= Wege der Forschung, Bd. 2), Darmstadt 1960. Zur „Neuen Verfassungsgeschichte“ vgl. auch Michael Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit (= HZ Beihefte, Neue Folge, Bd. 22), München 1996, S. 37 – 48. ipabo_66.249.66.96 Sicherheit und Staat im Frühmittelalter 411 Verfassungsgeschichte der 1930er und 1940er Jahre war.17 Und doch kann man ihr staatsfeindliches Mantra, wenn auch in Teilen transformiert, bis heute noch hier und da in Mittelalterkolloquien und Seminaren wahrnehmen. Für die meisten Mediävisten dürfte es merkwürdig klingen, wenn jemand auch nur vom „Staat der Karolingerzeit“ redet;18 Johannes Fried möchte nicht einmal von einem „Reich der Franken“ sprechen.19 „Staatliche Sicherheit“ oder gar „nationale Sicherheit“ gehören gar nicht zum Vokabular deutscher Mediävisten; um Human Security, menschliche Sicherheit, steht es nicht besser. Otto Brunner hatte die Fehde zum essentiellen Bestandteil der mittelalterlichen Ordnung erklärt: Ihm zufolge waren gewaltsam geführte Konflikte, selbst gegen den König, in „Alteuropa“ keine Ausnahme, sondern allgegenwärtig; vor allem aber waren sie rechtens.20 Seit und mit Brunner haben sich deutsche Mediävisten angewöhnt, politische Systeme „Alteuropas“ als andersartig, eben „vormodern“ zu beschreiben.21 Wenn sie Karls Reich erforschen, fragen sie nicht nach Bürokratien, Ressorts und Ämterhierarchien, überhaupt kaum nach formaler Organisation, mit deren Hilfe der König seine Macht ausgeübt hätte. Und spätestens seit Mitte der 1990er Jahre diskutieren sie sogar darüber, ob Könige und Adlige danach strebten, ihre Macht auszubauen.22 Alternativen stehen bereit: das Modell der „konsensualen Herrschaft“ etwa, demzufolge nicht Befehl und Gehorsam, sondern die Mobilisierung von Konsens die Politik prägte.23 Eine Alternative 17 Dazu vor allem Gadi Algazi, Otto Brunner. „Konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918 – 1945, Frankfurt 1997, S. 166 – 203, hier S. 171 – 178; sowie ders., Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (= Historische Studien, Bd. 17), Frankfurt 1996, besonders S. 97 – 127; zuletzt auch Hans-Henning Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpaß“? Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde, in: HZ 282. 2006, S. 585 – 617. Zur Zeitgebundenheit der „Neuen Verfassungsgeschichte“ insgesamt vgl. im Übrigen auch schon die Kritik bei František Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: HZ 243. 1986, S. 529 – 589, hier S. 552 – 573. 18 Steffen Patzold, Die Bischöfe im karolingischen Staat. Praktisches Wissen über die politische Ordnung im Frankenreich des 9. Jahrhunderts, in: Airlie, Staat im frühen Mittelalter, S. 133 – 162. 19 Johannes Fried, Warum es das Reich der Franken nicht gegeben hat, in: Jussen, Die Macht des Königs, S. 83 – 89. 20 Brunner, Land und Herrschaft, S. 27 f. 21 Vgl. dazu die hilfreichen Überlegungen von Bernhard Jussen, Um 2005. Diskutieren über Könige im vormodernen Europa. Einleitung, in: ders., Die Macht des Königs, S. XIXXIV. 22 Für das Reich Ottos III. bietet eine konzise Kritik daran Gerd Althoff, Otto III., Darmstadt 1996, S. 18 – 36. 23 Programmatisch und breit rezipiert: Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim 412 Steffen Patzold bildet auch jene Perspektive, die nicht in macht- und geopolitischen Zielen, sondern in der kompetitiven Wahrung von Rang und Ehre fundamentale handlungsleitende Motive von Königen und Eliten sieht.24 Als Institutionen, auf denen politische Systeme beruhten, sehen Mediävisten gegenwärtig vor allem personale Bindungen – Verwandtschaft, Freundschaft, Fidelität, Königsnähe.25 Solche Bindungen mussten in der Praxis immer wieder neu vorgeführt, in Szene gesetzt werden, um Wirksamkeit zu erlangen und jenes Maß an sozialer Ordnung zu garantieren, ohne das menschliches Zusammenleben nicht denkbar ist. Als Instrumente hierfür haben Mediävisten zuletzt vor allem Rituale und andere Formen symbolischer Kommunikation identifiziert und analysiert.26 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zumindest in Hinblick auf die politischen Strukturen die Alterität „Alteuropas“ zu einem guten Teil über die Absenz dessen konstruiert worden ist, was man „den modernen Staat“ nennen kann. Gerd Althoff hat es für die Ottonenzeit auf eine prägnante Formel gebracht: „Königsherrschaft ohne Staat“.27 III. Wandel von Staatlichkeit Wenn nun aber Mediävisten die Unterscheidung zwischen Vormoderne und Moderne von der Absenz des „modernen Staates“ her konstruiert haben, dann kann es für sie nicht uninteressant sein, dass sich in den letzten Jahren die politikwissenschaftliche Diskussion über eben diesen „modernen Staat“ selbst 24 25 26 27 Heinig u. a. (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (= Historische Forschungen, Bd. 67), Berlin 2000, S. 53 – 87. Dazu am Beispiel des Reichs im 12. Jahrhundert grundlegend: Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2001. Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990; außerdem die gesammelten Beiträge von Hagen Keller, Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht, Darmstadt 2002. Programmatisch Gerd Althoff, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31. 1997, S. 370 – 389; ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003; ders. (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (= Vorträge und Forschungen, Bd. 51), Stuttgart 2001; ders. (Hg.), Zeichen, Rituale, Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Bd. 3), Münster 2004. Gerd Althoff, Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 20052. ipabo_66.249.66.96 Sicherheit und Staat im Frühmittelalter 413 drastisch verschoben hat.28 Was ein Staat sei, das haben bekanntlich zunächst in den Jahren um 1900 Georg Jellinek und Max Weber in klassischen Formulierungen definiert. Aus ihrer Sicht zeichnet sich ein Staat durch dreierlei aus: durch das Monopol legitimer Gewalt, durch ein Staatsgebiet und durch ein Staatsvolk.29 Dass das Frankenreich in den Jahren 778/79 diese Kriterien nicht erfüllte, darauf wird man sich schnell einigen können. Nur ist es in unserer Gegenwart um den „modernen Staat“ auch nicht mehr so einfach bestellt. Zwar ist fast jedes Fleckchen Erde mittlerweile Teil irgendeines Staates; und immerhin 192 Staaten sind international anerkannt und in der UNO zusammengeschlossen. Dazu gehören aber beispielsweise auch Somalia, der Sudan und Afghanistan. Niemand wird deshalb behaupten können, dass sich alle völkerrechtlich anerkannten Staaten sinnvoll mit Hilfe von Jellineks und Webers Vorgaben als Staaten beschreiben ließen.30 In diesen Ländern kann von einem Gewaltmonopol des Staates kaum die Rede sein. Zumindest „Räume begrenzter Staatlichkeit“ lassen sich aber auch in OECD-Staaten beobachten – etwa in US-amerikanischen Großstädten, Pariser Banlieus oder in Berlin-Neukölln.31 Das Kriterium der Souveränität, das Georg Jellinek in seiner Definition des Staates stark gemacht hatte, ist heute ebenfalls alles andere als einfach zu handhaben. Supranationale Organisationen schränken die Souveränität von Staaten ein, auch und gerade in der Europäischen Union. Im Übrigen wissen Politologen längst, dass sich die Internationalen Beziehungen ohnehin nicht mehr angemessen als ein Spiel von Regierungen von Staaten beschreiben lassen. Andere Player sind wichtig und einflussreich. Hier 28 Die Literaturhinweise zum Folgenden beruhen zweifellos auf einer eklektizistischen, ja zufälligen Auswahl aus einer für den Mediävisten nicht überschaubaren, komplexen und internationalen Forschungsdiskussion. Es ist für mein Argument allerdings auch nicht notwendig, diese Diskussion en dtail zu resümieren. Es genügt der Nachweis, dass die Diskussion statthat. 29 Die Drei-Elemente-Lehre hat bekanntlich Georg Jellinek, Allgemeine Staatsrechtslehre, Berlin 19222, entwickelt, der den Staat im Übrigen definierte als „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“, S. 180 f. Vom „Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen“ sprach Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 19725, 1. Halbband, I § 17, S. 29 f.; vgl. dazu auch Catherine Colliot-Thlne, Das Monopol legitimer Gewalt, in: Andreas Anter u. Stefan Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie. Positionen und Perspektiven (= Staatsverständnisse, Bd. 15), Baden-Baden 2007, S. 39 – 55, hier S. 40 – 43. 30 Vgl. Thomas Risse u. Ursula Lehmkuhl, Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, in: Thomas Risse (Hg.), Regieren ohne Staat? Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit (= Schriften zur Governance-Forschung, Bd. 10), Baden-Baden 2007, S. 13 – 37, hier S. 13 f. 31 Ebd., S. 17; auch Ulrich Schneckener, Fragile Staaten als Problem der internationalen Politik, in: Nord-Süd aktuell 18. 2004, S. 510 – 524, hier S. 512, beobachtet „eine erhebliche Varianz bei der Ausgestaltung von Staatlichkeit innerhalb der OECD-Welt“. 414 Steffen Patzold sei nur auf die großen Nicht-Regierungs-Organisationen verwiesen: Sie agieren auf der internationalen Bühne und initialisieren und kontrollieren politische Debatten, deren Ausgang sie nicht unerheblich mit beeinflussen.32 Die Politologie hat auf die „Staatlichkeit im Wandel“33 reagiert. Politologen versuchen einerseits, Staaten genauer zu qualifizieren: Sie sprechen von „OECD-Staaten“, „prekären Staaten“,34 „fragilen Staaten“,35 von „failed states“,36 von „zerfallenden“37 oder von „scheiternden Staaten“, und sie analysieren „hybrid political orders“.38 Andererseits nutzen sie den Begriff der „Governance“,39 um noch weiter zu abstrahieren: Der Begriff beschreibt jene Formen der Steuerung, die von einer Gemeinschaft genutzt werden, um kollektive Güter zu produzieren – wie etwa auch Sicherheit.40 Staatliches 32 Vgl. z. B. Gunnar Folke Schuppert, The Changing Role of the State Reflected in the Growing Importance of Non-State Actors, in: ders. (Hg.), Global Governance and the Role of Non-State Actors (= Schriften zur Governance-Forschung, Bd. 5), Baden-Baden 2006, S. 203 – 244. 33 So der Titel des Sonderforschungsbereichs 597 an der Universität Bremen und der Jacobs University Bremen. 34 Stefani Weiss u. Joscha Schmierer (Hg.), Prekäre Staatlichkeit und internationale Ordnung, Wiesbaden 2007. 35 Ulrich Schneckener, States at Risk. Zur Analyse fragiler Staatlichkeit, in: ders. (Hg.), Fragile Staatlichkeit. „States at Risk“ zwischen Stabilität und Scheitern, Baden-Baden 2006, S. 9 – 43. 36 Vgl. beispielsweise die Analyse von Robert H. Bates, When Things Fell Apart. State Failure in Late-Century Africa, Cambridge 2008, demzufolge Staatszerfall von afrikanischen Eliten unter bestimmten Bedingungen bewusst herbeigeführt worden ist. Zur Kritik am Konzept des „failed state“ und zu einer Alternative vgl. Charles T. Call, Beyond the „Failed State“. Towards Conceptional Alternatives, in: European Journal of International Relations, 16. 2010, http://ejt.sagepub.com/content/early/2010/04/16/ 1354066109353137. Call schlägt vor, nicht alle sogenannten „failed states“ über einen konzeptionellen Kamm zu scheren, sondern stattdessen differenzierter mit einer Dreifeld-Matrix von „capacity gap“, „legitimacy gap“ und „security gap“ zu arbeiten. 37 Friedbert W. Rüb, Staatlichkeit, Staatsbildung und Staatszerfall. Dimensionen und Perspektiven der politikwissenschaftlichen Debatte, in: ders. u. a. (Hg.), Demokratie und Staatlichkeit. Systemwechsel zwischen Staatsreform und Staatskollaps, Opladen 2003, S. 57 – 80; Petra Bendel (Hg.), Schwache und zerfallen(d)e Staaten. Indikatoren, Ursachen und internationale Interventionsmöglichkeiten (= Zentralinstitut für Regionalforschung, Arbeitspapier, Bd. 9), Erlangen 2007. 38 Vgl. dazu etwa Volker Boege u. a., On Hybrid Political Orders and Emerging States. State Formation in the Context of „Fragility“, http://www.berghof-handbook.net/documents/ publications/boege_etal_handbook.pdf. 39 Vgl. Arthur Benz u. a., Einleitung, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Wiesbaden 2007, S. 9 – 27. 40 Vgl. die Definition bei Michael Zürn, Governance in einer sich wandelnden Welt. Eine Zwischenbilanz, in: ders. u. Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Governance in einer sich ipabo_66.249.66.96 Sicherheit und Staat im Frühmittelalter 415 Regieren bildet eine Form der Governance; es ist aber nicht mehr konkurrenzlos. Zur Diskussion steht allerdings, ob „governance without government“ ohne „Letztverantwortung“ des Nationalstaats erfolgreich sein kann.41 Auch die jüngere Diskussion über Sicherheit, zumal über Human Security, lässt sich kaum isolieren von dieser Debatte über den Wandel von Staatlichkeit unter den Bedingungen der Globalisierung.42 Auch in der jüngeren Sicherheitsdebatte verliert jedenfalls der Staat als Leitkategorie der Politik an Selbstverständlichkeit, ohne deshalb ganz zu verschwinden: Nach dem Konzept der Human Security bestünde die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft nicht mehr vornehmlich darin, die Sicherheit von Staaten zu wahren; ihre Aufgabe wäre es, die Sicherheit jedes einzelnen Menschen zu gewährleisten, und zwar in einem umfassenden Sinne. Jeder einzelne soll all das haben, was er für sein Leben und Überleben braucht. Es geht nicht mehr nur um den Staat; es geht auch um sauberes Trinkwasser.43 Zur Zeit ist der Ruf nach Human Security allerdings auch ein Politikum.44 Es handelt sich vorerst noch nicht um einen scharf umrissenen Begriff der Politologie, sondern um einen Begriff der Politik. Er ist weder deskriptiv noch analytisch, sondern normativ, und außerdem in seiner Bedeutung politisch umkämpft – mit gewichtigen Konsequenzen für Entscheidungsprozesse in unserer Gegenwart. Wer Human Security als Wert und Ziel über die Souveränität von Staaten stellt, wird sich beispielsweise fragen müssen: Unter welchen Bedingungen sind militärische Eingriffe der internationalen Gemeinschaft in einen Staat gerechtfertigt? Wann etwa ist es notwendig, wann legitim, Bürger eines Staates gegen ihre eigene Regierung zu schützen? 41 42 43 44 wandelnden Welt, Wiesbaden 2008, S. 553 – 580, hier S. 554: „Governance soll heißen: Die Gesamtheit der kollektiven Regelungen, die auf eine bestimmte Problemlage oder einen bestimmten gesellschaftlichen Sachverhalt zielen und mit Verweis auf das Kollektivinteresse der betroffenen Gruppe gerechtfertigt werden.“ Vgl. ebd., S. 571. Vgl. etwa Mary Kaldor, Europe at the Millenium, in: Politics 20. 2000, S. 55 – 62. Skeptischer ist Stewart Patrick, „Failed“ States and Global Security. Empirical Questions and Policy Dilemmas, in: International Studies Review 9. 2007, S. 644 – 662, der argumentiert: „the overlap between state weakness and today’s most pressing transnational threats is hardly clear-cut, much less then universal“, S. 658. Dazu jetzt Cornel Zwierlein u. Rüdiger Graf, The Production of „Human Security“ in Premodern and Contemporary History, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 9 – 23, hier S. 9 f.; Christopher Daase, National, Societal and Human Security. On the Transformation of Political Language, ebd., S. 24 – 39. Vgl. etwa Zwierlein u. Graf, Production, S. 11, die allerdings optimistisch sind, dass sich der Begriff analytisch schärfen lasse. 416 Steffen Patzold IV. Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft Den Wandel von Staatlichkeit und den Wandel der wissenschaftlichen Diskussion über Staatlichkeit sollten Mediävisten aber doch aufmerksam zur Kenntnis nehmen. Dieser Wandel ändert zwar nichts am ursprünglichen Befund: Karls Reich erfüllte jene Kriterien nicht, an die Jellinek und Weber Staatlichkeit gebunden haben. Nur gilt derselbe Befund auch für etliche Staaten unserer Gegenwart – und strenggenommen sogar für die Bundesrepublik Deutschland. Das hat Konsequenzen: Was um 1900 als „moderner Staat“ definiert worden ist, eignet sich heute, weil es auch für unsere Gegenwart inadäquat geworden ist, nicht mehr ohne weiteres als Kriterium, über das sich die Andersartigkeit einer Vormoderne oder eines Mittelalters konturieren ließe. Zumindest in Teilen der sozialwissenschaftlichen Literatur kursiert deshalb das Argument: Die gegenwärtige Entwicklung – weg von dem sogenannten Westfälischen System, weg also vom Staat als Grundeinheit der Internationalen Beziehungen, deshalb auch weg von staatlicher und nationaler Sicherheit – lasse sich als eine Art Wiederkehr der Vormoderne oder des Mittelalters deuten.45 Das Argument ist prima facie nicht unplausibel: Denn die Vormoderne wird eben als die Zeit vor der Etablierung des modernen Staats als Grundeinheit des politischen Systems entworfen. Das Argument findet sich in der Literatur zur Sicherheitsgeschichte,46 aber auch in Arbeiten über „fragile Staaten“ und in der Forschung zu den sogenannten neuen Kriegen,47 die ja ebenfalls nicht mehr als Konflikte von Regierungen und Staaten zu fassen sind und daher als Wiederkehr der Zeit vor dem Westfälischen System erscheinen können; Vergleiche zu italienischen Stadtrepubliken und zum Dreißigjährigen Krieg sind bereits gezogen worden.48 45 Vgl. Parag Khanna, Neomedievalism, in: Foreign Policy, Nr. 172, 2009, S. 91; der Begriff des „neo-medievalism“ ist schon von Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, London 1977, S. 254 – 255, in die Politikwissenschaft eingeführt worden. Mittlerweile dient er aber zur Beschreibung von Regionen, in denen sich verschiedene Herrschaften und Loyalitätsverhältnisse überlappen wie etwa in Teilen Afrikas. Zum Konzept vgl. den Band von Neil Winn (Hg.), Neo-Medievalism and Civil Wars, London 2005, hier besonders der Beitrag von Gorm Rye Olsen, Neo-Medievalism in Africa. Whither Government-to-Government Relations Between Africa and the European Union?, in: ebd., S. 71 – 89. 46 Vgl. dazu bereits die Reflexion und Kritik bei Zwierlein u. Graf, Production, S. 15 – 17, in Auseinandersetzung mit Stephen N. MacFarlane u. Yuen F. Khong, Human Security and the UN. A Critical History, Bloomington 2006. 47 Dazu grundlegend Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt 2000; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 20034. 48 Vgl. Herfried Münkler, Was ist neu an den neuen Kriegen? Eine Erwiderung auf meine Kritiker, in: Anna Geis (Hg.), Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien ipabo_66.249.66.96 Sicherheit und Staat im Frühmittelalter 417 Damit sind Mediävisten, aber auch andere Historiker in doppelter Hinsicht herausgefordert: Weil in der Debatte über den Wandel von Staatlichkeit und Sicherheit auch historisch argumentiert wird, ist zum einen ein geschichtswissenschaftlicher Kommentar gefragt (1). Außerdem bringt die jüngere Diskussion jene Dichotomie von Moderne und Vormoderne ins Wanken, die mittlerweile einen Gutteil des geschichtswissenschaftlichen Fachdiskurses strukturiert (2). 1. Eine Rückkehr der Vormoderne So plausibel das Argument einer Wiederkehr der Vormoderne auf den ersten Blick auch wirken mag – es dürfte nicht weit tragen. Für den Begriff der Human Security lässt sich das sogar verhältnismäßig einfach zeigen. Er zielt ab auf das physische Überleben und die körperliche Unversehrtheit jedes einzelnen Menschen. Er setzt damit zumindest die Idee voraus, dass das körperliche Wohl wichtiger sei als anderes. Das ist aber keineswegs selbstverständlich, sondern kulturell und historisch kontingent. Wir dürfen bezweifeln, dass alle Franken der Jahre 778/79 diese Vorstellung geteilt haben. Viele von ihnen wären wahrscheinlich nur schwer davon zu überzeugen gewesen, dass die Unversehrtheit und das Wohlbefinden des Körpers über die Rettung ihrer Seele zu stellen sei. Karl der Große und sein Hof reagierten jedenfalls im Frühjahr 779 auf die Hungersnot in bezeichnender Weise: Sie ordneten an, wie viele Messen gelesen, wie viele Psalter gesungen werden sollten, wie viele Tage die Mächtigen fasten, wie viele Almosen sie geben und wie viele Arme jeder von ihnen mildtätig versorgen sollte. Der Text ist kurz. Er lautet in deutscher Übersetzung:49 Kapitelverzeichnis, wie es hier mit Zustimmung der Bischöfe beschlossen worden ist, nämlich: in der Kontroverse, Baden-Baden 2006, S. 133 – 151; vgl. auch Sheri Berman, From the Sun King to Karzai, in: Foreign Affairs 89. 2010, S. 2 – 9. Dieter Langewiesche, Wie neu sind die „Neuen Kriege“? Eine erfahrungsgeschichtliche Analyse, in: Georg Schild u. Anton Schindling (Hg.), Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung (= Krieg in der Geschichte, Bd. 55), Paderborn 2009, S. 289 – 302, hat Münkler jüngst entgegengehalten, die sogenannten Neuen Kriege seien so neu nicht, wenn man bedenke, dass sie außerhalb Europas statthätten, wo Kriege immer schon, auch zwischen dem 17. und frühen 20. Jahrhundert, in ähnlicher Weise geführt worden seien. Neu sei dagegen ihre durch eine globalisierte mediale Aufbereitung geprägte Wahrnehmung. Sie habe zu einer Wiederkehr der Idee des „Gerechten Kriegs“ (als Gegenpol zum „Neuen Krieg“) geführt, wenn auch in säkularisierter Gestalt: als Intervention der internationalen Gemeinschaft. 49 Die Übertragung beruht auf dem lateinischen Text, den Mordek, Karls des Großen zweites Kapitular, S. 50, gedruckt hat. 418 Steffen Patzold – Jeder Bischof soll drei Messen und drei Psalter singen, die ersten für den Herrn König, die zweiten für das Heer der Franken, die dritten für die gegenwärtige Not; die Priester aber sollen jeweils drei Messen [singen], die Mönche und Nonnen und Kanoniker jeweils drei Psalter. – Alle sollen zweitägige Fasten halten, sowohl die Bischöfe als auch die Mönche und die Nonnen und die Kanoniker und die Menschen, die auf deren Grundbesitz einen Hof haben, und auch die Mächtigen. – Jeder Bischof und jeder Abt und jede Äbtissin, die dazu in der Lage ist, soll ein Pfund Silber als Almosen geben, die mittleren aber ein Pfund und die kleineren 5 Solidi. – Sie sollen vier Arme, die hungern, um dieses unseres Beschlusses willen bis zur Erntezeit bei sich ernähren; und diejenigen, die so viele nicht [ernähren] können, sollen je nach ihren Möglichkeiten drei oder zwei oder einen [ernähren]. – Die vermögenderen Grafen aber sollen jeweils ein Pfund Silber oder den Gegenwert geben, die mittleren ein halbes Pfund, die Königsvasallen von 200 behausten Hörigen ein halbes Pfund, von 100 behausten Hörigen 5 Solidi und von 50 behausten Hörigen 30 Unzen. – Und sowohl sie als auch ihre behausten Hörigen und alle, die dazu fähig sind, sollen zweitägige Fasten halten. Und sofern sie sich davon freikaufen wollen, sollen die vermögenderen Grafen drei Unzen, die mittleren anderthalb Unzen, die kleineren aber einen Solidus [geben]. – Und in Bezug auf die Armen, die hungern, sollen sie es selbst genauso machen, wie es oben geregelt ist. Dies alles soll, so es Gott gefällt, für den Herrn König und das Heer der Franken und die gegenwärtige Not bis zur Johannes-Messe erfüllt sein. Der Text zerfällt in zwei Abschnitte: In einem ersten Teil werden Geistliche angesprochen, nämlich Bischöfe, Priester, Äbte, Mönche, Nonnen, Kanoniker ; im zweiten sind Laien, vor allem die Grafen angesprochen, die dabei interessanterweise in drei Klassen eingeteilt werden, in die „mächtigeren“ oder auch „stärkeren“ (fortiores), die „mittleren“ (mediocres) und die „kleineren“ (minores). Die Geistlichen sollen jeweils eine bestimme Anzahl an Messen und Psaltern singen; sie sollen Gelder bereitstellen, deren Höhe genau festgesetzt ist; und sie sollen bis zur nächsten Ernte hungernde Arme versorgen – wenn möglich jeweils vier, sonst je nach ihren Kapazitäten auch weniger. Die Grafen müssen nicht beten, sehr wohl aber Geld oder Naturalien bereitstellen. Auch die Königsvasallen sollen Geld zahlen, und zwar abhängig davon, wieviele Hörige sie haben, die auf eigenen Hofstellen leben. Wie die Geistlichen sollen auch die Laien, sofern sie dazu in der Lage sind, jeweils vier Arme, sonst aber entsprechend weniger mitversorgen. Außerdem sollen alle Gruppen fasten. Das betrifft nicht nur die Bischöfe, Äbte, Äbtissinnen, die Grafen und Königsvasallen, sondern auch jeweils deren casati, also diejenigen Menschen, die von einem Bischof, einem Abt, einem Grafen oder einem Vasallen einen Hof zur Verfügung gestellt bekommen haben. Im Grunde sollen also fast alle Menschen im Frankenreich, die dazu in der Lage sind, zwei Tage lang fasten. Schließlich setzt der Text auch noch eine ipabo_66.249.66.96 Sicherheit und Staat im Frühmittelalter 419 Frist: All das soll bis zum Tag Johannes des Täufers, das heißt bis zum 24. Juni 779 vollzogen sein. Diese Maßnahmen waren zweifellos dazu gedacht, die Katastrophe zu lindern und zu überwinden. Wer aber Karl und seinen Beratern unterstellt, sie hätten nach Human Security gestrebt, der wird ihre Reaktion als irrational, bestenfalls jedoch als Zeichen grober Unfähigkeit interpretieren müssen: Was in Herstal beschlossen wurde, war kaum geeignet, möglichst rasch viele Menschen sicher mit Nahrung zu versorgen. Richtig ist zwar, dass die Vermögenden Almosen geben sollten. Aber die gesamte Anordnung geht bezeichnenderweise nicht von dem Bedarf an Nahrungsmitteln aus: Der Text unterscheidet nicht zwischen Regionen, die stark von der Hungersnot betroffen waren und solchen, die gar nicht unter Missernten und Hunger litten; und er bemüht sich auch nicht darum, die benötigten Lebensmittel für einen bestimmten Zeitraum zu schätzen. Die Grundlage der Forderungen ist vielmehr einzig und allein die bedeutendere oder weniger bedeutende Stellung derjenigen Leute, die angesprochen sind: Die fortiores müssen mehr geben, die mediocres etwas weniger, die minores am wenigsten. Was mit dem Geld, das sie als Almosen oder zur Befreiung von Fastenauflagen aufbringen sollten, später einmal geschehen würde, bleibt ganz unklar : Der Text deutet nicht darauf hin, dass es nach Art einer staatlichen Notsteuer zentral erhoben und verwaltet werden sollte, wie Hubert Mordek zuletzt ohne weiteres vorausgesetzt hat.50 Kurzum: Die Regelungen waren offenkundig nicht darauf ausgerichtet, pragmatisch die Verteilung von Lebensmitteln zu organisieren. Die Beschlüsse zielten darauf ab, Gott den Seelen der Mächtigen gnädig zu stimmen. Adressat der Maßnahmen waren nicht die Mägen der Hungernden, sondern der Allmächtige: Ihm galten die Messen, die Psalter, die Fastentage, ja selbst noch die Almosen;51 Gott sollte wieder gnädig auf diejenigen schauen, die die 50 Mordek, Karls des Großen zweites Kapitular, S. 9, S. 12 u. S. 17 – 23; Mordeks Interpretation des Textes hat mich nicht überzeugt, weil sie sowohl den Staat als auch die Kirche als eigenständige Organisationen begreift und einander dichotomisch gegenüberstellt. Im Text ist im Übrigen nicht von „Notsteuer“, sondern von „Almosen“ (elimosina) die Rede. 51 Als erhellende Parallele mag die sogenannte Ordinatio imperii, hg. v. Alfred Boretius (= MGH Capitularia, Bd. 1), Hannover 1883, Nr. 136, hier S. 271, Z. 2 f., dienen. Mit diesem Text von 817 regelte der Kaiser Ludwig der Fromme seine Nachfolge; um eine gottgefällige Lösung zu finden, wurden – so berichtet der Text selbst – zunächst dreitägige Fasten, Gebete und Almosengaben angeordnet. Diese Praktiken waren also nicht zwangsläufig an Hungersnöte gebunden. Sie zielten vielmehr grundsätzlich darauf ab, Gott gnädig zu stimmen. Es geht folglich bei den Fastenauflagen von 779 kaum um ein „Mithungern zugleich als sichtbares Zeichen der Solidarität mit den Armen“, wie Mordek, Karls des Großen zweites Kapitular, S. 41, gemeint hat. Vgl. im Übrigen für ein weiteres Fallbeispiel auch Joachim Wollasch, Geschichtliche Hintergründe der Dortmunder Versammlung des Jahres 1005, in: Westfalen 58. 1980, S. 55 – 69. 420 Steffen Patzold Geschicke der Franken auf Erden bestimmten. Dann würde Gott auch wieder für gutes Wetter und gute Ernten sorgen, dem König Erfolg und dem fränkischen Heer Siege schenken. Wer behaupten wollte, die Forderung nach Human Security bedeute eine Wiederkehr der Vormoderne, weil die Sicherheitsdebatte damit ihren staatlichen Rahmen verliere, der übersähe, wie unterschiedlich man über das Verhältnis von Körper und Seele nachdenken kann. Diese je eigenen Überzeugungen aber – das ist wichtig – scheiden sich nicht dichotomisch in zwei Typen; und sie scheiden sich auch nicht diachron entlang der Linie Vormoderne/Moderne. Die unterschiedlichen Überzeugungen von dem Verhältnis von Körper und Seele bringen vielmehr die globale Variationsbreite an Modernen mit hervor. 2. Vormoderne versus Moderne? Wichtiger für die Geschichtswissenschaft scheint mir die Frage nach der Dichotomie von Vormoderne und Moderne. Offenbar verlieren grundlegende Kategorien, die die Sozialwissenschaften für die Beschreibung der Moderne verwendet haben, im Zuge des jüngeren Wandels von Staatlichkeit ihre Selbstverständlichkeit. Es fällt uns beileibe nicht mehr leicht, uns selbst noch als Teil jener Moderne zu sehen, in die wir Jellinek und Weber verorten. Wir sind in einer Post-, einer Nach-Moderne angekommen. Wie diese NachModerne aber im einzelnen aussieht, was sie charakterisiert, was uns abgrenzt von der Moderne – über diese Fragen zerbrechen sich Soziologen, Philosophen und andere den Kopf. Im Zuge dessen wird eben auch neu justiert, was ein Staat sein kann. Die Diskussion der deutschen Mediävistik über den Staat hinkt dieser jüngeren Entwicklung hinterher : Sie ist noch immer geprägt von den Kriterien, die im 19. Jahrhundert begründet worden sind – und gegen die dann, in den 1930er Jahren, die Neue Verfassungsgeschichte zu Felde gezogen ist. In der aktuellen politologischen Diskussion über den Staat gibt es aber nicht mehr nur den „modernen Staat“ la Jellinek und Weber oder „gar keinen Staat“. Es gibt nicht mehr nur Schwarz und Weiß – sondern ein breites und nuanciertes Spektrum von Grau-Tönen, vom dunklen Anthrazit Somalias bis hin zum frischen Aschgrau der Bundesrepublik Deutschland. Um es zuzuspitzen: Wir selbst haben den „modernen Staat“ mit voller Souveränität und vollem Gewaltmonopol nicht mehr ; und doch fallen wir deshalb nicht wieder zurück in eine „Vormoderne“. Damit verliert die Dichotomie von „modern“-staatlich versus „vormodern“-nichtstaatlich ihre Plausibilität. Für Mediävisten ist das eine spektakuläre Situation: Wir müssen die politischen Ordnungen des Mittelalters nicht mehr in Analogie zum „modernen Staat“ beschreiben, wie es Georg Waitz und andere seit dem 19. Jahrhundert getan haben, zuletzt etwa noch Hubert Mordek in seiner Analyse des Kapitulars von 779. Wir müssen sie aber auch nicht mehr, wie Otto Brunner in den 1930er Jahren, als alteritär, vormodern, nichtstaatlich ipabo_66.249.66.96 Sicherheit und Staat im Frühmittelalter 421 beschreiben. Unsere eigene Welt kennt ein weites Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten und Grenzen politischer Organisation zur Herstellung von Sicherheit. Statt die Geschichte in zwei große Schubladen zu pressen, können wir politische Ordnungen in weiter Diachronie miteinander vergleichen, ohne deshalb historische Unterschiede auszublenden. So lässt sich eine neue, differenziertere Typologie jenseits der Dichotomie von Vormoderne und Moderne entwickeln. Das bedeutet am Beispiel konkretisiert, dass wir aufhören können darüber zu diskutieren, ob das von Karl dominierte Gebiet um 778 ein Staat (oder auch nur ein Reich)52 gewesen sei oder nicht. Stattdessen können wir nach Grautönen fragen, wie wir sie aus unserer Gegenwart kennen. Wir können beispielsweise nach Parallelen und Unterschieden zwischen Karls Reich und fragilen Staaten fragen: Karl organisierte seine Macht seit Mitte der 790er Jahre im wesentlichen von einem einzigen Zentralort aus, nämlich von Aachen. In einige Regionen reichte sein Einfluss kaum oder gar nicht. Was Mediävisten „den Adel“ oder „die Reichsaristokratie“ nennen, steht in interessanter Parallele zu heutigen warlords: Die Aristokraten agierten in der Peripherie als Kriegsherren auf eigene Rechnung – und ließen sich doch zugleich vom Hof mit Ämtern und Titeln ausstatten. Wie in heutigen fragilen Staaten sehen wir auch Ende der 770er Jahre in Mittel- und Westeuropa die hohe politische Bedeutung von Clan-Strukturen, ein Ineinander von Religion und Politik, in der Peripherie die Allgegenwart und Dauerhaftigkeit von gewaltsam ausgetragenen Konflikten geringer Intensität. Nota bene: Es geht nicht darum zu behaupten, Afghanistan oder Somalia seien vormodern oder gar mittelalterlich; es geht darum, politische Ordnungen jenseits dieser Epochendualität miteinander zu vergleichen, um zu einer neuen Typologie zu gelangen. Möglich wäre es aber auch, ganz auf das Staatsparadigma zu verzichten und stattdessen offener nach Formen der Governance zu fragen. Dazu wäre beispielsweise neu zu beschreiben, wie die Akteure Ende der 770er Jahre das kollektive Gut der Sicherheit herzustellen suchten. Der Blick wäre also zu richten auf die Instrumente, mit denen sie Gewalt einzudämmen trachteten und jenes Maß an gegenseitiger Erwartungsstabilität herbeiführten, ohne das soziale Ordnung nicht sein kann. Solche Instrumente lässt der erste der beiden Texte von Herstal von 779 exemplarisch erkennen. Zu nennen sind hier insbesondere: Erstens, Eide, mit deren Hilfe personale Bindungen sakral abgesichert werden: Entsprechend scharf verurteilt der Text Meineide; und er strebt danach, eidliche Verpflichtungen zu unterbinden, die nicht auf den König hin orientiert sind, sondern auf die eigene lokale Gemeinschaft. Deshalb verbietet 52 Vgl. Anm. 19. 422 Steffen Patzold er Gilden.53 Zweitens, ein System der gegenseitigen Kontrolle der warlords: Grafen und Königsboten, die gleichsam als power-broker zwischen Zentrale und Peripherie vermitteln, sollen sich gegenseitig kontrollieren, zugleich aber gemeinsam andere Kriegsherren in der Peripherie ausschalten.54 Drittens, ein Zwang zu Kompromissen auf der Basis finanziellen Ausgleichs, um gewaltsame, langandauernde Konflikte zwischen Clans zu unterbrechen: Wer sich weigert, einen solchen Kompromiss anzunehmen, dem drohen Deportation und Exil.55 Viertens, Orientierung lokaler Konflikte auf die Zentrale hin: Dafür wird ein besonderer Schutz für all diejenigen eingeführt, die auf dem Weg zum König sind.56 Fünftens, Maßnahmen gegen bewaffnete Gruppen, die von Raub und Mord leben: Sie sollen nicht einmal in Kirchen Asyl genießen und den Grafen zur Aburteilung unterstellt werden. Als Strafen drohen erst der Verlust eines Auges, dann der Nase, schließlich der Tod.57 Ganz unabhängig davon, was für ein Staat das Karlsreich war und ob wir überhaupt den Staat als Analysekategorie aufrechterhalten wollen – das Bemühen der Zentrale, die Kriegsherren in der Peripherie zu kontrollieren, wird in diesem Text (wie in etlichen anderen) unübersehbar deutlich. Wenn wir all dies nicht mehr länger als vormodern und fremd von uns fortschieben, sondern in Beziehung setzen zu gegenwärtigen politischen Ordnungen, dann könnten Mediävisten, Zeithistoriker und Politologen ein fruchtbares Gespräch miteinander führen;58 historische Befunde könnten auf diese Weise vielleicht sogar wieder für aktuelle politische Debatten interessant werden. So lautet die These dieses Beitrags in einem Satz zusammengefasst: Die aktuellen Verschiebungen von Staatlichkeit und Sicherheit eröffnen eine neue Chance, die überkommene Dichotomie von (nichtstaatlicher) Vormoderne versus (staatlicher) Moderne als Interpretationsraster zu überwinden und stattdessen in weiter Diachronie historische Formen der Organisation von Macht und der Herstellung von Sicherheit in ihrem Erkenntniswert für die Gegenwart neu zu erschließen. Prof. Dr. Steffen Patzold, Eberhard Karls Universität Tübingen, Seminar für mittelalterliche Geschichte, Wilhelmstr. 36, D-73074 Tübingen E-Mail: [email protected] 53 Capitulare Haristallense, hg. v. Boretius, c. 10, S. 49 u. c. 16, S. 51; zu Gilden vgl. grundlegend: Otto Gerhard Oexle, Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit, in: Herbert Jankuhn u. a. (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Teil 1: Historische und rechtshistorische Beiträge und Untersuchungen zur Frühgeschichte der Gilde (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologischhistorische Klasse, Dritte Folge, Bd. 122), Göttingen 1981, S. 284 – 354. 54 Capitulare Haristallense, c. 21, S. 51. 55 Ebd., c. 22, S. 51. 56 Ebd., c. 17, S. 51. 57 Ebd., c. 8 – 9, S. 48; c. 23, S. 51. 58 Dies ist Teil des Forschungsprogramms des neuen Tübinger Sonderforschungsbereichs 923 „Bedrohte Ordnungen“, dem auch dieser Beitrag insgesamt verpflichtet ist. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit als Epochenindikatoren? Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung des 19. Jahrhunderts von Cornel Zwierlein Abstract: The rather technical term “insurability” borrowed from the insurance industry has had a curious career in risk sociology : For Ulrich Beck and others, the question whether private insurers insure big risks, serves as a yard stick for the difference between risks of “first” or “second” modernity : nuclear catastrophes and climate collapse are not insurable by private companies. The contribution shows that the idea to use insurability for historicization goals is good, but that the way Beck uses it is not convincing. Following the time sociologist Barbara Adam, the contribution distinguishes between the overall (e. g. apocalyptical or progressive) timescapes of a given epoch and the operative time horizons (e. g. closed or open future orientation, project time) in a given group and field of action. The limits of insurability in the history of insurance should not be seen as isolated phenomena but before the background of larger timescapes of society. A three-step development from premodern and modern to late modern realities is established, based on printed and archive material mainly from 18th to 19th century German and British insurance history with an outlook onto late modern conditions. Schon vor langer Zeit hat Franz-Xaver Kaufmann formuliert, dass Sicherheit und Sicherheitsproduktionsmechanismen in besonderem Maße zeit- und zukunftsbezogene Analysegegenstände sind, allerdings in einer paradoxen Weise: einerseits eignet ihnen ein beharrendes Element der Stabilisierung, andererseits ein antizipatorisches insofern sie immer vorausschauend auf die Bedrohung der Sicherheit ausgerichtet sind.1 Dies mag in sehr allgemeinem Sinne gelten. Eine Geschichte von Sicherheitsregimen und Sicherheitsproduktion kann somit nicht nur struktur- oder institutionengeschichtlich arbeiten, sondern muss in besonderer Weise nach der Historisierung ihres Zeitbezugs und ihrer Zeithorizonte fragen. Dies wird umso deutlicher, wenn man nicht nur auf politische Sicherheit fokussiert, sondern in einem breiteren Umfang Sicherheitsdispositive in ihrer gesamtgesellschaftlichen Dimension zum Thema machen will. Dann ist eine Analyse der Akteure und Institutionen 1 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchung zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 19732, S. 156 – 169. Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 423 – 452 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012 ISSN 0340-613X 424 Cornel Zwierlein professionellen Sicherheitsverkaufens des Spätmittelalters und der Neuzeit schlechthin, von Versicherungen, unabdingbar. Und dass diesem – zumindest in seiner Prämienversicherungsform – im Mittelmeerhandel entstandenen Sicherheitsproduktionsmittel, das den „risico“-Begriff prominent machte, ein besonderer Zeitbezug eignet, liegt auf der Hand. Dabei geht es um ein weiteres Verständnis von Versicherungen und ihrer Bedeutung, eigentlich eher um das Versicherungsprinzip in seiner institutionellen Formung als nur um den Versicherungsvertrag des Mittelalters oder die frühe Versicherungsgesellschaft des 17. Jahrhunderts. In einem solch weiten Sinne hat seit kurzem die Soziologie versucht, Versicherungen zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand zu machen. Ericson, Doyle und Barry formulierten 2003 Insurance also remains in the background in social science. Except for narrow specialisms in law and economics, it has not been subject to extensive analyses. Although the insurance industry is among the most pervasive and powerful institutions in society, the sociology of insurance remains nascent.2 In der Geschichtswissenschaft kamen neben den enger wirtschafts- und rechtshistorischen Behandlungen von Versicherungsgeschichte3 seit den 1980er Jahren neue Impulse insbesondere aus der Wissen(schaft)sgeschichte. Im Kontext der sogenannten probabilistischen Revolution wurde in der Lebensversicherung ein Typ frühmoderner professioneller Risikokalkulation und damit von Zukunftskolonisierung4 erkannt, der prägend für den Umgang (zunächst der englischen) Aufklärergesellschaft mit ihrer Welt war. Freilich hat Lorraine Daston dabei wohl zu stark den spielerischen Charakter des Umgangs mit Versicherung betont – Lebensversicherungen als Praxis nahe an Glücksspiel und Wette –, gleichsam als Fingerübung neben der probabilistischen Theoriebildung der frühen Statistiker. Demgegenüber hatte Geoffrey Clark herausgearbeitet, dass und wie die zwar eher im Modus des „rule of thumb“ 2 Richard V. Ericson u. a., Insurance as Governance, Toronto 2003, S. 3. 3 Die sehr reiche Literatur kann hier nicht erschöpfend wiedergegeben werden. Vgl. für einen aktuellen Forschungsüberblick Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Göttingen 2011, S. 24 – 39. 4 Der Begriff der Zukunftskolonisierung wurde eher nebenbei geprägt von Torsten Hägerstrand, Time and Culture, in: Guy Kirsch u. a. (Hg.), The Formulation of Time Preferences in a Multidisciplinary Perspective. Their Consequences for Individual Behaviour and Collective Decision-Making, Berlin 1988, S. 33 – 42, hier S. 40 f. Zitiert und systematischer ausgeführt bei Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991, S. 109 – 143; Barbara Adam, Time and Social Theory, Philadelphia 1990, S. 138 – 142; Gerda Reith, Uncertain Times. The Notion of „Risk“ and the Development of Modernity, in: Time and Society 13. 2004, S. 383 – 402, bes. S. 386 – 393; Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980, S. 600. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 425 erfolgenden Berechnungen bei der Versicherungsplanung im 18. Jahrhundert sehr wohl eine funktionsfähige Praxis bildete, die keineswegs nur spielerisch gemeint war. Eve Rosenhaft kommt das Verdienst zu, in die angloamerikanische Forschung die dort meist unbekannte deutsch-kameralistische Tradition von Versicherungsinstitutionen (am Beispiel der Witwen- und Waisenkassen) eingeführt zu haben, welche auch eine voll ausgebildete Praxis ganz jenseits des „Spielerischen“ dokumentiert.5 Wie auch immer man innerhalb dieser Forschungsdiskussion die Versicherungsgesellschaften und -institutionen genau einordnet, sie stehen jedenfalls für einen besonderen Typus frühmoderner individueller wie gesellschaftlicher Planung. An diesem Punkt gewinnen sie dann auch in einer ganz allgemeinen Hinsicht an Bedeutung: zumindest das Auftreten der Versicherung als Institution kann als Epochenindikator dienen und wird auch im historischen Narrativ der allgemeinen und Risikosoziologie so eingesetzt. Versicherungen seien die Institutionen, die am besten als Indikator für die Öffnung eines neuzeitlichen oder modernen Zukunftshorizontes stehen können.6 Speziell wird insbesondere von Ulrich Beck das Kriterium der Versicherbarkeit durch private Versicherungsgesellschaften als ein solcher Epochenindikator angeführt, der dann insbesondere auch Erste und Zweite Moderne trenne. Dieses Kriterium der Versicherbarkeit stammt eigentlich aus dem engeren Kontext der Betriebswirtschaft: Eine von vielen, in der Nachkriegszeit zunehmend diversifizierten und verkomplizierten Definitionen von Versicherbarkeit in diesem technischen Sinne lautete etwa: „Risiken sind dann unversicherbar, wenn ihre nutzenäquivalente Prämie aus der Sicht des Versicherers die Prämienobergrenze der potentiellen Nachfrager übersteigt.“7 Anders formuliert: Wenn der Versicherer den potenziell entstehenden Schaden so hoch einschätzt, dass auch die Prämie so hoch sein müsste, dass kein Kunde diese zahlen würde, dann ist ein Risiko unversicherbar. Eine solche Definition scheint zunächst wenig allgemeinsoziologisches und erst recht historisches heuristisches Potenzial zu besitzen und es wirkt erst einmal verwunderlich, dass die Risikosoziologie hier ein sehr 5 Lorraine J. Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988; dies., The Domestication of Risk. Mathematical Probability and Insurance, 1650 – 1830, in: Lorenz Krüger u. a. (Hg.), The Probabilistic Revolution, Bd. 1: Ideas in History, Cambridge, MA 1987, S. 237 – 26; Geoffrey Clark, Betting on Lives. The Culture of Life Insurance in England, 1695 – 1775, Manchester 1999; Eve Rosenhaft, Did Women Invent Life Insurance? Widows and the Demand for Financial Services in Eighteenth-Century Germany, in: David R. Green u. Alastair Owens (Hg.), Family Welfare. Gender, Property and Inheritance Since the Seventeenth Century, Westport, CT 2004, S. 163 – 194; Geoffrey Clark (Hg.), The Appeal of Insurance, Toronto 2010. 6 Vgl. Clark, Betting on Lives, S. 3; allgemein zum neuzeitlichen Zukunftsbegriff Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt 1999, S. 34 – 55. 7 Walter Karten, Versicherbarkeit und Risikopolitik, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 61. 1972, S. 279 – 299, hier S. 299. 426 Cornel Zwierlein spezielles Kriterium für eine so allgemeine Epochenunterscheidung herangezogen hat – dies bedarf einer genaueren Analyse und Kritik. Wenn dem aber im historischen Narrativ der Risikosoziologie so ist, dann kommt den Versicherungen eine ganz bedeutsame und allgemeine Funktion gerade hinsichtlich des hier in Frage stehenden Verhältnisses von Sicherheitsregimen und Epochendenken zu, und diese Funktion eines Epochen-Lackmustests gilt es im Folgenden zu überprüfen. Hierzu ist es aber sinnvoll eine begrifflichsystematische Zweiteilung vorzunehmen, die so etwa bei Beck nicht auftaucht. Einerseits in den spezifischer auf den Wirtschaftsbereich bezogenen Zeit- und Planungshorizont der Versicherungen selbst auf ihr als Risiko konstruiertes Objekt – man könnte von Operationshorizont oder operativem Zeithorizont sprechen. Andererseits in einen allgemeineren Zeithorizont, der für die gegebene Gesamtgesellschaft den Rahmen des Erwartbaren für ihre Zukunft als ganzes benennt, den man mit Barbara Adam als gesamtgesellschaftlichen „timescape“ bezeichnen könnte. Insbesondere geht es um die Frage, ob und in welcher Form in einer Gesellschaft die Möglichkeit und Antizipation, dass sie insgesamt untergeht, als Thema und Vorstellung kommuniziert wird; man könnte zugespitzt bei diesem zweiten Horizont von einem Apokalypsehorizont sprechen, der im Folgenden noch näher definiert wird. Vorweg mag schon betont werden, dass mit dieser Unterscheidung von Zeithorizont-Typen auch Verkürzungen der bisherigen Zukunftsgeschichtsforschung aus dem Weg gegangen werden soll: bei Koselleck und ihm folgend bei Hölscher sowie anderen wird immer im großen Maßstab davon ausgegangen, dass der geschlossene Zukunftshorizont der Vormoderne durch einen offenen Zukunftshorizont der Neuzeit und Moderne abgelöst würde. Das ist im Grunde auch korrekt, betrifft aber in unserem Sinne nur den zweiten auf die Gesamtgesellschaft bezogenen Horizont. Hierneben wäre hervorzuheben, dass Zeithorizonte eben auch kleinräumiger, gruppen- und funktionsbezogener emergieren und auch koexistieren können, dass Zeitgenossen bei jeweils unterschiedlichen Tätigkeiten auch durchaus frei zwischen solchen operativen Horizonten wechseln können und mancher operative Horizont dann die gesamtgesellschaftlichen Zeithorizonte vorbereiten mag, aber nicht muss. Es wird daher im Folgenden das Argument entwickelt, dass die in der Tat hohe Bedeutsamkeit von Versicherungen und auch des Indikators Versicherbarkeit im Rahmen einer allgemeinen Geschichte von Sicherheitsregimen und -dispositiven und der Frage nach epochalen Grenzscheiden besonders fruchtbar in der Zusammenschau dieser zwei, in Reichweite und Funktionsbezug unterschiedlichen, gesellschaftlichen Zeithorizonte zu beantworten ist. Erst unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs wird ein Argument verschiedener Epochenspezifizitäten von Versicherung in einem so allgemeinen Sinn, wie es Beck und andere vornehmen wollen, nachvollziehbar. Diese Zusammenschau erfolgt zum Schluss dieses Beitrags, nachdem zunächst die Unterschiedlichkeit von Versicherung zwischen Sattelzeit und Hochkolonialismus herausgearbeitet wird. Hier geht es um den ersten der beiden ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 427 Zeithorizonte, den enger auf den Wirtschaftsbereich bezogenen operativen. Ausgangspunkt ist die Bedeutung, die die Versicherbarkeitsgrenze innerhalb des Epochennarrativs der Risikosoziologie einnimmt und welche inhaltlichen Kritikpunkte daran auszusetzen sind; die daraus gewonnenen kritischen Impulse werden dann zur Beantwortung der komplexeren Frage nach den Zeithorizont-Verhältnissen hinsichtlich der Versicherungen genutzt. I. Das Epochennarrativ der Risikosoziologie Die Risikosoziologie in ihrer Beck’schen Ausformung8 hat ohne Frage mit großer Feinfühligkeit einige fundamentale Verschiebungen in der bundesdeutschen wie globalen Gesellschaft in allen Teilbereichen, von der IndustrieNebenfolgen-Analyse bis zur innerfamiliären Pluralisierung und zuletzt bis hin zu globaler Terrorbedrohung und Klimakollaps, ausgemacht und einen neuen soziologischen Blick hierauf eröffnet. Diese Analysen sind auch in der Geschichtswissenschaft auf große Resonanz gestoßen.9 Allerdings ist im Unterschied zu manch anderem Soziologen Becks historisches Interesse sehr gering ausgeprägt, obwohl er der Risikosoziologie durchaus ein prononciertes epochentheoretisches Narrativ unterlegt hat, in dem es insbesondere immer um die Ablösung einer Ersten durch eine Zweite Moderne geht. En passant klingen zuweilen auch Formulierungen zu dem an, was vor der Ersten Moderne stattfand, also der Vormoderne, aber dies hat Beck selbst nie ausgeführt.10 Die Sorgsamkeit, mit der etwa Luhmann sein Theorem zur Entstehung der Moderne, die funktionale Differenzierung in allen gesellschaftlichen Bereichen, in vielen Publikationen untermauert hat,11 war hier nie anzutreffen, was auch schon vermehrt zu Kritik und Anfragen geführt hat.12 In 8 Zunächst Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986; ders., Weltrisikogesellschaft, Frankfurt 2007. 9 Produktiv weiter ausgebaut bei Paul Nolte, Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus, München 2006. 10 Eine gewisse Ausnahme stellte Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995 dar. 11 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 4 Bde., Frankfurt 1989 – 1995 sowie in vielen anderen Arbeiten, in denen historische Teilabschnitte vorhanden sind. Dass man freilich trotz dieser quellengesättigten Analysen die entsprechenden (Re-) Konstruktionen Luhmanns insgesamt als stark teleologisch kritisieren kann, steht wieder auf einem anderen Blatt. Vgl. hierzu Cornel Zwierlein, Pluralisierung und Autorität. Tentative Überlegungen zur Herkunft des Ansatzes und zum Vergleich mit gängigen Großerzählungen, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.), Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, S. 3 – 30. 12 Vgl. etwa Jean-Baptiste Fressoz, Beck Back in the 19th Century. Towards a Genealogy of Risk Society, in: History and Technology 23. 2007, S. 333 – 350. 428 Cornel Zwierlein Becks Monographie „Risikogesellschaft“ von 1986 waren die meisten Kriterien für die Unterscheidung von moderner Industriegesellschaft und Risikogesellschaft beziehungsweise von Erster und Zweiter Moderne noch relativ vage.13 Erst als er das im Französischen zeitgleich erschienene Buch „L’tat providence“ des Foucault-Schülers FranÅois Ewald rezipierte, in dem es um die Entwicklung der Arbeiter-Unfallversicherungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts ging,14 scheint er Versicherungen eine Art systematischen Stellenwert eingeräumt zu haben, was sich im Nachwort der deutschen Übersetzung von Ewalds Buch von 1991 niederschlug: Auch läßt sich so der Epochenunterschied, der die Risiken der Industriegesellschaft und der bürgerlichen Sozialordnung von den Gefahren und Zumutungen der Risikogesellschaft unterscheidet, klarer fassen: Der Eintritt in die Risikogesellschaft findet in dem Moment statt, wo die nun gesellschaftlich entschiedenen und damit produzierten Gefahren die geltenden Sicherheitssysteme vorhandener Risikokalkulationen des Vorsorgestaates unterlaufen bzw. aufheben: Atomare, chemische, ökologische und gentechnische Risiken sind im Unterschied zu frühindustriellen Risiken (a) weder örtlich noch zeitlich eingrenzbar, (b) nicht zurechenbar nach den geltenden Regeln von Kausalität, Schuld, Haftung, (c) nicht kompensierbar, nicht versicherungsfähig. […] Wer nach einem operationalen Kriterium für diesen Übergang fragt, hat es hier in der Hand: Fehlen des privaten Versicherungsschutzes, mehr noch: der Versicherbarkeit von industriellen technisch-wissenschaftlichen Projekten. […] Jenseits der Versicherungsgrenze balanciert die ungewollt durch die systemisch erzeugten Gefahren zur Risikogesellschaft mutierte Industriegesellschaft.15 Abgesehen davon, dass die Beck’schen Thesen auch für die Gegenwart kritisiert werden,16 baut die in diesem Zitat konzentriert greifbare Beck’sche 13 Zur Kritik an der Risikogesellschaftsthese aus historischer Sicht vgl. Nolte, Riskante Moderne, der wie viele insbesondere die Grundunterscheidung von Erster/Zweiter Moderne schon für nicht plausibel hält. 14 FranÅois Ewald, L’tat providence, Paris 1986. 15 Ulrich Beck, Nachwort, in: FranÅois Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt 1991, S. 541. 16 So haben etwa Richard V. Ericson u. Aaron Doyle, Catastrophe Risk, Insurance and Terrorism, in: Economy and Society 33. 2004, S. 135 – 173 in empirischer Analyse der pekuniären Schadensbewältigung des Terroranschlags vom 11. 9. 2001 gezeigt, dass die Unversicherbarkeitsgrenze sehr viel dynamischer variabel und progressiv verschiebbar ist als von Beck suggeriert. Beck hat darauf wiederum reagiert mit dem Argument, Einzelschäden möchten ja von Versicherungen bewältigt werden, nicht aber die „Terrorgefahr an sich“; aber dann passen Versicherungen schlechthin nicht für seine Argumentation, denn nie in der Geschichte ist eine staatliche oder private Versicherung angetreten, eine „Gefahr an sich“ zu versichern, in der Vormoderne also etwa die Summe aller denkbaren Brandkatastrophen in der Welt. Zur weiteren Diskussion vgl. technisch Peter Chalk, Trends in Transnational Terrorism and Implications for U.S. National Security and U.S. Terrorism Risk Insurance Act, in: Studies in Conflict and Terrorism 30. 2007, S. 767 – 776; Claudia Aradau u. Rens van Munster, Insuring ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 429 Argumentation in ihren Prämissen auf einer Vielzahl von historisch kaum korrekten und nicht weiterführenden Annahmen auf. Erstens: Dass private Versicherer zu große Risiken wie einen Atom-GAU nicht versichern, ist nicht verwunderlich; die Vorstellung, dass der Epochenwechsel nun gerade darin läge, dass Aufgaben privater Versicherer auf den Staat „zurückfallen“ würden, suggeriert aber, dass der private Versicherungsschutz gleichsam vorgängig, und das Eintreten von Staatlichkeit als Sicherheitsgarant „of last resort“ außergewöhnlich sei. Die historische Entwicklung zeigt aber bis dahin gerade das Umgekehrte, zumindest in Kontinentaleuropa eher die Vorgängigkeit obrigkeitlich-staatlicher Schutzmechanismen und das überhaupt erst langsame Eindringen von privaten Versicherungslogiken. Zweitens: Der These fehlt jede Sensibilität für die historische Relativität von Gefahren/Risiken und Sicherheitsproduktionsmitteln: die örtliche und zeitliche Nicht-Eingrenzbarkeit war relativ gesehen auch für Großgefahren der Vormoderne gegeben, die die damaligen Grenzen des Beherrschbaren überstiegen. Die Dimensionen von Örtlichkeit und Zeitlichkeit waren natürlich ohnehin aufgrund kommunikationshistorisch unterschiedlicher Gegebenheiten andere, so dass sie in der Vergangenheit ähnlich unbeherrschbar erschienen. Drittens: Die Unzurechenbarkeit von Risiken nach den Regeln von Kausalität, Schuld und Haftung ist ein Merkmal, weshalb Versicherungen ja überhaupt eingerichtet wurden und werden: diese Logiken sollen umgangen werden. Ergibt sich eine Situation, wo eine Versicherung nicht mehr möglich, weil unrentabel ist, wird nicht zwingend eine Epochengrenze überschritten. Insofern wird man als Historiker die Beck’sche, etwas überwertige Vorstellung von Versicherbarkeit als Epochenindikator zunächst in ihrer Verallgemeinerung in Frage stellen müssen. Trotzdem hat die Konzeption doch die richtige Intuition auf ihrer Seite, dass Versicherbarkeit einen sehr gut historisierbaren und dann fruchtbaren Gegenstand der Analyse darstellt, mit Hilfe dessen man viel über die jeweilige Gesellschaft und ihre Sicherheitsregime aussagen kann. Von dieser nur implizit wirksamen Intuition wird hier ausgegangen. Zwar ist in den frühen Quellen der Versicherungsgeschichte kein abstrakter Terminus der Versicherbarkeit nachweisbar, aber es gab stets implizite und teilweise auch explizite Grenzziehungen, die zum Ein- oder Ausschluss von „guten“ und „schlechten“ Risiken in den Versicherungsschutz führten. Entlang welcher Grenzen dieser Ein- oder Ausschluss vorgenommen wurde, wird im Folgenden knapp für die sogenannte Sattelzeit sowie für den Kontext und die Epoche des Hochkolonialismus im Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung des 19. Jahrhunderts untersucht. Terrorism, Assuring Subjects, Ensuring Normality. The Politics of Risk After 9/11, in: Alternatives. Global, Local, Political 33. 2008, S. 191 – 210. 430 Cornel Zwierlein II. Versicherbarkeit in der Sattelzeit Der Prämienversicherungsvertrag kam im 14. Jahrhundert im Mittelmeerhandel als Korrelat zur doppelten Buchführung auf.17 Bis etwa 1680 blieb es immer bei Einzelversicherungen, das heißt, ein Kaufmann oder eine Mehrzahl von Kaufleuten versicherte Schiffe und Waren eines anderen Kaufmanns, was in einer polizza beziehungsweise police niedergelegt wurde. Erst um 1680 herum begann die zunehmende Universalisierung der Prämienversicherungslogik und ihre Ausbreitung auf Gegenstandsbereiche über den maritimen Warentransport hinaus sowie vor allem ihre Institutionalisierung. Erst jetzt formierten sich einerseits private Handelsgesellschaften in England (joint stock companies und mutual societies) und andererseits staatlich-kameralistisch geführte Brandkassen in Deutschland.18 Hauptgegenstand von Versicherungen wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nun die Feuerversicherung. Die wegen ihrer Nähe zur mathematischen Probabilistik in der jüngeren wissenschaftsgeschichtlichen Forschung öfter präsente Lebensversicherung19 war vom Volumen her lange Zeit eher unbedeutend, ebenso andere Gegenstände, mit denen experimentiert wurde (zum Beispiel Hagel- oder Ertragsversicherungen). Auch darf nicht aufgrund einer aus dem 20. oder 21. Jahrhundert rückprojizierten Identifizierung von Versicherungsmathematik beziehungsweise Probabilistik als dem Kern des Versicherns vergessen werden, dass die Versicherungsgeschichte bis ins 17. Jahrhundert nahezu identisch ist mit der Geschichte der maritimen Transportversicherung. Ausführlichere Reflexionen über Versicherbarkeit von Gegenständen, Waren, Transportwegen oder Personen finden sich in der Frühphase der Prämienversicherung kaum, es sei denn im Sinne von normativen Überlegungen über die grundsätzliche Erlaubtheit von Versicherungen oder bestimmter Typen von Versicherung in der Kanonistik und dann in der Spätscholastik.20 So wurden Versicherungen 17 Lucas A. Boiteux, La fortune de mer. Le besoin de scurit et les dbuts de l’assurance maritime, Paris 1968; Federigo Melis, Origini e sviluppi delle assicurazioni in Italia (secoli XIV-XVI), Bd. 1: Le fonti, Rom 1975; Karin Nehlsen-von Stryk, Die venezianische Seeversicherung im 15. Jahrhundert, Ebelsbach 1986; Angelo La Torre, L’Assicurazione nella storia delle idee. La risposta giuridica al bisogno di sicurezza economica: ieri e oggi, Mailand 20002. 18 Vgl. für einen Forschungsstand und eine neue Rekonstruktion der Emergenz- und Wandlungsphasen Zwierlein, Der gezähmte Prometheus, S. 24 – 39. 19 Vgl. Anm. 5 und Ian Hacking, The Emergence of Probability. A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference, Cambridge 1976; ders., The Taming of Chance, Cambridge 1990; Anders Hald, A History of Probability and Statistics and Their Applications before 1750, New York 1990. 20 Vgl. hierzu Torre, L’Assicurazione und Giovanni Ceccarelli, Risky Business. Theological and Canonical Thought on Insurance from the Thirteenth to the Seventeenth Century, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31. 2001, S. 607 – 658. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 431 im 15. Jahrhundert manchmal als zu verbietende glücksspielähnliche Verträge eingeordnet, besonders bei dem Glücksspiel nahestehende Formen wie etwa Wettversicherungen auf das Ableben berühmter Personen. Dies waren freilich wirtschaftlich weitgehend unbedeutende Nebenformen, die für die hier in Frage stehenden größeren Entwicklungslinien keine Relevanz haben.21 Die juristischen Traktate über Versicherungen im römisch beherrschten Gemeinen Recht reflektierten dann kaum mehr das „Ob“ von Versicherung, auch nicht die praktischen Details des „Wie“, sondern hauptsächlich die Frage der Klassifizierung in der obligationsrechtlichen Schematik.22 Auch aus den über Versicherungen geführten Gerichtsprozessen des 15. und 16. Jahrhunderts, die die zweite Quelle für unser Wissen über die früheste Praxis des Versicherns überhaupt darstellen, lassen sich für unsere Frage wenig Informationen beziehen. Erst nach der erwähnten Umstellung ab 1680 finden sich sowohl inhaltlich als auch vom Veröffentlichungstyp her neue Reflexionsformen über Versicherung. In England entstanden solche Texte im Zuge der wirtschaftlichen Konkurrenz der unterschiedlichen Feuerversicherungsgesellschaften, oft als Werbebroschüren von wenigen Seiten, die gratis in den Versicherungsbüros in der Nähe der Londoner Royal Exchange verteilt wurden.23 Im deutschen Sprachraum sind es staatswirtschaftlich-kameralistische Reflexionen, die zunächst eher in Form handschriftlicher Gutachten greifbar sind, ab 1750 findet sich dann ein wachsender Strom zunächst kurzer Zeitschriftenbeiträge, dann immer ausführlicherer und selbständig veröffentlichter Traktate zum Versicherungswesen, aus denen wir nun für die Frage der Historisierung von Versicherbarkeit schöpfen können. Dabei ist zunächst auf eine Leerstelle 21 Vgl. Melis, Origini e sviluppi, doc. 27 – 29, S. 214 – 217: Lebensversicherung auf den Tod des Herrn von Piombino und Wettversicherung auf den Tod Papst Niccols V. und des Königs von Aragn innerhalb eines Jahres. 22 Vgl. dazu Nehlsen-von Stryk, Seeversicherung; Johan Petrus van Niekerk, The Development of the Principles of Insurance Law in the Netherlands from 1500 to 1800, 2 Bde., Kapstadt 1998; Gian Savino Pene Vidari, Sulla classificazione del contratto d’assicurazione nell’et del diritto comune, in: Rivista di storia del diritto italiano 71. 1998, S. 113 – 137; Cornel Zwierlein, Renaissance Anthropologies of Security. Shipwreck, Barbary Fear and the Meaning of „Insurance“, in: Andreas Höfele u. Stephan Laqu (Hg.), Humankinds. The Renaissance and its Anthropologies, Berlin 2011, S. 157 – 182; Zwierlein, Der gezähmte Prometheus, S. 55 – 71. 23 Einige dieser pamphlets sind bei David Jenkins u. Takau Yoneyama (Hg.), History of Insurance, 8 Bde., London 2000 faksimiliert, darüber hinaus aber auch bei „Early English Books“ online einsehbar. Vgl. Peter G. M. Dickson, The Sun Insurance Office 1710 – 1960. The History of Two and a Half Centuries of British Insurance, London 1960, S. 1 – 16; Harold E. Raynes, A History of British Insurance, London 19642, S. 70 – 83; Hugh A. L. Cockerell u. Edwin Green (Hg.), The British Insurance Business. A Guide to its History and Records, Sheffield 19942, S. 26 – 28; Robin Pearson, Insuring the Industrial Revolution. Fire Insurance in Great Britain, 1700 – 1850, Aldershot 2004. 432 Cornel Zwierlein hinzuweisen: In den frühen englischen Texten um 1700 und weit ins 18. Jahrhundert hinein finden sich Überlegungen zur Versicherbarkeit eigentlich nur in Form von Reflexionen zu Risikoklassen (von Objekten und Menschen)24 sowie des potenziellen Versicherungsbetrugs,25 die kurzen Ausführungen enthalten meist nichts Aufschlussreiches über größere gesellschaftliche Zusammenhänge, das mit Versicherbarkeit verbunden wäre. Dieser Diskussionsstand wurde auch in Deutschland aufgenommen, zunehmend seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, als die Kameralisten die Reform und Verbesserung der bestehenden staatlichen Brandkassen anstrebten.26 Bei Vieh-Assekuranzen wurde die Versicherbarkeitsgrenze entlang der Frage der Gesundheit und des Alters des Viehs gezogen,27 auch bei Lebensversicherungen ging es schon um das, was später „moral hazard“ genannt wurde. Die Konzeption von Versicherungen als staatliches Projekt durch die praktischen Aufklärer in Deutschland führte zwar im Gegensatz zum englischen Fall dazu, dass diese Form der Sicherheitsproduktion mit eudämonistischen oder später auch karitativ-philanthropischen Staats- und Gesellschaftszielen verschränkt wurde. Hinsichtlich der Frage nach den Inklusions-/ExklusionsGrenzen führte es aber interessanterweise zunächst zu einer relativen Unterbestimmtheit: In einem der frühen klassischen Texte, dem handschriftlich überlieferten, an Kaiser Leopold I. gerichteten Gutachten „Öffentliche Assekuranzen“ von Leibniz (1680),28 wird das im kleinen städtischen Rahmen und weitgehend ohne begleitende theoretische Reflexion kreierte Modell der Hamburger Generalfeuerkasse von 1676 mit großen Strichen zu einem Projekt einer von aller Obrigkeit einzuführenden Versicherung gegen jedwede Form von Natur-Unglücken transformiert, das als ein neues „Regale Assecurationis“ verstanden werden könne, also als ein herrschaftliches Regal-Recht wie etwa das Münzregal. Eine Versicherbarkeitsgrenze, etwa hinsichtlich großer Stadtbrand-Totalkatastrophen, kommt hier nicht zur Sprache, es wird lediglich das 24 Vgl. Clark, Betting on Lives. 25 Robert Pearson, Moral Hazard and the Assessment of Insurance Risk in Eighteenth- and Early-Nineteenth-Century Britain, in: Business History Review 76. 2002, S. 1 – 35. 26 Auf dem aktuellen internationalen Kenntnisstand ist etwa Georg Elert Bieber, Plan zur Errichtung einer für Hamburg möglichst vorteilhaften Versicherungs-Compagnie gegen Feuer-Gefahr, Hamburg 1795; dazu Anonym, Bemerkungen über die vorläufigen Puncte […], Hamburg 1795; Georg Elert Bieber, Prüfung der Bemerkungen eines Ungenannten über die vorläufigen Punkte […], Hamburg 1795; Johann Georg Büsch, Allgemeine Übersicht des Assekuranzwesens, Hamburg 1795, jeweils mit kleinen Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die noch untypisch für den Bereich „Feuer“ waren. 27 Ferdinand Friedrich Pfeiffer, Gedanken über Versicherungs-Anstalten […], Stuttgart 1780, S. 40 – 43. 28 Gottfried Wilhelm Leibniz, Öffentliche Assekuranzen, in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe IV: Politische Schriften, Bd. 3: 1677 – 1689, hg. v. Lotte Knabe u. Margot Faak, Berlin 1986, S. 421 – 432. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 433 Problem der sozialen Unterschiede angesprochen: In der Assekuranz sollten letztlich die Reichen die Armen mitversichern; die Versicherung diene gerade dazu, dass keiner aufgrund von Naturkatastrophen in Armut verfalle und aus der Verzweiflung heraus dann zum Bettler oder gar zum gesellschaftsschädigenden Subjekt würde. Versicherungen hätten demnach nicht nur eine pekuniäre Bedeutung, sondern eine Reichtums-Umverteilungsfunktion und einen sozialpsychologisch motivierenden Effekt.29 Vom gleichen sozialpsychologischen Gesichtspunkt aus argumentierte genau umgekehrt eine Beantwortung der Preisfrage der Göttingischen Societät der Wissenschaften für das Jahr 1792, „wie oder unter welchen Umständen können die mannichfaltigen Assekuranz-Anstalten dem Staate schaden?“ Es würden künstliche Grenzen der Versicherbarkeit angesetzt, etwa hinsichtlich von Über- und Wucherversicherung oder einschlägiger im Hinblick auf den Gegenstand: Nur auf „eigentliche Unglücksfälle“, „nicht auf einen Verlust, der durch Vorsicht und Fleis abgewandt werden konnte“, dürften Versicherungen angewandt werden, denn Assekuranzen würden dem Staat dort schädlich, wo sie „zur Verminderung der Betriebsamkeit der Bürger beitragen“, was der Fall wäre, „wenn sie auf die Erstattung eines Verlustes abzielen, der durch eigenen Fleis abgewandt oder durch eigene vermehrte Arbeitsamkeit ersezt werden konnte.“ Dies würde den „Nationalreichtum“ mindern.30 Diese sozialpsychologische Interpretation der Versicherungswirkung war für die deutsche Variante typisch, im englischen Fall betrieb man eine solche makrogesellschaftliche Funktionsanalyse gar nicht. Hierfür einschlägig ist auch das mit den frühen Versicherungsprojekten verfolgte Ziel einer teilweise stände-, jedenfalls aber einkommensklassenübergreifenden Zusammenfassung von Versicherten in einer Institution. Das führte zu Konflikten und immer wieder zur Ablehnung der Institutionen von Bessergestellten wie Minderbemittelten. Hier ist eine andere Grenze von Versicherung/Versicherbarkeit angesprochen, die nicht vom Objekt, sondern von den Subjekten her blickt, ohne dass dies mit heutigen Formen von „moral hazard“ kongruent wäre. In Berlin wehrte man sich gegen die Übertragung des Hamburger Modells, weil „ein großer unterscheid zwischen diesen Residentz Städten und der Stadt Hamburg zu machen“ sei, da hier Arme und Reiche in 29 „Und weil ein großes unglück gemeiniglich desperation verursachet, solche aber bey einigen bosheit, bey andern aber gleichsam einen lethargum nach sich ziehet, daß solche leüte alles gehen laßen, und sich wie einer[,] der lange vergebens gegen den strohm gearbeitet hat[,] endtlich denen wellen ergeben und die hände sincken laßen; als ist ja leicht zu erachten, daß es eines der kräfftigsten Mittel gegen die bosheit und Nachläßigkeit der Menschen ist, wenn sie nicht stecken gelaßen, sondern bey Zeiten, solange die guthe natur noch mit dem unglück streitet, und wille sich zu wehren annoch vorhanden, gerettet werden.“ Leibniz, Assekuranzen, S. 426. 30 Anonym, Ueber die Mängel der Assekuranz-Anstalten, in: Deutsches Magazin 12. 1796, S. 603 – 660, hier S. 606 f. 434 Cornel Zwierlein unvergleichbaren Verhältnissen gegen- und miteinander verbunden würden. Dies wurde wohlweislich nicht aus der Sicht der Befürworter der Kasse in der kurbrandenburgischen Administration in dem Sinne vorgebracht, dass nur solvente Bürger zu versichern seien, sondern von den Gewerken der Stadt selbst, gerade auch der Armen, die nicht etwa hofften, ein Sicherheitsplus auf Kosten der Reichen zu erlangen, sondern fürchteten, dass sie die Reichen noch mittragen müssten.31 Ähnliche Konflikte kann man das ganze 18. Jahrhundert über beobachten, innerhalb von Städten oder wenn Stadt- und LandFeuersozietäten aufeinander trafen oder vereinigt werden sollten. 1783 wurden beispielsweise die ländlichen Besitzungen von Nürnberg in die städtische Brandassecurations-Anstalt aufgenommen. Der taxierte Wert der in die Kasse eingeschriebenen Häuser betrug für die Stadt zunächst 4,5 Millionen Gulden, für das Land (Pflegämter, Hauptmannschaften und fremde Herrschaften) 6,7 Millionen Gulden. Auf dem Land aber fanden Brände in hoher Frequenz statt, während die Stadt seit längerem weitgehend verschont geblieben war (von 229 Bränden zwischen 1783 und 1797 geschahen 7 in der Stadt und 222 auf dem Land).32 So zahlten plötzlich die Städter ständig den Wiederaufbau der Dorfhäuser mit, woraufhin sie zunehmend aus der Kasse austraten, die taxierte Summe der Stadthäuser ging zeitweise auf 2,8 Millionen Gulden zurück, während die des Landes auf fast 10 Millionen Gulden stieg. Die Anstalt verlor also zunehmend gerade ihre liquidesten Einzahler, die Stadtbürger, weil für diese der Verbleib in der Kasse nur ein Minusgeschäft war. Aufgrund des Stadt/Land-Zusammenschlusses wurde also nachfrageseitig Versicherbarkeit ummodelliert.33 Lorsch zog hieraus den Schluss: [z]u einer Verbindung, deren Zweck es ist, den ein Individuum betreffenden Schaden nach einem gewissen Maasstabe unter alle Gesellschafts-Glider zu vertheilen, können sich […] vernünftigerweise nur solche Individuen vereinigen, welche wo nicht in ganz gleicher doch wenigstens beynahe in gleicher Gefahr stehen, den befürchteten Schaden zu erleiden.34 Als inhaltliche Füllung des Stadt-/Landunterschiedes wurde bemerkenswerterweise nicht auf die Qualität der Bausubstanz abgehoben, sondern eher auf die der Einwohner : Landbewohner seien nachlässiger in der Brandvorsorge, weil unter den tumben Knechten „sträfliche Sorglosigkeit“ herrsche, aber auch, weil ihre Häuser eh sehr wenig wert seien. 31 Eingabe der Gewerke „Feuer Casse so in diesen Residenzstatt eingeführt werden“, Berlin [ca. 1696], Landesarchiv Berlin A Rep. 005 – 05/8, Nr. 18. 32 Von insgesamt 78.037 Gulden Brandschaden in 15 Jahren entfielen auf die Stadt nur 473, auf das Land 77.564 Gulden. 33 Christian Gottfried Lorsch, Welchen Nachtheil bringt die Vereinigung der Stadt und der Landschaft in eine Brandassecurationscasse dem Nürnbergischen Bürger?, Nürnberg 1799, S. 12 f. u. S. 26. 34 Ebd., S. 16. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 435 Insgesamt ist aber für Versicherungspraxis und -diskurs des späten 18. Jahrhunderts typisch, dass Versicherbarkeit nicht in dem Sinne diskutiert wurde, dass die Kapazität der Institutionen hinsichtlich gigantischer Mega-Katastrophen in einem absoluten Sinne befragt worden wäre.35 Der Blick der Theoretiker ist praktisch immer eng auf den Raum einer Stadt oder eines Territoriums begrenzt. Seit Mitte der 1780er Jahre nahm man zwar im Reich auch die Expansion der Phoenix Company wahr, der ersten außerbritisch, bald sogar global agierenden und in Konkurrenz zu den staatlichen Brandkassen stehenden Versicherungsgesellschaft. Man begegnete ihr jedoch mit Skepsis und meinte, sich doch auf lokal gesichertes Kapital verlassen zu müssen.36 Bezeichnend ist, dass wenn einmal eine reichsweite Versicherung angedacht wurde, dies nur in Form einer Utopie geschehen konnte: Der anonyme Autor einer Miszelle in Der Anzeiger, einer der wichtigsten Wochenzeitschriften des Alten Reiches mit politisch-administrativem Inhalt, schreibt 1792, er habe „im Schatten einer hundertjährigen Linde“ gesessen und vom Regierungsantritt von Franz II. geträumt, als ein Abgeordneter der Reichsstädte, ein Mann „mit Silberhaar um die offene Stirn“, dem Kaiser eine Bittschrift überreichte, in der ein ewiger Bund zwischen den Reichsstädten nicht wie einst zur militärischen Verteidigung, sondern zur gegenseitigen „Beförderung des bürgerlichen Wohls und gemeinschaftliche[r] Unterstützung und Hülfe in Nothfällen“ vorgeschlagen wird, wozu als erstes „eine gemeinschaftliche Brand- Ueberschwemmungs- Hagel- und Vieh-Assecuranz-Anstalt“ einzurichten sei. Der Kaiser habe zu dieser partiellen Reichsreform37 als Bundesbildung auf 35 In manchen Versicherungsschriften wird von tatsächlichen oder potenziellen kompletten oder halben Stadtbränden geschrieben, dies aber meist nur als Argument für die Brandkassenerrichtung, nicht als Reflexion auf absolute Grenzen der Versicherbarkeit: „Doch wir wollen […] annehmen, ein Orakel sagte uns, eure halbe Stadt wird zu einer Zeit, da ihr es nicht vermuthet, im Feuer aufgehen und ihr werdet nichts retten, und wir glaubten diesem Ausspruch so fest, als einst die Griechen dem Ausspruch des Orakels zu Delphos, was würden wir thun […]? Wir würden uns aus Noth, weil kein andres Mittel übrig ist, und weil jeder unter uns fürchten müste, das Seinige gänzlich zu verlieren, zusammen verbinden, das uns bevorstehende Unglück gemeinschaftlich zu tragen, weil es besser ist, die Hälfte seiner Güter, als sie alle zu verlieren.“ Bieber, Plan zur Errichtung, S. 18. 36 „Sie [i.e. die Phoenix Compagnie] breitet ihre Geschäfte in ganz Europa aus, und es kann seyn, das sie auch an andern Orten, so wie hier, viel Geld verdient, indes kann sie auch andernwärts viel verlieren, doch dem sey, wie ihm wolle, eine auswärtige Societät kann uns keine völlige Sicherheit leisten, als wenn der Fond, der zum Ersaz für uns bestimmt ist, in unsre Bank, auf unsre löbl. Cämmerey, oder sonstige hiesige sichre Hypotheken mit der Clausul belegt wird, ihn so lange die Compagnie für uns existirt, nicht zu vermindern.“ Ebd., S. 17. 37 Zum Strang der Reichsreformprojekte im 18. Jahrhundert vgl. Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998. 436 Cornel Zwierlein Reichsstadtebene als reichsweiter Versicherung sein „Kaiserwort“ gegeben: „Darüber wollte mir das Herz so stark empor, daß ich mit einem lauten Vivat Franz der Zweyte! Erwachte und gewahr wurde – daß ich geträumt hatte.“38 Der Bund aller Reichsstädte in Deutschland als Versicherungsgesellschaft ist also nur als politischer Traum, als Utopie formulierbar. Noch 1821, als inzwischen längst eine Fülle englischer und französischer privater Versicherungsgesellschaften, die nicht an eine Stadt oder ein Territorium gebunden waren, in Deutschland operierten und gerade auch die ersten deutschen nachhaltig beständigen privaten Versicherungsgesellschaften, insbesondere die Gothaer, gegründet worden waren, urteilt ein Autor, dass die „Idee, ganz Deutschland, wenigstens den handeltreibenden Theil, in einen Verein zu bringen […] etwas Großes“ habe, „aber ihrer Ausführung leg[t]en sich unübersteigliche Hindernisse in den Weg“.39 Die Versicherbarkeitsgrenze war also weniger durch das Hinsinnen auf apokalyptische Überkatastrophen (wie heute Klimakollapsschäden) bestimmt, auch nicht durch eine Schließung des allgemeinen Zukunftshorizonts („timescape“), sondern durch eine spatiale Begrenzung der Wahrnehmungsreichweite des operativen Zeithorizonts. Anders als bei den frühen englischen privaten Versicherungsgesellschaften waren die Bewertungsmaßstäbe relativ stark mit wirtschaftsexternen Elementen von Staatlichkeits- und Gesellschaftsverständnissen durchwirkt (Stadt/ Land-, Arm/Reich-, Stände-Unterschiede), während die Einteilung des gegebenen Baubestands in verschiedene Risikoklassen nur in einer Minderzahl der Brandkassen der Fall war. In den englischen privatwirtschaftlichen Versicherungsgesellschaften war diese Risikoklasseneinstufung bereits seit dem 17. Jahrhundert gängig. Es gibt also ganz deutlich in Praxis und Theorie der frühen – hier staatlichen – Versicherungen eine Vorstellung über die Grenzen der Versicherbarkeit. Sie zu analysieren heißt oft, die valenten Begrenzungen der Machbarkeit und die Visionen und Utopien von Planern nachzuvollziehen. Es heißt auch, die Grenzen der ständischen Gesellschaft mit dem durchaus gegenseitigen Misstrauen der Gruppen, Korporationen und Stände untereinander und den gewohnten Beziehungshorizonten als die das funktionale Denken überlagernden normativen Wirkungsfaktoren nachzuvollziehen. Bezeichnenderweise war der Impetus aller kameralistischen Reformer, die für die Einführung der Versicherungen arbeiteten und teilweise auch mit Veröffentlichungen warben, letztlich auf eine möglichst große Verbreitung der Institutionsform und eine möglichst umfassende Inklusion ausgerichtet. Überlegungen wie zum Nürnberger Fall waren technische Machbarkeitserwägungen, die nicht das Versicherungsprinzip an sich in Frage stellten (bei Trennung von 38 Anonym, Patriotischer Traum eines deutschen Reichsstädters, in: Der Anzeiger 11/12, 16./17. 7. 1792, S. 81 – 83. 39 Anonym, Beurtheilung der vorzüglichsten in Deutschland gebräuchlichen Arten der Versicherung gegen Feuersgefahr, Leipzig 1821, S. 14 f. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 437 Stadt und Land wäre ja wieder für Funktionsfähigkeit gesorgt). Die Versicherbarkeitsgrenze der Sattelzeit erscheint also als Machbarkeits- und Wahrnehmungsgrenze im Bereich des operativen Zeithorizonts. Dieser ist situiert vor dem Hintergrund einer zumindest bei den Propagatoren und EliteAkteuren grundsätzlich bestehenden Vorstellung des großen Ausweitungspotenzials dieses neuen Typus von Sicherheitsproduktion in einer offenen Zukunft (gesamtgesellschaftlicher „timescape“). III. Versicherbarkeit im Hochkolonialismus des 19. Jahrhunderts Springen wir fünfzig Jahre nach vorn in der Zeit, so können wir im Take-Off der Hochglobalisierung um 1850 etliche britische Versicherungsgesellschaften beobachten, die in wenigen Jahren das nachholten, was die Phoenix fast alleine vorgemacht hatte: die globale Expansion. Es gibt einige wirtschaftshistorische Veröffentlichungen dazu, die meist auf der Analyse statistischer Veröffentlichungen beruhen und so Wachstum, Penetration und Konjunkturen der Versicherungen nachzeichnen können.40 Hinter diesen größtenteils quantitativen Analysearbeiten geht aber meist die qualitative wirtschaftskulturelle Ebene der Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster verloren, mit denen sich die Unternehmen und ihre Agenten vor Ort und in der Zentrale orientierten: Hier lassen sich einige bemerkenswerte Beobachtungen zu den Kriterien von Versicherbarkeit machen, die in diesem Prozess vorherrschten. Gerade durch Geschäftszahlen, die etwa für das 1710 gegründete Sun Fire Office vorliegen, die älteste und größte Versicherungsgesellschaft der damaligen Welt,41 lässt sich zeigen, dass die Städte, in denen die Versicherung operierte – dies waren 40 Mikael Lönnborg, Svenska försäkringsbolags tidiga internationalisering, in: Nordisk försäkringstidskrift 4. 2000, S. 312 – 326; Robin Pearson u. Mikael Lönnborg, Regulatory Regimes and Multinational Insurers before 1914, in: Business History Review 82. 2008, S. 59 – 86; Peter Borscheid u. Kai Umbach, Zwischen Globalisierung und Protektionismus. Die internationale Versicherungswirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51. 2006, S. 26 – 53; dies., Systemwettbewerb, Institutionenexport und Homogenisierung. Der Internationalisierungsprozess der Versicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2008, S. 207 – 226. Eleonora Rohland untersuchte die Perspektive der SwissRe insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Trockenheitsanomalie und Brandhäufigkeit sowie hinsichtlich eines Großfeuers (Sundsvall 1888). Eleonora Rohland, Sharing the Risk. Fire, Climate and Disaster. Swiss Re, 1864 – 1906, Lancaster 2011. Vgl. auch die Beiträge von Frank Oberholzner, Eleonora Rohland und Franz Mauelshagen in Environment and History 17. 2011. 41 Peter G. M. Dickson, The Sun Insurance Office 1710 – 1960. The History of Two and a Half Centuries of British Insurance, London 1960. 438 Cornel Zwierlein zunächst stets die großen Hafen- und Handelsstädte im British Empire und seinen wirtschaftlichen informellen Fortsätzen –,42 brandökologisch komplett unterschiedlich waren und die Versicherung das erst sehr allmählich realisierte. Tab. 1: Verhältnis von Prämieneinnahmen, Schadenszahlungen und Ausgaben des Sun Fire Office für die Agenturunterhaltung in ausgewählten Städten43 Stadt, Jahre PrämienSchadenszahlungen einnahmen [loss ratio in %] Ausgaben für die Agentur vor Ort [loss ratio hierum erhöht in %] Batavia [1858 – 1888] 33.729 0 5.006 [14,84 %] Bombay [1852 – 1895] 54.772 4.840 [8,84 %] 9.705 [26,56 %] Calcutta [1852 – 1895] 51.944 8.615 [16,59 %] 4.925 [26,07 %] East Indies, China, Japan [1852 – 1888] 399.538 101.698 [25,45 %] 52.999 [38,72 %] Shanghai [1852 – 1895] 66.806 17.902 [26,79 %] 11.318 [43,73 %] Hongkong [1852 – 1895] 33.398 13.977 [41,8 %] 5.002 [56,8 %] Smyrna [1863 – 1895] 166.585 77.595 [46,579 %] 32.784 [66,26 %] Yokohama [1864 – 1895] 97.676 68.628 [70,26 %] 13.104 [83,677 %] Valparaiso [1857 – 1895] 128.312 101.159 [78,8 %] 21.028 [95 %] 137.087 [87 %] 20.892 [99,85 %] Konstantinopel [1865 – 1895] 158.214 Hamburg [1837 – 1895] 383.930 313.545 [81,67 %] 106.854 [109,5 %] New York – [Mittel von 22 ausländischen Versicherungen 60 %]44 – Das Verhältnis von Prämieneinnahmen zu Schadenszahlungen (loss ratio, plus Ausgaben für die Agentur-Unterhaltung vor Ort) ist in den asiatischen, 42 Robert Home, Of Planting and Planning. The Making of British Colonial Cities, London 1997, S. 62 – 84; Indu Banga (Hg.), Ports and Their Hinterlands in India, 1700 – 1950, New Delhi 1992; Frank Broeze (Hg.), Brides of the Sea. Port Cities of Asia from the 16th to 20th Centuries, Honolulu 1989; ders. (Hg.), Gateways of Asia. Port Cities of Asia in the 13th to 20th Centuries, London 1997; William Beinart u. Lotte Hughes, Environment and Empire, Oxford 2007, S. 148 – 166. 43 Quellen: London Metropolitan Archives (LMA) CLC/B/192/019/38852/1 u. 2; LMA CLC/ B/192/019/31522/275, S. 184 f., LMA CLC/B/192/019/11935K. 44 Die Versicherungsgesellschaft Sun war nicht dauerhaft in New York etabliert und konnte nicht auf eigene Erfahrungswert-Zahlen zurückgreifen. Sie erhielt aber Informationen über die durchschnittliche loss ratio der 22 vor Ort tätigen Feuerversicherungen, die man hier als Vergleichswert einsetzen kann, ebd. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 439 insbesondere den indischen Städten ganz anders als in den europäischen und amerikanischen. Europäische und amerikanische Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – und das sind sehr wohl schon größtenteils steingebaute Städte, in den USA auch schon in der hochgeschossigen Ziegelsteinbauweise – hatten eine loss ratio von etwa 60 bis 70 Prozent, was profitabel war, da hier eine hohe Nachfrage nach Versicherungen mit einer relativ sicheren Gewinnmarge kombiniert war. Städte wie Kalkutta und Bombay hatten hingegen nur eine verschwindend niedrige loss ratio von 10 Prozent, was zu wenig Nachfrage führte, Städte wie Istanbul hatten eine loss ratio von fast 100 Prozent, was das Geschäft gänzlich unprofitabel machte. Diese erheblichen Unterschiede, die man als handfesten Ausdruck einer Multiplizität von Moderne und Sicherheitsregimen fassen kann,45 waren den Europäern keinesfalls klar, als sie mit ihren Versicherungen in die Städte des globalen imperialen Wirtschaftsnetzes expandierten. Noch 1883 wunderte sich ein Autor im Bombay Guardian: We have never been, in a large city, so exempt from serious fires as Bombay. In one year a greater destruction of property from this cause takes place in New York than we have known in 35 years in Bombay. We confess that we are unable to explain the comparative immunity of Bombay in this particular.46 Diese teilweise Fehleinschätzung der nicht uniformen, sondern von Region zu Region stark unterschiedlichen Situation ist insofern bedeutsam, als sie je nach Stadt und Region das am stärksten überwertig wirksame Urteilskriterium, nach dem die Versicherungen das „Was“ und „Wieweit“ ihrer Geschäftsoperationen entschieden, ad absurdum führte: die zentrale koloniale Unterscheidung entlang der Grenze „native/European“ oder – im Falle einer Nichtkolonialstadt wie Istanbul – entlang der ethnischen Grenze „muslimisch/ europäisch“. Dies war nun, fünzig Jahre nach dem Aufklärungszeitalter, ein zentrales Versicherbarkeitskriterium. In der Forschung zu den großen Kolonialstädten des British Empire, von denen je nach Zählung 9 bis 15 die Basis für die heute ältesten Megastädte mit über 10 Millionen Einwohnern bildeten, ist die Trennung in die Stadtteile der 45 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences 129. 2000, S. 1 – 29; ders., Multiple Modernities. A Paradigm of Cultural and Social Evolution, Frankfurt 2007. Hinzuweisen ist darauf, dass Eisenstadts Argumentation implizit und teilweise wohl nicht intendiert auf zwei Moderne-Begriffen aufbaut: neben dem Begriff der örtlich und zeitlich relativen und eigenständigen Moderne in ihrer multiplen Form steht weiter nach wie vor ein idealtypischer Grundbegriff von Moderne, an dem alle globalen Formen gemessen werden. Vgl. hierzu und zum Angewiesensein des multiple modernities-Paradigmas auf das Jaspers’sche Konzept der Achsenzivilisationen Cornel Zwierlein, „Frühe Neuzeit“, multiple modernities, „Globale Sattelzeit“, in: Achim Landwehr (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld [2012]. 46 LMA CLC/B/192/019/31522/156, S. 164. 440 Cornel Zwierlein europäischen und der jeweiligen kolonisierten Bevölkerung ein stets behandelter Topos.47 Man kann diese zentrale Unterteilung nicht immer zugespitzt als „rassische Segregation“ erfassen, wie es freilich für Kapstadt und andere Städte zutrifft.48 Sicherlich ist ab den 1860er Jahren in nahezu allen Teilen des British Empire (in Indien auch in Reaktion auf den Aufstand von 1857) eine verstärkte, ideologisch unterfütterte Rassismuswelle zu verspüren.49 Aber die Doppelgesichtigkeit der Städte konnte auch einfach auf der städtebaulichen Entwicklung beruhen; nicht immer setzten die Kolonisierer ihre eigene Stadt an die Stelle der alten,50 oft bauten sie die koloniale Neustadt schlicht neben die indische Altstadt, wie die Briten in Kalkutta. In Bombay und Kalkutta bezeichneten sich die Inder selbst auch als natives, die Unterteilung muss also nicht als stark pejorativ-rassistisch aufgeladen aufgefasst werden, sondern stellte eine der zentralsten Orientierungskategorien im Stadtleben dar.51 Einerseits war diese Kategorie also immer präsent und schien von selbst Evidenz in der Alltagsrealität zu haben, andererseits war sie immer wieder umstritten, an den Rändern unscharf, und wurde mit Wertungen aufgeladen, die dann nicht mehr empirisch gedeckt waren. Die europäischen Versicherungen orientierten sich zunächst immer an dieser vorgegebenen Grenze native/European und versicherten grundsätzlich nur europäischen Baubestand. Aber in den indischen und chinesischen Städten nahm man zunehmend wahr, dass diese Unterteilung wirtschaftlich gesehen absurd war, denn trotz der unterschiedlichen Bauweise brannten die asiatischen Häuser und Viertel genausowenig oder sogar weniger als die europäischen. In Shanghai, wo Chinesen im europäischen Bereich des Treaty Port keine Häuser besitzen durften, ließen sie oft den Besitz durch Europäer erwerben, die Nutzung blieb dann aber bei den Chinesen. Solche Praktiken durchlöcherten schon die klare Grenze native/European und die Versicherer reagierten darauf flexibel, auch wenn es ihnen nach wie vor wichtig erschien das komplexe Vertauschspiel von native/European-Attributen hinsichtlich von Erbauern, Eigentümern und Bewohnern penibel festzuhalten.52 Manchmal aber war man bei der statisti47 Mariam Dossal, Imperial Designs and Indian Realities. The Planning of Bombay City, 1845 – 1875, Oxford 1991, S. 16 – 20; Swati Chattopadhyay, Representing Calcutta. Modernity, Nationalism, and the Colonial Uncanny, London 2005, S. 21 – 28; Prashant Kidambi, The Making of an Indian Metropolis. Colonial Governance and Public Culture in Bombay, 1890 – 1920, Aldershot 2007. 48 So das entsprechende Kapitel bei Home, Planting and Planning, S. 117 – 140. 49 Statt vieler vgl. Niall Ferguson, Empire. The Rise and Demise of the British World Order and the Lessons for Global Power, New York 2002, S. 159 – 171. 50 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 415. 51 Dossal, Imperial Designs, S. 4. 52 „The Imperial and the Alliance take risks on buildings owned by Europeans and occupied by Chinese as godowns only at the same rate as on buildings occupied and ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 441 schen Erfassung um ein genaues Hinausrechnen der Einheimischen aus den europäischen Häusern bemüht, etwa in den englischen, französischen und amerikanischen settlements von Shanghai: Man ließ sich von den lokalen Agenten auf das Jahr und das Einzelhaus genaue Statistiken über den Besitzstand nach London samt lithographischer Kartenverzeichnung schicken.53 Die geringe Brandhäufigkeit auch in den angrenzenden chinesischen Häusergruppen oder Vierteln schlug sich aber erkennbar in den hervorragenden Geschäftszahlen von Shanghai nieder (vgl. Tab. 1). Yokohama, der Hauptstützpunkt für das japanische Geschäft, war, nicht nur wegen des Großfeuers 1867, sondern auch kontinuierlich wegen der leichteren und holzintensiven Bauweise, sowie anderer klimatischer Bedingungen, ein fast doppelt so riskanter und brandgefährdeter Standort, was die vor Ort wirkenden Handelsvertreter nach etwa zwanzig Jahren Geschäftserfahrung auch realisierten.54 In den beiden wichtigsten indischen Städten, Bombay und Kalkutta, waren die Verluste noch geringer als in Shanghai, die Einnahmen allerdings auch, weil die Nachfrage wegen ohnehin niedrigen Brandrisikos gering blieb. Fast bizarr wirken die Bemühungen der verschiedenen, wie üblich in einer association zusammengeschlossenen europäischen Versicherungen in Bombay, 1893 die Zonierung der „European Town“ schließlich ganz exakt mit einer eigenen Karte und Grenzziehungen abzustimmen: weil einige Versicherungen doch jenseits der Zone Geschäfte aufgenommen hatten, owned by Europeans […] Risks on European built buildings owned by Europeans occupied by Chinese, as before remarked we consider in every way as desirable as if occupied by Europeans, indeed even more so, for as in the one case the property within the godown being utterly uninsured (Insurance being unknown to the Chinese) it is but reasonable to expect even greater precautions against Fire than where the property, as in the case of Foreign occupation, is covered against fire.“ LMA CLC/B/192/019/31522/60, S. 156 f. (August 1854). 53 „The French side contains a very great number of Native houses and as a rule we would not accept risks there unless on property situated on the Bund or entirely separated by a large open space from Native buildings, nearly all the respectable people live on the Bund. The American side contains also a good many Native houses, but they are clustered together and any risk we would be likely to be offered is quite away from them.“ Agents Chapman/King & Co. an Sun Fire Office, 8. 4. 1869, London, LMA CLC/B/ 192/019/31522/60, S. 166 f. Chapman fügt eine genaue Statistik der Anzahl bewohnter und unbewohnter europäischer und chinesischer Häuser im englischen und amerikanischen settlement für das Jahr 1866/67 bei (ebd., S. 173): nur 354 europäische Häuser kamen auf 11.774 chinesische; aber viele chinesische waren in europäischem Besitz, denn „Chinamen cannot own property in the settlement; if they buy houses, it is in the name of some European.“ 54 Das war den Agenten vor Ort bewusst: „The buildings in Shanghai are very much more substantially built than those in Japan. The Native houses are built of wooden framework filled in with bricks and are very easily pulled down in the event of fire.“ LMA CLC/B/ 192/019/31522/60, S. 160. 442 Cornel Zwierlein wurden die Konkurrenten zunehmend unruhig und verlangten die Einhaltung einer klaren Demarkation – dies alles, obwohl längst deutlich geworden war, dass auch die aus Teak-Holz erbauten Häuser der Einheimischen mit ihrer Verkleidung aus schwer brennbarem chunam-Mörtel kaum brandgefährdet waren, auch wegen der langen Monsun-Perioden. Die native/European-Grenze wurde hier trotz ihrer ökonomischen Dysfunktionalität als Entscheidungskriterium noch einmal genau gezogen und kartographisch festgehalten.55 In Istanbul war die Dysfunktionalität der ethnischen Segregationsgrenze als Versicherbarkeitskriterium in den 1860er/70er Jahren ebenso gegeben, allerdings bei genau umgekehrter brandökologischer Realität: auch das am besten situierte Viertel der Stadt, der VI. Bezirk von Pera und Galata, der in den Tanzimat-Reformen als Vorzeigeort von europäisierender Stadtplanung und -gestaltung ausgewählt worden war, brannte in kleineren Feuern und Großbränden ständig nieder, und zwar unterschiedslos im europäischen wie im muslimisch besiedelten Teil. Alle orientalistisch geprägte Wahrnehmung der europäischen Baubestands-Analytiker ging hier fehl, die Versicherungen wurden beim Großbrand 1870 gerade im Kern ihres vermeintlich sorgfältigst ausgewählten europäischen Stein-Baubestands getroffen. Hier war die entlang der ethnischen Segregation (muslimische, jüdische, griechische, armenische, europäische Häuser und Viertel) vorgenommene Inklusion/Exklusion in das Versicherungsgeschäft, deren Grundlage eine vom Agenten der Zentrale in einem hochaufgelösten Stadtplan mit Tusche vorgenommene Rot-Markierung gewesen war, in umgekehrter Richtung sinnlos wie im indischen und abgeschwächt im chinesischen Fall.56 Inzident und an diesem Fallbeispiel entwickelt zeigen diese Beobachtungen übrigens, dass nicht, wie bei Lionel Frost, hinsichtlich des Umgangs mit dem Brandproblem von einem asiatischen Stadttypus die Rede sein kann, der ganz Asien von Istanbul bis Tokyo umfassen würde, sondern dass hier schon in basaler materieller Hinsicht erhebliche Unterschiede bestanden.57 Für die vorliegende Fragestellung zeigt sich hingegen, dass die rationalplanerischen, schließlich sogar kartographischen Versuche der genauen Festlegung der Versicherbarkeitsgrenze durch die kolonialen Unternehmen eigentlich zu dysfunktionalen Ergebnissen führten, obwohl sie von „Experten“ vorgenommen wurden, die auf langjährige, ja institutionell hundertjährige Expertise zurückgreifen konnten. Letztlich ergab sich nur eine Reifizierung 55 Vgl. die Abbildung bei Cornel Zwierlein, Insurances as Part of Human Security, their Timescapes, and Spatiality, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 253 – 274, hier S. 264 – 266. 56 Vgl. hierzu Cornel Zwierlein, The Burning of a Modern City? Istanbul as Perceived by the Agents of the Sun Fire Office, 1865 – 1870, in: Greg Bankoff u. a. (Hg.), Flammable Cities. Fire, Urban Environment, and Culture in History, Madison 2012, S. 82 – 102. 57 Lionel E. Frost, Coping in Their Own Way. Asian Cities and the Problem of Fires, in: Urban History 24. 1997, S. 5 – 16. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 443 dessen, was auch vorher schon gegeben war, die jeweilige European/nonEuropean-Unterscheidung. Das Modellieren und Operieren mit dieser Grenze führte allerdings teilweise zu Praktiken der Unterlaufung ihrer selbst und vor allem zeigte sich immer wieder, dass die Brandgefahr sich nicht an der ethnischen, nicht einmal an der Bautypus-Grenze orientierte. Obwohl wir hier die zunächst beeindruckende Bewegung globalen Ausgreifens in einem Unternehmen wie der Sun beobachten können, ist diese Bewegung zunächst nur auf ein Wiederfinden der Europäer im Europäischen gerichtet. Der peniblen Zonierung des Versicherbaren liegt ja die paradoxe Heuristik zugrunde, dass Sicherheit nur dort produziert werden soll, wo schon (vermeintlich) mehr Sicherheit ist. Diese Logik der „Stärkung des Starken“, bei der seltenen, nur langsam im Kollateraleffekt erfolgten Hereinnahme Einheimischer oder bei konkurrierender Gründung einheimischer Versicherungen, die dann oft sehr rasch den Markt fast monopolisierten, dürfte aber der generellen wirtschaftlichen Expansionslogik gerade solcher Dienstleistungselemente entsprechen. Die Besonderheit der Versicherbarkeitsgrenze im Hochkolonialismus scheint aber ihre spatiale Fixierung zu sein. Es mag auch an der Entfernung Agentur/Zentrale und daran gelegen haben, dass hier teilweise völlig neue, fremde Städte und Märkte erschlossen wurden; aber das Drängen auf kartographische Repräsentation der Versicherbarkeitsgrenze, räumliche Zonierung als Technik zur Schaffung von „Sicherheits-Ghettos“, ist ein Aspekt, der in der Versicherungspraxis und -theorie des 17./18. Jahrhunderts kaum vorkommt – teilweise freilich, weil die territorialen beziehungsweise städtischen Bezugsräume damals vorgegeben waren. In dieser (wirtschaftlich teilweise sinnlosen) Wiederholung der bestehenden Segregation von Kolonisierern und Kolonisierten als Sicherheitsgrenze war natürlich auch die Vorstellung einer gewissen Unterscheidung von Tradition und Moderne eingelassen – etwa wenn die osmanischen Löschmannschaften und -techniken in Istanbul 1870 mit dem verglichen werden, was man in England vor dem großen Londoner Brand 1666 zu Verfügung hatte. Die Rhetorik der Unterscheidung bedient sich aber viel stärker der Orts- und Ethnien-Merkmale als einer Epochenrhetorik. Wenn in den 1960er Jahren in den USA Überschwemmungs- und Straßengewalt-Versicherungen sowie staatliche Rückversicherungsprogramme auf die Risiko-Zonierung als Mittel der operativen Orientierung für Inklusions/Exklusions-Entscheidungen zurückgriffen und dabei – mitunter vorsatzlos – black/white-Segregationen in den Städten nachvollzogen und so verstärkten, wurde hier offensichtlich unbewusst ein koloniales Schema weiter bedient.58 Einmal mehr hat diese Versicherbarkeitsgrenze nichts mit dem zu tun, was Beck seit 1991 als indikatorischen „Grenzbaum“ zwischen den Gefahren der Ersten und den erweiterten Unsicherheiten der 58 Vgl. hierzu Uwe Lübken, Governing Floods and Riots. Insurance, Risk, and Racism in the Postwar United States, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 275 – 288. 444 Cornel Zwierlein Zweiten Moderne feststellen zu können meinte. Sehr wohl aber – und hier muss man die Versicherbarkeitshistorisierung eben ganz gelöst von den Beck’schen Problemstellungen sehen – lässt sich beim Studium dieser spatialisierenden Versicherbarkeitsheuristik zeigen, wie und dass die neue kontrafaktische Erwartungshaltung der Aufklärung seit etwa 1680/1700, (Natur-)Katastrophen seien nicht Normalität, sondern Ausnahme, bei ihrem Transfer im Zuge der Globalisierungsprozesse zunächst zur (Re-)Produktion von Inseln kolonialer europäischer Sicherheitsgesellschaften in den Handelsund Hafenstädten führte. Innerhalb dieser Inseln gilt dann grundsätzlich die gleiche Zeithorizont-Kombination als Wahrnehmungsmuster auf Seiten der Akteure im kolonialen Wirtschaftssystem wie für die Sattelzeit dargestellt, allerdings bringt die quer dazu stehende spatiale native/European-Grenze als Globalisierungseffekt eine Irritation auch der Zeithorizonte mit sich: die spatiale Grenz-Aushandlung markiert auch, dass und wie der Machbarkeitsund Planungshorizont als begrenzt gesehen wurde. So kann man diese Grenzscheide schon als Ankündigung einer neuen Schließung des gesamtgesellschaftlichen „timescape“ sehen, weil sich in der native/European-Konfrontation eine Komplexitätszunahme von Planung und Planbarkeit andeutet, die auch einen Verlust an Vertrauen in die dem Planen zugrundegelegte „Geöffnetheit“ des gesamtgesellschaftlichen Zukunftshorizonts mit sich bringt. Denn sie hält stets präsent, dass das Referenzsubjekt „Gesamtgesellschaft“ eigentlich nicht existiert. IV. Versicherbarkeitsgrenzen und Apokalyptikhorizonte Versicherbarkeit kann man in der europäischen, jedenfalls der deutschen Aufklärung also als Grenze der Planbarkeit, als Grenze der Machbarkeitsvorstellung und damit als Grenze des diesseitigen neuzeitlichen Zukunftshorizonts der Verwaltungs- und Wirtschaftspraktiker hinsichtlich der Produktion von Wert-Sicherheit verstehen. Für den britischen Bereich lässt sich durchaus ähnliches sagen, auch wenn die Form des Versicherns eine ganz andere war. Im hochkolonialen setting erscheint diese dominant zeit- und zukunftsbezogene Füllung von Versicherbarkeit durch eine dominant spatiale ZonierungsGrenzlogik ersetzt. Vor dem Aufkommen von Versicherung in dieser insbesondere institutionell fundierten Form kann man von einer Versicherbarkeitsgrenze im engeren Sinne kaum sprechen. Zwar hatte auch jeder einzelne Kaufmann im Spätmittelalter eine Vorstellung davon, bis zu welcher unsichtbaren Grenze er Risiken zeichnete, aber wir können hieraus mangels Institutionalisierung wenig hinsichtlich eines gesellschaftlichen Gesamtbezugs aussagen. Noch weiter, vor das Aufkommen der Prämienversicherung zurückgehend, kann man den Begriff der Versicherbarkeitsgrenze nicht mehr anwenden, auch wenn man aus der Höhe von geforderten Einlagen, etwa in die Laden von Gilden und Genossenschaften, ein implizites Bewusstsein für die ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 445 maximale Schadenstragfähigkeit solcher vormoderner Institutionen ablesen kann.59 Wenn also mit der zunächst speziellen, dann aber immer mehr gesellschaftliche Bereiche erfassenden Versicherungspraxis, die hier nur hinsichtlich der grundständigsten Versicherung vor Naturgefahren in den Blick genommen wurde, die Entwicklung eines Horizonts der Abschätzung von Sicherheitsmöglichkeit und Risikoreichweite greifbar wird, so ist dies ein auf das aktuelle Handeln und Planen der Verwalter bezogener, innerweltlicher Horizont. Dieser ist aber im größeren Vorstellungsrahmen der Gesamtgesellschaft verortet, der wiederum andere Möglichkeitsgrenzen aufweist. Als hier ausreichende Minimaldefinition soll im Folgenden unter einem Apokalypsehorizont die in einer gegebenen gesellschaftlichen Kommunikation verfügbare und (mehr oder weniger) gängige Vorstellung gemeint sein, dass der Untergang des größtmöglichen Kollektivsubjekts Menschheit/bewohnte Welt aufgrund des Eintritts bestimmter Handlungen oder Ereignisse als in naher Zukunft denkbar erachtet wird; dies formt die Struktur des Wahrnehmungshorizonts im Sinne eines „timescape“. Um an dieser Stelle den oben nur kurz eingeführten Begriff mit Barbara Adam weiter zu präzisieren, ist für einen solchen „timescape“ das implizite Bewusstsein einer als überschüssig angenommenen Wirkwelt typisch, die in der Merkwelt zwar nicht vorkommt, aber von der angenommen wird, dass sie entweder schon auf das eigene Umfeld einwirkt, oder dass sie es (gegebenenfalls in plötzlicher Form) bald tun wird. Dies gilt genauso für das Nahen des Jüngsten Gerichts in einem vormodernreligiösen Kontext wie für den Klimawandel in der Gegenwart: sie kommen in der sinnlich erfassbaren Merkwelt nicht vor, werden aber als in der Wirkwelt präsent angenommen und strukturieren so den Vorstellungs- und Wahrnehmungshorizont.60 Erst die Kombination aus diesem Wahrnehmungsrahmen und der engeren, innerweltlichen Versicherbarkeitsgrenze kann als Epochenindikator dienen. Für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit gibt es eine hoch differenzierte Forschung zur Apokalyptik als Motiv und Diskurselement, das gerade in Krisenzeiten immer wieder bedient wird, es sei nur an die jüngeren Studien zum apokalyptischen Horizont protestantischen wie, abgeschwächter, auch katholischen Denkens und Fühlens erinnert, der in vielen solchen Krisenmo59 Zu den verschiedenen genossenschaftlichen Vorformen von Versicherung vgl. in der Gesamtschau neo-gierkianisch zuletzt Dieter Schewe, Geschichte der sozialen und privaten Versicherungen im Mittelalter in den Gilden Europas, Berlin 2000, dazu Zwierlein, Der gezähmte Prometheus, S. 25 f. 60 Vgl. hierzu Barbara Adam, Timescapes of Modernity. The Environment and Invisible Hazards, London 1998, bes. S. 34 f., S. 57 – 59 u. S. 74 f.: Adam übernahm die Merkwelt/ Wirkwelt-Unterscheidung vom frühen Ökologen Jakob v. Uexküll, die in der Verhaltensforschung und Biologie weitgehend ad acta gelegt ist, die aber für die hier gemeinte Unterscheidung undefiniert gebraucht werden kann. 446 Cornel Zwierlein menten greifbar wird, etwa während der frühen Reformation in den SintflutProphezeiungen 1524, in Thomas Müntzers Reden, bei den Belagerungen Magdeburgs 1551/52 und 1631, in den westeuropäischen Religionskriegen und im Dreißigjährigen Krieg. Speziell die lutherische Geschichtssicht ist grundsätzlich als apokalyptisch gekennzeichnet worden.61 Jenseits dieses engeren Apokalypsebegriffs, der einfordert, dass man in entsprechenden Texten und Diskursen genau ausmacht, welche Zitate (der Bücher Daniel, der Johannesapokalypse, des zweiten Briefs an die Thessaloniker) genau zur Anwendung 61 Vgl. hier nur einige exemplarisch genannte Titel: Johannes Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001; ders., 1000. Ritual und Vernunft. Traum und Pendel des Thietmar von Merseburg, in: Lothar Gall (Hg.), Das Jahrtausend im Spiegel der Jahrhundertwenden, Frankfurt 1999, S. 15 – 63. Zum täuferischen Endzeitbewusstsein vgl. Hans-Jürgen Goertz, Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen, Göttingen 2007; John D. Roth u. James M. Stayer (Hg.), Anabaptism and Spiritualism, 1521 – 1700, Leiden 2007; Gary K. Waite, Apocalyptical Terrorists or a Figment of Governmental Paranoia? Reevaluating Anabaptist Violence in the Netherlands and Holy Roman Empire, 1535 – 1570, in: Anselm Schubert u. a. (Hg.), Grenzen des Täufertums, Gütersloh 2009, S. 105 – 125; Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften, 1488 – 1528, Tübingen 1990; Sarah Slattery, Astrologie, Wunderzeichen und Propaganda. Die Flugschriften des Humanisten Joseph Grünpeck, in: Klaus Bergdolt u. Walther Ludwig (Hg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, S. 329 – 347; Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Hergotts Kanzlei“ (1548 – 1551/2), Tübingen 2003, insbesondere das Schlusskapitel zum apokalyptischen Deutungshorizont der Magdeburger ; ähnlich Anja Moritz, Interim und Apokalypse. Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik, 1548 – 1551/52, Tübingen 2009; zur calvinistischen Distanzierung vom Apokalypsediskurs vgl. Arno Seifert, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschiche. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus, Köln 1990 und als ein konkretes Beispiel Cornel Zwierlein, Heidelberg und „der Westen“ um 1600, in: Christoph Strohm (Hg.), Philosophie, Jurisprudenz und Theologie in Heidelberg an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 27 – 92, hier S. 56 – 61; Denis Crouzet, Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (vers 1525 – vers 1610), 2 Bde., Paris 1990; Markus Meumann, The Experience of Violence and the Expectation of the End of the World in Seventeenth-Century Europe, in: Joseph Canning u. a. (Hg.), Power, Violence, and Mass Death in Promodern and Modern Times, Aldershot 2004, S. 141 – 159. Zur Konstitutivität apokalyptischen Denkens für das Luthertum vgl. Volker Leppin, Antichrist und jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum, 1548 – 1618, Gütersloh 1999 sowie zu apokalyptischen Horizonten der lutherischen Geschichtsschreibung Matthias Pohig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung, 1548 – 1617, Tübingen 2007. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 447 kommen, geht es mir hier um einen viel weiteren und generellen Begriff des Apokalypsehorizonts, der nur das Kriterium zum Inhalt hat, ob dem gesellschaftlichen Diskurs ganz grundsätzlich ein Erwartungshorizont eingeschrieben ist, dass die Welt als Ganze in naher oder unmittelbarer Zukunft untergehen könnte. Und dies trifft grundsätzlich auf Mittelalter und konfessionelles Zeitalter, ja durchaus – schicht-, diskurs- und regionsabhängig – auch noch auf die gesamte Frühe Neuzeit vollumfänglich zu. Versicherung und die innerweltliche Versicherbarkeitsgrenze konturieren sich also vor diesem allgemeineren Hintergrund und Vorstellungshorizont seit Ende des 17. Jahrhunderts. In den grundlegenden, aber sehr allgemein gehaltenen Skizzen Kosellecks ist für diese Kategorie immer von der Ablösung eines älteren apokalyptischen Weltbilds durch das einer offenen Zukunft die Rede.62 Wie eingangs betont ist es aber wichtig, die Koexistenz solcher Zeithorizonte zu berücksichtigen: die planbare, bearbeitbare „offene“ Zukunft entsteht zunächst nur in bestimmten kommunikativen und funktionalen Bereichszusammenhängen, wie hier im Bereich institutionalisierter pekuniärer Schadensnachsorge und Wertversicherung und ist eingebettet in einen latenten oder expliziten apokalyptischen Gesamtbewusstseinsrahmen. Man könnte dies an der Figur des ersten bedeutenden Praktikers und Theoretikers institutioneller Versicherung illustrieren, Nicholas Barbon, der selbst aus einer Familie millenaristischer Prägung stammte (der Vater war Prediger der Fifth-Monarchy Men) und der in seinen schon auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftstheorien – was zu diesem Zeitpunkt noch ganz ungewöhnlich ist – gleichsam ein Säkularisat dieser teleologischen, im religiösen Fall aber immer noch apokalyptischen Zeitkonzeption herstellt.63 In der Vollmoderne scheint hingegen zumindest im engeren Funktions- und Tätigkeitsumfeld von Wirtschaft und Staatlichkeit die Öffnung der Zukunft für das Kollektivsubjekt Menschheit als Ganzes universalisiert. Zwar mag man auch für das 19. Jahrhundert (wie im Fin de Sicle) apokalyptische Diskurse identifizieren,64 man kann aber wohl mit Fug behaupten, dass diese Apokalypsekommunikation eher auf der Ebene der gepflegten Semantik stattfand und dass sie weniger die Struktur des Zeit- und Wahrnehmungshorizonts im Sinne einer im alltäglichen Handeln bewussten „timescape“ beschreibt. Im Bewusstsein des ganz überwiegenden Teils westlicher Akteure von Moderni62 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S. 131 – 201. 63 Andrea Finkelstein, Nicholas Barbon and the Quality of Infinity, in: History of Political Economy 32. 2000, S. 83 – 102; Zwierlein, Der gezähmte Prometheus, S. 211 f. 64 Exemplarisch nur einige Titel zum deutschen Sprachraum: Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, bes. S. 152 – 161; Arthur Herman, Propheten des Niedergangs. Der Endzeitmythos im westlichen Denken, Berlin 1998, S. 41 – 181; Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im Kaiserreich, Stuttgart 1989. 448 Cornel Zwierlein sierung und Fortschritt65 in Wirtschaft, Politik, Städtebau oder Staatsbildung im nationalen Rahmen dürfte eher eine Kongruenz von angenommener Wirkwelt und Merkwelt vorgeherrscht haben. Apokalyptik, wenn sie diskursiv vorkam, hatte im Wesentlichen nichts mit den Bereichen wirtschaftlicher und politischer Planung oder Organisation zu tun. Die spatial und gegebenenfalls ethnisch segregativ fokussierte Versicherbarkeitsgrenze an den Rändern dieser Konstellation westlicher Moderne im kolonialen Bereich ist vor diesem Hintergrund eher ein Symptom der expansiven Globalisierungsbewegung; der Zusammenhang zwischen den allgemeineren prägenden und verfügbaren Zeit- und Zukunftshorizonten und dem auf die Operationalität des Versicherns bezogenen spezielleren Planungshorizont ist entzerrt. Das scheint schon auf die nächste Stufe vorauszuweisen, denn diese spatialen Zonierungen lassen das Moment der Zeitlichkeit und des Zukunftsbezugs von Versicherung in den Hintergrund treten. In der Zeit nach 1945 hingegen scheint mit Atomangst,66 Angst vor Ressourcenknappheits- und -erschöpfungs67 sowie zuletzt vor allem mit der Erwart- 65 Vgl. die zum Verzeitlichungs-/Zukunftsöffnungstheorem passende Ausarbeitung Reinhart Koselleck, Art. Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, hg. v. Otto Brunner u. a., Stuttgart 1975, S. 363 – 423 und ders., „Fortschritt“ und „Niedergang“. Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt 2006, S. 159 – 182. 66 Zum Atomangst-Diskurs vgl. nur Frank Biess, „Everybody Has a Chance“. Nuclear Angst, Civil Defence, and the History of Emotions in Postwar West-Germany, in: German History 27. 2009, S. 215 – 243; Bernd Greiner u. a. (Hg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009. Zur freilich lokaleren Angst vor Atomkraftwerk-Unfällen vgl. die noch wenig reiche historisch-wissenschaftliche Literatur zur Tschernobyl-Rezeption und Diskussion, etwa das Sonderheft der Zeitschrift Osteuropa 2006 sowie Karena Kalmbach, Tschernobyl und Frankreich. Die Debatte um die Auswirkungen des Reaktorunfalls im Kontext der französischen Atompolitik und Elitenkultur, Frankfurt 2011; Melanie Arndt, Verunsicherung vor und nach der Katastrophe. Von der AntiAKW-Bewegung zum Engagement für die „Tschernobyl-Kinder“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7. 2010, S. 240 – 258. 67 Vgl. nur exemplarisch den bekanntesten Text Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972; dazu Kai F. Hünemörder, Die umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in: Frank Uekötter u. Jens Hohensee (Hg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004, S. 78 – 97 und Patrick Kupper, Weltuntergangs-Visionen aus dem Computer. Zur Geschichte der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, in: ebd., S. 98 – 111; Friedemann Hahn, Von Unsinn bis Untergang. Rezeption des Club of Rome und Grenzen des Wachstums in der Bundesrepublik der frühen 1970er Jahre, Diss. Freiburg 2006, http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2722/pdf/hahn_friedemann_2006_von_unsinn_bis_untergang.pdf. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 449 barkeitsvorstellung des totalen Klimakollaps68 wieder ein Auseinandertreten von Wirk- und Merkwelt in den „timescapes“ der Moderne erfolgt zu sein. All diese Gefahren sind zwar im Alltag nicht sichtbar und spürbar, aber der säkular-apokalyptische Horizont einer Komplettauslöschung der Menschheit, oder jedenfalls des „Endes der Welt, wie wir sie kannten“69 wird als gegebene Möglichkeit angenommen. Und diese unsichtbare Wirkwelt-Annahme greift nun auch wieder in die Handlungs- und Wahrnehmungsebenen in allen Gesellschaftsbereichen, von lokalen Nachhaltigkeitsagenden bis zu globalen Klimakonferenzen. Dies ist ein Phänomen, das etwa bei Koselleck nie recht reflektiert wurde, weil er sich primär um die Ablösung der – in seiner Terminologie – „geschlossenen Zukunft“ der Vormoderne durch die „offene Zukunft“ der Moderne gekümmert hat.70 In der Zeitsoziologie bei Helga Nowotny, Barbara Adam und auch bei Hartmut Rosa hat sich aber inzwischen eine Art Konsens herausgebildet, dass in der Gegenwart, die man wohl in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ansetzen muss, das Bewusstsein einer Entzeitlichung und Entschleunigung eintritt, dass die geöffnete Zukunft wieder verloren geht beziehungsweise einer eher „erstreckten Gegenwart“ weicht.71 Vor diesem Hintergrund hat historisch wie wohl auch zeit- und allgemeinsoziologisch der epochale Dreischritt Vormoderne, Moderne und dann, unter welcher genauen Bezeichnung sei einmal dahingestellt, Post-, Spät- oder Zweite Moderne durchaus Sinn.72 68 Da zu diesem Thema noch wenig im engeren Sinne historisierende Literatur vorliegt, sei stellvertretend für die Unzahl aktueller sozialwissenschaftlicher Beiträge auf Anthony Giddens, The Politics of Climate Change, Cambridge 2009 verwiesen. 69 So etwa Claus Leggewie u. Harald Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt 2009. 70 Auch bei Hölscher, Entdeckung der Zukunft, S. 229 nur vorsichtig angedeutet. 71 Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt 1989, bes. S. 47 – 76; Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt 2005, S. 460 – 490; Barbara Adam, Time and Social Theory, Philadelphia 1990, S. 138 – 142 und Gerda Reith, Uncertain Times. The Notion of „Risk“ and the Development of Modernity, in: Time and Society 13. 2004, S. 383 – 402 bes. S. 386 – 393. Von dieser Diagnose ist die parallel bestehende Tendenz in der Ethik, im Rückgriff auf Jonas’ Zukunftsethik die Forderung nach einer gedachten Zukunftsschließung, einer „Projektzeit“, in die die Menschheit einzuspannen sei, zu trennen, wenngleich sich ihre Evidenz wohl aus derselben Wahrnehmung speist, wie sie bei Nowotny u. a. formuliert ist: Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1979; Jean-Pierre Dupuy, Pour un catastrophisme clair. Quand l’impossible est certain, Paris 2002; ders., petite mtaphysique des tsunamis, Paris 2005; ders., retour de Tchernobyl. Journal d’un homme en colre, Paris 2006. 72 Auf ganz allgemeine Kritik an Epochenbildungen sei hier verzichtet; natürlich kann man, etwa aus der Perspektive der Historischen Anthropologie und der Area Studies, die Sinnhaftigkeit der Setzung von und die Frage nach Epochengrenzen als Reifizierung 450 Cornel Zwierlein Das Kriterium der Versicherbarkeit durch privaten Versicherungsschutz im oben ausgeführten Beck’schen Sinne ist hingegen weder hinreichend historisiert und kontextualisiert noch tauglich, auch nur die Epochenunterscheidung zwischen Erster und Zweiter Moderne zu gewährleisten. Zwar ist es sehr wohl fruchtbar danach zu fragen, welche Rolle Versichern auch in der Gegenwart einnimmt und zwar gerade mit Bezug auf jene Gefahren, die den Charakter der angenommenen Wirkwelt ausmachen. Versicherer und Rückversicherer sind seit dem 18. Jahrhundert die professionellen seriellen Katastrophenbeobachter schlechthin73 – und so fungieren sie auch gegenwärtig in den ständig kommunizierten Berichten über die Statistik der Naturkatastrophenschäden, etwa wenn 2011 wegen des Erdbebens in Japan mit 380 Milliarden US-Dollar zum teuersten Jahr hinsichtlich Naturkatastrophen in der bisherigen Geschichte wurde. Außer im Erdbebenfall wird auf den Klimawandel als für den generellen Frequenz- und Schadensanstieg im Naturkatastrophenbereich sehr wohl verantwortlichen (obgleich auch durch die Versicherungen nicht in seiner Kausalität klar bestimmbaren) Faktor hingewiesen.74 Ein intellektueller Weggefährte Becks, Anthony Giddens, betrachtet entsprechend die Versicherbarkeitsgrenze nicht als analytisches Tool, sondern behauptet, dass in Zeiten des Klimawandels alle überkommenen Modi der Versicherungskalkulation nicht mehr griffen und fordert aktiv, dass „[n]ew thinking will be needed to push back the boundaries of insurability“.75 Natürlich werden nie alle Schäden bei solchen Großkatastrophen durch Versicherungen beglichen. Auch bei Atomkraftwerken werden immer nur Nebenschäden wie Netzausfallkosten oder simple Beschädigungen von Maihrer selbst dekonstruieren. Ein wenig in diese Richtung argumentiert der Beitrag von Steffen Patzold in diesem Heft. Aus der Perspektive von Entwicklungsgeschichten und einer immer noch legitimen longue dure-Betrachtung hingegen stellt sich die Frage weiterhin. 73 Etwa 1906 bei der für die globale Versicherungsbranche zentralen Verarbeitung der Erdbeben- und Feuerkatastrophe von San Francisco. Vgl. dazu Tilmann J. Röder, Rechtsbildung im wirtschaftlichen „Weltverkehr“. Das Erdbeben von San Francisco und die internationale Standardisierung von Vertragsbedingungen (1871 – 1914), Frankfurt 2006; oder 2005 nach Katrina, als die Diskussion der Versicherer sich darum drehte, ob der Schaden auf den Hurrikan oder auf den mangelnden Dammbau zurückzuführen sei, vgl. Ted Steinberg, Acts of God. The Unnatural History of Natural Disaster in America, Oxford 20062, S. 197 – 211. 74 Vgl. etwa die Quellen des Berichts UN-Habitat, Global Report on Human Settlements 2007. Enhancing Urban Safety and Security, London 2007. Die einzige konkurrenzfähige nicht versicherungsbasierte Katastrophendatenbank ist an der Universität Leuven angesiedelt, vgl. http://www.emdat.be/ und Verlaufsübersicht 1900 – 2005 http:// www.unisdr.org/disaster-statistics/pdf/isdr-disaster-statistics-occurrence.pdf. Zur Pressemeldung von MunichRe zur Bilanz 2011 http://www.munichre.com/de/media_relations/press_releases/2012/2012_01_04_press_release.aspx. 75 Giddens, Politics of Climate Change, S. 174. ipabo_66.249.66.96 Grenzen der Versicherbarkeit 451 schinen und Gebäuden versichert in einer Kombination verschiedener Praktiken – Zonierung von „heißen“ und normalen Orten innerhalb des Kraftwerks, Pooling von Risiken in internationalen Versicherungszusammenschlüssen. Humanitäre Katastrophenfolgen eines Großschadens werden nie versichert. Gleichwohl kann man in den ensprechenden Akten der Versicherer die Einstreuung des apokalyptischen Diskurses der Anti-AKW-Bewegungen und Umweltmahner vorfinden: die Akteure in den Unternehmen nahmen dies stets aufmerksam wahr, wurden immer wieder auch in politischen Konflikten sowohl von Atomkraftwerkbetreibern wie Atomkraftgegnern als Experten zur Risikokalkulation angerufen.76 Insoweit teilen Atomplaner, Versicherer, Atomkraftgegner, Klima-Praktiker und Klimawandel-Aktionisten unter ideologisch verschiedenen Vorzeichen den gleichen Apokalypsehorizont, vor dessen Hintergrund sich der ältere operative Planungshorizont von Versichern nun wieder als begrenzt und beschränkt wirksamer Ausschnittshorizont abhebt. Diese in die Gegenwart ausgreifenden Überlegungen sind nötig, um zumindest grob den nötigen Dreischritt der Epochenabfolge abzuschreiten, der im Narrativ der Risikosoziologie vorgegeben ist. Im Unterschied zur letzteren liegen für den Historiker die Akzente freilich gerade auf den historischen Epochen der Sattelzeit und Vollmoderne. Prämienversicherungen sind also durchaus ein sehr spezieller Typus von Sicherheitsproduktion, der, als quasi neuzeitliches Element, im Spätmittelalter aufkommt, ab der Frühaufklärung institutionalisiert wird, und keineswegs neben anderen Formen von Sicherheitsproduktion (Sicherheit durch Policey/ Polizierung, alle Formen innerer und äußerer Sicherheit im weitesten Sinne) überbewertet werden darf. In seiner Spezialität, die Wertewelt von Natur- und anderen Katastropheneinwirkungen abzukoppeln, ist das Versicherungsinstrument aber besonders gut fassbar und kann Indikatorfunktion für sicherheitshistorische Entwicklungen beanspruchen. Die vorgeschlagene Trennung zweier historisierbarer Zeithorizonte, dem operativen Zeithorizont von Versicherern, der in der Versicherbarkeitsgrenze (im engeren, nicht Beck’schen Sinne) eingefangen ist, auf der einen, der gesamtgesellschaftlichen „timescapes“ und hier spezieller der Apokalyptikhorizonte auf der anderen Seite, führt durchaus zur Bestätigung und Füllung des groben epochalen Dreischritts Vormoderne, Vollmoderne und Nach- oder Zweite Moderne für diesen Bereich, was, wie gezeigt wurde, nicht nur mit der Risikosziologie, sondern auch mit der Zeitsoziologie konform geht. Versicherbarkeit wird so aber zugleich allgemeiner und präziser als ein Epochenindikator gefasst. 76 Zur Geschichte der Atomkraftwerk-Versicherung fehlt jede tiefergehende Arbeit, vgl. vorerst Christoph J. Wehner, Risiko und Routine. Die deutsche Versicherungswirtschaft und die Herausforderung der Kernenergie, 1955 – 1979, MA-Arbeit Universität Bochum 2010. Wehner arbeitet inzwischen im Rahmen eines DFG-Projekts bei Constantin Goschler an einer Dissertation zu dieser Thematik. 452 Cornel Zwierlein Für eine allgemeinere Sicherheitsgeschichte jenseits von Versicherung ließe sich von den Ergebnissen her dahingehend abstrahieren und generalisieren, dass man für Instrumente der Sicherheitsproduktion zum einen wohl immer spezifische Inklusions/Exklusions-Mechanismen und -Strategien bezüglich derer, die von der gebotenen Sicherheit profitieren sollen, wird festlegen und historisieren müssen. Zum anderen ist stets die Relation der konkreten institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen zu den Zeit- und Erwartungshorizonten, die im konkreten Wirkungszusammenhang wie auf den gesellschaftlichen Meso- und Makroebenen verfügbar sind, zu untersuchen. Sicherheit ist nicht schlicht zukunfts- und gegenwartsbezogen, wie es Kaufmann in einem allgemein-systematischen Sinne ausführte, sondern es kommt auf eine genauere Charakteristik der Zeithorizonte an, in denen die Sicherheitsproduzenten und -adressaten operieren. Nur so ist das Verhältnis zwischen Grenzen der Sicherheit und Epochengrenzen zu bestimmen. Prof. Dr. Cornel Zwierlein, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Geschichtswissenschaft, R. GA 4/145, Universitätsstr. 150, D-44801 Bochum E-Mail: [email protected] ipabo_66.249.66.96 Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz? von Eckart Conze Abstract: The article explores the potentials of the concept of “Securitization” for historical research. Introduced as an analytical instrument by political scientists (the Copenhagen School of International Relations), the concept of Securitization provides answers on how security problems emerge, and why societies perceive certain issues as relevant in terms of security. Since ideas and perceptions of security (and insecurity) change over time, Securitization can be applied not only to current developments, but also to historical processes. Concentrating on three possible fields of research, the author underlines the use of the concept in a trans-epochal perspective: a) the role of Securitization for the evolution and the legitimation of the state, b) Securitization as a central element of political communication, and c) the relation between Securitization and mechanisms of social integration and identity formation. I. Sicherheitsbegriff und Sicherheitsverständnis Als im Jahre 2002 die rot-grüne Koalition wiedergewählt wurde, stand die erste Regierungserklärung des im Amt bestätigten Bundeskanzlers unter der Überschrift „Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung“. Doch der eigentliche Zentralbegriff des von Gerhard Schröder präsentierten Regierungsprogramms war nicht „Gerechtigkeit“, sondern „Sicherheit“. Seine Regierung verstehe „Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht“, lautete ein Kernsatz der Erklärung, und der Bundeskanzler vertrat sodann einen, wie er es nannte, „erweiterten Sicherheitsbegriff“, der deutlich über „die Sicherheit von Leib und Leben vor Krieg und Kriminalität“ hinausgehe.1 Fünf Jahre später, 2007, verabschiedete die CDU unter der Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel ein neues Grundsatzprogramm unter der Überschrift „Freiheit und Sicherheit“. Die CDU stehe für eine Gesellschaft, heißt es dort, in der angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ein neues Verständnis von Sicherheit notwendig sei: Es umfasst gleichermaßen die innere und äußere Sicherheit in einer Welt mit immer neuen Bedrohungen. Es umfasst aber auch die soziale Sicherheit unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft und der demografischen Veränderungen sowie die des Zusam1 Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2002: „Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung schaffen. Für eine Partnerschaft in Verantwortung“, abgedruckt in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 85 – 1, 29. 10. 2002. Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 453 – 467 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012 ISSN 0340-613X 454 Eckart Conze menhalts in unserer Gesellschaft und die Sicherheit, auch in Zukunft in einer lebenswerten Umwelt leben zu können, die jede Generation für die nächste bewahrt.2 Solche Programmaussagen spiegeln zum einen eine deutliche Erweiterung des Sicherheitsbegriffs. Diese setzte in zeithistorischer Perspektive in den 1970er Jahren ein und war eine internationale Entwicklung, die etwa zeitgleich in der westlich-industriellen Welt und ihren Gesellschaften ablief. Die Debatte über ein erweitertes Sicherheitsverständnis hängt ursächlich zusammen mit der internationalen Krisenerfahrung der Mitte der 1970er Jahre und dem Ende des ökonomischen Booms der Nachkriegsjahrzehnte, jenes „Goldenen Zeitalters“ der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten wie es Eric Hobsbawm genannt hat.3 Die Rede von der erweiterten Sicherheit verweist aber zum anderen auch auf einen Bedeutungsgewinn des Wertbegriffs „Sicherheit“ vor dem Hintergrund eines sich verändernden gesellschaftlichen Sicherheitsbewusstseins.4 Beide Entwicklungen – Erweiterung des Sicherheitsbegriffs und Veränderung des Sicherheitsbewusstseins – sind aufeinander bezogen und verstärkten sich gegenseitig. Nach 1990 kam es zu einem weiteren Schub in der öffentlichen Debatte über neue Unsicherheiten und, damit verbunden, einen erweiterten Sicherheitsbegriff, diesmal vor allem gespeist aus dem Wegfall der militärisch bestimmten Systemlogik der internationalen Ordnung des Ost-West-Konflikts. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht hat Christopher Daase verschiedene Teildimensionen des „erweiterten“ Sicherheitsbegriffs identifiziert und systematisiert. Die Erweiterung vollziehe sich in der Sachdimension von der militärischen zur humanitären Sicherheit; in der Raumdimension von der nationalen zur globalen Sicherheit; in der Gefahrendimension von der Bedrohung zum Risiko; und in der Referenzdimension vom Staat zum Individuum.5 Von einer sich entfaltenden neuen Sicherheitskultur sprachen politiknahe wissenschaftliche Sicherheitsexperten schon in den 1990er Jahren.6 Die jüngere politikwissenschaftliche Forschung hat diesen Terminus 2 Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands (2007): „Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland“, http://www.grundsatzprogramm.cdu.de/doc/071203-beschluss-grundsatzprogramm-6-navigierbar.pdf 3 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 285 – 499. 4 Für die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland siehe dazu ausführlich Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 463 – 578. 5 Christopher Daase, Der erweiterte Sicherheitsbegriff, in: Mir A. Ferdowski (Hg.), Internationale Politik als Überlebensstrategie, München 2009, S. 137 – 153, hier S. 138; vgl. auch ders., National, Societal and Human Security. On the Transformation of Political Language, in: Historical Social Research 35. 2010, S. 24 – 39. 6 Siehe beispielsweise Uwe Nerlich, Europäische Sicherheitskultur. Das Ziel und der Weg, in: Albrecht Zunker (Hg.), Weltordnung oder Chaos?, Baden-Baden 1993, S. 21 – 36. ipabo_66.249.66.96 Securitization 455 aufgegriffen, um damit politischen und sozialen Wandel interdisziplinär erforschen zu können.7 In der Geschichtswissenschaft hat die englische Historikerin Emma Rothschild eine Erweiterung des Sicherheitsbegriffs auf vier Ebenen festgestellt: erstens eine Erweiterung von der Sicherheit der Staaten zur Sicherheit von Gruppen und Individuen; zweitens eine Erweiterung von der Sicherheit der Staaten zur Sicherheit des internationalen Systems oder zur Sicherheit der supranationalen Umwelt, der Biosphäre; drittens eine Erweiterung in neue Bereiche hinein: Umweltsicherheit oder Versorgungssicherheit, beispielsweise mit Rohstoffen und mit Energie; und viertens schließlich eine Erweiterung der politischen Zuständigkeit zur Herstellung von Sicherheit: vom Staat hin zu internationalen, aber auch hin zu regionalen oder lokalen Institutionen sowie zu Nicht-Regierungsorganisationen.8 Der zeitliche Bezugsrahmen dieser Befunde ist vergleichsweise gegenwartsnah; allenfalls die jüngste Zeitgeschichte wird damit erfasst. Für die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs mag dies zutreffend sein, und fraglos ist Sicherheit nicht nur ein Leitbegriff der Gegenwart, sondern auch ein Schlüsselbegriff aktueller politischer und sozialer Transformationsprozesse, der als solcher das Interesse der Wissenschaft findet.9 Aber der Wandel von Sicherheitsbegriffen, Sicherheitsverständnissen und Sicherheitswahrnehmungen führt doch deutlich über die jüngste Zeitgeschichte hinaus. Die Idee der Sicherheit, so argumentiert Emma Rothschild, stehe seit dem 17. Jahrhundert im Zentrum der europäischen Politik, und sie zitiert in diesem Zusammenhang eine Feststellung von Leibniz aus dem Jahre 1705: „My definition of the State or of what the Latins call Respublica is: that it is a great society of wich the object is common security [la seuret commune].“ Für das Verhältnis zwischen Individuum und Staat und insbesondere alle vertragstheoretischen Begründungen moderner Staatlichkeit ist das Ziel der Sicherheit also von zentraler, ja konstitutiver Bedeutung. Die Herstellung und Gewährleistung von Sicherheit war in diesem Sinne als legitimatorische Grundlage von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols.10 7 Christopher Daase, Sicherheitskultur. Ein Konzept zur interdisziplinären Erforschung politischen und sozialen Wandels, in: Sicherheit und Frieden 29. 2011, S. 59 – 65. 8 Emma Rothschild, What Is Security?, in: Daedalus 124. 1995, S. 53 – 98, hier S. 55. Die Originalstelle findet sich in: Die Werke von Leibniz, hg. v. Onno Klopp, Hannover 1864 – 1873, Bd. 9, S. 143. 9 Vgl. Patricia Purtschert u. a., Einleitung, in: dies. u. a. (Hg.), Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault, Bielefeld 2008, S. 7 – 18, hier S. 7. 10 Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975; vgl. auch Markus Jachtenfuchs, Das Gewaltmonopol. Denationalisierung oder Fortbestand, in: Stephan Leibfried u. Michael Zürn (Hg.), Transformationen des Staates?, Frankfurt 2006, S. 69 – 91, hier S. 70. 456 Eckart Conze Aber Sicherheit ist nicht ahistorisch. Sicherheit ist weder ein überzeitlich gültiger und definierbarer Begriff noch eine räumlich universelle und transkulturelle Kategorie (wenn man nicht extrem anthropologisch argumentiert). Sicherheit beziehungsweise die Wahrnehmung von Sicherheit ist stets gesellschaftlich bestimmt und damit im historischen Prozess variabel. Unterschiedliche Gesellschaften, aber auch unterschiedliche Gruppen in einer Gesellschaft weisen – synchron und diachron – höchst unterschiedliche Vorstellungen von Sicherheit – respektive Unsicherheit – auf. Die Wahrnehmung von Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit, und damit auch jede Veränderung des Sicherheitsbegriffs, ist das Ergebnis einer Deutung von Realität.11 Sicherheitskulturen – mit Christopher Daase die Gesamtheit der Vorstellungen, Werthaltungen und Praktiken von Individuen, Gruppen und Institutionen, die darüber entscheiden, (a) was als eine Gefahr oder eine Unsicherheit im weitesten Sinne angesehen wird, und (b) mit welchen Mitteln dieser Gefahr begegnet werden soll – verändern sich. Sie unterliegen historischem Wandel.12 Was aber bestimmt diesen Wandel, und vor allem: Welche Faktoren wirken auf den Wandel des Sicherheitsverständnisses ein? Ähnlich wie „Freiheit“ oder „Gerechtigkeit“ ist „Sicherheit“ ein zentraler Wertbegriff der politisch-sozialen Sprache. Hinter dem Begriff „Sicherheit“ verbergen sich Ideen eines soziokulturellen Wertsystems, aber auch politische Ordnungsvorstellungen. Aus Wertbegriffen wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ oder „Sicherheit“, die bestimmte Vorstellungen symbolisieren, werden individuelle oder kollektive Handlungsmaximen entwickelt, handlungsleitende Ideen, ides directrices, institutionentheoretisch gesprochen.13 Als Wertbegriff freilich ist Sicherheit nicht nur ein gesellschaftlich konstruiertes, sondern auch ein „grundsätzlich umstrittenes Konzept“, ein „essentially contested concept“ im Sinne des englischen Philosophen Walter Gallie. Das Verständnis – und damit auch jede Definition – von Sicherheit ist umstritten, weil es im Kern nicht um objektive Bestimmungsfaktoren (zum Beispiel empirische Befunde) geht, sondern um moralische, ideologische und normative Vorstellungen, die geradezu zwangsläufig divergieren.14 11 Ekkehart Lippert u. a., Einleitung, in: ders. u. a. (Hg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997, S. 7 – 20, hier S. 14; vgl. auch Wolfgang Bonß, Die gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit, in: ebd., S. 21 – 41, hier S. 21, sowie Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer modernen Politikgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 53. 2005, S. 357 – 380, bes. S. 362 – 365. 12 Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: APuZ 50. 2010, S. 9 – 16, hier S. 9. 13 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1973, S. 35. 14 William B. Gallie, Essentially Contested Concepts, in: Max Black (Hg.), The Importance of Language, Englewood Cliffs 1962, S. 121 – 146; vgl. auch Barry Buzan, People, States and Fear, Boulder 1991, S. 7. ipabo_66.249.66.96 Securitization 457 Wie aber entwickelten sich in der Geschichte Vorstellungen von Sicherheit? Wie wurde über diese Vorstellungen gestritten? Wie gelangten sie unter unterschiedlichen historischen Bedingungen in den politischen Prozess (verstanden als kommunikativer, auf kollektive Verbindlichkeit zielender Prozess), um sich dort zu institutionalisieren? Man muss sich dabei von der Annahme lösen, dass objektive Bedrohungen für diese Institutionalisierung verantwortlich sein müssen. Vielmehr ist die politische Konzeptionalisierung und Institutionalisierung von Sicherheit das Ergebnis historischer Prozesse, von Auseinandersetzungen innerhalb von Gesellschaften, von Konflikten und Spannungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen mit divergierenden Interessen.15 II. Versicherheitlichung – Entsicherheitlichung Um diese Prozesse zu untersuchen, bietet sich das Konzept der „Versicherheitlichung“ („Securitization“) an, für dessen Erprobung als historischen Analyseansatz dieser Beitrag werben möchte. Als terminologisches und konzeptionelles Angebot geht das Konzept der Securitization zurück auf die Kopenhagener Schule der Internationalen Beziehungen, für die insbesondere der dänische Politikwissenschaftler Ole Wæver und sein englischer Kollege Barry Buzan stehen.16 Mit dem Konzept der Versicherheitlichung versuchte die Kopenhagener Schule zunächst, Antworten zu finden auf die ebenso einfache wie grundlegende Frage: Wie wird etwas zu einem Sicherheitsproblem? Hinter dieser Frage steht die – begründete – Annahme, dass mit dem Sicherheitsbegriff beziehungsweise mit der Bezeichnung einer bestimmten Thematik als sicherheitsrelevant oder als Sicherheitsproblem über die Priorität politischer Ziele entschieden wird – bis hin zu politischen Forderungen, welche Handlungen jenseits der jeweils geltenden Grenzen und Beschränkungen politischen Handelns implizieren und legitimieren. Versicherheitlichung lässt sich über politische Diskurse und Praktiken untersuchen und korrespondiert daher mit einem zwar handlungsorientierten, aber zugleich kommunikativ verstandenen Politikbegriff. Versicherheitlichung wird damit als ein akteursgesteuerter kommunikativer Prozess gefasst und als solcher lässt er sich auch historisieren.17 15 Vgl. Ronnie D. Lipschutz, On Security, in: ders. (Hg.), On Security, New York 1995, S. 1 – 23, hier S. 8. 16 Zur Kopenhagener Schule siehe den Überblick und die (Selbst-)Einordnung bei Barry Buzan u. Lene Hansen, The Evolution of International Security Studies, Cambridge 2009, S. 212 – 218. 17 Vgl. Barry Buzan u. a., Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998, S. 24 f., oder auch Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Lipschutz, On Security, S. 46 – 86. Vgl. ferner Thorsten Bonacker u. Jan Bernhardt, Von der security community 458 Eckart Conze Aus der Historisierung des Ansatzes der Versicherheitlichung ergibt sich jedoch zugleich eine Erweiterung. In der Politikwissenschaft wird nämlich das Konzept der Versicherheitlichung vor allem auf den Staat bezogen. „In naming a certain development a security problem, the ,state‘ can claim a special right“, heißt es beispielsweise bei Ole Wæver.18 Das verweist auf die Genese des Ansatzes der Versicherheitlichung vor dem Hintergrund eines seit den 1980er Jahren breit konstatierten Bedeutungsverlusts des (National-)Staates und von Prozessen der Entnationalisierung und Entterritorialisierung. In dem Moment, in dem ein Problem als Sicherheitsproblem wahrgenommen und auch sprachlich als solches dargestellt wird, ergibt sich daraus, so wird argumentiert, eine spezifische Zuständigkeit des Staates. Staaten und ihre politischen Eliten müssten, um sich zu legitimieren, um ihre fortgesetzte Daseinsberechtigung zu demonstrieren, ein Interesse daran haben, möglichst viele Entwicklungen zu „versicherheitlichen“.19 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Historisierung des Konzepts der Versicherheitlichung fraglos auf den Aufstieg des Territorialstaats und die bis heute zentrale Bedeutung des Staates als Sicherheitsakteur beziehen. Das muss aber nicht auf ein Verständnis von Versicherheitlichung in einseitigem oder gar ausschließlichem Staatsbezug hinauslaufen. Zu fragen wäre vielmehr nach Dimensionen von Versicherheitlichung in staatsfernen Kontexten und ihrer möglichen Funktion in Politisierungsprozessen beziehungsweise Prozessen politischer Gemeinschaftsbildung. Versicherheitlichung meint gerade in einem solchen Verständnis nicht eine lineare historische Entwicklung, die sich in erster Linie in der Entstehung und der Entwicklung des modernen (Territorial-)Staates verfolgen ließe. Wenn man davon ausgeht, dass Versicherheitlichung ein zentraler Aspekt politischer Kommunikation und politischen Handelns ist – mit je unterschiedlichen Ausformungen in verschiedenen historischen Kontexten – wäre vielmehr zu fragen: Unter welchen Bedingungen, aus welchen Gründen und auf welche Weise werden bestimmte Entwicklungen zu Sicherheitsfragen, werden sie also versicherheitlicht? Welche Akteure haben beziehungsweise hatten ein Interesse an solchen Versicherheitlichungen? Unter welchen Bedingungen sind solche Entwicklungen erfolgreich, unter welchen scheitern sie? Dieser Aufsatz präsentiert bewusst keine These, welche die sich verändernden Modi und Bezugsfelder von Versicherheitlichung in einen historischen Entwicklungszusammenhang bringt oder gar ein Verlaufsmodell vorschlägt. Dafür ist der Forschungsstand noch zu disparat. Aber lässt nicht beispielsweise, so könnte man vermuten, die Steigerung gesellschaftlicher Komplexität zur securitized community. Zur Diskursanalyse von Versicherheitlichungsprozessen am Beispiel der Konstruktion einer europäischen Identität, in: Alexander Siedschlag (Hg.), Methoden der Sicherheitspolitik, Wiesbaden 2006, S. 219 – 242. 18 Wæver, Securitization, S. 54. 19 Ebd. ipabo_66.249.66.96 Securitization 459 in Verbindung mit der Zunahme von Information und/oder Wissen Versicherheitlichungspotentiale entstehen beziehungsweise wachsen? Der eingangs erwähnte Begriff der „erweiterten Sicherheit“ scheint darauf zu verweisen. Er spiegelt einerseits wachsende soziale und politische Komplexität und – infolgedessen – eine weitere Ausdifferenzierung von Sicherheit. Andererseits ist die Verwendung des Begriffs in der politischen Sprache auch als Teil eines Versicherheitlichungsprozesses – in diesem Fall von staatlichen Akteuren ausgehend – interpretierbar. Das hier dargelegte Verständnis von Versicherheitlichung impliziert zwingend auch die analytische Aufnahme des Korrespondenzbegriffs der „Entsicherheitlichung“ („Desecuritization“). Wenn Versicherheitlichung im Sinne der Kopenhagener Schule meint, dass bestimmte Problemlagen oder Konstellationen im politischen Raum als existentielle Gefährdung wahrgenommen beziehungsweise dargestellt werden, um politisches Handeln auf diese Weise von den etablierten Bedingungen und insbesondere normativen Vorgaben des normalen politischen Kommunikations- und Entscheidungsprozesses befreien zu können, dann wäre mit Entsicherheitlichung eine umgekehrte Entwicklung beschrieben: also die Rückkehr zu normbestimmter und regelhafter politischer Kommunikation angesichts einer nicht mehr als existenzgefährdend wahrgenommenen oder dargestellten Situation. Das bezieht sich in dieser Wendung primär, wenn nicht ausschließlich, auf liberal-demokratische Ordnungen mit demokratisch legitimierten Regierungen. Für eine historische Analyse trägt ein solches stark gegenwartsbezogenes und normatives Verständnis nur bedingt. Dennoch ist die Frage nach Entsicherheitlichung wichtig und notwendig, wenn man Versicherheitlichung nicht nur rein diskursiv, sondern auch handlungs- und akteursbezogen versteht und die durch Versicherheitlichung bewirkte Außerkraftsetzung von normalerweise geltenden Grenzen und Beschränkungen politischen Handelns nicht normativ an demokratische Ordnungen bindet, sondern sie auf politische Systeme und Ordnungen allgemein bezieht. Das Konzept der Securitization öffnet also den Blick auf verschiedene Gegenstandsbereiche: auf die Legitimation des Staates und staatlichen Handelns, auf das Handeln unterschiedlicher Akteure im politischen Prozess, die ihre Interessen durch sicherheitsbezogene Argumentationen durchzusetzen versuchen, aber auch auf Prozesse und Mechanismen sozialer Integration, der Vergemeinschaftung und Identitätsbildung.20 Aus der Sehnsucht nach Sicherheit der Bürger und aus seinem Anspruch beziehungsweise dem Versprechen, Schutz und Sicherheit schaffen zu können, bezieht der Staat seine Legitimität. Das ist mit Blick auf die frühneuzeitliche Staatsbildung, auf die Herausbildung des modernen Territorialstaates immer wieder betont worden. In Thomas Hobbes’ „Leviathan“ ist der Zusammen- 20 Zu letztgenanntem Aspekt vor allem Bonacker u. Bernhardt, Von der security community. 460 Eckart Conze hang zwischen Sicherheitsversprechen und Staats- beziehungsweise Herrschaftslegitimation in der politischen Theorie des 17. Jahrhunderts wohl am deutlichsten hergestellt worden. Sicherheit begründet nicht nur staatliche Souveränität und Sicherheit beziehungsweise ein Sicherheitsversprechen legitimiert den Staat nicht nur, sondern Sicherheit stellt letztlich Ursache und Ziel von Staat und Staatlichkeit dar.21 Auch im deutschen Sprachraum verbarg sich hinter dem „Interesse des gemeinen Wohls“, das seit dem 17. Jahrhundert zur Rechtfertigung von Herrschaft angeführt wurde, von Anfang an, selbst wenn der Begriff nicht verwandt wurde, die Idee der Sicherheit. Sicherheit als gemeinsames Interesse lieferte „eine ,sachgerechte‘ und damit rationale Begründung […] für die herrschaftliche Organisierung gesellschaftlicher Praxis“.22 Das schlug sich nieder im Anspruch einer allumfassenden „Policey“, eine Vorstellung, hinter der sich ein weites Verständnis von Sicherheit verbarg. Herrschaft wurde in diesem Sinne versicherheitlicht. Eine scharfe Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, charakteristisch für die Hochphase der Nationalstaaten zwischen etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, existierte zunächst nicht. Gerade unter Sicherheitsgesichtspunkten wurden die innere Ordnung von Staaten und die internationale Ordnung konstitutiv aufeinander bezogen. Noch im beginnenden 19. Jahrhundert stand die Neuordnung Europas nach der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft im Zeichen der Wiedereinführung von Stabilität und das „System Metternich“ ganz unter dem Imperativ von Ruhe und Sicherheit. Die innere Ordnung und das internationale System sollten dadurch legitimiert und befriedet werden. Der Wiener Kongress erbrachte, wenn man so will, eine gewaltige Versicherheitlichungsleistung, und wie kein Zweiter verstand der österreichische Staatskanzler Metternich sich auf das Instrumentarium der Versicherheitlichung.23 21 Vgl. Wolfgang Sofsky, Das Prinzip Sicherheit, Frankfurt 2005, S. 83 f. 22 Alf Lüdtke u. Michael Wildt, Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes, in: dies. (Hg.), Staats-Gewalt. Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 7 – 38, hier S. 23; vgl. auch Alf Lüdtke, „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Aspekte der Polizeigeschichte, in: ders. (Hg.), „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1992, S. 7 – 33, hier S. 12. 23 Zum „System Metternich“ siehe Wolfgang Hardtwig, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985, S. 33 – 50, sowie noch immer Heinrich Ritter von Srbik, Der Ideengehalt des Metternichschen Systems, in: HZ 131. 1925, S. 240 – 262; vgl. ferner Wolfram Siemann, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, München 2010. Zum Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik bei Metternich siehe auch Elisabeth Droß, Einleitung, in: dies. (Hg.), Quellen zur Ära Metternich, Darmstadt 1999, S. 1 – 33, bes. S. 2 f. ipabo_66.249.66.96 Securitization 461 Die Versicherheitlichung der internationalen Ordnung der post-napoleonischen Ära verschaffte dieser Ordnung – einschließlich ihrer innenpolitischen Implikationen: Bekämpfung liberaler und nationaler Kräfte – insbesondere in den ersten Jahren nach 1815 ein gewisses Maß an Legitimität und Stabilität. Beide beruhten auf dem breiten Konsens, dass liberale und nationale Entwicklungen die „Ruhe und Glückseligkeit Europas“, wie es zeitgenössisch hieß, gefährdeten. Themen, Beziehungen oder Gegenstände, so sieht es das Versicherheitlichungskonzept der Kopenhagener Schule, werden dort versicherheitlicht, wo sie als existentiell gefährdet betrachtet werden. Wie wir wissen, traten jedoch die Vorstellungen über die Voraussetzungen europäischer Ruhe und Stabilität schon wenige Jahre nach dem Wiener Kongress weit auseinander. Während die europäischen Ostmächte, Österreich, Preußen und Russland, um Revolutionen zu verhindern, die Bekämpfung liberaler und nationaler Entwicklungen ins Zentrum ihrer Politik stellten – bis hin zur Idee eines automatischen antiliberalen und antinationalen Interventionsrechts der Großmächte –, erkannten Großbritannien und bis zu einem gewissen Grade auch Frankreich in den Jahren ab 1820 in moderaten Reformen und einer behutsamen Politik der Liberalisierung die beste Strategie der Revolutionsverhinderung. Der Sicherheitskonsens über das Gefährdungspotential liberaler und nationaler Tendenzen hatte sich aufgelöst, und deshalb ließ seine systemstabilisierende und ordnungslegitimierende Wirkung nach. Sicherheit wurde von unterschiedlichen Akteuren verschieden interpretiert. Dabei waren diese Akteure nicht nur Staaten, sondern auch gesellschaftliche Gruppen oder Kräfte, die ihre Vorstellungen von Sicherheit – Revolutionsverhinderung nicht durch Repression, sondern durch Reform – kommunikativ über Parlamente und die Presse in den politischen Prozess einspeisten. Bedrohungen und Sicherheitsgefährdungen, das wird hier deutlich, sind immer auch Teil einer intersubjektiven Wirklichkeitskonstruktion. Das führt zu konkurrierenden Vorstellungen von Sicherheit beziehungsweise dem geeignetsten Wege der Herstellung von Sicherheit. Gerade weil Sicherheit einen so zentralen gesellschaftlichen Wertbegriff darstellt, eignen sich Versicherheitlichungsstrategien in besonderer Weise als Mittel, einen politischen Dominanz- oder Führungsanspruch zu artikulieren und zu verfolgen. Auch als sich innere und äußere Sicherheit seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker ausdifferenzierten, vermochte doch der Staat, sich als Garant von Sicherheit zu behaupten. Der Staat verwirklichte die Idee der Sicherheit. Außenpolitische Sicherheit wurde nun als nationale Sicherheit (national security) zu einer beherrschenden Denk- und Argumentationsfigur. Sicherheitsvorstellungen verbanden sich in diesem Kontext eng mit der Idee nationaler, einzelstaatlicher Souveränität, eine Konstruktion, die im modernen Völkerrecht ihren Ausdruck fand und dort normativ befestigt wurde, die aber auch gesellschaftliche Wirksamkeit entfaltete. Insbesondere in den europäischen Nationalstaaten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts versprach vor dem Hintergrund binnengesellschaftlicher Nationalisierungsprozesse und 462 Eckart Conze eines sich verschärfenden Nationalismus der argumentative Rekurs auf die Sicherung beziehungsweise die Bedrohung nationaler Souveränität eine gesellschaftliche Legitimation von Regierungshandeln. Die Idee nationaler Souveränität wurde in diesem Sinne versicherheitlicht und gerade für den deutschen Fall, die Geschichte des Kaiserreichs seit 1871, ließe sich argumentieren, dass diese Versicherheitlichung der Souveränitätsidee zur Legitimierung und Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen diente. Das gilt in durchaus vergleichbarer Weise auch für den Bereich der sozialen Sicherheit, wenn man die staatliche Genese moderner Sozialpolitik als ein Mittel ansieht, um wie im deutschen Falle in der Arbeiterschaft Staatsloyalität zu erreichen und dadurch politische Stabilität zu schaffen und – durchaus bonapartistisch – Herrschaft zu sichern.24 In dieser Perspektive lassen sich die Entstehung und Entwicklung moderner Sozialstaatlichkeit mit einiger Plausibilität auch als – herrschaftssichernde oder -stabilisierende – Versicherheitlichungsprozesse fassen. Da die konzeptionellen Ursprünge des Ansatzes der Versicherheitlichung primär in den Internationalen Beziehungen liegen, ist dieser Politikbereich indes bislang unterbelichtet geblieben, auch wenn jüngere sozialwissenschaftliche Fortentwicklungen des Konzepts und seine gegenstandsbezogene Anwendung in diese Richtung weisen.25 Innen- und außenpolitisch entwickelte sich der moderne Staat immer stärker zum nationalen Sicherheitsstaat, der seinen Bürgern Sicherheit versprach und dafür Loyalität gewann beziehungsweise zu gewinnen suchte. Das gilt für demokratische Systeme, in denen konkurrierende politische Kräfte mit ihrer jeweiligen Sicherheitskompetenz um die politische Macht streiten. Es gilt aber auch für Diktaturen, in denen die Identifikation von Bedrohungen und eine Politik der Sicherheit Herrschaftsanerkennung und Herrschaftsstabilität bewirken sollen. Es ist vor diesem Hintergrund durchaus signifikant, dass die Repressions- und Terrorapparate von Diktaturen geradezu durchsetzt sind von Sicherheitsvokabular, wie etwa Reichssicherheitshauptamt, Komitee für Staatssicherheit (KGB) oder Ministerium für Staatssicherheit. III. Macht, Integration, Identität Vor dem Hintergrund dieser hier nur äußerst knapp skizzierten Entwicklung ist es kaum überraschend, dass in den Prozessen der De- und Entnationalisierung der jüngsten Vergangenheit das Sicherheitsargument auch Verwendung gefunden hat – und noch immer findet –, um den National- beziehungsweise Territorialstaat neu zu legitimieren und ihm eine fortgesetzte 24 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: 1849 – 1914, München 1995, S. 909 f. 25 Siehe den Band von Thierry Balzacq (Hg.), Securitization Theory. How Security Problems Emerge and Dissolve, London 2011. ipabo_66.249.66.96 Securitization 463 Daseinsberechtigung zuzuweisen. Sicherheit begründet Machtverhältnisse und insbesondere staatliche Macht und Herrschaft. Für Foucault, der in diesem Sinne in der Tradition der klassischen Staatstheorie steht, ist das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung im Kern das eines „Sicherheitsvertrags“: „Ich biete euch Sicherheit“, verspreche der Staat.26 Sicherheit ist aber auch, so könnte man weiter im Anschluss an Foucault formulieren, eine entscheidende Technik staatlicher Regierung. Für den gouvernementalen Staat, so wie ihn Foucault konzipiert, ist Sicherheit konstitutiv, und Foucaults Gouvernementalitätstheorie ermöglicht es, die Machtförmigkeit von Sicherheit zu denken und diese mit dem Staat in einen Zusammenhang zu bringen. „Gouvernementalität“ ist für Foucault die aus Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.27 Genau hier liegt der Anknüpfungspunkt zum Versicherheitlichungskonzept der Kopenhagener Schule. Aus den aktuellen, politisch geprägten Diskussionen zum Thema Sicherheit stammt das Argument, die politische Debatte steuere den Sicherheitsbegriff an, um unterschiedlichste soziale Bereiche für eine Reihe von Interventionen zu formieren.28 Das dürfte nicht nur einen gegenwartsbezogenen Befund darstellen, auch wenn sich in einer komplexeren und differenzierteren Gesellschaft die Ansatzpunkte für derartige Argumentationen vermehren. Das Dispositiv der Freiheit ist für Foucault ein Dispositiv der Unsicherheit. Als Rückseite der Sicherheitskalkulationen entsteht für ihn unabweisbar eine Kultur der Gefahr.29 Auch dies bringt das Konzept der Securitization in den Blick. Von der Ebene des Staates sind wir auf der Ebene konkurrierender gesellschaftlicher Gruppen und politischer Interessen angelangt. Zu unterscheiden ist in diesem Zusammenhang einerseits zwischen Bewegungen hin zu einer Versicherheitlichung, zwischen Versuchen und Bemühungen, ein bestimmtes Thema oder ein bestimmtes Problem zu versicherheitlichen, und der erfolgreichen Versicherheitlichung andererseits. Darüber, ob eine bestimmte Frage 26 Michel Foucault, Die Sicherheit und der Staat, in: ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 3, 1976 – 1979, Frankfurt 2003, S. 498. 27 Ders., Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt 2004, S. 162. 28 Vgl. beispielsweise Sven Opitz, Zwischen Sicherheitsdispositiven und Securitization. Zur Analytik illiberaler Gouvernementalität, in: Purtschert u. a., Gouvernementalität und Sicherheit, S. 201 – 228, hier S. 202. 29 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt 2004, S. 102; vgl. auch Opitz, Zwischen Sicherheitsdispositiven, S. 213. 464 Eckart Conze tatsächlich versicherheitlicht wird und damit im politischen Prozess Priorität erhält, entscheidet nicht derjenige, der danach strebt, diese Frage zu versicherheitlichen, sondern das „Publikum“, dem eine sicherheitsbezogene Argumentation – als Sprechakt – präsentiert wird. Die entscheidende Frage ist also: Akzeptiert das Publikum die Position, dass irgendetwas eine massive, ja, existentielle Bedrohung eines gemeinsamen Wertes darstellt? Die Akteure, die sich bemühen, bestimmte Themen zu versicherheitlichen, haben sich verändert. Sie waren in frühneuzeitlichen Gesellschaften andere als in Gesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Auch das Publikum, das über den Erfolg einer Versicherheitlichung entscheidet, hat sich gewandelt, es hat sich ausgeweitet und diversifiziert. Vor diesem Hintergrund lassen sich zentrale politische Debatten und gesellschaftliche Auseinandersetzungen als Versicherheitlichungsprozesse fassen. Denken wir beispielsweise, um diese zeithistorischen Beispiele anzuführen, an die Auseinandersetzungen über die Nutzung der Kernkraft und über Atomkraftwerke. Jahrzehntelang argumentierten beide Seiten, Kernkraftgegner und Kernkraftbefürworter, mit „Sicherheit“. Die einen versuchten, Energiegewinnung und Energieversorgung zu versicherheitlichen, die anderen die menschliche Gesundheit und die natürliche Umwelt des Menschen. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich im Blick auf die NATO-Nachrüstung und die Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre beobachten. Stellten die Befürworter der Nachrüstung die Stabilität der nuklearen Abschreckung und damit die Sicherheit des Westens angesichts der sowjetischen Rüstung als gefährdet dar, urteilten Angehörige der Friedensbewegung genau umgekehrt und erkannten in der Dynamik des Wettrüstens und der Existenz von Atomwaffen eine Gefahr für den Frieden und das Überleben der Menschheit. Sowohl bezogen auf die zivile als auch auf die militärische Nutzung der Kernkraft argumentierten Befürworter und Gegner zusätzlich vor dem Hintergrund des seit den 1970er Jahren gebrochenen Fortschrittsnarrativs der Moderne, in dem staatliche Sicherheitsversprechen nicht zuletzt an die wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten der Industriemoderne geknüpft waren.30 30 Zu den unterschiedlichen Verständnissen von Sicherheit im Zusammenhang mit der nuklearen Rüstung der Zeit um 1980 gibt es ein Dissertationsprojekt von Jan Ole Wiechmann an der Universität Marburg. Als Vorstudie dazu vgl. Jan Ole Wiechmann, Sicherheit neu denken? Konzepte von Sicherheit in der protestantischen Friedensbewegung der Bundesrepublik (1977 – 1983), Staatsexamensarbeit Universität Marburg 2006; ferner Eckart Conze, Modernitätsskepsis und die Utopie der Sicherheit. NATONachrüstung und Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: ZHF 7. 2010, S. 220 – 239. Die zeitgeschichtliche Beschäftigung mit der Geschichte der Kernenergie wird sich, nicht zuletzt im Rekurs auf sicherheitsbezogene Ansätze, nach Fukushima zweifellos noch intensivieren. ipabo_66.249.66.96 Securitization 465 Konzeptionell ist wichtig, dass die diskursbezogene und konstruktivistische Verwendung des Sicherheitsbegriffs, so wie ihn der Ansatz der Versicherheitlichung ermöglicht, sich von einem starren Verständnis von Sicherheit löst. Sicherheit ist ein Prozessbegriff und damit permanentem Wandel unterworfen. Sicherheit ist darüber hinaus keineswegs ausschließlich ein militärischpolitisches Problem, wie man es in den Internationalen Beziehungen und auch in einer Politikgeschichte unter dem Primat der Außenpolitik lange gesehen hat –, sondern eine Praxis, die in verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen anzutreffen ist, in denen je unterschiedliche Themen und Probleme als Sicherheitsbelange konstruiert werden können: militärische Sicherheit, wirtschaftliche Sicherheit, soziale Sicherheit oder Umweltsicherheit, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verteidigung eines Landes ist in diesem Sinne nicht a priori versicherheitlicht. Erst wenn sie als existentiell gefährdet dargestellt oder wahrgenommen wird, interessiert sie im Sinne des Versicherheitlichungsansatzes. Jetzt gewinnt die Thematik an Dringlichkeit und beansprucht politischen Vorrang. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Prozesse der Versicherheitlichung rechtfertigen außerordentliche Maßnahmen, die sofort umgesetzt werden müssen, zu denen es keine Alternative gibt und die – zumindest tendenziell – den normalen Strukturen des politischen Prozesses und der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung entzogen sind. „Wer an ihrer Legitimität zweifelt“, so ist formuliert worden, „wird für die Bedrohung mit verantwortlich gemacht“.31 Die Geschichte des Ost-West-Konflikts – gerade die Genesephase des Kalten Krieges unmittelbar nach 1945, aber auch innenpolitische und sozialkulturelle Entwicklungen in den Jahrzehnten danach – liefert genügend Beispiele. Der politische, gesellschaftliche und kulturelle Antikommunismus der Nachkriegsjahrzehnte war in diesem Sinn, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und einer tatsächlichen oder vermeintlichen, in jedem Falle aber wahrgenommenen Bedrohung, ein Modus, innenpolitische Themen und gesellschaftliche Fragen zu versicherheitlichen und damit politische Handlungen oder Entscheidungen durchzusetzen beziehungsweise zu legitimieren. Autoren wie Melvyn Leffler, Michael Hogan oder H. W. Brands haben gezeigt, wie die Konstruktion und Darstellung einer kommunistischen Bedrohung (nicht nur durch die Sowjetunion, sondern in den USA) in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg außerordentliche gesetzgeberische und budgetäre Maßnahmen ermöglichten und wie in dieser Situation der amerikanische „National Security State“ (Michael Hogan) entstand.32 Der McCarthyismus mit den außerordentlichen Befugnissen des „Ausschusses für Unamerikanische Aktivitäten“ und 31 Bonacker u. Bernhardt, Von der security community, S. 226. 32 H. W. Brands, The Devil We Knew. Americans and the Cold War, New York 1993; Melvyn P. Leffler, A Preponderance of Power. National Security, the Truman Administration, and the Cold War, Stanford 1992; Michael H. Hogan, A Cross of Iron. Harry S. Truman and the Origins of the National Security State, Cambridge 1998. 466 Eckart Conze die Ausweitung von Geheimdienstaktivitäten gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Aber für die Bundesrepublik der 1950er Jahre dürfte der Versicherheitlichungsansatz neue Deutungsperspektiven eröffnen.33 Sicherheit beziehungsweise Versicherheitlichungsprozesse werden damit wichtige Mittel – auch sprachlich-narrativ – der symbolischen Integration von Gesellschaften. Gruppenbezogene Versicherheitlichung kann identitätsbildend oder identitätsverstärkend wirken. Die Nähe zu Identitäts- und Alteritätskonstruktionen beziehungsweise Identitäts- und Alteritätsdiskursen ist evident. Gemeinschaften können zu versicherheitlichten Gemeinschaften werden, wenn sie sich bedroht fühlen und die Wahrnehmung einer Bedrohung zur inneren Integration nutzen. Das ist für sich genommen nicht neu, wenn man beispielsweise an identitätsstiftende und integrierend wirkende Bedrohungs- oder Feindbildkonstruktionen denkt, wie sie nicht zuletzt die Nationalismusforschung, aber auch die Forschung zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Zeit des Kalten Krieges herausgearbeitet hat. Attraktiv aber ist, dass mit dem Versicherheitlichungsansatz Identitätsbildung oder Vergemeinschaftungen analytisch noch stärker mit dem politischen Prozess verknüpft werden können, wie es jüngst am Beispiel der europäischen Integration gezeigt worden ist.34 Dabei bleibt es eine empirische Frage, wie Identitäten konstruiert werden und welche Rolle Prozesse oder Strategien der Versicherheitlichung im Einzelnen dabei spielen. IV. Perspektive Im Ansatz der Versicherheitlichung liegt ein großes Potential für historische Untersuchungen. Das Konzept, so wie es von den Vertretern der Kopenhagener Schule eingeführt worden ist und sich seit etwa 15 Jahren zu einer Theorie ausgeformt hat, mag aus der Gegenwart gewonnen sein, es ist jedoch keineswegs ausschließlich gegenwartsbezogen oder nur auf die jüngste Zeitgeschichte anwendbar. Der Ansatz liefert einen theoretischen Rahmen für zentrale Entwicklungen politischer Gemeinschaftsbildung, Entscheidungsfindung sowie Systemlegitimation und -stabilisierung. Er hat Erklärungskraft für die Entstehung des modernen Territorial- beziehungsweise Nationalstaats und das internationale System dieser Staaten, unterlegt diesem historischen Prozess aber keine Teleologie oder Finalität. Vielmehr bietet das Konzept Ansatzpunkte zur Erklärung politischer Entwicklungen vor dem Aufstieg des 33 Anknüpfend beispielsweise an Till Kössler, Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland, 1945 – 1968, Düsseldorf 2005, oder an Joseph Foschepoth, Staatsschutz und Grundrechte in der Adenauerzeit, in: Jens Niederhut u. Uwe Zuber (Hg.), Geheimschutz Transparent? Verschlusssachen in staatlichen Archiven, Düsseldorf 2010, S. 27 – 58. 34 Siehe Bonacker u. Bernhardt, Von der security community. ipabo_66.249.66.96 Securitization 467 modernen Territorialstaats und in der Phase der Relativierung seiner Bedeutung. Damit ermöglicht es einen frischen Blick auf zentrale politische Entwicklungen in zeitlich und räumlich unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten, einen Blick, der zwar den modernen Staat (als Territorial- oder Nationalstaat) analytisch ausdrücklich einbezieht, aber nicht jenem methodologischem Nationalismus verhaftet bleibt, der über den klassischen Nationalstaat als Referenzrahmen der Analyse nicht hinaus gelangt.35 Prof. Dr. Eckart Conze, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Str. 6 C, D-35032 Marburg E-Mail: [email protected] 35 Anthony D. Smith, Nationalism in the Twentieth Century, Oxford 1979, S. 191; vgl. auch Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus, Antworten auf Globalisierung, Frankfurt 1997, S. 46 f. Diskussionsforum Schöne neue Welt Zur Poetik des Museums in Frankreich, 1790 – 1795 von Roland Cvetkovski Abstract: In shaping the institution of the museum, the French revolutionaries similarly established it as a cultural agent resting upon specific cultural techniques which still account for its modernity down to the present day. On the backdrop of the allembracing notion of the “new world” which the revolutionaries repetitiously made use of, the discussions about the creation of the Louvre outlined the museum’s genuine cultural performance in terms of museification. The following article tries to develop this argument and expounds a poetics of the modern museum being essentially grounded, first, on the present as most important time line, second, on the aesthetics of the exhibits, and third, on the utopian moment. Invente: tu vivras. Antoine-Marin Le Mierre, Paris [1769]1 Als Charles-Gilbert Romme in seinem Bericht vom 20. September 1793 mit Nachdruck den Mitgliedern des Nationalkonvents in Erinnerung rief, dass die Zeit ein neues Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen habe, hatte er gewiss nicht nur den Revolutionskalender im Blick, der ja gerade auf sein Betreiben hin – rückwirkend zum 22. September 1792 – faktisch eine neue, wie auch vom metrischen System neuartige Zeitrechnung eingeführt hatte.2 Die historische Zeit war im Laufe der Revolution tatsächlich auch qualitativ eine andere geworden, und dies nicht nur, weil der Baum der Freiheit gepflanzt war, sein Stamm sich erstaunlich schnell in der alten Erde des Ancien Rgime verwurzelt zu haben schien und jeder an den Früchten, die er trug, sich nunmehr laben konnte. Inmitten der politisch-ideologischen Vereinnahmungen hatte die Vokabel der Freiheit nämlich einen grundlegend neuen Erfahrungsraum geöffnet, der in erster Linie die zeitlichen Horizonte neu strukturierte. Denn nur in einer Szenerie, in der die Freiheit nicht als Erbe, sondern als Bedingung des Erbens und damit auch des Gestaltens auftrat, war es möglich, dass etwa Henri Grgoire, wortgewaltiger Redner der Revolution und Bischof von Blois, 1 Antoine-Marin Le Mierre, La peinture. Po me en trois chants, Paris [1769], S. 74. 2 Gilbert Romme, Rapport sur l’re de la Rpublique, sance du 20 septembre, [Paris 1793], S. 2. Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 468 – 502 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012 ISSN 0340-613X ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 469 ein Jahr später am 31. August 1794 vor dem Nationalkonvent in seinem berühmt gewordenen Bericht über die Schädlichkeit des Vandalismus geradezu pathetisch formulieren konnte, dass „Frankreich tatsächlich eine neue Welt ist“.3 Eine Zukunft schien erst jetzt denkbar, gerade weil die Gegenwart verheißungsvoll war, ebenso wie sie die Vergangenheit nun als endgültig Vergangenes ablösen konnte, da die neu errungene Freiheit eine Absetzung von ihr ermöglichte und dadurch ihre Aneignung erlaubte. Hinter dieser Emphase des Abb verbarg sich offenkundig der Wunsch, diesem Neubeginn seine Zeit und vor allem seinen konkreten Ort in der erfahrbaren Gegenwart zu geben. Das Neue, das sich über alle Bereiche der französischen Gesellschaft erstrecken und diese ordnen sollte, hatte seinen Anfang unwiderruflich im Jetzt. Es scheint daher zunächst nicht weiter verwunderlich, dass in diesem Zusammenhang auch das Musum central des Arts im Louvre entstanden war. Diese im August 1793 aus der Taufe gehobene Institution war sowohl in ihrem Profil als auch in ihrer Wirkmächtigkeit in der Tat neu: Die Revolutionäre hatten durch den freien Zugang zu den Museumssälen gleichsam eine Verbürgerlichung der Exponate erwirkt, durch die betonte Zurichtung auf die Neuheit der anbrechenden Epoche den Weg zu gezielten Sammel- und Ausstellungspraktiken geebnet, überdies auf die Relevanz der musealen Restaurierung verwiesen und schließlich die sichtbare gesellschaftliche Verankerung des Museums als Anstalt öffentlicher Unterweisung nunmehr unwiderruflich festgeschrieben.4 Bemerkenswert indessen ist vielmehr, dass nicht nur der landläufigen Meinung nach das Bewahren und Konservieren zu den wichtigsten Aufgaben des Museums zählt, sondern es tatsächlich triftige 3 Henri Grgoire, Rapport sur les destructions opres par le Vandalisme, et sur les moyens de le rprimer. Sance du 14 Fructidor, l’an second de la Rpublique une et indivisible, Fructidor an II [1794], S. 22. Das Dokument findet sich auch vollständig abgedruckt in: James Guillaume, Grgoire et le vandalisme, in: La Rvolution FranÅaise. Revue d’histoire moderne et contemporaine 41. 1901, S. 155 – 180 und die Fortsetzung S. 242 – 269; der Rapport S. 176 – 180 und S. 242 – 269, Zitat hier S. 263. Sofern nicht anders angegeben, wurden die Zitate vom Autor übersetzt. Neuerdings vgl. die Übersetzung mit ausführlichem Kommentar von Christine Tauber, Bilderstürme der Französischen Revolution. Die Vandalismus-Berichte des Abb Grgoire, Freiburg 2009, bes. S. 59 – 81. 4 Vgl. etwa Walter Grasskamp, Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums, München 1981; Dominique Poulot, La naissance du muse, in: Philippe Bordes u. Rgis Michel (Hg.), Aux armes et aux arts! Les arts de la rvolution, 1789 – 1799, Paris 1988, S. 201 – 232; Andrew McClellan, Inventing the Louvre. Art, Politics, and the Origins of the Modern Museum in the Eighteenth-Century Paris, Berkeley 1994; Tony Bennett, The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London 1995; Hildegard Vieregg, Geschichte des Museums. Eine Einführung, Paderborn 2008. 470 Roland Cvetkovski Gründe gibt, die Tätigkeiten der Museen als einen spezifischen Ausdruck für die Pflege gerade der Vergangenheit und Tradition zu verstehen. Schließlich galten sie schon seit dem frühen 19. Jahrhundert als wichtige, sich über die Vergangenheit rückversichernde Bestandteile von sich formierenden Nationalkulturen.5 Nach einer neuen Welt sucht man dabei allerdings vergeblich; vielmehr schien gerade die alte Welt einen entscheidenden Einfluss auf die Zeitgenossen genommen zu haben. Und doch wurde während der Revolution dieses Bild der grundsätzlichen zeitlichen Differenz, in der sich die neue Gegenwart positiv von der Vergangenheit absetzte, geradezu gebetsmühlenhaft in die Debatten eingebracht, welche die Konturierung, Organisierung und schließlich Installierung des revolutionären Museums im Louvre zur Folge hatte. Vor allem die französische Forschung hat sich ausgiebig mit der Bedeutung des Museums insbesondere im Hinblick auf seine revolutionäre Genese befasst und verdient gemacht. Auf historischer, politischer und philosophischer Ebene bezeichnete sie die Kontexte, die zunächst den Louvre als Ursprung des modernen Museums beschrieben, beleuchtete in diesem Zusammenhang die Rolle der Kunst, umriss vor allem den Umgang der Revolutionäre mit ihrem historischen Erbe, dem patrimoine, und stellte nicht zuletzt die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Institution in den Vordergrund, die im 19. Jahrhundert einen so erheblichen Anteil an der kulturellen sowie politischen Selbstbestimmung von Volksgemeinschaften hatte.6 Weniger Beachtung aller5 Etwa Marie-Louise von Plessen (Hg.), Die Nation und ihre Museen, Frankfurt 1992; Chantal Georgel, Le muse, lieu d’identit, in: La jeunesse des muses. Les muses de France au XIXe sicle. Sous la direction de Chantal Georgel, Paris 1994, S. 105 – 112, bes. S. 110; Marlies Raffler, Museum – Spiegel der Nation? Zugänge zur historischen Museologie am Beispiel der Genese von Landes- und Nationalmuseen in der Habsburgermonarchie, Wien 2008; Sally Price, Le muse. Lieu d’une reprsentation d’une identit, in: Jean Galard (Hg.), L’avenir des muses. Actes du colloque organis au muse du Louvre par le Service Culturel les 23, 24 et 25 mars 2000, Paris 2001, S. 455 – 469. Zum Pakt zwischen Museum und Gedächtnis grundlegend Susan A. Crane (Hg.), Museums and Memory, Stanford 2000. 6 Neben der in Anm. 3 bereits angeführten Literatur weiter etwa Dominique Poulot, Une histoire des muses en France XVIIIe–XXe sicle, Paris 2005; ders., Patrimoine et muses. L’institution de la culture, Paris 2001; ders. (Hg.), Patrimoine et modernit, Paris 1998; ders., Muse, nation, patrimoine, 1789 – 1815, Paris 1997; ders., „Surveiller et s’instruire“. La Rvolution franÅaise et l’intelligence de l’hritage historique, Oxford 1996; Jean-Louis Dotte, Le muse, l’origine de l’esthtique, Paris 1993; ders., Oubliez! Les ruines, l’Europe, le muse, Paris 1994; douard Pommier, L’art de la libert. Doctrines et dbats de la Rvolution FranÅaise, Paris 1991; ders., Der Louvre als Ruhestätte der Kunst der Welt, in: Gottfried Fliedl (Hg.), Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution, Wien 1996, S. 7 – 25; Robert W. Scheller, La notion de patrimoine artistique et la formation du muse au XVIIIe sicle, in: douard Pommier (Hg.), Les muses en Europe la veille de ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 471 dings fand die Figur der neuen Welt, wie sie eingangs von Romme und Grgoire heraufbeschworen wurde, vor allem in ihrem direkten Zusammenhang mit der formalen und funktionalen Ausprägung des Museums: Die Musealisierung gilt ja heute noch als bedeutende Technik zur öffentlichen Kennzeichnung und Verfügbarmachung vermeintlich relevanter gesellschaftlicher Vorgänge. Die neue Welt nach 1789 beziehungsweise 1793 hatte nicht nur neuer Inhalte bedurft, sondern konsequenterweise auch nach einer neuen Gestalt verlangt. Insofern sind Fragen nach dem Museum als spezifischer Kulturform in besonderem Maße bedeutsam, denn gerade diese verweisen darauf, dass zum einen den Vorstellungen und Realisierungen von Kultur als „symbolischen Repräsentationen von Werten, vor allem von solchen, die im Zuge des Bildungsprozesses fortgesetzt und aufrecht erhalten werden“, bestimmte funktionale Voraussetzungen zugrunde liegen, welche diese Repräsentationen überhaupt erst ermöglichen.7 Und zum anderen wird sich zeigen, dass gerade durch die Debatten über die noch näher zu erörternden Musealisierungsfunktionen erstmals zu Bewusstsein kam, dass Kultur als solche gestaltbar war. Grundgedanke der nachstehenden Ausführungen ist daher, dass das revolutionäre Bild der neuen Welt maßgeblich und im positiven Sinne an der Konstitution der Musealisierung beteiligt war, obwohl dieses kulturelle Verfahren mittlerweile alles andere als revolutionär gilt, sondern eher im Gegenteil als alarmierendes Symptom gerade für ein Abhandenkommen der Gegenwart diskreditiert wurde.8 Und doch – zieht man die kulturpessimistischen Mutmaßungen einmal ab – bezeichnet die Musealisierung in erster Linie die wesentliche museale Aktivität, gleichsam die Rahmenbedingung musealen Vermögens, und bestimmt, um mit Mieke Bal zu sprechen, nach wie vor die dem modernen Museum innewohnende „kulturelle Kraft“.9 Diese museale Kraft, so die hier vertretene These, formierte sich zur Zeit der l’ouverture du Louvre, Paris 1995, S. 111 – 124; FranÅoise Mardrus, La naissance du Muse du Louvre, in: Guiseppe Pavanello (Hg.), Antonio Canova e il suo ambiente artistico fra Venezia, Roma e Parigi, Venedig 2000, S. 491 – 521. 7 Zitat Emmet Kennedy, A Cultural History of the French Revolution, New Haven, CT 1989, S. XXII. Zur Repräsentation vgl. den grundlegenden Text von Roger Chartier, Le monde comme reprsentation, in: Annales 44. 1989, S. 1505 – 1520. Man muss sich nur kurz in Erinnerung rufen, dass Denken und Verstehen stets von den – vor allem institutionellen – Milieus abhängig ist, deren jeweilige epistemische Horizonte die in deren Sichtfeld entstandenen Begriffe entsprechend ausrichten, vgl. dazu die nach wie vor beeindruckende ethnologische Studie von Mary Douglas, How Institutions Think, Syracuse, NY 1986. 8 Vgl. die Stimmen in Wolfgang Zacharias (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990. Eine kurze Aufarbeitung bietet Eva Sturm, Konservierte Welt. Museum und Musealisierung, Berlin 1991. 9 Mieke Bal, Kulturanalyse, Frankfurt 2006, S. 9. 472 Roland Cvetkovski Revolution und setzte sich zusammen aus unterschiedlichen, doch sehr spezifischen Zugängen – gewissermaßen Kulturtechniken –, durch welche die Wirklichkeit sich neu fassen und über das Museum verstehen ließ. Wie noch später darzulegen sein wird, wies gerade die Kombination dieser Kulturtechniken das Museum als unumschränkt innovative und zukunftsträchtige politische, kulturelle sowie soziale Manifestation aus und band es stets an seinen revolutionären Ausgangspunkt zurück. Unter den besonderen revolutionären Umständen, die vom Diktat der neuen Welt beherrscht wurden, wurde das Museum nun zu einer zweckgebundenen, gleichsam poietischen Einrichtung, welche mit Exponaten die Aktualität sowie die Permanenz der Gegenwart zu beglaubigen und auszudrücken hatte.10 Um also die Poetik des modernen Museums zu entwerfen, gliedert sich der Beitrag in fünf Teile. Zunächst erfolgt eine kursorische Darstellung der Museumsgeschichte in Frankreich für das 18. Jahrhundert sowie eine äußerst knappe Kontextualisierung des revolutionären Museums. Danach werden die drei musealen Grundfunktionen vor dem Hintergrund der Figur der neuen Welt herausgearbeitet: Die erste streicht die Bedeutung der Gegenwart heraus, die nun zur Grundvoraussetzung aller politischer und kultureller Aktivität wurde. Die zweite Grundfunktion bestimmt sich über die Ästhetik sowie über die Ästhetisierung der Ausstellungsstücke, wodurch das Museum erstmals als möglicher Raum für ein Narrativ sichtbar wurde, und die dritte endlich erschließt sich über den utopischen Aspekt, der die Musealisierung insgesamt als gestaltende Kraft festschrieb. Abschließend folgt ein kurzer Ausblick auf den praktischen Umschlag der Musealisierung. I. Kontexte Nachdem 1753 der französische Generalpostmeister und Universalgelehrte Louis-Lon Pajot Ons-en-Bray seine ansehnliche naturhistorische und technische Sammlung der im Louvre ansässigen Akademie der Wissenschaften geschenkt hatte, begann man in Paris nun ähnliche Pläne für ein museales Großprojekt zu schmieden, wie dies auch in London geschehen war. Dort hatte das Parliament im gleichen Jahr die umfangreiche natur- und kunsthistorische Privatsammlung von Sir Hans Sloane erworben, woraus nur wenige Jahre später, 1759, das British Museum entstand.11 Etwa zur gleichen Zeit gab der 10 Ähnlich argumentierte – allerdings in einem zeitgenössischen Zusammenhang – kürzlich Julian Spalding, The Poetic Museum. Reviving Historic Collections, München 2002. 11 Carol Duncan, From the Princely Gallery to the Public Art Museum. The Louvre Museum and the National Gallery, London, in: David Boswell u. Jessica Evans (Hg.), Representing the Nation. A Reader. Histories, Heritage and Museums, London 1999, S. 304 – 331. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 473 Kunstliebhaber tienne La Font de Saint-Yenne in Paris zwei Schriften in Druck, in denen er sich für die Einrichtung einer öffentlichen Kunstgalerie aussprach und die Auffassung vertrat, dass Kunst grundsätzlich breiter rezipiert werden müsse. Damit erhob er erstmalig die Forderung nach allgemeiner Zugänglichkeit von Kunstsammlungen und schlug als geeigneten Ausstellungsort dafür ebenfalls den Louvre vor.12 Auch wenn im Palais du Luxembourg bereits am 14. Oktober 1750 das erste öffentliche Kunstmuseum mit 110 Bildern und 20 Zeichnungen aus der königlichen Gemäldesammlung eingerichtet worden war und der Öffentlichkeit immerhin mittwochs und samstags unentgeltlich für jeweils drei Stunden Zugang gewährt wurde,13 bildete dies lediglich den Anfang für ein eigentlich größer gedachtes und sowohl die Kunst als auch die Wissenschaften umschließendes Museumsprojekt im Louvre.14 Der seit 1751 amtierende Directeur et ordonnateur gnral des btiments, jardins, arts, acadmies et manufactures royales Abel-FranÅois Poissons Marquis de Marigny hatte sich an solchen Plänen versucht, doch die durch den Siebenjährigen Krieg vollständig geschröpfte Staatskasse verhinderte zunächst dieses Vorhaben. Doch selbst in den späten Regierungsjahren Ludwigs XV. waren angesichts der politischen Machtkämpfe, in welche die Akademie, aber vor allem der 1769 zum Finanzminister berufene JosephMarie Terray verstrickt waren, die Museumsprojekte immer noch liegen geblieben. Erst durch die Ernennung von Charles Claude Flahaut de La Billarderie, Comte d’Angiviller 1774 zum Generalintendanten der königlichen Gebäude wurden die Pläne Marignys wieder aufgenommen, nun in nicht zu übersehender Analogie zum British Museum unter der Bezeichnung Musum franÅais. Obwohl man zunächst daran festhielt, neben dem Kabinett der Medaillen sowohl die Gemäldesammlung des Königs als auch dessen Natu12 tienne La Font de Saint-Yenne, Rflexions sur quelques causes de l’tat prsent de la peinture en France. Avec un examen des principaux Ouvrages exposs au Louvre le mois d’Aot 1746, [Paris] 1747; ders. Le gnie du Louvre aux Champs lises. Dialogue entre le Louvre, La ville de Paris, l’Ombre de Colbert, & Perrault. Avec deux Lettres de l’auteur sur le mÞme sujet, [Paris] 1756. 13 FranÅois Benot, L’art franÅais sous la Rvolution et l’Empire. Les doctrines, les ides, les genres, Paris 1897, S. 110 f. Dazu auch Andrew L. McClellan, The Politics and Aesthetics of Display. Museums in Paris, 1750 – 1800, in: Art History 7. 1984, S. 438 – 464. Das Museum im Palais du Luxembourg wurde jedoch 1779 wieder geschlossen, als der Bruder Ludwigs XVI., der Comte de Provence, das Palais zu seiner Residenz machte. Zu den königlichen Sammlungen allgemein vgl. Stphane Castelluccio, Les collections royales d’objets d’art. De FranÅois Ier la Rvolution, Paris 2002. 14 Damit knüpfte man an ältere Traditionen dieses Ortes an, denn im Louvre waren bereits früher etwa Gewerbeausstellungen abgehalten worden, vgl. Louis Hautecœur, L’histoire des chteaux du Louvre et des Tuileries tels qu’ils furent nouvellement construit, amplifis, embellis, sous le rgne de Sa Majest le roi Louis XIV, dit le Grand […], Paris 1927. 474 Roland Cvetkovski ralienkabinett mit aufzunehmen, ließen sich die Pläne, im Louvre einen gleichsam universalen Ort für die Künste sowie für die Wissenschaften einzurichten, erneut nicht umsetzen. Dies begründete sich nicht zuletzt im Auseinandergehen der Ausstellungsprinzipien, die sich in beiden Bereichen unterschiedlich zu entwickeln begannen;15 der parallele Aufbau eines abgesonderten naturhistorischen Museums ließ an einer endgültigen Aufteilung in zwei Museen schließlich keinen Zweifel. Letztlich war d’Angiviller pragmatisch zu Werke gegangen, hatte die Möglichkeiten erwogen und sich zuletzt für die Einrichtung lediglich eines Kunstmuseums im Louvre entschieden. Neben der generellen Erweiterung der Sammlung durch alte wie auch moderne Meisterwerke maß er gezielten Aufkäufen von französischen Kunstwerken besondere Bedeutung zu, um, so seine erklärte Absicht, den Louvre – bislang Sinnbild der französischen Monarchie – in ein nationales Symbol zu verwandeln.16 Die beeindruckenden architektonischen Entwurfskizzen, die gerade in den 1780er Jahren in diesem Zusammenhang entstanden und eine nicht zu übersehende Monumentalisierung des Museums vorsahen, liefen in augenfälliger Weise parallel zu d’Angivillers Bemühungen, den Louvre nunmehr symbolisch aufzuwerten.17 Während sich die finanzielle Situation offenbar deutlich 15 Vgl. dazu Cornelius Steckner, Museen im Zeichen der Französischen Revolution. Vom evolutionären zum revolutionären Museum, in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 817 – 853, bes. S. 828 – 838; Stacey Sloboda, Displaying Materials. Porcelain and Natural History in the Duchess of Portland’s Museum, in: EighteenthCentury Studies 43. 2010, S. 455 – 472; Bert van de Roerner, Neat Nature. The Relation between Nature and Art in a Dutch Cabinet of Curiosities from the Early Eighteenth Centuries, in: History of Science 42. 2004, S. 47 – 84; Colin B. Bailey, Conventions of the Eighteenth-Century Cabinet de tableaux. Blondel d’Azincourt’s La premire ide de la curiosit, in: The Art Bulletin 69. 1987, S. 431 – 447. 16 Michel Laclotte, Der Louvre. Von den königlichen Sammlungen zum nationalen Museum, in: Plessen, Die Nation und ihre Museen, S. 33 – 44. Zur nationalen Gemäldehängung vgl. Andrew McClellan, Nationalism and the Origins of the Museum in France, in: Gwendolyn Wright (Hg.), The Formation of the National Collections of Art and Archaeology, Hanover, NH 1996, S. 29 – 39, bes. S. 32 – 36; ders., D’Angiviller’s „Great Men“ of France and the Politics of the Parlements, in: Art History 13. 1990, S. 175 – 192. Zur unmittelbaren Nachgeschichte vgl. Thomas W. Gaehtgens, Das Muse Napolon und sein Einfluss auf die Kunstgeschichte, in: Winfried Engler (Hg.), Frankreich an der Freien Universität. Geschichte und Aktualität, Stuttgart 1997, S. 69 – 94. 17 Etwa James L. Connelly, The Grand Gallery of the Louvre and the Museum Project. Architectural Problems, in: Journal of the Society of Architectural Historians 31. 1972, S. 120 – 132; Paula Young Lee, The Musaeum of Alexandria and the Formation of the Musum in Eighteenth-Century France, in: The Art Bulletin 79. 1997, S. 385 – 412, bes. S. 390 – 400; Mona Ozouf, Architecture et urbanisme. L’image de la ville chez ClaudeNicolas Ledoux, in: Annales 21. 1966, S. 1273 – 1304; Günter Metken (Hg.), Revolutions- ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 475 verbessert hatte – zwischen 1775 und 1789 konnte d’Angiviller über eine Million Livres für Bildankäufe aufwenden –, ergaben sich Schwierigkeiten vor allem aus der technischen Umsetzung des Museumsprojekts, denn es stellte sich heraus, dass es größere Probleme bereitete, die riesige Grande Galerie in einen dezidierten Ausstellungsort für Kunst umzurüsten. Streit hatte sich insbesondere an der Frage der richtigen Ausleuchtung entzündet: Am günstigsten wäre, so lautete der Vorschlag, ein zenitaler, also durch Deckenfenster dringender Lichteinfall, doch dies hätte erhebliche bauliche Maßnahmen erforderlich gemacht.18 Bis zur Revolution sollten sich daher d’Angivillers Ambitionen, im Louvre ein öffentliches und national ausgerichtetes Kunstmuseum aufzubauen, nicht verwirklichen lassen.19 Die Eröffnung schließlich des Musum central des Arts zum ersten Jahrestag der französischen Republik gilt gemeinhin als Startschuss einer besonderen institutionellen Erfolgsgeschichte der Moderne, auch wenn dieses Datum am Vorabend der terreur Georges Bataille dazu bewogen hatte, gerade den Ursprung des modernen Museums unmittelbar in Verbindung mit der Guillotine zu sehen.20 Doch das Musum central des Arts war weder eine Erfindung der Revolution noch war es das einzige Museum, das zu dieser Zeit seine Pforten öffnete: Daneben war kurz zuvor, am 10. Juni 1793, bereits das Musum d’histoire naturelle geschaffen worden, am 29. September 1794 dann auf Betreiben Henri Grgoires das Conservatoire des Arts et des Metiers, bevor dann ein weiteres Jahr später, am 21. Oktober 1795, das berühmte Muse des monuments franÅais von Alexandre Lenoir offiziell eingeweiht wurde; zwischenzeitlich war noch im Jahr III (1794/95) das zum Teil ethnographisch ausgerichtete Musum des Antiques enstanden, das allerdings schon 1795 wieder geschlossen wurde.21 Aber der Louvre war mit Abstand diejenige 18 19 20 21 architektur. Boulle, Ledoux, Lequeu, Baden-Baden 1970; Werner Szambien, JeanNicolas-Louis Durand, 1760 – 1834. De l’imitation la norme, Paris 1984. Vgl. Jean-Pierre Babelon, Le Louvre. Demeure des rois, temple des arts, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mmoire, Bd. 2: La Nation, 3. Halbbd., Paris 1986, S. 169 – 216, bes. S. 199 f.; McClellan, Inventing the Louvre, bes. S. 56 – 60; Sonja Kobold, Der Louvre. Bildungsinstitution und Musentempel. Rezeption eines Museums im Medium Text vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Rezeptionsverhalten exemplifiziert anhand der Kataloge, München 2005, S. 113 - 117; Connelly, The Grand Gallery, S. 123 u. S. 126. Vgl. Louis Courajod, Alexandre Lenoir. Son Journal et le Muse des monuments franÅais, Bd. 1, Paris 1878, S. XXV–XXX. Georges Bataille, Art. Muse, in: Documents. Doctrines, archologie, beaux-arts, ethnographie 2. 1930, S. 300. Zu den einzelnen Museen vgl. Paula Young Lee, The Logic of the Bones. Architecture and the Anatomical Sciences at the Museum d’Histoire Naturelle, Paris, 1793 – 1889, Chicago 1999; Michel LeMo l (Hg.), Le Conservatoire National des Arts et Mtiers au cœur de Paris, 1794 – 1994, Paris 1994; Bertrand Daugeron, Entre l’antique et l’exotique, le projet comparatiste oubli du „Musum des Antiques“ en l’an III, in: Annales Historiques de la 476 Roland Cvetkovski Institution, deren Einrichtung und Organisierung die meisten Diskussionen ausgelöst hatte. Er wurde zum Ort, an dem sich die französischen Bürger ihrer neuen Identität im großen Stil versichern konnten. Denn hier wurde jedem potenziell in Aussicht gestellt, durch einen Museumsbesuch gleichsam aktiv am Zivilisationsprozess teilnehmen zu können – nicht etwa die Geschichte Frankreichs stand im revolutionären Museum im Vordergrund, sondern, wie es Dominique-Joseph Garat in seinen Memoiren festhielt, nichts weniger als die Neuaufnahme der Menschheitsgeschichte in Frankreich stand auf dem Spiel.22 II. Politik der Gegenwart Das Beharren der Revolutionäre auf der Präsenz einer neuen Welt lag spätestens nach der Ausrufung der französischen Republik am 10. August 1792 in der Logik der Ereignisse. Eine neue Ära war angebrochen, die allerdings noch keinen stabilen Modus gefunden hatte, mit ihrer monarchischen Vergangenheit umzugehen. Daher erscheint auch die Dringlichkeit allzu verständlich, zu der Henri Grgoire am 8. August 1793 vor dem Konvent aufgerufen und in dem ihm eigenen Pathos gefordert hatte, „im Angesicht des Rvolution FranÅaise 356. 2009, S. 143 – 176; ders., Collections naturalistes entre science et empires, 1763 – 1804, Paris 2009. Zu Lenoir und dem Muse des monuments franÅais ist die Literatur zahlreich, vgl. Louis Courajod, Alexandre Lenoir. Son Journal et le Muse des monuments franÅais, 3 Bde., Paris 1878 – 1887; ders., L’influence du Muse des monuments franÅais sur le dvelopement de l’art et des tudes historiques, in: Revue historique 30. 1886, S. 107 – 118; Dominique Poulot, Alexandre Lenoir et les muses des Monuments franÅais, in: Nora, Les lieux de mmoire, Bd. 2: La Nation, S. 497 – 531. Weiter Stanley Mellon, Alexandre Lenoir. The Museum versus the Revolution, in: Proceedings of the Consortium on Revolutionary Europe 9. 1979, S. 75 – 88; Christopher M. Greene, Alexandre Lenoir and the Muse des monuments franÅais during the French Revolution, in: French Historical Studies 12. 1981, S. 200 – 222; Paul Duro, „Un Livre Ouvert a l’Instruction“. Study Museums in Paris in the Nineteenth Century, in: Oxford Art Journal 10. 1987, S. 44 – 58; McClellan, Inventing the Louvre, bes. S. 155 – 197; Poulot, Muse, nation, patrimoine, bes. S. 285 – 339; Suzanne Glover Lindsay, Mummies and Tombs. Turenne, Napolon, and Death Ritual, in: The Art Bulletin 82. 2000, S. 476 – 502; Alice von Plato, „Von Menschen und Göttern verlassene Leichname“ – Totenkult im „Muse des Monuments FranÅais“ (1791 – 1816)?, in: Zeitenblicke 3. 2004, http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/plato/index.html. 22 Dominique Joseph Garat, Memoirs of the Revolution; or, an Apology for my Conduct in the Public Employments which I have held [Paris 1795], Edinburgh 1797, bes. S. 204, auch S. 165, S. 265 u. S. 275. Zum zivilisierenden Charakter des Museumsbesuchs vgl. Carol Duncan u. Alan Wallach, The Universal Survey Museum, in: Art History 3. 1980, S. 448 – 469; ausführlich Carol Duncan, Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums, London 1995. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 477 Himmels“ endlich „der Freiheit Gesetzeskraft“ zu verleihen, um nunmehr eine neue gültige Legitimationsgrundlage für die Republik zu schaffen.23 Zweifellos ging es dabei um die Identität der Revolution, aber insbesondere um neue Richtlinien, die nun gerade im Namen der Freiheit neue Handlungsspielräume öffnen und die Gegenwart als bedingungslosen Ausgangspunkt setzen sollten. Letzten Endes war es das Museum, das als Gehäuse wie auch als kulturelles Format das offene Verhältnis zwischen Altem und Neuem nachhaltig ausrichtete. Diese Spannung zwischen neuer und alter Welt, zwischen Vergangenheit und an die Gegenwart zu überliefernden Traditionsresten, den so genannten monuments, entlud sich schließlich im Begriff des patrimoine.24 Die Revolutionäre hatten sich zwar eifrig darum bemüht, die Geschichte mit der Scheidemarke 1789 in zwei unterschiedliche Hälften zerbrechen zu lassen und dafür den Begriff Ancien Rgime geprägt, so blieb aber ihre Furcht, diese Zeitenwende lediglich als eine über die Revolution gelegte diskursive Folie enden zu sehen,25 dennoch bestehen, zumal sich die neue politische Kultur vorläufig gezwungen sah, sich der alten Symbolsysteme zu bedienen.26 23 Zitat Henri Grgoire, Rapport et projet de dcret, prsent au nom du Comit d’instruction publique, la sance du 8 aot, Paris [1793], Zitat S. 1. 24 Ausführlich Poulot, „Surveiller et s’instruire“; ders., Le patrimoine universel. Un modle culturel franÅais, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 39. 1992, S. 29 – 55; Antoine de Baecque, Le corps de l’histoire. Mtaphores et politique, 1770 – 1800, Paris 1993; Annie Jourdan, Les Monuments de la Rvolution, 1770 – 1804. Une histoire de reprsentation, Paris 1997; FranÅoise Choay, L’allgorie du patrimoine, Paris 2007; dies., Le patrimoine en questions. Anthologie pour un combat, Paris 2009, bes. S. 77 – 109. 25 Eine „Zäsurideologie“ wurde im bereits weiter oben erwähnten Zusammenhang mit der Einführung des Revolutionskalenders deutlich, vgl. Rolf Reichardt, Zeit-Revolution und Revolutionserinnerung in Frankreich, 1789 – 1805, in: Hans-Joachim Bieber u. a. (Hg.), Die Zeit im Wandel der Zeit, Kassel 2002, S. 150 – 190, bes. S. 152 – 166; weiter Reinhart Koselleck, Hinweise auf die „Neue Zeit“ im Französischen Revolutionskalender, in: ders. u. Rolf Reichardt (Hg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewusstseins, München 1988, S. 61 – 64. Zum Kalender selbst etwa James Friguglietti, Gilbert Romme and the Making of the French Republican Calendar, in: David G. Troyansky u. a. (Hg.), The French Revolution in Culture and Society, New York 1991, S. 13 – 22. Vor allem aber Michael Meinzer, Der französische Revolutionskalender, 1792 – 1805. Planung, Durchführung und Scheitern einer politischen Zeitrechnung, München 1992. 26 Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Die Aneignung der Tradition. Destruktion und Konstruktion im Umgang der Französischen Revolution mit Monumenten des Ancien Rgime, in: Rolf Reichardt u. a. (Hg.), Symbolische Politik und politische Zeichensysteme im Zeitalter der Französischen Revolutionen, 1789 – 1848, Münster 2005, S. 101 – 111; Nicholas Mirzoeff, Signs and Citizens. Sign Language and Visual Sign in the French Revolution, in: Ann Bermingham u. John Brewer (Hg.), The Consumption of Culture, 1600 – 1800. Image, Object, Text, London 1995, S. 273 – 292; Lynn Hunt, Symbole der 478 Roland Cvetkovski Paradigmatisch hierfür war die Neubestimmung des Verhältnisses von Vergangenem und Gegenwärtigem, die nun auf eine Inversion der bislang üblichen historischen Legitimierungsstrategien hinauslief. Dem revolutionären Verständnis nach hatte nun allein die Gegenwart darüber zu bestimmen, welche Objekte des Ancien Rgime das Recht auf eine Weiterexistenz erhielten, und man bemaß dieses Recht stets unter dem Aspekt, inwieweit sie der Nachwelt als nützliche Belehrung dienlich sein könnten. Die Überlieferungen erhielten daher ihren Bedeutungsinhalt nicht vorrangig über deren Begründungsleistung für die Gegenwart, sondern umgekehrt befand nun die gebieterische Geste der Gegenwart allein über die Bewahrungswürdigkeit dieser Denkmäler.27 So erst wurde es möglich und verständlich, das Museum als einen Ort historisch verbürgter und gleichzeitig konstruierter sowie fiktiver Geschichten zu gestalten, die bewussten wie unbewussten Wünschen nachkamen. Der neuen Welt als aktueller sowie aktualisierender Gegenwart fiel demnach eine entscheidende Rolle zu, und diese kam gerade in den Debatten über das Bewahren von historischen Denkmälern deutlich zum Vorschein. Bereits die Konstituante, die grundlegende verfassungsgebende Nationalversammlung, hatte die Bedeutsamkeit erkannt, die gerade das Bewahren der monuments betraf. In einem Bericht vom 13. Oktober 1790 stellte ihr Abgeordneter Charles Maurice de Talleyrand dieses rigoros in den Dienst der Revolution, als er verkündete, dass es „die Freiheit ist, die sie [die bewahrten Kunstwerke, R.C.] zum Blühen bringt, und daher müssen diese gerade unter ihrer Herrschaft in Demut bewahrt werden“. Noch am gleichen Tag verabschiedete die Nationalversammlung eine entsprechende Resolution, die vorsah, dass der Staat „mit allen Mitteln über die Bewahrung der Denkmäler, Kirchen und Häuser, die in den nationalen Besitz übergegangen waren, zu wachen“ habe und wies die Stadt Paris im gleichen Atemzug an, mit ihren zahlreichen Monumenten in eigener Regie ebenso zu verfahren.28 Damit Macht, Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt 1989. 27 Zur allgemeinen Differenzbestimmung zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit, zu den davon abhängigen Verhältnissen zueinander und den sich daraus ergebenden Entwürfen von „Geschichte“ vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979. 28 Zitate in: Jrme Mavidal et Emile Laurent (Hg.), Archives parlementaires de 1787 1860. Recueil complet des dbats lgislatifs et politiques des chambres franÅaises, 82 Bde., Paris 1867 – 1913, hier Bd. 19: Du 16 septembre 1790 au 23 octobre 1790, Paris 1884, S. 589. Vgl. auch Bernard Deloche u. Jean-Michel Leniaud, Le premier dossier du patrimoine, in: dies. (Hg.), La culture des sans-culottes. Le premier dossier du patrimoine, 1789 – 1798, Paris 1989, S. 7 – 40, bes. S. 13; Pommier, L’art de la libert, S. 47 f. Schon am 15. September 1792 allerdings ging die Verantwortung für die ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 479 begann die eigentliche Geschichte des patrimoine. Die maßgeblichen vier Beschlüsse, die das Bewahren als offizielle Aufgabe der Revolution festsetzten und zu einer nationalen Pflicht erhoben, fasste die am 8. November 1790 ins Leben gerufene Commission des monuments zwischen Ende November 1790 und Mitte Mai 1791.29 Die erste der von ihr auf den Weg gebrachten Instruktionen vom 22. November 1790 zeigte nicht nur die Bandbreite der zu rettenden Gegenstände an – sie reichte von Manuskripten, Karten, Siegeln über Münzen, Medaillen, Gräbern bis hin zu Drucken, Teppichen und Vasen –, sondern hob in ihrer Präambel überdies den hohen Stellenwert hervor, den das Bewahren im revolutionären Kulturverständnis grundsätzlich einnahm: Unter dem Mobiliar […], das nunmehr Teil des nationalen Besitzes ist, findet sich eine Unmenge an Denkmälern, die für die Literatur, die Wissenschaften und die Künste von Interesse sind. Um sie zu bergen, ist es notwendig, sie davor zu bewahren, sich in alle Winde zu zerstreuen und ihren Verfall zu verhindern.30 Die Einführung des Begriffes monument historique erfolgte etwa zur gleichen Zeit. Jenseits der Versuche, die Deutungshoheit über die Vergangenheit moralisch zu begründen, hatte der Archäologe Aubin-Louis Millin bereits 1790 eine konkretere Vorstellung davon entwickelt und ihm ein museales Profil verliehen. Neben seiner erstaunlich modern anmutenden Zuversicht, dass historische Denkmäler den Rohstoff für eine Kulturgeschichte unter volkskundlichen Aspekten liefern und diese schließlich in eine „histoire de la vie prive“ einmünden lassen würden, begründete er die museale Erhaltung dieser monuments historiques vor allem mit ihrer Zweckbestimmung, insofern als sie nämlich der Entwicklung der Wissenschaften im Allgemeinen und der Denkmalpflege allein an den Innenminister über, vgl. Archives Nationales (künftig A.N.) F17 1.039 A, dossier 1. 29 Diese Kommission stellte einen Präzedenzfall in der französischen Geschichte dar : Erstmals wurden offiziell Experten eingesetzt, die sich explizit der Inventarisierung der künstlerischen Reichtümer Frankreichs annahmen wie auch Überlegungen über deren weitere Verwendung anstellten, vgl. Louis Tuetey (Hg.), Procs-verbaux de la Commission des monuments, 1790 – 1794, 2 Bde., Paris 1902/03. Zum Auftrag der Commission des monuments kurz Emmet Kennedy, The King’s Two Bodies. Monuments, Mausoleums, and Museums of the French Revolution, in: Troyansky, The French Revolution, S. 3 – 12; zur Bildung vgl. James Guillaume (Hg.), Procs-verbaux du Comit d’instruction publique de la Convention nationale, 7 Bde., Paris 1891 – 1907, hier Bd. 2, S. LXXII – LXXIV. 30 Instruction Concernant la conservation des Manuscrits. Chartes, Sceaux, Livres imprims, Monuments de l’antiquit et du Moyen Age, Statues, Tableaux, Dessins, et autres objets relatifs aux beaux-arts, aux arts mcaniques, l’histoire naturelle, au mœurs et usages des diffrents Peuples, tant anciens que modernes, provenant du mobilier des maisons ecclsiastiques, et faisant partie des biens nationaux, Paris 1790, S. 1. Alle vier Instruktionen außerdem abgedruckt in Deloche u. Leniaud, La culture des sans-culottes, S. 51 – 73. 480 Roland Cvetkovski Archäologie im Speziellen von Nutzen wären.31 Denn in seinen Augen, so zumindest führte er in einer kurze Zeit später erschienenen Abhandlung aus, würde man „sogar in andern Wissenschaften keine Fortschritte ohne Kenntniß des Alterthums machen“, zumal sich die „Geschichte der gesamten Gelehrsamkeit […] auf den [sic] alten Denkmälern [stützt]“. Es ist daher einleuchtend, wenn er zu dem Schluss kommt: „Wo kann man indessen mehr Fortschritte […] machen als in einem Museum, worin derjenige, der es erklärt, das vereinigt hat, was für den Unterricht notwendig ist.“32 Bemerkenswert war an Millins Konzeption, dass sie die Objekte als Material ausschließlich für die Geschichtswissenschaft – offenbar in ihrer noch nicht hinterfragten Funktion als magistra vitae – isolierte, was jedoch die Konservatoren zugleich auf den politischen Auftrag verpflichtete, die eigentlich erhaltenswerten Monumente nun konkret bestimmen zu müssen. Diese heikle Mission wurde aber zunächst für kurze Zeit überdeckt von den Forderungen, den Ort, an dem diese historischen Denkmäler versammelt werden sollten, in seiner nationalen Bedeutung herauszustellen. Zu Beginn des Jahres 1791 hatte der Kunstkritiker Quatremre de Quincy den Vorschlag unterbreitet, diese Reichtümer in Paris zu versammeln und den dafür ausersehenen Louvre in ein lyce universel zu verwandeln, um darin ein alles bislang überbietendes „nationales Institut für die Wissenschaften, Literatur und die Künste“ anzusiedeln.33 Diese Idee wurde unverzüglich aufgegriffen, und so dekretierte die Nationalversammlung bereits am 26. Mai 1791, dass der Louvre und die Tuilerien nicht nur Aufenthaltsort des Königs 31 Elke Harten, Museen und Museumsprojekte der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte einer Institution, Münster 1989, S. 115 – 118. Allgemein dazu Dominique Poulot, Naissance du monument historique, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 32. 1985, S. 418 – 450. 32 Aubin-Louis Millin, Allgemeine Einleitung in das Studium der alten Kunstdenkmäler. Mit einigen Zusätzen des Übersetzers [Paris 1796], Halle 1798, Zitate S. 14, S. 18 u. S. 40. Zu Millin auch Frdric Rücker, Les origines de la conservation des monuments historiques en France, 1790 – 1830, Paris 1913, S. 180. 33 Antoine Quatremre de Quincy, Seconde suite aux Considrations sur les arts du dessin, ou projet de rglement convenable l’Institut nationale des sciences, lettres et arts, Paris 1791, S. 93. Paris war in diesem Zusammenhang zwar von zentraler Bedeutung, schloss aber weder die Zirkulation der Exponate noch die Ausweitung des musealen Diskurses in die Provinzen aus, vgl. dazu grundlegend douard Pommier, Naissance des muses de province, in: Nora, Les lieux de mmoire, Bd. 2, S. 451 – 495; für das 19. Jahrhundert ausführlich Daniel J. Sherman, Worthy Monuments. Art Museums and the Politics of Culture in Nineteenth-Century France, Cambridge, MA 1989; Paulette Girodin, Le muse en France depuis 1815. Territoires et fonctions, in: Historiens et gographes 85. 1994, S. 61 – 68; Chantal Georgel, L’tat et „ses“ muses de province ou comment „concilier la libert d’initiative des villes et les devoirs de l’tat“, in: Le Mouvement Social 160. 1992, S. 65 – 77. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 481 wären, sondern zudem dazu bestimmt seien, „alle Denkmäler der Wissenschaften und Künste zu versammeln sowie die obersten Einrichtungen der öffentlichen Bildung in sich aufzunehmen“.34 Mit diesem Dekret wurde letztlich auch der Diskurs über die Bedeutung speziell der Kunstdenkmäler als nationale lieux de mmoire offiziell eröffnet, und im Zuge dessen avancierte der Louvre selbst zu einem „Denkmal des Ruhmes“, da es ihm nun offiziell zugefallen war, als „Tempel der Natur und des Geistes“ die revolutionären Ideale gänzlich umzusetzen.35 Indes stellte die Ungewissheit darüber, 1789 nicht doch lediglich als Chiffre des Neuanfangs begreifen zu müssen, die Revolutionäre spätestens nach der Ausrufung der Republik im August 1792 vor eine Zerreißprobe; Zerstörung lief nun Hand in Hand mit dem Aufbau, Denkmalsturz mit Denkmalsetzung und endete schließlich im tatsächlichen Abriss der monarchischen Überreste. Der vandalisme war ein Ausdruck der offiziellen Haltung, eine Übereinstimmung der Kulturlandschaft mit dem politischen Regime zu erzwingen und die Bürger als unerbittliche Richter über die Vergangenheit einzusetzen.36 Doch hatte er sich für die Revolution letztendlich als systemdestabilisierend erwiesen, und so gewann in den Sturmjahren zwischen 1792 und 1794 zusehends das Argument an Gewicht, das sich für eine Musealisierung des Erbes aussprach – nicht zuletzt aus einem Gefühl heraus, das von einer tiefen Verachtung gegenüber dem Pöbel geprägt war und dem Entsetzen vor allem darüber, welche Spuren verheerender Verwüstungen der eigentlich konterrevolutionäre Zerstörungsrausch in ganz Frankreich hinterlassen hatte.37 34 Archives parlementaires, Bd. 26 : Du 12 mai au 5 juin 1791, Paris 1887, S. 471, Art. 1. 35 So Armand-Guy Kersaint, Discours sur les monuments publics, prononc au conseil du dpartement de Paris, le 15 dcembre 1791, Paris 1792, S. 39 – 42. 36 Bronislaw Baczko, Vandalismus, in: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, hg. v. FranÅois Furet u. Mona Ozouf, Frankfurt 1996, Bd. 2, S. 1354 – 1368; Stanley J. Idzerda, Iconoclasm during the French Revolution, in: The American Historical Review 60. 1954, S. 13 – 26; Louis Rau, Histoire du vandalisme. Les monuments dtruits de l’art franÅais, 2 Bde., Paris 1959; Gabriele Sprigath, Sur le vandalisme rvolutionnaire, 1792 – 1794, in: Annales Historiques de la Rvolution FranÅaise 282. 1980, S. 510 – 535; Simone Bernard-Griffiths u. a. (Hg.), Rvolution franÅaise et vandalisme rvolutionnaire. Actes du colloque international de Clermont-Ferrand 15 – 17 dcembre 1988, Paris 1992; FranÅois Souchal, Le vandalisme de la Rvolution, Paris 1993; Poulot, „Surveiller et s’instruire“, bes. S. 284 – 319; douard Pommier, Museum und Bildersturm zur Zeit der Französischen Revolution, in: Sigrid Schade u. Gottfried Fliedl (Hg.), Kunst als Beute. Zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten, Wien 2000, S. 27 – 43; Tauber, Bilderstürme. Die erste Nennung des Begriffs vandalisme erfolgte durch den Vorsitzenden des Comit d’instruction publique Joseph Lakanal, vgl. Deloche u. Leniaud, La culture des sans-culottes, S. 34, Anm. 15. Der entsprechende Bericht vom 4. Juni 1793, abgedruckt in: ebd., S. 81. 37 Auch Romme appellierte am 24. Oktober 1793 angesichts der bereits angerichteten Verheerungen an die Vernunft und offenbarte dabei seinen ungebrochenen, allein an 482 Roland Cvetkovski Der erste praktische Aufruf zum Bewahren ging schließlich von der Commission temporaire des arts aus, die 1793 zwei ihrer Mitglieder, den Mediziner Flix Vicq d’Azyr und den Benediktiner Dom Germain Poirier, mit der Abfassung einer Instruktion beauftragte, welche die gesamte Republik mit der nationalen Bedeutung des Bewahrens vertraut machen sollte.38 Zugleich aber knüpfte nun das Bewahren an die Aktualität der freiheitlichen Nation an, die ja allein über das Erbe der Vergangenheit bestimmen durfte. Ein am 1. September 1794 von Henri Grgoire im Nationalkonvent vorgestellter Bericht verdeutlichte dies anhand des vermeintlichen Dilemmas, das sich aus dem Gegensatz von statischem Bewahren und dynamischer Revolution ergeben hatte, und er fügte hinzu, dass eine Lösung einzig aus der Gegenwart zu ziehen sei: Zweifellos muss für die Augen alles die republikanische Sprache sprechen. Doch würde man die Freiheit verleumden, wenn man annähme, dass ihr Triumph von der Erhaltung oder Zerstörung einer Figur abhinge, an welcher der Despotismus irgendwelche Spuren hinterlassen hat. Wenn aber nun die Monumente eine hohe Kunstfertigkeit aufweisen, kann ihre Erhaltung […] dem Geist Nahrung geben und gleichermaßen den Hass auf die Tyrannen verstärken, indem sie diese durch genau dieses Bewahren dazu verurteilt, ewig am Pranger zu stehen.39 Daher musste das patrimoine zwangsläufig dem präsentischen Imperativ unterliegen, der das Bewahren nun wie selbstverständlich an die konkreten Erfordernisse und Interessen der Gegenwart band und es in einen quasinatürlichen Vorgang der Selektion überführte. Jean-Baptiste Mathieu, Vorsitzender der Commission temporaire des arts, fasste diesen Punkt in einem Bericht an den Konvent vom 18. Dezember 1793 auf geradezu spektakuläre Weise zusammen: der revolutionären Gegenwart geschulten Optimismus. „Wir müssen alles bewahren und es [einzig] der Zeit und der Philosophie überlassen, unsere Biblioheken zu reinigen, wie sie es schon seit fünf Jahren mit unseren Gesetzen und Sitten getan hat.“ CharlesGilbert Romme, Sur les abus qui se commettent dans l’excution du dcret du 18 du premier mois, relatif aux emblmes de la fodalit et de la royaut, suivi d’un nouveau dcret rendu dans la sance du 3 du deuxime mois ou du brumaire, [Paris] 3 brumaire an II [24. Oktober 1792], abgedruckt in: Deloche u. Leniaud, La culture des sansculottes, S. 93 – 99, Zitat S. 96. 38 Flix Vicq d’Azyr, Instruction sur la manire d’inventorier et de conserver, dans toute l’tendue de la Rpublique, tous les objets qui peuvent servir aux arts, aux sciences et l’enseignement, propose par la Commission temporaire des arts et adopte par le Comit d’instruction publique de la Convention nationale, Paris an II [1794]. Dazu auch Poulot, Muse, nation, patrimoine, S. 130 – 133. Zu Vicq d’Azyr vgl. Bernard Deloche, Un prcurseur de la musologie scientifique. Flix Vicq d’Azyr, in: Musologie et ethnologie (= Notes et documents des muses de France, Bd. 16), Paris 1987, S. 38 – 45. 39 Grgoire, Rapport sur les destructions, S. 11. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 483 Unter den Emigranten noch vielerorts verstreut werden nun diese unermesslichen Reichtümer [der Kunst, R.C.] nach einer angemessenen, den Verordnungen entsprechenden Auswahl in den Nationalmuseen zusammengetragen. Daraus wird wohl eine der interessantesten Sammlungen entstehen sowohl für diejenigen, die sich in den Künsten bilden möchten, als auch überhaupt für das gesamte französische Volk, das nun alleiniger Eigentümer dieser […] Werke ist, wie es auch schon von jeher ihr trefflichster Richter gewesen war […]. All die Denkmäler und Altertümer, […] welche die Zeit nicht zerstört und uns allein aus dem Grunde übergeben hat, damit die Geschichte sie zu Rate zieht, damit die Künste sie studieren, damit die Philosophen über sie nachsinnen […] – alle diese unzähligen Denkmäler waren Gegenstand der Bestandsaufnahmen und Recherchen der Commission des arts.40 Seine Aussage gab nicht nur die Sorge um die Inventarisierung von Kunstwerken im Namen der Nation an, sondern ging weit darüber hinaus, indem sie dieser monströsen Ansammlung von Dingen gleichsam eine eigene Rede unterstellte: sie sprachen nicht von der Vergangenheit, sondern über sie. Auf diese Weise wurde nicht nur der Grundstock des französischen Kulturerbes definitorisch umrissen, sondern die Macht des Kulturellen überhaupt festgeschrieben. Mit der Bestimmung eines sich notwendig aus der Gegenwart ergebenden patrimoine formulierte Mathieu neben einem moralischen und pädagogischen Anliegen vor allem erste Ansätze einer Museumspolitik, die den Umgang mit der Vergangenheit als einen universalen und gleichermaßen national ausgerichteten Auftrag festlegte.41 Die Gegenwart war zum entscheidenden Scharnier geworden, das eine geräuschlose Bewegung von einer Vereinnahmung der Vergangenheit hin zu einem Entwurf der Zukunft ermöglichte. Ganz im Sinne einer „Überinvestition in die Politik symbolischer Zeichen“42 war dabei nun außerordentlich bedeutsam, dass die offizielle Eröffnung des Louvre am 10. August 1793 genau auf den Tag fiel, an dem die Feier zum ersten Jahrestag der Republik ausgerichtet wurde. Der Innenminister DominiqueJoseph Garat hatte sich bereits im Frühjahr 1793 gerade für diesen Termin stark gemacht. Als er am 4. Juli 1793 dem Präsidenten des Konvents abermals sein Gesuch vortrug, hob er erneut hervor, dass die Einweihung des Museums unbedingt mit den Feierlichkeiten der jungen Republik zusammenfallen müsse, weil es der „Wunsch der Künstler“ sei, die „stets bereit sind, Ideen aufzugreifen, die dem Kult der Freiheit verpflichtet sind“.43 Dies brachte er am 40 Rapport fait la Convention au nom du comit d’instruction publique par Mathieu, dput, le 28 frimaire, l’an 2e de la rpublique franÅaise, in: Procs-verbaux du Comit d’instruction publique, Bd. 3, S. 171 – 180, Zitat S. 178 f. Dazu auch Rücker, Les origines, S. 93 – 96. 41 Vgl. Poulot, Le patrimoine universel. 42 So Poulot, La naissance du muse, S. 202. 43 Alexandre Tuetey u. Jean Guiffrey (Hg.), La Commission du Musum et la cration du muse du Louvre (1792 – 1793), Paris 1910, Zitate S. 198 f. 484 Roland Cvetkovski 6. Juli 1793 vor den Nationalkonvent, der den Beschluss schließlich am 27. Juli fasste.44 Da der 10. August gleichbedeutend war mit der Erringung nationaler Einheit und der damit verbundenen Erneuerung des Volkes, lag es auf der Hand, dass die zeitgleiche Eröffnung des Museums im Louvre als Akt zu verstehen war, der die französische Nation nunmehr mit seinem Erbe versöhnen sollte.45 Das Museum stabilisierte offenkundig zweifach diesen Diskurs: Durch das symbolträchtige Eröffnungsdatum war es zum einen nun endgültig zum „Tempel der Freiheit“ geworden,46 was es zum anderen dazu berechtigte, als Bewahrer der französischen Kultur in den Dienst der neu erstandenen freiheitlichen Nation zu treten.47 Diese museale Justierung des Bewahrensdiskurses zeigt an, dass die neue Welt keinen völligen Bruch mit der Vergangenheit herbeiführen konnte, im Gegenteil: Die dezidierte Ausrichtung der Bewahrensparameter auf die Gegenwart nahm den monarchischen Relikten das Bedrohliche und Beunruhigende und ermöglichte dadurch, dass dieses Erbe gefahrlos in die neue Kultur eingelassen werden konnte, indem es nicht mehr den alten Codes unterworfen war. Das revolutionäre Museum wurde zum absoluten Ort der neuen Welt, und es war einzig die dort präsentierte Auswahl an Denkmälern, welche die Vergangenheit bestimmte. Dass dies so möglich war, lag vor allem daran, dass die Ausstellungsobjekte ihres alten Symbolgehalts entledigt und mit einem nunmehr ästhetischen Wert aufgeladen wurden. III. Die Politik der Ästhetik Das ästhetische Moment ist zweifellos das offensichtlichste Merkmal des Kunstmuseums. Eine neue Welt verlangt im Besonderen nach einer neuen Ästhetik. Auffällig ist allerdings, dass man es dabei mit einem inhaltlichen sowie formalen Diskussionsstrang zu tun hat. Beide scheinen auf den ersten Blick höchstens lose miteinander zusammenzuhängen, gingen jedoch in ihrer 44 Procs-verbaux du Comit d’instruction publique, Bd. 2, S. 152 – 155. 45 Vgl. Edouard Pommier, Idologie et muse l’poque rvolutionnaire, in: Michel Vovelle (Hg.), Les images de la Rvolution FranÅaise, Paris 1988, S. 57 – 78, bes. S. 66. 46 Jacques-Louis David, Rapport sur la suppression de la Commission du Musum, [Paris] Nivse an II [Dezember 1793/Januar 1794], Zitat S. 2. Der Bericht findet sich auch abgedruckt in: Yveline Cantarel-Besson, La naissance du muse du Louvre. La politique musologique sous la Rvolution d’aprs les archives des muses nationaux, Bd. 2, Paris 1981, S. 212 – 214. 47 Vom für die Republik „konsolidierenden“ Charakter des Museums sprach man ebenfalls im Zusammenhang mit dem Wunsch nach der Errichtung eines Museums in Versailles, vgl. hierzu die Sitzung der Commission temporaire des arts, undatiert, möglicherweise Ende November 1794, in: Louis Tuetey (Hg.), Procs-verbaux de la commission temporaire des arts, Bd. 1, Paris 1912, S. 674. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 485 Argumentationsentwicklung auseinander hervor und fixierten letztlich durch eine doppelte Ästhetisierung des historischen Erbes die grundlegende Narrativität des Museums. Zunächst war die Verkürzung des patrimoine auf eine ästhetische Hinterlassenschaft von grundlegender Bedeutung für ein ohnehin eher künstlerisches Verständnis von Museumsexponaten.48 Hatte bereits das Ancien Rgime die Kunst als Propagandamittel für sich einzusetzen gewusst,49 ging die Revolution noch einen bedeutenden Schritt weiter, indem sie versuchte, Politik und Kunst in ein sich bedingendes Verhältnis zu setzen.50 Der Architekt Athanase Dtournelle verlieh diesem Ineinander in seiner 1794 erstmals erschienenen Zeitschrift Aux armes et aux arts eine geradezu monumentale Form: „Man muss aus der ganzen Kraft, die die Freiheit dem Volk verleiht, profitieren, um es auf das wahre Schöne abzustellen, und damit die Republik unsterblich machen.“51 Die Kunst übernahm für die Revolution insofern eine tragende Rolle, als sich die Revolutionäre darin einig waren, dass sie die „Sprache aller Zeiten und aller Völker“ darstelle,52 zumal sie – dies war zweifellos auch die Grundannahme von Dtournelle – seit jeher „die öffentliche Moral beeinflusst“ hatte.53 Die ästhetisch-integrative Kraft des Museums offenbarte sich daher durch die Anschaulichkeit seiner Objekte und sollte alle Bürger in den Prozess der republikanischen Erneuerung einbinden. Der öffentliche museale Raum war ein Medium kultureller Sozialisation und nationaler Erziehung, und 48 Jean-Rmy Mantion, Droutes de l’art. La destination de l’œuvre d’art et le dbat sur le muse, in: Jean-Claude Bonnet (Hg.), La Carmagnole des muses. L’homme de lettres et l’artiste dans la Rvolution, Paris 1988, S. 97 – 129; Dominique Poulot, Le sens du patrimoine. Hier et aujourd’hui, in: Annales 48. 1993, S. 1601 – 1613. 49 Klassisch hierzu James A. Leith, The Idea of Art as Propaganda in France, 1750 – 1799. A Study in the History of Ideas, Toronto 1965. 50 Die „göttliche Kunst“ wird „der Freiheit zurückgegeben“, so Vicq d’Azyr, Instruction sur la manire d’inventorier, S. 60. Vgl. auch Poulot, Une histoire des muses, bes. S. 102. Zur Kunstdebatte während der Revolution stammt das Standardwerk von Pommier, L’art de la libert. In Kurzform vgl. douard Pommier, Les arts en Rvolution, ou le patrimoine de la libert, in: Daniel Rabreau u. Bruno Tollon (Hg.), Le progrs des arts runis 1763 – 1815. Mythe culturel, des origines de la Rvolution la fin de l’Empire? Bordeaux 1992, S. 3 – 17. Einen sehr guten Überblick liefern auch Bordes u. Michel, Aux armes. Weiterhin unverzichtbar ist die ältere Arbeit von Benot, L’art franÅais. 51 Athanase Dtournelle (Hg.), Aux armes et aux arts! Peintures, sculpture, architecture, gravure. Journal de la socit rpublicaine des arts, Sance au Louvre, Salle du Laocoon. Premire partie. Du premier Ventse au premier Prairial, Paris 1794, S. 3. 52 Jean-Baptiste-Pierre Le Brun, Quelques ides sur la disposition, l’arrangement et la dcoration du Musum national, Paris an III [1795], S. 7. 53 Alexandre Lenoir, Description historique et chronologique des monumens de sculpture, runis au muse des monumens franÅais. Suivie d’un trait historique de la Peinture sur verre, par le mÞme auteur. Quatrime dition, revue, corrige et considrablement augmente, Paris an VI [1797], Zitat S. 47. 486 Roland Cvetkovski die Formung des neuen Menschen erfolgte über die Anschauung und Erfahrung der ausgestellten Kunstwerke, gleichsam durch eine Affektion der Sinne, wie es bereits der Sensualismus des 18. Jahrhunderts gelehrt hatte. Insofern schlugen im Museum die ästhetischen Prinzipien von innerer und äußerer Korrespondenz, ganz wie dies zuvor Johann Joachim Winckelmann postuliert hatte, in die politische Diskussion durch:54 Die Idee des KlassischAntiken als einzig Bewahrungs- und Überlieferungswürdiges besaß eine universale und damit eine ahistorische Dimension, die den aus unterschiedlichen Zeiten stammenden Denkmälern unterstellte, alle im gleichen Geist erschaffen worden zu sein. Die freiheitliche Ahnenreihe der Revolution, wie sie im Louvre präsentiert wurde, war daher zwar prominent und vertrat alle Epochen der Kunstgeschichte, sie musste aber deshalb nicht zwingend historisch sein, sondern hatte in erster Linie eine innere, freiheitlichästhetische Übereinstimmung mit der Politik der Revolution herzustellen.55 Die ästhetische Verengung des patrimoine war daher eine logische Konsequenz dieses Konsenses, der sich schon zu Beginn der Revolution angedeutet hatte.56 Bereits am 19. April 1791 hatte der Maler und Bildhauer Jean Bernard Restout vor der gesetzgebenden Nationalversammlung die Behauptung aufgestellt, dass „die Künste nun Freunde der Verfassung sind“. Der Innenminister Roland griff am 1. Dezember 1792 diesen Gedanken wieder auf und verkündete, dass es neben den Wissenschaften vor allem die Künste seien, auf deren fruchtbarem Boden die wahren republikanischen Ideen gedeihen könnten.57 Zuvor hatte bereits die Nationalversammlung, ehe sie das Feld für den Nationalkonvent räumen musste, mit einem ihrer letzten Dekrete vom 19. September 1792 diese bedeutsame Eingrenzung offiziell vorgenommen, welche die Definition des patrimoine nun endgültig auf die schönen Künste eindampfte. Die „Zusammenführung der Gemälde und Denkmäler der schönen Künste im Musum franÅais“ galt als „dringlich“, wodurch dem Louvre zugleich seine Bestimmung als Bewahrer eines vornehmlich ästhetisch aufbereiteten patrimoine auferlegt worden war, und die Commission des monuments hatte den entsprechenden Auftrag erhalten, die überall verstreuten Gemälde und Denkmäler der schönen Künste „unverzüglich […] in das Depot des Louvre zu überstellen“.58 Die ästhetische Konzeption, die den Louvre offenkundig durchwaltete, bezog sich dabei nicht lediglich auf die neue Welt, sondern hatte zudem „die Aufklärung zu verbreiten“, indem die 54 Zur Winckelmannrezeption in Frankreich vgl. Edouard Pommier, Winckelmann und die Betrachtung der Antike im Frankreich der Aufklärung und der Revolution, Stendal 1992. 55 Generell dazu Jean Starobinski, Die Erfindung der Freiheit, 1700 – 1789, Frankfurt 1988. 56 Vgl. Scheller, La notion de patrimoine artistique. 57 Zitate nach Pommier, Les arts en Rvolution, Zitat S. 4 f. 58 Archives parlementaires, Bd. 50: Du 15 septembre 1792 au soir au 21 septembre 1792 au matin, Paris 1896, S. 151. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 487 ausgestellten Kunstwerke „der Belehrung aller Bürger dienen müssen“.59 Dies offenbarte sich am deutlichsten darin, dass das Museum sich nicht mehr wie bislang üblich der Tradition verpflichtet sah. Vielmehr wurde ein Wettstreit unter den Künstlern initiiert, eine neue, republikanische Kunst zu erschaffen, dabei das Volk zu unterweisen und der Nachwelt ausdrücklich neue Lektionen zu erteilen, und das hieß: ästhetisch die neue Welt zu überliefern und zu übergeben. Für die Revolutionäre konnte der Louvre somit nichts anderes als eine künstlerische Schule der republikanischen Tugend darstellen. Für den Maler Gabriel Bouquier etwa wäre es ein offener Affront gewesen, die Franzosen mit Gemälden von ehemals zum offiziellen klassizistischen Kanon zählenden Malern, wie etwa FranÅois Boucher oder Charles Andr van Loo, zu Republikanern zu erziehen. Hierzu benötige es vielmehr „stolzer Farben, eines unruhigen Stils, eines verwegenen Pinsels, eines vulkanischen Charakters“.60 Die Hervorbringung republikanischer Künstler könne daher, so die Kritiker der noch verantwortlichen Commission de Musum61 Jean-BaptistePierre Le Brun und Jean-Michel Picault, nur durch eine Hängung nach Schulen bei gleichzeitig chronologischem Arrangement erreicht werden;62 eine solche Anordnung wurde für den Louvre allerdings erst im Februar 1798 beschlossen.63 Zuvor hatte die Commission de Musum sich für eine Art der 59 Erstes Zitat aus der Sitzung der Commission temporaire des arts vom 26. September 1794, das zweite aus der Sitzung vom 20. Dezember 1794, beide in: Procs-verbaux de la commission temporaire des arts, Bd. 2, S. 419 u. S. 653. Zur spezifisch ästhetischen Konzeption des Louvre vgl. den Brief der Commission du Musum vom 24. Februar 1793 an den Innenminister Dominique-Joseph Garat in: La Commission du Musum, S. 89. 60 Gabriel Bouquier, Rapport et projet de dcret, Relatifs la restauration des Tableaux et autres monumens des arts, formant la collection du Musum national; Par G. Bouquier, au nom du Comit d’Instruction publique, Paris [6. Messidor an II/24. Juni 1794], S. 2 f. 61 Die Commission du Musum wurde auf Betreiben ihres erbittertsten Gegners JacquesLouis David am 16. Januar 1794 vom Conservatoire du Musum abgelöst; zum Führungswechsel samt Reorganisation der Museumsleitung, vgl. das Dekret vom Nationalkonvent in: A.N. F21 569, dossier 1. 62 Le Brun war ein bekannter Kunsthändler wie -kenner, Picault Maler und Restaurator; Jean-Baptiste-Pierre Le Brun, Rflexions sur le Musum national, par le citoyen Le Brun, Paris 1793; ders., Observations sur le Musum national, par le citoyen Le Brun, peintre, et marchand de tableaux; Pour servir de suite aux Rflexions qu’il a dj publies sur le mÞme objet, Paris 1793. Picault etwa äußert seinen Unmut über die „Unordnung“ bei der geplanten Hängung in einem Brief an Garat vom 1. April 1793 und fordert die Anordnung nach Schulen, Brief abgedruckt in: La Commission du Musum, S. 114 – 116. 63 Ausführlicher bei McClellan, Inventing the Louvre, S. 91 – 154 u. S. 205 – 211. In Wien hatte man das Ausstellungsprinzip nach Malschulen bereits kurz zuvor erprobt, vgl. Christian von Mechel, Verzeichniß der Gemälde der Kaiserlich Königlichen Bilder 488 Roland Cvetkovski Präsentation entschieden, die zwar eine dreigliedrige Einteilung in italienische, holländisch-flämische und französische Malerei vornahm, die Gemälde jedoch nicht nach einzelnen Schulen, sondern nach den bildnerischen Merkmalen beziehungsweise Kompositionsmustern anordnete, was zu großen Teilen noch den früheren Hängungsgewohnheiten entsprach. In ihrer Begründung führte sie an, dass die bloße Aufteilung nach Schulen nur für die Kenner von Bedeutung sei, der Allgemeinheit allerdings die künstlerische Eigenheit sowie die Darstellungsweisen der Kunst verschlossen blieben. Ihr Fokus wurde eindeutig von einer in erster Linie künstlerisch-pädagogischen Absicht geleitet, die den geschichtlichen Fortgang der Kunst, wie ihn die Kritiker einforderten, in ihrem vermeintlich teleologischen Verlauf ausblendete.64 Die Politisierung der Kunst als inhaltlicher Bestandteil der Debatte um die museale Ästhetik lief nun parallel mit einer Diskussion, die vom Archäologen und Kunstkritiker Antoine-Chrysostme Quatremre de Quincy angestoßen worden war. Er hatte an der Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft Überlegungen vor allem zum formalen Aspekt des Museums angestellt und erstmals die Ästhetisierung der musealen Objekte zur Sprache gebracht. Anlass hierfür war aber die Kunst selbst. Im Grunde genommen argumentierte er ähnlich wie Millin zuvor, der ja Museumsexponate als in Einheiten aufgeteilte, instruktive Anschauungsmaterialien für den Unterricht und die historischen Wissenschaften entworfen hatte, allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen.65 Quatremre wurde vor allem bekannt dafür, dass er eine kompromisslose Haltung gegenüber den neu eingerichteten revolutionären Museen, im Besonderen gegenüber dem Louvre, eingenommen hatte. Sein Gallerie in Wien verfaßt von Christian von Mechel nach der von ihm auf Allerhöchsten Befehl im Jahre 1781 gemachten neuen Einrichtung, Wien 1783, bes. S. XI–XXII; dazu Debora J. Meijers, La classification comme principe. La transformation de la Galrie impriale de Vienne en „histoire visible de l’art“, in: Pommier, Les muses en Europe, S. 591 – 614. 64 Der Bericht der Commission de Musum zu ihrer Entscheidung über die Hängung datiert vom 17. Juni 1793, in: La Commission du Musum, S. 179 – 189. 65 Ren Schneider, Quatremre de Quincy et son intervention dans les arts, 1788 – 1830, Paris 1910; Michael Greenealagh, Quatremre de Quincy as a Popular Archaeologist, Paris 1968; James Henry Rubin, Allegory versus Narrative in Quatremre de Quincy, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 44. 1986, S. 383 – 392; Yvonne Luke, The Politics of Participation. Quatremre de Quincy and the Theory and Practice of „Concours publiques“ in Revolutionary France, 1791 – 1795, in: Oxford Art Journal 10. 1987, S. 15 – 43; Sylvia Lavin, Quatremre de Quincy and the Invention of a Modern Language of Architecture, Cambridge, MA 1992; douard Pommier, Quatremre de Quincy et le patrimoine, in: Pavanello, Antonio Canova e il suo ambiente, S. 459 – 479; Steven Adams, Quatremere de Quincy and the Instrumentality of the Museum, in: Working Papers in Art and Design 3. 2004, http://sitem.herts.ac.uk/artdes_research/papers/ wpades/vol3/safull.html. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 489 radikaler Kulturpessimismus resultierte nicht zuletzt aus einer schmerzhaften Verlusterfahrung, da er sich ganz und gar als Mensch des Ancien Rgime verstand, der gerade die aufgeklärten Ideale und Ziele einer rpublique des lettres hochhielt. Seine Kritik am revolutionären Museum gibt nicht nur Aufschluss über die unterschiedlichen Positionen, die zwischen den anciens und den modernes bezogen worden waren, sondern sein Veto offenbart erstmalig die neuartige Funktion des Museumsobjekts, das, so die Schlussfolgerung, als Resultat eines Entfremdungs- sowie Ästhetisierungsprozesses zu begreifen war. Quatremres eigentliche Speerspitze richtete sich gegen das zeitgenössische Verständnis von Ästhetik. Ein ästhetisches Urteil wurde im modernen, das heißt im Kantischen Sinne, über die Rezeption einzelner Kunstwerke gefällt, ohne, so Quatremre, ihre adäquate ästhetische Umgebung, ihre Aura zu berücksichtigen. Für ihn besaß nach wie vor der klassizistische Leitsatz Gültigkeit, demzufolge die Antike die höchste Kunstform hervorgebracht habe und der es nachzueifern galt. Dadurch wurde eine klare Hierarchie, aber auch eine Einheit der Kunst gewährleistet. Für Quatremre bestand die Revolution in den Künsten in einer, wie kürzlich betont wurde, konsequenten „archäologischen Reproduktion der Antike“,66 und als entsprechendes Ambiente, das Hierarchie und Einheit in höchstem Maße zu garantieren vermochte, kam nur Rom in Frage. Das wahre Kunstwerk könne nur in seiner ihm angestammten Umgebung seine volle Wirkung entfalten, da allein hier dessen Authentizität zur Geltung komme. Unter diesen Voraussetzungen konnte das Museum, welches wie der Louvre lediglich ein Punkt des Einsammelns und Zusammenstellens von Meisterwerken war, indessen nicht eine Umgebung bieten, in der inhaltliche Einheit und auratische Präsenz gleichzeitig gewährleistet werden konnten, im Gegenteil: Das Museum war ein Ort der Spaltung, der Absonderung und der Diskontinuität, und für Quatremre bestand kein Zweifel, dass „Trennen [immer] Zerstören bedeutet“.67 Das Museum war Ausdruck einer Fragmentarisierung der ästhetischen Erfahrung und musste daher ein den Kunstwerken im buchstäblichen Sinne wesensfremder Ort werden. Hingegen galt ihm Rom als das „wahre Museum“, denn dort waren jegliche Kunstwerke eingebettet in Plätze, historische Orte, Berge, Steinbrüche, antike Straßen, Ruinenstädte, geografische Eigenheiten, in die Wechselwirkungen aller Gegenstände untereinander, in die Erinnerungen, die lokalen Traditionen, die noch existierenden Bräuche – alles Parallelen und Vergleiche, die nur in dem Land selbst gezogen werden können.68 66 So Jean-Louis Dotte, Rome, the Archetypal Museum, and the Louvre, the Negation of Division, in: Susan Pearce (Hg.), Art in Museums, London 1995, S. 215 – 232, hier S. 217. 67 Antoine Quatremre de Quincy, Lettres Miranda sur le dplacement des monuments de l’art de l’Italie [1796], hg. v. douard Pommier, Paris 1989, Zitat S. 100. 68 Zitat ebd., S. 102. 490 Roland Cvetkovski Das endgültige Verdikt gegen die ästhetische Isolierung, wie sie der Kunst bei ihrer Metamorphose in ein modernes museales Objekt, in ein im wahrsten Sinne des Wortes Kunst-Werk widerfuhr, sprach Quatremre einige Jahre später in seinen berühmten „Considrations“ aus: Alle Monumente von ihrem Platz zu entfernen, so ihre Fragmente einzusammeln, ihre Trümmer methodisch zu ordnen und aus einer solchen Ansammlung einen praktischen Kursus in moderner Chronologie zu machen, bedeutet […] ihrem Begräbnis bei lebendigem Leibe beizuwohnen, bedeutet, die Kunst zu töten, um aus ihr Geschichte zu machen. Man schreibt dadurch aber nicht ihre Geschichte, sondern ihr Epitaph.69 Für Quatremre war der organische Zusammenhang durch das moderne Museum außer Kraft gesetzt, und in letzter Konsequenz übermalte der Louvre mit seiner Gewalt, die er der Kunst antat, das intakte Bild des aufgeklärten Ancien Rgime, dessen ästhetisches Ideal durch einen inneren, gleichsam natürlichen Zusammenhang begründet und von der Antike bestimmt worden war. Quatremre monierte hier nichts anderes als das auratische und dadurch moralische Verkommen des historisch-künstlerischen Denkmals. Weniger aus seinem Urteil als vielmehr aus seiner Argumentation erschließt sich die nicht zu überschätzende Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst und Museum, das sich in dieser Perspektive durch eine neue, geradezu zerstörerische Dynamik auszeichnete. Und doch verbarg sich hinter dieser destruktiven Gewalt eine schöpferische Kraft, die sich gleichermaßen nach außen wendete und ihre Wirksamkeit zeigte: Denn erst über die Vereinzelung der musealen Objekte, die ihrem eigentlichen Zusammenhang entrissen worden waren, wurde es überhaupt möglich, die symbolisch überfrachteten Relikte der Vergangenheit umzudeuten, indem man ihnen nun einen erinnerungsfreien ästhetischen Wert zuerkannte, der diese historischen Hinterlassenschaften letztlich neutralisierte.70 Das moderne Museum hatte daher eine fundamentale Umwandlung bewirkt, welche die Gegenstände vom imago agens zum Kunstwerk transformiert hatte, und damit den Fokus von der Funktion zur Form verschob:71 Entkontextualisierung durch Ästhetisierung bot die einmalige Gelegenheit, Geschichte neu beginnen zu lassen, 69 Antoine Quatremre de Quincy, Considrations morales sur la destination des ouvrages de l’art, ou de l’influence de leur emploi sur le gnie et le got de ceux qui les produisent ou les jugent, et sur le sentiment de ceux qui en jouissent et en reÅoivent les impressions, Paris 1815, in: Quatremre de Quincy, Considrations morales sur la destination des ouvrages de l’art suivi de Lettres sur l’enlvement des ouvrages de l’art antiques Athnes et Rome, hg. v. Jean Louis Dotte, Paris 1989, S. 48. 70 Günther Lottes, Damnatio historiae. Über den Versuch einer Befreiung von der Geschichte in der Französischen Revolution, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte politischer Symbolik, Göttingen 1997, S. 22 – 48, bes. S. 41. 71 Vgl. McClellan, Inventing the Louvre, S. 113; auch Dominique Poulot, La morale du muse, 1789 – 1830, in: Romantisme 31. 2001, S. 23 – 30, bes. S. 24 – 28. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 491 ohne auf die Vergangenheit verzichten zu müssen. Die Isolierung der musealen Objekte und die sich dadurch eröffnende Möglichkeit ihrer Rekontextualisierung war ein Wesenszug des Museums, der vor allem in dem damit verbundenen Anspruch auf Objektivität neu war. Als der Innenminister Jean-Marie Roland de la Platire im Zusammenhang mit den laufenden Plänen zur Errichtung des Museums im Louvre in einem Brief an Jacques-Louis David schrieb, dass nun das Museum „zu einem der mächtigsten Mittel wird, um die französische Republik zu veranschaulichen“,72 zeigte sich überdies, dass unter dem Druck der revolutionären Ideologie die Wahrhaftigkeit musealer Erzählungen zusätzlich dadurch verstärkt wurde, dass die Träger dieser Erzählung – die Museumsexponate – in ihrer Funktion beständig zwischen Präsentation und Repräsentation oszillierten: Die Sammlung im Louvre und die Republik galten offenbar als Synonyme. IV. Die Politik der Utopie Louis-Sbastien Mercier hatte sich in seiner erstmals 1771 noch anonym erschienenen Schrift über eine zukünftige Gesellschaft im Jahre 2440 das Museum als „Inbegriff des Universums“ vorgestellt.73 Es verstehe sich dabei von selbst, so Mercier, dass dann „alle Künste und Professionen gleichermaßen frei“ wären, dass es zudem nicht nur verboten sei, „mit der Kunst zu lügen“, sondern auch überhaupt ein Kunstwerk anzufertigen, „was die Seele nicht anspricht“. Hierzu gehöre vor allem, dass man nicht mehr damit fortfahre, immerzu die Alten nachzuahmen, denn „die Wiederholung ist die Sprache der Narren“. Nicht blutige Schlachten, nicht mythologische Szenerien gäben weiter die Sujets ab, noch weniger Herrscher, die mit Tugenden dargestellt würden, die sie überhaupt nicht besäßen, sondern lediglich diejenigen Themen hätten im Vordergrund zu stehen, die „eine noblere Vorstellung des Menschen“ vermittelten, denn allein dasjenige sei weiterzugeben, was eine bessere Zukunft in Aussicht stelle, kurz: alle gezeigten „Künste verbünden sich zum Vorteil der Menschheit zu einer großen Verschwörung“. Das Museum hätte daher ausschließlich den Auftrag, „Lektionen der Tugend zu erteilen“, und müsste folgerichtig der gesamten Öffentlichkeit zugänglich sein.74 Die 72 Lettre de M. Roland, ministre de l’Intrieur, M. David, peintre, dput la Convention nationale du 17 octobre 1792, l’an 1er de la Rpublique franÅaise, abgedruckt in: Louis Courajod, Alexandre Lenoir. Son Journal et le Muse des monuments franÅais, Bd. 1, Paris 1878, S. XXXIV–XXXV, Zitat S. XXXV. 73 [Louis-Sbastien Mercier,] L’an deux mille quatre cent quarante. RÞve s’il en fut jamais, London 1772, Zitat S. 271. 74 Zitate ebd., S. 298 – 313. Zu Mercier vgl. Riikka Forsström, Possible Worlds. The Idea of Happiness in the Utopian Vision of Louis-Sbastien Mercier, Helsinki 2002; dies., L’an deux mille quatre cent quarante. RÞve s’il en fut jamais, in: Histoire transnationale de 492 Roland Cvetkovski museale Utopie Merciers stand unverkennbar unter dem strengsten Diktat der Tugend und der Freiheit. Indem die Revolution die Erschaffung einer neuen Welt für sich reklamierte und diese nicht nur explizit vom Ancien Rgime absetzte, sondern sie zudem als praktische Umsetzung einer lang geübten Kritik am absolutistischen Staat sowie Gesellschaftssystem verstand, musste sie notgedrungen in die Nähe der politischen Utopien rücken, an denen das 18. Jahrhundert nicht arm war. Große Teile der zahlreichen gesellschaftsmodellierenden Entwürfe etwa von Gabriel de Foigny, tienne-Gabriel Morelly, Denis Diderot, Nicolas Restif de la Bretonne und auch Mercier schienen nun Wirklichkeit geworden zu sein; die Revolution hatte offenbar das gesammelte kultur- und gesellschaftskritische Arsenal des utopischen Denkens politisch umgesetzt. Dieser behauptete gewaltige und wenn nicht gar riskante Umschlag von Fiktion in Realität war aber nicht unbedingt etwa einer aufschneiderischen Rhetorik geschuldet, zu der sich die Revolutionäre hätten hinreißen lassen. Die tatsächliche Möglichkeit eines solchen Umschlags war vielmehr die logische Folge, die sich aus der ideengeschichtlichen Entwicklung sowie der sozialen Kontextualisierung der Utopien ergeben hatte. Waren die frühneuzeitlichen klassischen Utopien in ihrer Anlage noch von der realen Welt stets räumlich abgetrennt und, wie etwa bei Thomas Morus, als bereits existierendes Gegenstück zu den tatsächlichen Verhältnissen vorgefunden worden, so hatten die utopischen Entwürfe besonders im Laufe des 18. Jahrhunderts eine bedeutsame Veränderung durchlaufen: Die neue und bessere Welt wurde jetzt nicht mehr gefunden, sondern von den Menschen begründet.75 Die nunmehr Gestaltbarkeit des neuen Gemeinwesens hatte im utopischen Diskurs einen zentralen Platz eingenommen, indem dieser sich offenkundig die aufklärerischen Grundprinzipien zu eigen gemacht hatte. Nachdem bereits im 17. Jahrhundert die Utopien erste utilitaristische Züge angenommen und sich zunehmend auf die Wohlfahrt der konkreten Gesellschaft ausgerichtet hatten, schlugen sie im 18. Jahrhundert nun endgültig in Bildungs- und Erziehungskonzepte um und nahmen dadurch unmittelbar Einfluss auf das gesellschaftliche sowie politi- l’utopie littraire et de l’utopisme. Coordonne par Vita Fortunati et Raymond Trousson, avec la collaboration de Paola Spinozzi, Paris 2008, S. 357 – 363; Harvey Chisick, Utopia, Reform and Revolution. The Political Assumptions of L. S. Merciers l’an 2440, in: History of Political Thought 22. 2001, S. 648 – 668. 75 Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991, bes. S. 77 – 150; Raymond Trousson, Voyages aux pays de nulle part. Histoire littraire de la pense utopique, Brüssel 19993 ; Bronislaw Baczko, Lumires de l’utopie, Paris 1978; ders., Lumires et Utopie. Problmes de recherche, in: Annales 26. 1971, S. 355 – 386. Allgemein Gregory Claeys, Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie, Darmstadt 2011; Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Stuttgart 1982. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 493 sche Handeln. Utopien waren praktisch geworden.76 Das ideale Museum, wie es sich Mercier vorstellte, wurde daher keineswegs als ein Ort entworfen, der die Verhältnisse lediglich anders – besser – gestalten sollte: Als „Inbegriff des Universums“ enthielt es bereits die neue Welt und stand zugleich in ihren Diensten, hatte es doch den Auftrag, diese neue Welt zu etablieren, nachdem es sie mit und in seiner Ausstellung erschaffen hatte. Während der Revolution geriet das Museum daher zur wohl sichtbarsten Plattform, um Gesellschaftsutopien, wie sie etwa von Mercier formuliert worden waren, tatsächlich zu materialisieren. Das Museum war und blieb ein prädestinierter Ort, an dem Utopien praktiziert und dadurch evident wurden.77 Es entsprang der Gegenwart und gestaltete sie zugleich, und da diese als eingelöste Utopie anzusehen war, schuf es gleichermaßen auch die Zukunft. Eine solche Vorstellung brachte wohl am einprägsamsten Armand-Guy Kersaint zum Ausdruck, ehemaliger Offizier der königlichen Marine und überdies Teilnehmer an den amerikanischen Befreiungskriegen, der 1792 eine Schrift über den Umgang mit öffentlichen Denkmälern in Druck gab. Er stellte darin die politische Bedeutung der Monumente heraus und begründete dies damit, dass die Bewahrung von Denkmälern der neuen revolutionären Regierung zu mehr Stabilität verhelfen würde, denn die Franzosen „sollten an die Nachwelt denken[:] Eine freie Nation, welche den Ruhm liebt, wünscht, in der Zukunft zu leben und ihr die ruhmreichste Epoche in den Annalen des menschlichen Geistes zu widmen.“78 Gerade die „Fertigstellung des Louvre 76 Vgl. hierzu den inspirierenden Aufsatz von Rudolf Schlögl, Alchemie und Avantgarde. Das Praktischwerden der Utopie bei Rosenkreuzern und Freimaurern, in: Monika Neugebauer-Wölk u. Richard Saage (Hg.), Die Politisierung des Utopischen im 18. Jahrhundert. Vom utopischen Systementwurf zum Zeitalter der Revolution, Tübingen 1996, S. 117 – 142, hier bes. S. 118 f. u. S. 139 f. Zum vorhandenen „Wirklichkeitsgehalt“ von Utopien und deren zunehmende Nähe zu „Bildungsreformen“ bereits im 17. Jahrhundert vgl. Wolfgang Hardtwig, Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung. Von Thomas Morus zur Industriellen Revolution, in: ders., Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 155 – 173, Zitate S. 163 f. 77 Als einer der wenigen bezeichnete Dominique Poulot das Museum als „transformation utopique“, vgl. Poulot, Une histoire des muses, S. 73. Zum utopischen Potenzial der Museen allgemein Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Refugium für Utopien. Das Museum. Einleitung, in: Jörn Rüsen u. a. (Hg.), Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen, Weilerswist 2004, S. 187 – 196, bes. S. 192. Sie spricht in diesem Zusammenhang von musealer „Welterzeugung“ und vom Museum als „Wirklichkeit gewordener Konjunktivraum“, ebd., S. 187 u. S. 194. 78 Kersaint, Discours sur les monuments publics, Zitat S. VI. Hierzu kürzlich mit ausführlichem Anmerkungsapparat Armand-Guy Kersaint, Abhandlung über die öffentlichen Baudenkmäler. Paris 1791/92, hg. v. Christine Tauber, Heidelberg 2010. Entsprechend geht es in Christine Taubers kenntnisreichem Kommentar zu Kersaint um die „Leerstellen“ und „Freiräume“, welche die Revolution geschaffen habe und nun für die Zukunft neu aufzufüllen, als Erinnerungsorte neu zu besetzen sind, S. 175 – 284. Vgl. 494 Roland Cvetkovski wird [dabei] zu einer durchschlagenden Demonstration der Überlegenheit des neuen Regimes über das alte“, und dieser „Tempel des Geistes“, so Kersaint weiter, müsse so schnell wie möglich errichtet werden, damit „die Nachgeborenen“ in den Genuss der dort zusammengestellten Weltkunst kämen.79 Die Utopie stand kurz davor, Wirklichkeit zu werden, und das bald darauf eröffnete Museum war das Sprachrohr der Gegenwart für die darin zu unterweisende Zukunft. Aber wie beim ästhetischen Moment kann man auch hier zumindest zwei Ebenen unterscheiden: Auf der einen Seite lassen sich Debatten verfolgen, die sich entlang der Figur der rgnration bewegten,80 sich also dem pädagogischen Anspruch verschrieben hatten und die Errichtung der neuen Welt als einen Erziehungsauftrag begriffen. Die Erneuerung, wie sie von den Revolutionären verstanden wurde, trug ja bereits per se das utopische Moment in sich, und indem die Regeneration zur nationalen Pflicht ausgerufen wurde, war die Utopie der neuen Gesellschaft gleichsam zu ihrer Praxis geworden. Auf der anderen Seite enthüllten diese Diskussionen erneut einen formalen Aspekt der Musealisierung und erhoben das revolutionäre Museum damit erstmals zu einer eigenständigen kulturellen Kraft. Zunächst aber galt es, die beiden Eckpfeiler der Kultur im nun neuen Sinn erstarken zu lassen. Henri Grgoire hatte in seinem Bericht an den Nationalkonvent vom 8. August 1793 geäußert: Ganz Frankreich ist der Überzeugung, dass das Siechtum der Wissenschaften und der Künste der Verkümmerung der Existenz Frankreichs gleichkommt und ihr Grab zugleich das Grab der Freiheit Frankreichs bedeutet.81 dazu auch James A. Leith, Space and Revolution. Projects for Monuments, Squares, and Public Buildings in France, 1789 – 1799, Montreal 1991. 79 Zitate Kersaint, Discours sur les monuments publics, S. 40 u. S. 43 f. 80 Mona Ozouf, Erneuerung, in: Furet u. Ozouf, Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2, S. 1071 – 1086; dies., L’homme rgnr. Essais sur la Rvolution franÅaise, Paris 1989, bes. S. 116 – 157; Antoine de Baecque, L’homme nouveau est arriv. L’image de la rgnration des FranÅais dans la presse patriotique des dbuts de la Rvolution, in: Dix-huitime Sicle 20. 1988, S. 193 – 208; Bronislaw Baczko (Hg.), Une ducation pour la dmocratie. Texte et projets de l’poque rvolutionnaire, Paris 1982; Wiltrud V. Drechsel, Erziehung und Schule in der Französischen Revolution, Frankfurt 1969; Frauke Stübig, Erziehung zur Gleichheit. Konzepte der „ducation commune“ in der Französischen Revolution, Ravensburg 1974; Dominique Julia, L’institution du citoyen. Die Erziehung des Staatsbürgers. Das öffentliche Unterrichtswesen und die Nationalerziehung in den Erziehungsprogrammen der Revolutionszeit, 1789 – 1795, in: Ulrich Herrmann u. Jürgen Oelkers (Hg.), Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Aufklärung, Revolution und Menschenbildung im Übergang vom Ancien Rgime zur bürgerlichen Gesellschaft, Weinheim 1989, S. 63 – 103; Gwynne Lewis, The French Revolution. Rethinking the Debate, London 1993, bes. S. 91 – 105; Lee, The Musaeum of Alexandria, bes. S. 403. 81 Grgoire, Rapport et projet de dcret, Zitat S. 2. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 495 Künstlern wie auch kulturellen Institutionen maß man eine privilegierte Rolle in der Umsetzung des gesellschaftlichen Umbaus zu.82 Der Abgeordnete der Ardche FranÅois-Antoine de Boissy d’Anglas stellte in seinem Bericht an den Konvent vom 6. Januar 1794 kategorisch fest, dass von den „politischen Institutionen, die in zunehmendem Maße das Gebäude der nationalen Freiheit befestigen“, diejenigen von besonderer Wichtigkeit seien, die „auf den menschlichen Geist Einfluss nehmen und […] öffentliche Sitten hervorbringen oder erneuern, ohne die jede Regierung nur kurzlebig und kraftlos ist“. Überdies müssten sie, so der Generalanspruch, sogar „die Natur erneuern und verschönern“.83 Das Schlagwort der rgnration in seinem grundlegenden Sinn als Mittel der Zukunftsgestaltung lieferte den pragmatischen Leitgedanken, der dem revolutionären Museum seine Rolle im Neubau der ehemals utopischen Gesellschaft eindeutig zuwies. Der Deputierte aus dem burgundischen Mconnais und Mitglied der Commission des monuments FranÅois Puthod de Maison-Rouge hatte bereits am 4. Oktober 1790 in einer Petition an die Konstituante eindrucksvoll darauf verwiesen. Er hatte früh erkannt, dass die Revolution zwar das Interesse der französischen Nation an ihrer Geschichte wecken werde,84 doch schaffe die Revolution, wie es bei ihm hieß, ein neues Fundament und mit ihm neue Grundsätze für die Gesellschaft: „Menschen, die von Rechts wegen gleich sind, benötigen nun keine Vorfahren mehr.“85 Der von Puthod derart entworfene Museumsraum – denn um nichts anderes ging es dabei – würde demnach die Grundlagen der neuen Gesellschaft bereitstellen: Das Museum war ein Ort, an dem die Erneuerung gezeigt und praktiziert wurde. Auch wenn sich daraus noch kein elaboriertes museologisches Programm ergeben hatte, so schienen in dieser Hinsicht dennoch die Aufgaben in Grundzügen festzustehen, in deren Pflicht man das revolutionäre Museum sah. Hatte Alexandre Lenoir, der Begründer des Muse des monuments franÅais, noch recht vage formuliert, dass man die Menschen unmittelbar „durch die Pforten der Sinne“ ansprechen müsse, um ihnen „eine neue Hülle zu geben“,86 so band Casimir Varon in dem ersten ausführlichen Bericht des 82 Vgl. Deloche u. Leniaud, Le premier dossier du patrimoine; Philippe Bordes, L’art et le politique, in: Bordes u. Michel, Aux armes, S. 103 – 135. 83 FranÅois-Antoine de Boissy d’Anglas, Quelques ides sur les Arts, Sur la ncessit de les encourager, sur les Institutions qui peuvent en assurer le perfectionnement, & sur divers Etablissements ncessaires l’enseignement public, adresses la Convention nationale, et au Comit d’Instruction Publique, Paris 25. pluvise an II [14. Februar 1794], Zitate S. 1 – 3. 84 Ausführlicher dazu Pommier, L’art de la libert, S. 44 – 52. 85 Zitat nach Poulot, Muse, nation, patrimoine, S. 127 f.; vgl. auch Poulot, La naissance du muse, bes. S. 208 f. 86 Alexandre Lenoir, Essai sur le Musaeum de peinture, Paris an II [1793/94], S. 5; vgl auch Harten, Museen und Museumsprojekte, S. 186 f. 496 Roland Cvetkovski Conservatoire de Musum an das ihr übergeordnete Comit d’instruction publique vom 26. Mai 1794 diese Idee der umfassenden Erneuerung ausdrücklich an das Museum und erklärte, was ein Museum in einer mächtigen, erneuerten und freien Nation zu sein hat, wie der Einfluss der Künste auf die öffentliche Meinung aussehen sollte, welchen Charakter sie [die Museen, R.C.] dem Volk aufprägen und bis zu welchem Grad sie dem Glück der Nation förderlich sind.87 Auch er schrieb das Museum ganz in das Gesamtprogramm der rgnration ein und präzisierte es im weiteren Verlauf seines Berichts: Es gehe hierbei um die Repräsentation der Würde der Republik, indem der Louvre zu einem Ort der „Größe und Einfachheit“ werde und dadurch den Vergleich mit dem antiken Griechenland nicht mehr zu scheuen brauche; es gehe darum, die durchgehende öffentliche Zugänglichkeit des Museums zu garantieren, denn dessen „Reichtümer gehören nicht einigen, sondern allen“, woraus folge, dass es schließlich um die Unterweisung der Massen in der, wie es am Schluss im Aufgabenkatalog unter dem sechsten Punkt heißt, „positiven Geschichte des menschlichen Geistes“ gehe, denn gerade im Louvre strebe man „die größte Vollkommenheit in der öffentlichen Bildung an“. Letztlich hatten die Revolutionäre einen utopischen Umschaffungsimperativ heraufbeschworen, der nun im Museum in vollendeter Transparenz Wirklichkeit werden konnte.88 Die Unterordnung des mit der Leitung des Louvre beauftragten Conservatoire de Musum unter das Comit d’instruction publique zeigte überdies an, dass das utopische Moment zugleich auch administrativ eng an die revolutionäre Erziehungsidee gekoppelt war. Standen die ersten Museumskonzeptionen noch in der Tradition der gehobenen künstlerischen Bildung, so trat im Jahr II (1793/94) dieses Modell hinter die Orientierung an utilitaristischer und allgemeiner Bildung zurück; das Museum erhielt als Ort der republikanischen Erziehung ein immer schärferes Profil. In diesem Sinn kam neben den Schulen dem Museum daher das größte instruktive Potenzial zu.89 Es war wieder Alexandre Lenoir, der dieses Bündnis des Utopischen mit dem Pädagogischen besonders herausstrich: Hatte er noch in einem Bericht vom 27. Oktober 1794 87 Rapport du Conservatoire du Musum national des arts, fait par Varon, l’un de ses membres, au Comit d’instruction publique, le 7 prairial l’an II de la Rpublique une et indivisible, abgedruckt in: Cantarel-Besson, La naissance, Bd. 2, S. 226 – 229. 88 Ebd. 89 Allgemein zur Verbindung von Schule und Museum Herv Gunot, Muses et lyces parisiens, 1780 – 1830, in: Dix-huitime sicle 18. 1986, S. 249 – 267; zur ästhetischen Bildung durch Museen etwa Ingeborg Cleve, Kunst in Paris um 1800. Der Wandel der Kunstöffentlichkeit und die Popularisierung der Kunst seit der Französischen Revolution, in: Francia 22. 1995, S. 101 – 131; vgl. auch Andrew L. McClellan, The Muse du Louvre as Revolutionary Metaphor During the Terror, in: The Art Bulletin 70. 1988, S. 300 – 313, bes. S. 306 – 308. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 497 mit großer Geste verkündet, dass „[w]ir nicht länger Schulen brauchen, denn unsere einzige Quelle der Belehrung sind Denkmäler, Statuen und Gemälde – sie sind unsere neuen Akademien“,90 so milderte er diese Behauptung kurze Zeit darauf in seinem Bericht vom 18. Juli 1795 an das Comit d’instruction publique insofern ab, als er sich nun lediglich mit dem Appell zufrieden gab, dass die „französische Republik [einzig] nach öffentlichen Schulen und Museen“ verlange.91 Aber auch Casimir Varon vom Conservatoire du Musum hatte genau diesen Aspekt deutlich vor Augen, als er in seinem bereits erwähnten Bericht an das Comit d’instruction publique ausdrücklich betonte, dass sich die Mitglieder des Conservatoire unter keinen Umständen mit den „eintönigen Aufgaben eines bloßen Aufsehers“ zufrieden geben würden,92 zumal gerade wenige Monate zuvor die Rede davon war, beim Ankauf darauf zu achten, ausschließlich „für die öffentliche Bildung nützliche Objekte“ zu erwerben.93 Und in diesem Sinne verwies schließlich auch Jacques-Louis David darauf, dass das Museum unmöglich nur zur bloßen Befriedigung der Neugier dienen könne, denn es stelle mitnichten eine „beliebige Ansammlung luxuriöser oder gewöhnlicher Gegenstände“ dar, sondern es sei eine „bedeutende Schule“, in die „der Grundschullehrer seine Eleven, die Väter ihre Söhne“ zu bringen hätten.94 Die hierbei überall wirksame Logik ist einleuchtend: der Unterweisungscharakter, den die Revolutionäre den Museumssälen 90 Abgedruckt in: Inventaire gnral des richesses d’art de la France. Archives du Muse des monuments franÅais. Deuxime partie. Documents dposs aux Archives Nationales et provenant du Muse des Monuments FranÅais, Paris 1886, S. 217 – 219. Dass die im Museum ausgestellten Kunstwerke nicht lediglich der Erziehung zum Schönen dienten, sondern als „unabdingbare Zeugen der Geschichte“ angesehen wurden, entnimmt man auch der Satzung der Commune des arts vom 18. September 1793, der kurzlebigen Folgeinstitution der am 8. August 1793 mit allen anderen königlichen Akademien abgeschafften Kunstakademie, abgedruckt in: Procs-verbaux de la commune gnrale des arts de peinture, sculpture, architecture et gravure (18 juillet 1793 – tridi de la 1re dcade du 2e mois de l’an II) et de la socit populaire et rpublicaine des arts (3 nivse an II – 28 floral an III), hg. v. Henry Lapauze, Paris 1903, S. XLII. 91 Der Bericht ist zu finden in: Inventaire gnral des richesses d’art de la France. Archives du Muse des monuments franÅais. Premire partie. Papiers de M. Albert Lenoir, membre de l’Institut, et documents tirs des archives de l’administration des beaux-arts, Paris 1883, S. 22 – 31, Zitat S. 27. 92 Rapport du Conservatoire du Musum national des arts, fait par Varon, Zitat S. 226. 93 Sitzung des Conservatoire vom 15. Februar 1794, in: Cantarel-Besson, La naissance, Bd. 1, S. 15. 94 Jacques-Louis David, Second Rapport sur la ncessit de la suppression de la Commission du Musum, fait au nom des Comits d’instruction publique et des finances, par David, dput du dpartement de Paris, dans la sance du 27 nivse, l’an II de la Rpublique franÅaise [16. Januar 1794], in: Procs-verbaux du Comit d’instruction publique, Bd. 3, S. 274 – 277, Zitat S. 275. Auch zu finden in: Cantarel-Besson, La naissance, Bd. 2, S. 215 – 217, Zitat S. 216. 498 Roland Cvetkovski zuschrieben, machte es möglich, die Utopie im Museum als Wirklichkeit zu institutionalisieren. Diese ideologischen Debatten, die das moderne Museum in einen visionären Zusammenhang einbanden, förderten auch einen formalen Aspekt zutage, der es als eigenständige kulturelle Struktur beschrieb. Die während der Revolution entstandene museale Denkfigur war vor allem deswegen bedeutsam, weil sie geradezu einen epistemischen Wert erhielt, der sie als kulturellen Prozess – gleichsam als moderne Technologie – festschrieb und dem Museum dadurch in gewisser Weise zu einem Akteursstatus verhalf. Dabei stand weniger das Museum als Institution im Vordergrund; vielmehr nahm das ihm innewohnende Funktionselement der Musealisierung eine zentrale Bedeutung ein, weil es nämlich die revolutionären Überformungs- und Übersetzungsprozesse eigentlich erst ordnete. Dies offenbarte sich am sichtbarsten in dem Wunsch, die realisierte Utopie endlos fortdauern zu lassen und sie nicht feindlichen und zersetzenden Kräften preiszugeben. Die Revolutionäre bemühten sich daher, die üppige Gegenwart für die Zukunft gleichsam zu einem klassischen Zeitalter werden zu lassen, indem sie ihr einen musealen Charakter verliehen. Die neue Welt musste geschützt, bewahrt und dann übergeben werden. So waren sich auch die Verantwortlichen des Conservatoire du Musum in ihrer Sitzung vom 21. Juni 1794 einig darüber, dass ihre höchste Aufgabe darin bestehe, „durch Denkmäler, die sich dem französischen Volk als würdig erweisen, die Ereignisse unserer erhabenen Revolution zu verewigen“.95 Alles, was für die Zukunft von Wichtigkeit war, erhielt das Siegel des Bewahrungswürdigen – die revolutionäre Inventarisierung und damit Musealisierung geriet auch von dieser Seite zu einem Projekt, welches die Utopie nun in den Bereich des Möglichen und Machbaren verlegt hatte. Nicht zuletzt aus diesem Grund musste der Louvre zu einem gigantischen und geradezu beunruhigenden Aufbewahrungsort werden, denn es ging ja in diesem Fall gerade nicht darum, die Vergangenheit, sondern die Gegenwart zu konservieren und dadurch die Realisierung der Utopie endgültig auszurufen. Durch das Einfrieren der Revolution – und das heißt in seiner ideengeschichtlichen Entsprechung: durch die Geschichtslosigkeit der Utopie – musste die Zukunft unwiderruflich in der Gegenwart aufgehen. Die derart am utopischen Denken entwickelte Musealisierungsfigur zog weitere Kreise. Denn diese Funktion war keinesfalls an ein Museumsgebäude gebunden, sondern konnte sich von ihm lösen und aus ihm heraustreten. Darauf verwiesen etwa die überschwänglichen Äußerungen von Bertrand de Barre de Vieuzac, Abgeordneter im Konvent und Mitglied des Wohlfahrtsausschusses, der in einer Rede vom 2. Juli 1794 dem Nationalkonvent den 95 Sitzungsbericht abgedruckt in: Cantarel-Besson, La naissance, Zitat Bd. 1, S. 61. Zum Eternitätsaspekt vgl. die theoretisch fundierte Untersuchung von Bernard Deloche, Museologica. Contradictions et logique du muse, Mcon 19892, bes. S. 21. ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 499 Vorschlag unterbreitete, nun ganz Paris in ein „neuartiges Monument zur öffentlichen Erziehung“ umzuwandeln. Er drang darauf, aus der Hauptstadt ein einziges gigantisches Revolutionsmuseum zu machen, eine „Stadt der Hundert Tore, deren jedes einzelne einen Triumph oder eine revolutionäre Epoche bezeichnen würde“, so dass „kein Bauer, kein Reisender und kein Fremder durch Paris gehen könnte, ohne an den Siegesdenkmälern vorbeizuziehen“, und die französischen Bürger erhielten ihre „nationale Unterweisung“ von ebenjenen Steinen, welche die Tyrannei hinterlassen habe.96 Doch bereits im Februar desselben Jahres hatte Jean-Baptiste Mathieu, Vorsitzender der Commission temporaires des arts, die Musealisierung sogar als genuin revolutionäres und zugleich naturwüchsiges Phänomen beschrieben, das sich nicht einfach in den Dienst Frankreichs stelle, sondern Frankreich selbst werde. Geradezu berauscht von ihrer Wirksamkeit verkündete er, dass „in Anbetracht dessen, was die Natur und die Kunst alles in Frankreich bewerkstelligen können, bald die gesamte Republik in ein außerordentliches und prächtiges Museum verwandelt wird“.97 Musealisierung fand offenbar überall statt, und in der neuen Welt war sie unabdingbarer Nexus zwischen Kultur und Politik. In dieser dritten Einstellung wird möglicherweise am deutlichsten, um welches Format es sich gerade beim Musum central des Arts eigentlich handelte – es war im engsten Sinne des Wortes eine Kunstform, das utopische Qualitäten besaß. Indem das Museum als Medium zur Herstellung, Anordnung und Einsetzung von nicht nur historischem Wissen mit Bildern diente, präsentierte und repräsentierte es das spezifische, neue Verhältnis der drei Zeitachsen zueinander : Es zeichnete sich dadurch aus, eine Kontinuität in der Veränderung wie auch eine Veränderung in der Kontinuität artikulieren, die Handhabung des Wandels wie auch die Kontrolle des Unterschieds steuern zu können.98 Zugleich stellte die Musealisierung aber eine anhaltende sowie aufwühlende Praxis dar, denn sie war aufgrund ihrer scheinbaren Allgegenwärtigkeit mittlerweile selbst ortlos geworden – buchstäblich eine Utopie. 96 Bertrand Barre de Vieuzac, Rapport fait, au nom du Comit de salut public, sur la suite des vnements du sige d’Ypres et sur les monumens nationaux environnans Paris, Sance du 13 Messidor l’an II [2. Juli 1794], Zitate S. 1 – 4; vgl. dazu auch Harten, Museen und Museumsprojekte, S. 28 f. 97 Brief vom 11. Februar 1794 an das Comit d’instruction publique, abgedruckt in Cantarel-Besson, La naissance, Bd. 2, S. 219. 98 Vgl. dazu Paul J. DiMaggio, Museums, in: Michael Kelly (Hg.), Encyclopedia of Aesthetics, 4 Bde., Oxford 1998, Bd. 3, S. 302 – 313, bes. S. 302 u. S. 306. 500 Roland Cvetkovski V. Die Praxis der Musealisierung Das Museum war während der Revolution vornehmlich als ein Instrument in Erscheinung getreten, das als eine wirkmächtige und letztlich nachhaltige Manifestation der politischen Ideologie anzusehen war. Seine Funktionsweise dagegen, die sich zusammensetzte aus der ausschließlichen Orientierung an der Gegenwart, dem bewussten Einsetzen ästhetischer Dimensionen sowie dem Einholen des Utopischen, drang freilich in viel tiefere Schichten vor, indem sie Phänomene der Fragmentarisierung, Rekombination und Rekontextualisierung als formgebende Prinzipien des Museums bloßlegte und dadurch kulturelle Wirklichkeit, die ja darin zum Vorschein kommen sollte, erstmals als etwas Gestaltbares nicht nur darstellte, sondern tatsächlich auch praktizierte. Anordnungsmuster, Klassifikationen und Kompositionen von Ausstellungsgegenständen erhielten dabei ein neues Gewicht in der Auslegung und Darstellung von Realität – Rationalität, Nationalität und gleichzeitig Universalität gaben in dieser Anfangszeit die ersten musealen Narrative ab. Die proklamierte neue Welt konnte nun den Anspruch erheben, die Utopien zum realen Prinzip gemacht zu haben. Durch die Musealisierung konnte das Museum zu einem kreativen Feld, ja zu einer Struktur werden, die eigene Handlungslogiken entwickelte und zugleich neue Aussagen über Kultur im Allgemeinen ermöglichte. Sie war daher nicht so sehr eingelassen in den revolutionären Diskurs, vielmehr ordnete sie ihn. Ein bemerkenswert frühes Beispiel hierfür liefert der bereits erwähnte LouisSbastien Mercier. Dieser war nämlich nicht nur einer der ersten ScienceFiction-Autoren, sondern in seinem mehrbändigen Werk über Paris auch ein unerbittlicher Chronist der Revolution. Dabei kam er unter anderem auch auf das seltsame Treiben in den Boutiquen des Palais-galit, also des ehemaligen, nur wenige Meter neben dem Louvre gelegenen und später wieder so benannten Palais-Royal, sowie auf die Auslagen der Juweliere zu sprechen, die im merkwürdigen Kontrast stünden zu dem heruntergekommenen, sich daran vorbeidrängenden Mob. Amüsant wirke diese Kulisse auf ihn, wenn er die endlosen „Reihen an Uhren, halb mit Perlen, halb mit Diamanten besetzt“ erblicke, vor denen sich der Pöbel aufgestellt hätte und die Kostbarkeiten mit giererfüllten Blicken verschlänge. Die dünne Glaswand der Auslage indes, die die Preziosen von ihren langfingrigen Händen trenne, bewirke aber zugleich, dass ebendieser Pöbel vor dem Schaufenster wie vor einem Kunstwerk „in Ehrfurcht erstarre“. Geradezu grotesk werde dieses Schauspiel allerdings, wenn nun noch das Innenleben der Boutiquen ins Bild trete: Die darin arbeitenden, sich betont distinguiert gebenden Verkäuferinnen, so Mercier, erweckten in diesem Gemisch aus Lärm und Gestank den unwiderstehlichen Eindruck des Exotischen, als ob sie gleich „in die Türkei verschifft würden“, ipabo_66.249.66.96 Zur Poetik des Museums 501 und man schaue sie sich daher „mit dem gleichen Blick an wie ein Gemälde im Museum“.99 Mit dieser erstaunlichen Parallelisierung eines Museumsbesuches mit einer städtischen Promenade hatte Mercier wohl in erster Linie im Sinn, den rasanten Verfall zum Ausdruck zu bringen, in dem sich die Hauptstadt seit dem Ausbruch der Revolution befand. Zugleich aber greift seine Metapher die Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem sowie die Sterilität der ausgestellten Objekte – Kunstwerke – auf, was beides Merkmale sind, die vor allem im modernen Museum obwalteten, wie es gerade während der Revolution erschaffen worden war.100 Dieser frühe Versuch, kulturelle Phänomene im Prisma des Museums zu verstehen, zeigt nicht nur an, dass bereits in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts die museale Figur Wirksamkeit entfaltete, sondern dass sie sogar in der Lage war, Kultur zu produzieren und zu bewerten. Die neuartige funktionale Modellierung des Museums, für die hier in erster Linie die Vereinzelung und die Distanznahme stand, stellte die alte, noch in den engeren Grenzen des aufgeklärten Ancien Rgime gedachte Soziabilität sichtlich in Frage, die mit den ehemaligen Kabinetten und Ausstellungskammern verbunden gewesen war.101 Nun war das Museum zu einem Topos geworden, der allgemeine Ordnungen scheinbar objektiv herstellen konnte, indem er sie als eine neue Erzählung entwarf und zugleich als kulturelle Praxis außerhalb der Museumsgebäude zur Verfügung stellte. In der Folge ließ im 19. Jahrhundert die rasante Zunahme etwa des Ausstellungswesens zudem deutlich erkennen, wie Kunst-, Agrar- und Industriemessen wie auch die aufkommenden Kaufhäuser sich anschickten, gleichermaßen museale Embleme zu übernehmen. Auch an diesen Orten wurde nun in ästhetischen und inszenatorischen Dimensionen gedacht, angeordnet und ausgestellt. All diesen Veranstaltungen war nämlich gemeinsam, dass sie nicht lediglich unterweisen und aufklären wollten, sondern Anordnungsprinzipien und dingliche Systematisierungen als letztlich affirmative Aussagen zur Gegenwart präsentierten, die in erster Linie Zukunftsoffenheit und -gestaltbarkeit nahe legten. Nicht ohne Grund verwischte bereits im 19. Jahrhundert gerade der museale Zugriff auf die Realität mithin die Grenzen 99 Sbastien Mercier, Paris pendant la Rvolution (1789 – 1798) ou Le nouveau Paris [1798], Paris 1862, Kapitel XCI. Palais-galit, ci-devant Palais-Royal, S. 357 – 380, alle Zitate S. 362. 100 Auch im Museum wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine ästhetische Distanz sichtbar, als etwa im Louvre Schranken zwischen den Gemäldewänden und den Besuchergängen eingezogen worden waren, vgl. dazu Steckner, Museen im Zeichen der Französischen Revolution, S. 846 f. 101 Vgl. Pascal Griener, Pour une nouvelle histoire des lieux de la musologie. Les Salons de peinture de Paris et Londres, 1785 – 1787, in: Pierre-Alain Mariaux (Hg.), Les lieux de la musologie, Bern 2007, S. 139 – 160; Georg Friedrich Koch, Die Kunstausstellung. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Berlin 1967, bes. S. 137 – 171 zu Frankreich im 18. Jahrhundert. 502 Roland Cvetkovski zwischen Exponat und Ware:102 Hatte bereits der rastlose David nicht nur den ästhetisch-moralischen, sondern auch den kommerziellen Einfluss der schönen Künste hervorgehoben,103 so wurde das Zusammenführen eben dieser beiden Ebenen in den arts utiles, also im Kunstgewerbe, noch vor der Jahrhundertwende sichtbar. Dies zumindest ließ sich der Äußerung des Innenministers Nicolas Louis FranÅois de Neufchteau entnehmen, der anlässlich der ersten Industrieausstellung 1798 in Paris den hier präsentierten Waren das Zeugnis ausstellte, nunmehr selbst Kunstwerke geworden zu sein und im Kleinen als ästhetische „Träger des Glücksversprechens“ zu gelten.104 Die Frage, was denn nun ein Museum genau sei, wird sich nach wie vor nicht eindeutig beantworten lassen. Wie selbst die unterschiedlichen Geschichten der Museen schon zeigen, scheint ihm aber dieses Schillernde für seine allgemeine kulturelle Bedeutung in modernen Gesellschaften offensichtlich nicht abträglich gewesen zu sein. Der Blick auf seine Grundfunktionen, wie sie im revolutionären Frankreich im Zuge der Erschaffung und Installierung der neuen Welt erstmals definiert wurden, zeigt aber, dass das Museum kein Untersuchungsgegenstand sui generis ist. Freilich, verstanden als Kulturinstitution besitzt es zweifellos eine wechselhafte und eng an die Herrschaft beziehungsweise an disziplinarische Räume gebundene Geschichte. Berücksichtigt man jedoch zusätzlich seine Funktionsweise, seine Musealisierungstechnik, über die es verfügt, so wird deutlich, dass daraus eine neue Geschichte ersteht, die den aktiven Charakter des Museums gewissermaßen als eigenständige Gegenkraft enthüllt und die es zugleich von einer Kulturinstitution in einen Kulturmodus umwandelt. Aus dieser Perspektive erhält das Museum – auch historisch – plötzlich wieder seine innovative und zugleich beunruhigende Kraft zurück: als eine dem Neuen unbedingt zugewandte Praxis. Dr. Roland Cvetkovski, Historisches Institut, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Kringsweg 6, D-50931 Köln E-Mail: [email protected] 102 Chantal Georgel, The Museum as Metaphor in Nineteenth-Century France, in: Daniel J. Sherman u. Irit Rogoff (Hg.), Museum Culture. Histories, Discourses, Spectacles, London 1994, S. 113 – 122; Roland Cvetkovski, Modalitäten des Ausstellens. Musealisierungskultur in Frankreich, 1830 – 1860, in: Historische Anthropologie 18. 2010, S. 247 – 274, bes. S. 266 – 272; Volker Barth, Mensch versus Welt. Die Pariser Weltausstellung von 1867, Darmstadt 2007; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien 2009. 103 David ausführlich dazu in A.N. F17 1.039 A, dossier 1, Dokument undatiert, höchstwahrscheinlich Ende 1792 oder Anfang 1793. 104 Ingeborg Cleve, Der Louvre als Tempel des Geschmacks. Französische Museumspolitik um 1800 zwischen kultureller und ökonomischer Hegemonie, in: Fliedl, Die Erfindung des Museums, S. 26 – 64, Zitat S. 37. Ausführlich dies., Geschmack, Kunst und Konsum. Kulturpolitik als Wirtschaftspolitik in Frankreich und Württemberg, 1805 – 1845, Göttingen 1996. ipabo_66.249.66.96 “The Oberkreisdirektor Decides Who Is a German” Jewish Immigration, German Bureaucracy, and the Negotiation of National Belonging, 1953 – 1990 von Jannis Panagiotidis* Abstract: The article deals with the nexus between Jewish immigration to the Federal Republic of Germany and legal definitions of German ethnicity (Volkszugehörigkeit). It claims that the recognition of Jewish immigrants as Germans was continuously negotiated between different bureaucratic and societal actors struggling over the power to define who is a German. Examining the production of national belonging in practice, it breaks open the “black box” of the often alleged “ethnocultural” and “descent-based” German perception of nationhood. The fluid boundary between “German” and “Jewish” immigrants was only fixed in 1991 with the creation of the separate category of “Jewish quota refugee.” In November 1978, the German center-left daily Frankfurter Rundschau published an article by a young Jewish-German journalist, Henryk M. Broder : “Wer Deutscher ist, bestimmt der Oberkreisdirektor” – “The Oberkreisdirektor decides who is a German.”1 A play on a famous quote by Karl Lueger, the antiSemitic mayor of fin-de-sicle Vienna: “Wer Jude ist, bestimme ich” – “I decide who is a Jew,” the title of Broder’s article was meant to bring into focus the fact that the ascription of ethno-national identity in the late 1970s was in the hand of petty bureaucrats, such as Oberkreisdirektoren. They had the power to define who was a German and who was not. * Research for this article has been enabled by the German Academic Exchange Service (DAAD) and the ZEIT Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. For their comments on previous versions of this paper the author would like to express his gratitude to Philipp Ther (Vienna), the participants in the Thesis Writing Seminar at the European University Institute in the Autumn Term of 2009, in the workshop “Migration, Mobility and Movement in Modern German History” at Cambridge University in March 2011, and in the History of East Central Europe Kroužek at the University of California, Berkeley in September 2011. Special thanks go to Jan Plamper (Berlin) and Iris Nachum (Tel Aviv) for their comments, suggestions and review of the manuscript. 1 Henryk M. Broder, Wer Deutscher ist, bestimmt der Oberkreisdirektor. Der beschwerliche Weg des Juden und Tierarztes Dr. Henric Feinkuchen durch die Instanzen von Nordhorn, in: Frankfurter Rundschau, 23. 12. 1978, quoted from: Archiv für ChristlichDemokratische Politik, Pressedokumentation, Sign. 23/2. All newspaper articles quoted hereafter are taken from this collection, unless otherwise noted. Geschichte und Gesellschaft 38. 2012, S. 503 – 533 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2012 ISSN 0340-613X 504 Jannis Panagiotidis The case reported by Broder was sensational in that the object of the Oberkreisdirektor’s definition was a Jew, a veterinarian from Romania by the name of Dr. Henric Feinkuchen. Feinkuchen had settled in the Federal Republic of Germany in June 1973, after emigrating from Romania to Israel in November 1970. He immediately tried to obtain a so called expellee card (Vertriebenenausweis) for himself and his family, which would entitle them to certain welfare benefits and would qualify them for immediate access to German citizenship. For this purpose, however, German law stipulated that he had to prove his German Volkszugehörigkeit, a term that literally means “belonging to the German people” but is usually translated as “German ethnicity.”2 In attempting to do so, he got caught up in the intricate mechanisms of German bureaucracy, so that at the time when Broder reported about Feinkuchen’s case, half a decade later, the case was still pending at court. We do not know how the Feinkuchen case, which caused a fair bit of public controversy at the time, was resolved.3 What we do know is that it was not an isolated incident. Jewish applicants were not only denied expellee cards, but the authorities in some Länder also tried to strip Jewish immigrants of the cards they had obtained in the past, claiming that they had been issued on false premises. This even included large-scale police investigations. As I will show in this article, both the police investigations and the public controversy surrounding the Feinkuchen case were just an extreme form of the contestation that had been going on since the late 1950s – to be sure, a lot more discreetly and without the involvement of the public or the police. Since the late 1950s German bureaucrats had to decide on Jewish applications for expellee cards and hence determine the German Volkszugehörigkeit of Jews. The applicants originated from Eastern Europe and had migrated to the Federal Republic of Germany, often via Israel. In the absence of a regularized immigration regime, these immigrants had two options in order to obtain a permanent residence status: seeking asylum (which was likely to be unsuccessful for Israeli citizens), or seeking recognition as a German expellee (Vertriebener), which was a possibility offered to people arriving from Eastern Europe after the general expulsion had ended (so-called Aussiedler).4 The 2 This is the usage adopted for example in Christian Joppke, Selecting by Origin. Ethnic Migration in the Liberal State, Cambridge, MA 2005, pp. 157 – 218, which is thus far the most comprehensive study of ethnic selectivity in German (and Israeli) immigration policy. In this article I will use the original German term Volkszugehörigkeit when referring to the legal concept, and Volkszugehöriger when talking of the legal status as “ethnic German”. 3 This controversy, in which Broder played a prominent role, is documented in Unsere Stimme 1978, issue 12 and 1979, issues 1 – 8. 4 Germany Refuses Asylum to Israel Emigrs, in: Jerusalem Post, 19. 1. 1961; “Israel. A Liberal State” (Hebrew), in: Maariv, 20. 1. 1961, both taken from Central Zionist Archives (hereafter CZA), S71/3135. However, in 1973 a German court did grant asylum to a ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 505 second option was the most advantageous, for it promised immediate German citizenship as well as substantial integration and retirement benefits. In order to achieve the status of “expellee” one had to apply for an “expellee card.” The awarding of this card mainly hinged on one condition: the German Volkszugehörigkeit of the applicant which was determined by German bureaucrats. Since the legal definition of German Volkszugehörigkeit remained unchanged until 1992, I argue that the essential struggle was about the application of this definition in practice within the given institutional framework. The recognition of Jews as “ethnic Germans” (deutsche Volkszugehörige) was not precluded a priori by the law. Yet it was an exception that had to be negotiated and justified every time anew, a fact proven by the relatively large number of such cases that went to court.5 The drawing of the line between “Germans” and “Jews” crucially depended on who got to provide the necessary knowledge to the deciding institutions, which made their decisions based on the advice of different and competing expert bodies. The question “Who is a German?” was thus replaced by the important preceding question: “Who gets to define who is a German?” Addressing the latter in the Jewish case offers an excellent opportunity to crack open the “black box” of the often alleged “ethnocultural” and “descent-based” German conception of nationhood, which supposedly found its expression in the reception of ethnic Germans as immigrants. In what follows, I will take a closer look at the contestation inside this “black box” – between different narratives and conceptions of what “belonging to the German people” was supposed to mean. I will examine how the Volkszugehörigkeit of Jewish applicants was negotiated, interpreted and thereby effectively produced in a continuous dialogue between the various state and semi-state institutions in charge of the recognition process on the one side, and societal actors like lawyers and immigrant interest groups on the other side. I will first provide a brief overview of Jewish post-war immigration to Germany, situating it in the larger context of Aussiedler migration from Eastern “quarter Jew” from Poland who convinced the judges that he had been unable to integrate in Israel because there he was considered a non-Jew (Verwaltungsgericht billigte “Vierteljuden” Asylrecht zu, DPA, 21. 8. 1973). 5 Some of these rulings concerning Jewish applicants were deemed important enough to be published in the official collection “Entscheidungen des Bundesverwaltungsgericht” (BVerwGE), such as the decisions BVerwG VIII C 30.64, 26. 4. 1967 (BVerwGE 26, 344), BVerwG VIII C 66.66, 26. 4. 1967 (BVerwGE 26, 352), BVerwG III C 121.67, 24. 10. 1968 (BVerwGE 30, 305), BVerwG III C 161.69, 23. 11. 1972 (BVerwGE 41, 189), BVerwG III C 42.73, 23. 1. 1975 (BVerwGE 47, 304), BverwG 3 C 19.80, 11. 11. 1980 (BVerwGE 61, 230), BVerwG VIII C 62.81, 27. 9. 1982 (BVerwGE 66, 168). A ruling by the Federal Constitutional Court of 16. 12. 1981 in the field of expellee law also concerned mainly Romanian Jewish applicants (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 59. 1982, pp. 128 – 172). 506 Jannis Panagiotidis Europe. Then I will introduce the definition of Volkszugehörigkeit in the Federal Expellee Law, the institutions of the “expellee bureaucracy” in charge of implementing the law, as well as the semi-official bodies of institutionalized knowledge that assisted them. As will become clear, the associations of German expellees, the Landsmannschaften, played an important role in these expert bodies. In the third section I will introduce the Association of Jewish Expellees and Refugees (Verband der Jüdischen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge). It was founded in 1962 to represent the interests of the East European Jewish immigrants, trying to provide alternative expertise to the deciding institutions. In the fourth section, I will delve into cases that illustrate how the negotiation of the German Volkszugehörigkeit of Jewish immigrants played out in practice. I will then deal with the attempted systematization of the recognition procedure through the introduction in 1980 of guidelines concerning Volkszugehörigkeit which were created in a favorable spirit towards Jewish applicants and in collaboration with Jewish representatives. The sixth section analyzes the breakdown of this liberal approach in 1987, when the Soviet nationality nomenclature was discovered by the authorities and the Landsmannschaft narrative became the only valid interpretation of Soviet German history for them. As we shall see, roughly three decades of drawing and redrawing the boundaries between “German” and “Jewish” immigrants ended in a neat separation into distinct groups – an outcome that had been anything but clear at the outset. I. Aussiedler Migration and Jewish Immigration to post-war Germany “Jewish” and “German” immigrations to Germany had different historical but common geographic origins, and their historical trajectories merged in the post-war decades before they parted again in the 1990s.6 The so-called Aussiedlung (literally “out-settling”) of German citizens and ethnic Germans from socialist Eastern Europe started in the early 1950s as the aftermath of the preceding expulsions from Poland, Czechoslovakia and Hungary as well as Yugoslavia towards and after the end of the Second World War. The initial intention was to re-unite families that had been separated in the course of the violent and unregulated expulsions. The first major operation for family reunifications was appropriately called “Operation Link” and took place in 6 I have sketched this relational history in Jannis Panagiotidis, Deutsche und jüdische Zuwanderer in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Beziehungsgeschichte, in: Dmitrij Belkin and Raphael Gross (eds.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010, pp. 79 – 81. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 507 1950/51.7 In the following years, the resettlement of Germans from the East was based on the 1952 International Red Cross conference resolution, which obliged all participant states in the Geneva Convention to reunite families that had been divided by the events of the War.8 Over time this limited family reunification program developed into an established migration channel from Eastern to Western Europe. Until the beginning of mass emigration from the Soviet Union during Perestroika in 1987, some 1.4 million Aussiedler came to West Germany through this channel, most of them from Poland and Romania. Since then, approximately another 3 million migrants followed, most of them from the Soviet Union and, after its breakup in 1991, the successor states.9 By contrast, Jewish post-war immigration to Germany had its origins in the persecution, expulsion, and displacement of Jews by the Nazis. Contrary to the persistent myth of Germany as “terra prohibita” for Jews after the Holocaust and before Russian-Jewish mass immigration in the 1990s, there was continuous Jewish immigration to the Federal Republic in the post-war decades.10 This migration was often triangular and involved the migrants’ Eastern European countries of origin (provided these were not German Jews 7 Deutsches Rotes Kreuz, Generalsekretariat, 60 Jahre Suchdienst, Berlin 2005, p. 4, https://www.drk-wb.de/wissensboerse/download-na.php?dokid=6356. 8 Dr. Curt Porella, Referat über die polnische Minderheitenpolitik und den innerpolitischen Umbruch in Polen, gehalten vor dem Abgeordneten des Bundestages am 12. 10. 1956 im Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, in: Bundestagsarchiv, Ausschuss für Heimatvertriebene, 2nd period, 31st session, 12. 10. 1956. 9 For historical overviews of Aussiedler migration see Rainer Münz and Rainer Ohliger, Long Distance Citizens. Ethnic Germans and Their Immigration to Germany, in: Peter H. Schuck and Rainer Münz (eds.), Paths to Inclusion. The Integration of Migrants in the United States and Germany, Providence 1998, pp. 155 – 210; Klaus J. Bade and Jochen Oltmer, Aussiedlerzuwanderung und Aussiedlerintegration. Historische Entwicklung und aktuelle Probleme, in: id. (eds.), Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa (=IMIS-Schriften, 8), Osnabrück 1999, pp. 9 – 51. 10 In fact, the rate of Jewish immigration to the country was consistently above the respective emigration rate during these years; see Barbara Dietz et al., The Jewish Emigration from the Former Soviet Union to Germany, in: International Migration 40. 2002, pp. 29 – 48, esp. p. 41. That West Germany has been one of the main European destinations for Jewish migrants during the post-war decades has been noted by Karin Weiss, Between Integration and Exclusion. Jewish Immigrants from the Former Soviet Union in Germany, in: Mike Dennis and Eva Kolinsky (eds.), United and Divided. Germany since 1990, New York 2004, pp. 176 – 194, esp. p. 183. In contrast, the notion of Germany being an “impossible” country for Jews to live in is perpetuated even in the titles of recent studies that document amply and vividly the very Jewish-German postwar life that was not supposed to exist. See Anthony D. Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, Munich 2007, and Olivier Guez, L’Impossible Retour. Une Histoire des Juifs en Allemagne depuis 1945, Paris 2007 (German edition: Heimkehr der Unerwünschten, Munich 2011). 508 Jannis Panagiotidis re-migrating to their homes), the State of Israel as the proclaimed new home of all the Jews after the War and usually the only place that the socialist states of Eastern Europe would allow Jews to emigrate to, and the Federal Republic of Germany. The small West German Jewish communities of stranded Displaced Persons (DPs), people who had survived the Holocaust and the War inside Germany, and returning migrs which developed after the War were reinforced by several waves of immigration in the following years and decades. The first such immigration wave lasted from 1954 to 1960 and comprised 12,000 to 15,000 people, most of them returnees from Israel.11 But by that time Eastern European Jews, too, had started using Israel as a “transit country” for other destinations.12 Among these destinations West Germany was considered so popular that in 1958 the Israeli newspaper Maariv called it one of the “classic” destinations of Israeli migrants, many of whom had just recently arrived.13 These returnees and newcomers were followed by a second immigration wave from Eastern Europe and Israel from roughly 1964 until 1967. Most of these immigrants originated from Romania (mainly Transylvania and the Bukovina) and different parts of Poland.14 In the wake of the events of 1968, Jews from 11 Kauders, Unmögliche Heimat, p. 56. This is a high-end estimate: Guez, Heimkehr der Unerwünschten, p. 96, mentions 9,000 returnees during the 1950s. A contemporary report in Der Spiegel, 31. 7. 1963, p. 28, spoke of only 7,000 return migrants for the years 1952 – 1960. The time period 1954 – 1960 was suggested by the secretary general of the Central Council of Jews in Germany, Hendrik George van Dam, in an interview entitled “Rückwanderung nach Deutschland nicht zu empfehlen”, ibid., p. 29. 12 In the Year of Israel’s Tenth Anniversary – 10,000 Emigrs (Hebrew), in: Maariv, 17. 10. 1958 (CZA S71/3135). 13 Ibid. 14 I have no systematic data regarding the exact dimensions of this immigration wave. A 1970 report spoke of 3,000 recent immigrants from countries of the Eastern bloc, Hedwig Biermann, Juden in Deutschland. Beobachtungen zu einem aktuellen Thema, in: Publik, 27. 2. 1970, p. 3. The time period 1964 – 1967 was suggested by the head of the Central Council, Hendrik G. van Dam, quoted in Lothar Labusch, Das deutsche Verhältnis zu den Juden ist ein Testfall, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 20. 9. 1968, p. 3. It is corroborated by the data I found in a list of 227 Jews living in the city of Mannheim in 1970 who had applied for an expellee card, Haupstaatsarchiv (hereafter HStA) Stuttgart EA 12/201, AZ 2552, Nr. 14. Of those 227, 151 had come to Germany between 1964 and 1967. From the same list I have extrapolated the geographic origins of these immigrants: 163 of 227 or roughly 72 per cent of the Jews registered there came from Romania, mainly from the city and the region of Oradea in Transylvania, and from Bukovina. Another 28 of them had been born in Poland (including pre-war Galicia), and 16 had been born in Hungary. The ratio between the countries of origin might have been different in other cities. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 509 Czechoslovakia also sought refuge in West Germany.15 From the 1970s onwards, the bulk of Jewish immigration came from the Soviet Union (at the time mainly from the Baltics and Northern Bukovina), which was also going to be the source of the great Jewish immigration in the 1990s.16 While it is difficult to come up with precise numbers for each of these later migration waves, it is safe to say that none of them exceeded a few thousand souls. For the whole period between 1955 and 1985 the number of 40,000 Jewish immigrants to West Germany can be found in the literature.17 This number was just high enough to compensate for the birth rate below replacement level and high death rates in the community and thus keep the number of Jews in Germany constantly between 25,000 and 28,000 from the mid-1960s to the onset of the (post-)Soviet exodus in 1990.18 But at any rate, the significance of this immigration did not lie in its limited numerical impact, but rather in the stir that it caused in German bureaucracy. II. Expellee Law and Expellee Bureaucracy “Jewish” and “German” migration trajectories to West Germany literally converged once the immigrants had entered the country and turned to the same offices in order to apply for an expellee card that would secure their status and entitle them to social benefits. Before going into the administrative details of this “expellee bureaucracy,” it is instructive to take a look at the legal foundation for the work of these institutions: the Federal Expellee Law (Bundesvertriebenengesetz, BVFG) of 1953.19 This law defined not only the benefits a recognized German expellee was entitled to receive, but also the criteria by which such a person could be identified. Precisely these criteria created major difficulties for the Jewish applicants. 15 According to Kauders, Unmögliche Heimat, p. 59, some 900 Jews from the CSSR fled to West Germany between August 1968 and February 1969. 16 Again, exact numbers are hard to come by. The chairman of the Jewish community of Berlin, Heinz Galinski stated that 2,500 Soviet Jews had made Berlin their home between 1974 and 1980, which he claimed were 73 per cent of all Jewish immigrants to West Germany, Heinz Galinski erwägt Rücktritt, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 10. 1980. This is at least mathematically consistent with other newspaper reports claiming that some 1,000 Soviet Jews had settled in the city of Offenbach between early 1975 and August 1976, Georg Bönisch, Für 2000 Dollar eine Zuflucht am Main, in: Bonner Rundschau, 12. 8. 1976. For the 1980s the sources at my disposal do not provide any significant numbers. 17 Weiss, Between Integration and Exclusion, p. 183. 18 Dietz et al., Jewish Emigration, pp. 38 – 41. 19 Bundesgesetzblatt I, p. 201, 22. 5. 1953. 510 Jannis Panagiotidis 1. The Legal Definition of German Volkszugehörigkeit In order to receive an expellee card, an applicant had to fulfill the criteria for German Volkszugehörigkeit formulated in Section 6 of the BVFG. According to these, a German Volkszugehöriger was someone who had identified himself as belonging to the German Volkstum (wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat) in his country of origin, provided that this selfidentification (Bekenntnis) was based on certain characteristics like descent, language, upbringing, culture (sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird).20 This definition was not new at the time: it was taken almost verbatim from a March 1939 circular of the Nazi Ministry of the Interior. What had been omitted was the second part of the Nazi definition: “Persons of foreign blood (artfremden Blutes), especially Jews, are never such Volkszugehörige, even if they have so far referred to themselves as such.”21 As both contemporary legal commentaries to the Expellee Law and repeated court rulings explicitly stated, the current definition was open to include Jews as well, since “race” and “blood” had become non-categories and since religious affiliation was deemed volkstumsneutral, which meant that it neither excluded nor precluded belonging to a certain Volkstum. As we see from this definition, the primary criterion for the recognition as belonging to the German Volkstum was the Bekenntnis, which was defined by the Federal Administrative Court (Bundesverwaltungsgericht) as follows: A person has made a Bekenntnis to his Volkstum according to section 6 BVFG if he has, by means of his behavior, stated authoritatively and perceivably for a third party his consciousness and his willingness to belong to a particular Volkstum and to no other.22 The Bekenntnis to the German Volkstum in particular had to be “made with the aim to be considered German in the homeland [meaning the country of origin, J. P.] and to be treated as such.”23 Thus there were two prerequisites for the Bekenntnis: it had to be public, and it had to be unequivocal.24 Furthermore it had to have been made in the country of origin and right before the onset of 20 Ibid. 21 Ministerialblatt des Reichsministers des Innern (1939), p. 783. 22 “Im Sinne von § 6 BVFG zu seinem Volkstum ‘bekannt’ hat sich derjenige, der durch sein Verhalten das Bewusstsein und den Willen, einem bestimmten Volkstum und keinem anderen anzugehören, für Dritte wahrnehmbar verbindlich kundgetan hat.” BVerwG VIII C 30.64, 26. 4. 1967 (BVerwGE 26, 344). 23 Ibid. 24 The condition that the Bekenntnis be unequivocal was also formulated in the authoritative commentaries to the Federal Expellee Law. See for example Walter Straßmann et al., Bundesvertriebenengesetz. Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge. Kommentar mit Kennziffernverzeichnis und Sachregister, Munich 19582, p. 37. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 511 what was termed the “general expulsion measures” (allgemeine Vertreibungsmaßnahmen), that is before 1944/45.25 For Jewish applicants this deadline was moved back to 1933, as it was considered unreasonable to expect them to have identified with the German Volkstum after the Nazis had come to power.26 This overriding importance of public self-identification in the legal definition of a German confounds the stereotypical idea that the German conception of nationhood was “ethnocultural,” i. e. based on “descent” and “culture.”27 The decisive criterion for admission into the German nationhood was neither “descent” nor the mere partaking in the German language and culture, but public subjective identification. Both “descent” and “culture” were merely auxiliary criteria. Ironically, then, the definition of German Volkszugehörigkeit according to this law was very close to an ideal-type “Renanian” definition of nation as a “daily plebiscite” rather than to the notion of a “community of descent.”28 An additional irony is that it was precisely the overriding importance of the “plebiscitary” dimension of national belonging that made it more difficult for Jewish applicants to be recognized as Germans. Based on a purely cultural definition most of them would not have had a problem to gain recognition, as they could easily prove their belonging to the “German linguistic and cultural sphere” (deutscher Sprach- und Kulturkreis). Yet this type of belonging was not identical with German Volkszugehörigkeit in the legal sense, which, as commentators on the law pointed out time and again, was also not to be 25 BVerwG VIII C 118.65, 14. 3. 1968, in: HStA Stuttgart, EA 12/201, AZ 2552, Nr. 15. 26 This principle was affirmed as a summary of existing jurisdiction in BVerwG III C 42.73, 23. 1. 1975, (BVerwGE 47, 304). 27 This argument became an item of faith among citizenship and nationalism scholars in the wake of the publication of Rogers Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge, MA 1992. For a typical articulation of this idea consider, for instance, Daniel Levy : “ethnic Germans from central and Eastern Europe […] have enjoyed privileged access to citizenship on the grounds of Germany’s descent-based laws. […] Ethnic Germans exemplify the notion of the ethno-cultural nation, an idea of nationhood not bound by the territorial limits of the state but expressed by shared language and culture (Kulturnation) and the principle of descent (Ethnonation).” Daniel Levy, The Transformation of Germany’s Ethno-Cultural Idiom. The Case of Ethnic German Immigrants, in: id. and Yfaat Weiss (eds.), Challenging Ethnic Citizenship. German and Israeli Perspectives on Immigration, New York 2002, pp. 221 – 235, esp. pp. 221 f. The most recent example is Douglas B. Klusmeyer and Demetrios G. Papademetriou, Immigration Policy in the Federal Republic of Germany. Negotiating Membership and Remaking the Nation, New York 2009, p. 274, who call the “ethnocultural lense” in the negotiation of difference a specifically German phenomenon. 28 The reference is to Ernest Renan, What is a Nation?, in: Geoff Eley and Ronald Grigor Suny (eds.), Becoming National: A Reader, New York 1996, pp. 41 – 55. 512 Jannis Panagiotidis confused with the ethnological notion of Germanness.29 Belonging to the German Sprach- und Kulturkreis was sufficient for recognition according to the Federal Restitution Law (Bundesentschädigungsgesetz, BEG), but not for the purposes of the BVFG with its requirement of an explicit Bekenntnis.30 According to a ruling of West Germany’s highest administrative court, a Bekenntnis could have been membership in an “association that pursued volkstum-political aims or engaged at least in cultural politics with a Volkstumtendency.”31 On the other hand, mere membership in an apolitical association like a chess club that only admitted Germans was not relevant for the assessment of the German Bekenntnis, since “the game of chess is a hobby and has no relation to Volkstum.”32 Not surprisingly, few Eastern European Jews could boast membership in a German Volkstum-association, even before 1933, which effectively decreased their chances of gaining recognition as German Volkszugehörige.33 The identification as German in a national census could also count as an explicit Bekenntnis.34 Yet this too was problematic for Jews from Eastern Europe, where separate Jewish national minorities had been recognized in most states and where “Jewish” was an official census category.35 The significance of the registration as “Jewish” by the authorities of the state of origin was a recurrent theme in the administrative recognition practice. At the heart of the issue was the extent to which the categories used to define groups of the population in different East European countries – such as natsional’nost’ in the Soviet Union or origina etnica in Romania – could be identified with the German notion of Volkszugehörigkeit. Another question was to what extent there could be a distinction between being of Jewish religion (“of the Mosaic faith” as it was called in German administrative parlance) and of Jewish nationality – a question that during the same period caused acrimonious public debates in the State of Israel.36 29 Michael Silagi, Vertreibung und Staatsangehörigkeit, Bonn 1999, p. 129. 30 About this fascinating parallel case of ethnic recognition according to German law see Jos Brunner and Iris Nachum, Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Wie und warum israelische Antragsteller ihre Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis beweisen mussten, in: Norbert Frei et al. (eds.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009, pp. 387 – 424. 31 BVerwG VIII C 173.72, 14. 11. 1973, in: HStA Stuttgart EA 12/201, AZ 2555, Nr. 181. 32 Ibid. 33 Joppke, Selecting by Origin, p. 185. 34 According to the above quoted ruling of 26. 4. 1967 (BVerwGE 26, 344), it should even be the main way of assessing a Bekenntnis. 35 Joppke, Selecting by Origin, p. 185. 36 The most prominent, if reversed, such case was that of Brother Daniel (Oswald Rufeisen), a Jewish-born Catholic monk who despite his non-Jewish faith sought ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 513 2. The Institutions of Expellee Bureaucracy The eligibility of applicants for an expellee card was assessed by a specialized expellee bureaucracy, which had developed after the Second World War in order to administer the masses of German expellees and refugees from Eastern Europe. These so-called refugee administrations (Flüchtlingsverwaltungen) operated semi-autonomously on the local and regional levels.37 The main body coordinating their activities was the so-called Arbeitsgemeinschaft der Landesflüchtlingsverwaltungen (Argeflü), which played an increasingly important role from the 1970s onwards (see chapter VI below). Within the Länder, the refugee administrations were overseen by different ministries, such as the Ministry for Social Affairs in Hesse or the Labor Ministry in North RhineWestphalia. By contrast, the Federal Ministry for Expellees, which in 1969 became part of the Federal Interior Ministry, did not have any direct control over the refugee administration bodies.38 The original task of the refugee administration bodies was to implement the integration of the actual expellees into society. Yet over time they also came to play an important role in the process of Aussiedler migration. The attribution of expellee cards to those applicants who fulfilled the legal criteria became one of their key functions. This way, the ethnic recognition process was institutionalized and a body of institutional knowledge about the identification of co-ethnics was created. Important knowledge for the assessment of an applicant’s Volkszugehörigkeit came from two semi-official institutions: the Heimatortskarteien (HOK), and the Heimatauskunftstellen (HASt). The HOK were extensive card registers of the German refugee population maintained by the charity organizations of the Catholic and Protestant churches, the Caritas and the Diakonie. These records could help the refugee administration to determine wether an Aussiedler was an ethnic German or descended from recognition as a Jew in the State of Israel. With a 4:1 majority, the judges of the Supreme Court of Israel decided that it was not possible to be of Jewish nationality while being of non-Jewish faith, thus fully identifying the categories of nationality (leom in Hebrew) and religion (dat) in the Jewish case. See State of Israel, the Supreme Court, Judgment: High Court Application of Oswald Rufeisen v. The Minister of the Interior, Jerusalem 1963. See also the discussion of the case in Joppke, Selecting by Origin, p. 177, and Nechama Tec, In the Lion’s Den. The Life of Oswald Rufeisen, New York 1990, pp. 222 – 231. 37 Refugee in this case does not refer to refugees in the sense of the Geneva Convention on Refugees of 1951, but to the German refugees (Flüchtlinge, interchangeably also called expellees or Vertriebene) from Eastern Europe after the Second World War. 38 Rolf Messerschmidt, Die Flüchtlingsfrage als Verwaltungsproblem im Nachkriegsdeutschland. Das Phänomen der klientenorientierten Flüchtlingssonderverwaltung in Ost und West, in: Dierk Hoffmann et al. (eds.), Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, Munich 2000, pp. 167 – 186, esp. p. 168. 514 Jannis Panagiotidis ethnic Germans.39 The more prominent role in this story of Jewish immigration to Germany was played by the HASt, however. They were initially created for the implementation of the Equalization of Burdens Act (Lastenausgleichsgesetz, LAG). Their task was to assess the economic damage that expellees had suffered.40 For their work, these institutions relied on networks of people with intimate knowledge of the expellees’ regions of origin, especially former officials. Expellee organizations (Landsmannschaften) cooperated with the HASt by providing them with names and addresses of such experts, as well as administrative personnel.41 Going beyond their original task, it became an increasingly important part of the work of the HASt to provide expertise on the question of the Volkszugehörigkeit of potential Aussiedler. Over time the HASt and, indirectly, the expellee associations became important gatekeepers of the German expellee law which provided a gateway into the German nation and welfare-state. III. “A Hupka and Czaja for Jews.” The Association of Jewish Expellees and Refugees In May 1962, a group of Jews from Eastern Europe living in Frankfurt am Main founded the Association of Jewish Expellees and Refugees (Verband der jüdischen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, henceforth called the Flüchtlingsverband).42 The use of the term Heimatvertriebene is striking in this context. It was usually identified with Germans who had been expelled from Eastern Europe after 1945 and was ideologically highly charged, as it highlighted what was perceived to be the unjust loss of the homeland (Heimat) in the East. In this it was the epitome of a German post-war discourse of victimhood that ignored German crimes and stressed specifically the 39 Kirchlicher Suchdienst (ed.), HOK – 50 Jahre Kirchlicher Suchdienst. Die Heimatortskarteien der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, Munich 1996, p. 24 and p. 26. See also Kirchlicher Suchdienst, Heimatortskarteien der Kirchlichen Wohlfahrtsverbände. Expos zu den Aufgaben der Heimatortskarteien in Vergangenheit und Zukunft (1958), in: Bundesarchiv (hereafter BArch) Koblenz B136/9437. 40 Heinrich Rogge, Eingliederung und Vertreibung im Spiegel des Rechts, in: Eugen Lemberg et al. (eds.), Die Vertriebenen in Westdeutschland, vol. 1, Kiel 1959, pp. 174 – 245, esp. p. 217. 41 25 Jahre Heimatauskunftstellen in Schleswig-Holstein, Kiel 1978, p. 55; 20 Jahre Heimatauskunftstellen in Baden-Württemberg, Stuttgart [1973], p. 34. 42 Verband jüdischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge in der Bundesrepublik, Protokoll der Gründungs-Generalversammlung, 3. 5. 1962, in: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland (hereafter Zentralarchiv) B.1/17, Nr. 16. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 515 German suffering.43 This makes the use of the term by an explicitly Jewish association all the more noteworthy. However, it does not seem to have raised an eyebrow at the time. The Flüchtlingsverband arguably sought the terminological proximity because the expellees, unlike the Jewish victims of German crimes, were by then already benefitting from German state money allocated by welfare laws like the BVFG and the LAG. Its board even pondered joining the Federation of Expellees (Bund der Vertriebenen, BdV) and took a positive vote on it.44 Yet when the BdV returned this interest and suggested that the Jewish Flüchtlingsverband join its ranks in 1965, the association backed off, allegedly because joining would have contradicted its bylaws.45 Immediately after its foundation the board also discussed a merger with the Central Council of Jews in Germany (Zentralrat der Juden in Deutschland). Yet the board members did not pursue this idea because of the association’s explicit focus on the concerns of Jews from Eastern Europe and the ensuing “diverging interests.”46 Initially, the main aim of the Flüchtlingsverband was the equal treatment of Eastern European and German Jews in matters of restitution according to the BEG.47 Yet the recognition of these immigrants as ethnic German expellees according to the BVFG soon acquired even greater importance. From the very beginning, the association’s representatives were well aware of the importance of advancing this cause directly at the deciding authorities. At the general assembly in March 1965, chairman Ignac Lipinski noted among the successes of the Flüchtlingsverband during its three years of existence that it had managed to be heard and consulted by the responsible authorities for restitution as well as by the expellee bureaucracy.48 At the same assembly, the association’s secretary, Hermann Wenkart, even maintained that it had achieved the “perforation” (Durchlöcherung) of section 6 of the BVFG which defined German Volkszugehörigkeit. Beyond variegated ad hoc activities concerning individual cases, the larger aim of the lobbyist Flüchtlingsverband was to provide institutionalized knowledge to the authorities and ultimately to play the role of an “expert” for Jewish immigrants that the Landsmannschaften and the Heimatauskunftstellen 43 About the ideological connotations of this term see Samuel Salzborn, Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände, Berlin 2000, pp. 40 – 42. 44 Protokoll der Vorstandssitzung, 13. 3. 1963, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 16. 45 Protokoll der Vorstandssitzung, 24. 10. 1965, in: ibid. 46 Protokoll der Vorstandssitzung, 20. 6. 1962, in: ibid. The “diverging interests” have to be seen in the context of the gulf within post-war German Jewry between those who had lived in Germany already before 1933, and those who arrived from Eastern Europe after the War. The Zentralrat mainly represented the former group. See Kauders, Unmögliche Heimat, pp. 164 – 169. 47 Protokoll der Vorstandssitzung, 12. 6. 1962, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 16. 48 Generalversammlung, 28. 3. 1965, in: ibid. 516 Jannis Panagiotidis played for German expellees and Aussiedler.49 The board even explicitly suggested the foundation of a Jewish Heimatauskunftstelle based on the data that the association had already collected about Jewish refugees from the East, sorted according to their regions of origin.50 In a 1973 article for the association’s journal Unsere Stimme, Hans Meyer, a member of the board, made these ambitions very clear. He criticized the excessive powers that the HASt had assumed in his view: Who defines who is or who can become an ethnic German (Volksdeutscher) and hence an expellee? The government, or the Länder, or the refugee administration that has been created for this purpose? No, the semi-official Heimatauskunftstellen do! Yet he saw a solution on the horizon: There seems to be a glimmer of hope since some of the offices and courts have begun to consult the enquiry office of the Association of Jewish Expellees and Refugees in Frankfurt. This office may be short in personnel, but it produces advice that does justice to history.51 In Meyer’s statement we have an articulation of the entire ethnic recognition process’ crux, for the answer to the question “Who is a German?” depended greatly on a different question: “Who gets to define who is a German?” The Jewish refugee association had understood that it needed to create a counterbalance to what it perceived to be the excessive defining power of the HASt, which were controlled by the expellee Landsmannschaften and were not very favorably disposed towards Jewish applications, as will be further developed below.52 Even though a formal institutionalization of a Jewish Heimatauskunftstelle never came about, the Flüchtlingsverband seems to have been happy enough with its achievements, at least in hindsight. A January 1987 board report read as follows: 49 These ad hoc activities, which are documented in the association’s archive, included direct interventions with the refugee authorities on behalf of individuals, searching for witnesses for investigations into applicants’ Volkszugehörigkeit, serving as an institution of reference for administration and courts alike in such matters, and providing help and information to individuals that contacted the association for various other reasons. 50 Letter to H.G. van Dam, 16. 12. 1969, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 6; Vorstandssitzung, 3. 11. 1968, in: ibid., Nr. 16. The data in question might be contained in several lists with hundreds of names of people from different regions of Poland, Czechoslovakia, and Romania contained in: ibid., Nrs. 28 and 34. 51 H. Meyer, Oh, Du liebe Heimat(auskunftstelle), in: Unsere Stimme, 5. 1973, pp. 5 f. 52 An example about a direct encounter of the opinions of the association and the HASt Polen I (Lodz) in an individual case is documented in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 6. The lawyer Fritz Fafflok from Frankfurt had forwarded the HASt expertise in the restitution case of Josef F. to chairman Lipinski and asked for an opinion (27. 6. 1969). In their response, the undersigned Lipinski and Meyer provided him with a counter expertise (4. 9. 1969). ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 517 Without exaggeration I can assert that our association has become an institution which enjoys ever growing authority with offices, authorities and other institutions. For these institutions we have equal status with the expellee associations and represent a kind of Hupka or Czaja for them – just for Jews.53 And indeed, when the CDU/CSU group of the Bundestag looked for advice regarding the integration of Aussiedler in March 1988, they automatically addressed the Flüchtlingsverband alongside other expellee associations.54 Yet, as I will argue below, despite these partial successes the Association never succeeded in turning Jewish Aussiedler migration into more than an exception to the rule that had to be justified on a case to case basis, and it could not prevent the bureaucratic separation of “Germanness” and “Jewishness” that was taking place at the very time when the board issued this self-glorifying report. IV. Jewish Immigrants between “Liberal” and “Restrictive” Approaches 1. The Second Immigration Wave and the Mannheim Case During the second immigration wave of the mid-1960s, Eastern European Jews, mainly from Romania, came to West Germany via Israel but also directly from their countries of origin or via other European countries, such as Belgium, Austria, France, and Italy.55 Despite this new immigration, the chairman of the Central Council of Jews in Germany, Hendrik George van Dam, reaffirmed his standpoint that Germany was not a country of return or immigration for Jews.56 This represented the viewpoint of many Jews in Germany who thought they had to live “on packed suitcases” in the land of the perpetrators, always ready to leave.57 Meanwhile, the Flüchtlingsverband and 53 Tätigkeitsbericht des Vorstands, 11. 1. 1987, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 8 (emphasis supplied). Herbert Hupka and Herbert Czaja were prominent expellee activists over many years, Hupka being the chairman of the Landsmannschaft Schlesien and Czaja of the Bund der Vertriebenen. 54 Schreiben der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einer Arbeitsgruppensitzung zur Aussiedlereingliederung, 10. 3. 1988, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 22. 55 These migration trajectories have been conjectured from the data provided by the Mannheim list of 1970 (see footnote 15). Of the 227 registered Jews, at least 117 had spent some time (in the range of six months to twenty years) in Israel. 18 had come through Belgium, 14 through Austria, 7 through France, 5 through Italy, and 6 had come directly to Germany. 56 Labusch, Das deutsche Verhältnis. 57 Kauders, Unmögliche Heimat, p. 10. While Kauders also shows that this notion was increasingly questioned from the mid-1960s (p. 118), the trope has persisted to this day to describe the approach of Jews to their life in post-Holocaust Germany. 518 Jannis Panagiotidis its lawyers went to great lengths to ensure that the Eastern European newcomers could stay. In particular they represented Jewish applicants whose applications for expellee cards had been rejected. Two of the most active lawyers were Horst F. K. Petri from Frankfurt, who also published articles on legal affairs in Unsere Stimme, and Hano Ramge from Mannheim. Sometimes these lawyers intervened directly at state institutions, for instance, in 1968/69, when Ramge and his colleagues made a case on behalf of Jewish immigrants in Mannheim. This case provides an interesting (and well documented) window on the contestations involving Jewish applicants, and illustrates the clash of perceptions that they could contain. In letters of May and June 1968 to the Interior Ministry of Baden-Württemberg and the Federal Ministry for Expellees and Refugees, Ramge and his colleagues Gericke and Miess criticized the expellee bureaucracy’s practice of consulting the Heimatauskunftstellen about Jewish applicants.58 The generic information provided by these institutions, the lawyers argued, was hardly useful for the assessment of individual cases. According to the lawyers, the HASt based their expertise on the general observation that there had been a strong and separate Jewish minority in the country of origin, reasoning that because of his or her Jewish faith the applicant must have belonged to this Jewish minority and could not be a German Volkszugehöriger. The assumption that foreign census categories such as Romanian origina etnica were synonymous with German Volkszugehörigkeit, the lawyers argued, was mistaken and contributed to the HASt’s misjudgments. The Federal Expellee Ministry asked the BadenWürttemberg ministry for a statement, but it replied – true to the official instructions – that an applicant’s Jewish faith was irrelevant to the question of his ethnic belonging.59 Lawyer Ramge raised the issue again in late 1969, this time in a personal hearing at the Federal Interior Ministry. In a follow-up letter to this meeting, Ramge criticized the authorities for requesting more extensive documentation from Jewish applicants than from others, which put Jews in a worse position. He also brought forward a new criticism against the HASt and the Landsmannschaften, namely that their representatives were former German Volkstum-activists, whom he suspected of having an uneasy relationship with Jews which they had preserved from their countries of origin. To counterbalance this, he then suggested an institutional solution, namely to create special councils at the HASt for the assessment of Jewish applications. These new 58 RAe. F. Gericke, H. Miess und H. Ramge an das Innenministerium Baden-Württemberg, Abteilung Angelegenheiten der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten (hereafter IM BW, Abt. VFK), 15. 5. 1968, in: HStA Stuttgart EA 12/201, AZ 2552, Nr. 13; RAe. F. Gericke, H. Miess und H. Ramge an das Bundesministerium für Vertriebene und Flüchtlinge, 7. 6. 1968, in: ibid., Nr. 14. 59 IM BW, Abt. VFK an den Herrn Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, 28. 8. 1968, in: ibid., Nr. 14. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 519 councils should have Jewish members who would make sure that the statements of the institutions remained free of “misunderstandings and obvious resentment.”60 Since Ramge referred to two individual cases from Mannheim where an expellee card had been denied or withdrawn, the BadenWürttemberg Interior Ministry sent a letter marked “very urgent” to the Regional Council (Regierungspräsidium) of Northern Baden, where Mannheim is located, asking for an explanation.61 The Regional Council defended the more extensive examination of Jewish cases, stating that “belonging to the Mosaic faith almost invariably justifies the assumption of belonging to the Jewish people as well.”62 This and other reactions by the Regional Council illustrate two things: first, the difficulty of distinguishing between Jewish religion and Jewish nationality and second, the actual prevalence of völkisch thinking, at least in the bureaucratic institution at hand. Völkisch thinking looms large in its attempts to justify the withdrawal of an expellee card that had been issued to a Romanian Jew by the name of Isidor B. After receiving an initial rejection letter, Mr. B. was actually issued a card following a personal encounter with the mayor of the city, Hans Reschke, who had been impressed by his impeccable, Austrian-inflected German. The Regional Council was less impressed, however. It argued that B.’s knowledge of German did not prove anything, as it was normal for him, a merchant, to speak this language. In addition, he did not give any convincing reason why he or his parents should have identified as Germans in a city of 102,000 inhabitants where there were only 980 Germans, but 34,662 Jews. Nor did the Regional Council find the testimonies of the witnesses he cited convincing.63 In response to a letter of protest by the mayor’s office, an unnamed official from the Regional Council then articulated an explicitly völkisch worldview. He pointed to “a certain life of their own” (ein gewisses Eigenleben) that the “ethnic communities” (völkische Gemeinschaften) had had in Southeastern Europe. This natural attachment (natürliche Zuordnung) to an ethnic community could only be changed by means of declaration to belong to another ethnic community. This happened only in exceptional cases and for cogent reasons. 60 RAe. Gericke, Miess und Ramge an das Bundesministerium des Innern (hereafter BMI), Abteilung Angelegenheiten der Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten, 8. 1. 1970, in: ibid. 61 IM BW, Abt. VFK an das Regierungspräsidium (hereafter RP) Nordbaden, 20. 1. 1970, in: ibid. 62 RP Nordbaden an IM BW, 25. 2. 1970, in: ibid. To underline his credibility and expertise, the responsible bureaucrat, a certain Mock, added that he and his deputy were expellees from Bukovina and Banat themselves and hence knew the relationship of the Jews to the German minority back in the homeland from their own experience. 63 RP Nordbaden an das Bürgermeisteramt Mannheim, 2. 4. 1970, in: ibid. 520 Jannis Panagiotidis The regional council saw no exception to this “natural” rule in the particular case. According to his own statement, [the applicant] is a German speaking Jew from Romania. It is true for him, too, that as a Jew he lived within his Jewish ethnic community (Volksgemeinschaft). He has presented no evidence that he embraced the German ethnic group in Romania and turned his back on his [sic!] Jewish ethnic community, to which he was attached by birth.64 Apart from the problematic usage of a Nazi term like Volksgemeinschaft, this statement projects a remarkably – and unrealistically – organic natural order of Interwar Eastern Europe.65 In this homogenized picture, “German Jews” could only appear as an anomaly. The police crackdowns on Jewish holders of expellee cards in the 1970s that we will deal with next were the extreme outcome of this perception: how, the expellee authorities and state attorneys wondered, could there be so many exceptions to the rule? Fraud was the answer they came up with. 2. The Third Immigration Wave and the Offenbach Case The bulk of the third wave of Jewish immigration to West Germany from the early 1970s onwards came from the Soviet Union. These were mainly so-called Zapadniki (“Westerners”) from the Baltic Republics and Bukovina, regions which were annexed by the Soviet Union only in 1939/40 and had a Jewish population with a historically strong attachment to German culture.66 This migration was a by-product of the more liberal stance that the USSR took towards Jewish emigration during that period. While in theory the emigrants were headed for Israel, many of them “dropped out” in the transit station in Vienna, diverted their journey to Rome, where the Hebrew Immigrant Aid Association (HIAS) had its central processing area for Jews from Eastern Europe, and from there usually went on to the United States.67 Yet some of the 64 RP Nordbaden an Herrn Oberbürgermeister Dr. Reschke, Mannheim, 25. 8. 1970, in: ibid. 65 The initially monolithic, static, and exclusivist perception of cultural belonging by German restitution authorities is pointed out by Brunner and Nachum, Vor dem Gesetz, pp. 410 – 419. This approach was only changed by a ruling by the Bundesgerichtshof in 1970 (ibid., p. 420). 66 Zvi Gitelman, “From a Northern Country”. Russian and Soviet Jewish Immigration to America and Israel in Historical Perspective, in: Noah Lewin-Epstein and Paul Ritterband (eds.), Russian Jews on Three Contintents. Migration and Resettlement, London 1997, pp. 21 – 41, esp. p. 28. 67 Gitelman, From a Northern Country, p. 29; Gaynor I. Jacobson, Soviet Jewry. Perspectives on the “Dropout” Issue, in: Journal of Jewish Communal Service 55. 1978, pp. 83 – 89, esp. pp. 87 f. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 521 “dropouts” (noshrim, as they were called in Israel) went to West Germany instead, either directly or via Israel.68 Much like Mannheim in the 1960s, the communities that received the immigrants tackled their absorption by means of the expellee law. As early as 1973, in the early stage of this immigration, the West German embassy in Rome had acknowledged that most of the Jews who had approached the embassy could be considered ethnic Germans, some reservations notwithstanding.69 West Berlin, whose relatively strong Jewish community was headed by a vocal chairman, Heinz Galinski, was among the first cities to take in Soviet Jewish migrants in 1973.70 And indeed, initially most of them were recognized as ethnically German according to the BVFG.71 Yet as the numbers of immigrants grew, the Berlin authorities found it increasingly difficult to recognize the Jewish immigrants as Germans.72 This created the question how to deal with this peculiar situation: while the authorities were cautious not to expel Jews from Germany, they were also concerned about Israel’s reaction to a generous stance towards these immigrants who, after all, were originally destined for the Jewish state.73 After extensive deliberations between the city authorities, the Länder, the Foreign Office and the German embassy in Tel Aviv it was decided not to expel any of the Jewish immigrants. The Länder should decide autonomously whether to grant residence permits. Anyone who would immigrate illegally in the future, however, should not be allowed to stay.74 According to press reports, Berlin would only make an exception for those people who could prove their German Volkszugehörigkeit according to the BVFG. All the others would be asked to return to Israel after six months.75 In general, Jewish immigrants would be subject to normal aliens law in the Federal Republic. 68 According to a news agency report from November 1974, 80per cent of the approximately 500 Soviet Jews that had come to Berlin until then held an Israeli passport. See Berlin befürchtet Schwierigkeiten durch Sowjet-Juden-Ausreisen, DPA, 13. 11. 1974. 69 Deutsche Botschaft Rom an Auswärtiges Amt (hereafter AA), 14. 3. 1973, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (hereafter PAAA) B 85 1129. 70 Heinz Galinski an Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, 12. 11. 1974, in: ibid. 71 Der Regierende Bürgermeister von Berlin an den Senator für Bundesangelegenheiten, 13. 9. 1974, in: ibid. 72 Ibid. According to press reports at the time, by December 1974 only 180 – 200 of 546 Jewish immigrants to Berlin had received expellee status. See Berlin bremst jüdische Zuwanderung, DPA, 3. 12. 1974. 73 Der Regierende Bürgermeister von Berlin an den Senator für Bundesangelegenheiten, 13. 9. 1974, in: PAAA B 85 1129, and Botschaft Tel Aviv an das AA, 20. 9. 1974, in: ibid. 74 BMI an AA, 17. 2. 1975, in: PAAA B 85 1338. 75 Berlin will nur deutsche Juden nicht aussperren, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 5. 12. 1974; Berlin drosselt die Zuwanderung von Juden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 12. 1974. 522 Jannis Panagiotidis This murky situation created room for maneuver for the immigrants, but also for illegal activity. In January 1975, the weekly magazine Der Spiegel reported about investigations regarding large-scale fraud with expellee cards in the city of Offenbach, which had been a popular destination among Jewish immigrants for years.76 That same year the police started investigating cards issued in the cities of Hamm, Ludwigshafen, Groß-Gerau, and Hagen.77 Sensitized by these investigations, expellee authorities in Hesse, North Rhine-Westphalia and Rhineland Palatinate tried to withdraw previously issued expellee cards on the grounds that they had been obtained under false premises.78 The withdrawal of already issued cards was possible according to section 18 of the BVFG and was not sensational per se. Nor were Jewish card holders the only ones that were investigated. However, given the much lower overall number of Jewish compared to non-Jewish card holders, the attention they received by the authorities seems disproportionate, in particular once investigations were conducted by the law enforcement authorities.79 The Offenbach investigation became a cause clbre, not least because of the young State attorney in charge, Gert Feldmeier, whose controversial investigation methods caused a lot of resentment in the Flüchtlingsverband. When German and Israeli papers reported in August 1976 that Jews had been lured to Offenbach by human traffickers, themselves Eastern European Jews, and had received expellee cards with the help of expensive lawyers, the Israeli authorities also became interested in the affair.80 However, it appears that 76 Der Grüne, in: Der Spiegel, 13. 1. 1975. According to data gathered by the Jewish community in Offenbach, the bulk of these people arrived in the city between 1972 and 1975. See: Danny Meggido, Bonn, to Mr. M. Voron, Head of the Diaspora Department, 18. 8. 1976, “Offenbach Jews” (Hebrew), in: Israeli State Archives (hereafter ISA) I30.23.13.393. 77 Der Präsident des Bundesausgleichsamts an die Ausgleichsverwaltung, 3. 12. 1975, in: HStA Stuttgart EA12/201, AZ 2555, Nr. 191. 78 Stellungnahme zur Behandlung jüdischer Aussiedler und Flüchtlinge in der BRD, attachment to: Verband jüdischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge an den Vorsitzenden der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag Otto Wilke, 2. 8. 1977; Horst K. F. Petri an Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen (hereafter MAGS NRW), 11. 7. 1977, both in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 34. 79 As the Labor Ministry of North Rhine-Westphalia pointed out in a letter to the Zentralrat in 1977, the expellee authorities in the city of Aachen had re-examined 68 “non-Jewish” expellee cards, 30 of which were withdrawn; of the 88 “Jewish” cards that were examined, 14 were withdrawn. While these numbers show that non-Jewish expellees were investigated, too, it is telling that the number of Jews under investigation was higher even in absolute terms. See MAGS NRWan Alexander Ginsburg, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, 20. 10. 1977, in: ibid. 80 Juden von Menschenhändlern nach Offenbach gelockt?, in: Frankfurter Neue Presse, 11. 8. 1976, and Bönisch, 2000 Dollar. See also: Meir Shamir, Europe Directorate 1, to Ambassador Ruppin, Bonn, 17. 8. 1976 (Hebrew), in: ISA I30.23.13.393. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 523 Israeli interest did not go beyond a meeting of an embassy representative with the head of the Jewish community in Offenbach, Max Willner.81 In fact, there is evidence that under the leadership of Prime Minister Menachem Begin the Israeli government consciously chose not to cooperate with the German and Austrian authorities in the struggle against the trafficking of migrants, lest the Jewish traffickers should fall into the hands of the German police.82 State attorney Feldmeier on the other hand was persistent. He investigated the Offenbach case from 1974 until his relocation to traffic court in 1978. The Flüchtlingsverband and its associated lawyer Horst K. F. Petri criticized that at Feldmeier’s behest police raided the homes of Jewish holders of expellee cards, asking them if they were Jewish, confiscating their personal documents and looking for evidence of their Germanness.83 In a letter to the head of the FDP in the parliament of Hesse, Otto Wilke, the Association’s chairman Hans Meyer even stated that “the wave of investigations and its brutal illegal methods raise the most terrible memories of the times of Nazi persecution.”84 When Feldmeier, who later became vice-chairman of the radical right-wing party Die Republikaner, was removed from his post in 1978 it was purportedly not for political reasons, as the Christian-Democratic opposition in Hesse suspected.85 And yet it would not come as a surprise if his relocation had something to do with the Flüchtlingsverband’s protest against his investigation methods. At any rate, the documentation of the Association suggests that investigations of Jewish expellee card holders in Hesse and other Länder continued even after Feldmeier’s removal.86 Judging from the available evidence it is quite clear that the allegations of organized human trafficking and fraud were not just the product of the fantasy 81 Danny Meggido, Bonn, to Mr. M. Voron, Head of the Diaspora Department, 18. 8. 1976, “Offenbach Jews” (Hebrew), in: ibid. 82 This is reported by Yasha Kedmi, the representative of the organization Nativ in Vienna at the time. This organization was in charge of maintaining contacts with Eastern European Jews. See Yakov (Yasha) Kedmi, Hopeless Wars (Hebrew), Tel Aviv 2011, p. 146. 83 Verband jüdischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge an den Hessischen Minister der Justiz, 23. 3. 1977, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 34, with an article from the OffenbachPost and eyewitness accounts attached. The same file contains several subsequent interventions by the association at the Ministry of Justice. 84 Schreiben des Flüchtlingsverbandes (gez. Der Vorsitzende Hans Meyer) an den FDPFraktionsvorsitzenden im Landtag, Otto Wilke, 2. 8. 1977, in: ibid. 85 Feldmeiers Ablösung. “Keine jüdische Mafia am Werk,” in: Frankfurter Rundschau, 4. 7. 1978; Keine politischen Gründe für Feldmeier Ablösung, in: Frankfurter Rundschau, 5. 7. 1978, both in: ibid. 86 See the cases of Thomas Mikulski, Unsere Stimme 11/12, 1979, p. 4, and Paul Nowak, Unsere Stimme 1/2, 7/8, and 9/10, 1981, both in Neustadt an der Weinstraße in Rhineland-Palatinate. 524 Jannis Panagiotidis of a young attorney with right-wing inclinations.87 Yet my interest here is different. If we take a closer look at the accusations and investigations by Feldmeier and his colleagues we will discover some of the fundamental difficulties of implementing ethnically coded expellee law. In a January 1975 Spiegel article, one of Feldmeier’s colleagues described how hired witnesses were prepared to testify to an applicant’s Bekenntnis to German Volkstum: “The witnesses remembered ‘German magazines and newspapers’ on the shelf and even ‘felt German cultural influences with every step. They lied their heads off ’.”88 But it is difficult to comprehend how this investigator could be so sure about this. When it came to the assessment of a Bekenntnis that, as we have seen in chapter II, had to have been consciously uttered by the applicant on the one hand and had to be perceived as such by his environment on the other hand, the application of the law hinged on the reconstruction of minor “facts” which lay in the distant past and were difficult to prove or disprove. The only thing investigators could do in the absence of meaningful evidence was to pose the rather helpless question if the card holders were not, in fact, Jewish and to raid their homes in search of evidence that would prove their “real” identity. Given the virtual impossibility of obtaining such evidence for an abstract notion like Volkszugehörigkeit, the awarding of expellee cards ultimately boiled down to an act of faith in the applicants. Non-Jewish applicants were generally accorded this faith and the benefit of doubt until the 1990s immigration wave from the former Soviet Union. Jewish applicants were not given the benefit of the doubt, not least because of the view that in the “natural order of things” in inter-war Eastern Europe, a German was a German and a Jew was a Jew, yet a Jew could not be a German. Yet these generalizations should not create the illusion of a unified, nationwide policy of not accepting Jewish immigrants as Germans in the 1970s. With the autonomy of the refugee administration services, the local offices had significant room for maneuver. Thus implementation differed from state to state, from office to office, from bureaucrat to bureaucrat. To illustrate, whereas the judiciary in Hesse started large-scale investigations of Jewish expellee card holders in the mid-1970s in an attempt to roll back past liberal practices, West Berlin turned a blind eye to illegal Soviet-Jewish immigration.89 Jewish immigration to Berlin continued with the quiet consent of the authorities until 1980, when it was stopped in the wake of another fraud scandal.90 87 Apart from the quoted media reports see also Kedmi, Hopeless Wars, p. 146. 88 Der Grüne. 89 Der Regierende Bürgermeister von Berlin an den Senator für Bundesangelegenheiten, 13. 9. 1974, in: PAAA B 85 1129. 90 Hans-Rüdiger Karutz, Deutsches Vorleben kostet nur 2500 Mark, in: Die Welt, 12. 7. 1980; Aufnahmestopp für illegale jüdische Zuwanderer in West-Berlin, DPA, 22. 9. 1980. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 525 V. In Search of a Consistent Line. The 1980 Guidelines for the Assessment of Volkszugehörigkeit In the wake of the large-scale investigations of alleged fraud and cognizant of the inconsistencies in the implementation of existing laws, the expellee bureaucracy began looking for a more consistent recognition practice. First there were complaints by lawyer Petri about the toughened stance of a formerly liberal city like Offenbach. In response, the Ministry for Social Affairs of Hesse launched an initiative to reverse the restrictive trend.91 To clarify the notoriously difficult issues of Bekenntnis, Volkszugehörigkeit, and Sprachund Kulturkreis, the ministry also issued guidelines in March 1979.92 While eliciting a positive response from the Flüchtlingsverband, the guidelines were criticized by the judicial committee of the Argeflü for blurring the distinction between German Volkszugehörigkeit on the one hand and Sprach- und Kulturkreis on the other hand.93 As a reaction, a working group within this body was created to produce solid guidelines for the lower authorities that all the responsible Länder ministries would agree upon. It was the first attempt ever during the almost thirty years of the Federal Expellee Law’s existence to systematize the practice of assessing Volkszugehörigkeit according to section 6. In fact, these guidelines did not offer anything substantially new, but summarized existing legislation and jurisdiction. Significantly, they stressed that the subjective dimension of German Volkszugehörigkeit – the often quoted Bekenntnis – could result either from an explicit declaration or from “conclusive behavior” (section 2. 2). Following the proposal made by the Hesse Social Ministry in its own guidelines, the nationwide guidelines were 91 Horst F. K. Petri an den Hessischen Sozialminister, 13. 5. 1977, in: Zentralarchiv B.1/17, Nr. 34. His intervention even received media attention: a major daily paper like the Frankfurter Allgemeine Zeitung, Anwalt kratzt an der liberalen Politur Offenbachs, 11. 6. 1977, p. 49, reported about Petri’s activities (article documented ibid.). It is not clear from the available material to what extent interventions by Petri and the Flüchtlingsverband were directly responsible for this initiative. Yet their influence seems likely, given that in its new instructions to the lower authorities, the Social Ministry took up some of the constant points of criticism raised by them: It admonished the administration to give an unbiased assessment of the German Volkszugehörigkeit of Jewish applicants, and urged them not to uncritically base their decisions on the opinion of the Heimatauskunftstelle for Romania, which was suspected of reproducing the exclusivist logic of the past that saw Germanness and Jewishness as incompatible. Der Hessische Sozialminister an den RP Darmstadt, 22.3. and 19. 7. 1978, in: HStA Stuttgart EA 2/811, AZ 2572, Nr. 13, items 1 and 2. 92 Der Hessische Sozialminister an die Herren Regierungspräsidenten, 22. 3. 1979, in: HStA Stuttgart, EA 2/811, AZ 2572, Nr. 35, item 8. 93 Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses 1 (Rechtsausschuss) der Argeflü in Leimen, 19./20. 4. 1979, in: HStA Stuttgart, AZ 2558, Nr. 16, item 20. 526 Jannis Panagiotidis amended: now it should not be held against the applicant if his or her environment did not assess this Bekenntnis by “conclusive behavior” correctly. Implicit in section 2. 3. 2 of the guidelines must have been Jewish immigration, for it specified the preconditions for a Bekenntnis if there had been another group of people beside the Germans who used the German language. In such cases, “conclusive behavior” would mean “use of the German language and connection to German culture clearly above the habits of this other ethnic group.” Section 2. 5, which explicitly regulated the recognition of Jewish applicants, followed the Hesse guidelines by stating that the exclusion of the Jews in the past should not be repeated in the present by disadvantaging individual applicants. In effect this meant that just because a Jewish person was not perceived as German in the anti-Semitic climate of the inter-war period, this should not mean that he or she could not be a German Volkszugehöriger now. The section defined religious belonging as being neutral with regard to Volkstum. Declaring oneself Jewish in a pre-1933 census was interpreted as a Bekenntnis against German Volkstum. On the other hand, the fact that someone had not been persecuted after 1945 should not be taken as an indication that this person was not a German Volkszugehöriger. Likewise, belonging to the Zionist movement did not preclude being a German Volkszugehöriger. Finally, emigration from the homeland in Eastern Europe to Israel alone could not be taken as evidence against German Volkszugehörigkeit. Since the underlying purpose of the ethnicity guidelines was to define the boundaries between “German” and “Jewish” Volkstum, Jewish associations were consulted in the course of the drafting. The Labor Ministry of North Rhine Westphalia consulted the chairman of the Jewish community of the North Rhine, Simon Schlachet.94 Following Schlachet’s suggestion, section 4. 1. 4 stated in unequivocal terms that the opinion of the HASt about an applicant’s Volkszugehörigkeit did not bind the responsible authority, and section 4. 1. 5 made it clear that statistical data about the general behavior of certain groups could not be used as evidence against the alleged Bekenntnis of an individual. Both had been common ways to exclude Jewish applicants from recognition in the past. With these guidelines (published in February 1980) the Argeflü had come quite a long way in accommodating Jewish applicants. Now neither a Zionist past nor emigration to Israel could hamper an applicant’s chances. What is more, the import of the HASt opinions was officially decreased. The power to define who was to be considered a German Volkszugehöriger was shifted to contemporary German authorities. For the Jewish associations this was a 94 Vermerk (15. 11. 1979) über ein Gespräch von LMR Zurhausen, Ref. Sareyko und Reg.Ang. Diehl und dem Vorsitzenden der jüdischen Kultusgemeinde Nordrhein, Simon Schlachet, am 15. 11. 1979 in Düsseldorf, in: HStA Stuttgart, AZ 2572, Nr. 20, item 8. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 527 success, and chairman Schlachet expressed his gratitude in a letter to the NRW Labor Ministry.95 The position of Jewish applicants further improved when the Federal Constitutional Court (Bundesverfassungsgericht) in December 1981 affirmed the principle that cumulated objective criteria could indicate a Bekenntnis.96 Contrary to the claims of some scholars, this did not imply a stronger “blood-oriented” definition in Germanness.97 If anything, it strengthened the cultural component of Volkszugehörigkeit, which in theory would benefit the culturally German Jewish immigrants. And yet, relief was only temporary. VI. The 1987 Amendment to the Guidelines and the Beginning Separation of “Germans” and “Jews” The mid-1980s proved to be a turning point for the recognition of Jewish Aussiedler as Germans. If the Social Ministry of Hesse had achieved significant facilitations for this group in the late 1970s and early 1980s, it was the Foreign Office that now worked for the introduction of significant restrictions. As a consequence of this challenge from high above, and despite the fierce resistance of Länder like Hesse and Berlin, the Argeflü judicial committee eventually decided that Germanness and Jewishness were basically incompatible – at least in a Soviet context, which by then had become the most significant one. The autonomous defining power of the expellee administration which had just been forcefully claimed in the guidelines about Volkszugehörigkeit was surrendered and transferred to none other than the HASt for the Soviet Union on the one hand and the Soviet passport authorities on the other hand. The initiative taken by the Foreign Office in late 1985 was triggered by the discovery of the Soviet nationality nomenclature, which fixed every person’s natsional’nost’ (an ethnic category not equal to citizenship) in the internal passport.98 The German embassy in Moscow had reported that this passport 95 Landesverband der jüdischen Kultusgemeinden von Nordrhein an Ltd.MR Guido Zurhausen im MAGS NRW, 26. 3. 1980, in: ibid., item 9. 96 Beschluss des Ersten Senats vom 16. Dezember 1981, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 59. 1982, pp. 128 – 172, esp. p. 161. 97 See Joppke, Selecting by Origin, p. 176. 98 The fact that the Foreign Office came up with this revelation only in 1985 indicates short institutional memory. Already in early 1974, the embassy in Moscow had suggested to use passport nationality as a criterion to identify ethnic Germans (see Botschaft Moskau an AA, 28. 1. 1974, in: BArch Koblenz B106/39944). By the mid-1980s, Soviet nationality policy had also become the object of scholarly interest. See Rasma Karklins, Ethnic Relations in the Soviet Union. The Perspective from Below, Boston 1986. The passport system has since been analyzed by Rogers Brubaker, Nationhood and the National 528 Jannis Panagiotidis nationality was unalterable, unequivocal, and strictly adhered to by the Soviet authorities, which would allow only Germans to emigrate to Germany, while Jews had to go to Israel.99 The implication was that whoever came to Germany via Israel (or with an exit visa to Israel) could not be German. The Foreign Office further based its new position on a 13-page expertise by the HASt for the Soviet Union.100 It suggested examining the birth certificates of children, where the natsional’nost’ of the parents was noted. The HASt then went on to compare the histories of the German and Jewish minorities in the Soviet Union. The author of the document told the story of the discrimination against the German minority, the deportation of the Volga Germans to Siberia and Kazakhstan in 1941, their suffering in the trudarmiia (“labor army”), and their release from collective banishment only in 1955. The Jews, he claimed on the other hand, had never been persecuted as a group by the Soviets. While the HASt showed sympathy for the Jews’ present day wish to emigrate, it did not see itself in a position to certify their German descent and Bekenntnis. The author was absolutely certain that there had been no Germans of the Mosaic faith in the Soviet Union – Soviet Germans were all Lutheran, Catholic, Baptist, or Mennonite. Also, there had been no German-speaking Jews in the Soviet Union: Jews spoke Yiddish, Hebrew or Russian, while Germans spoke Swabian and Hessian dialects. The conclusion seemed crystal clear : The Germans have always publicly declared their German Volkstum and have been registered as Germans in their documents. […] The Jews have always declared their Jewish Volkstum. They have been registered as Jews in their documents. They do not possess a Bekenntnis to German Volkstum.101 The essentialist conclusion merits attention: “The” Germans have declared “their” German Volkstum, while “the” Jews have declared “their” Jewish Volkstum. The HASt obviously knew in advance who was supposed to belong to each group. It developed a kind of “collective biography” for each minority. For the Soviet Germans, this “collective biography” corresponded to the narrative of suffering developed in publications like Volk auf dem Weg, the journal of the Russian-German Landsmannschaft explicitly quoted in the text. A life story that did not correspond to this “ideal” narrative could, by definition, not be Soviet German. Consequently, the individual applicant under consideration in the document, a certain Jakob G. from St. Petersburg, Question in the Soviet Union and Post-Soviet Eurasia. An Institutionalist Account, in: Theory and Society 23. 1994, pp. 47 – 78; Dominique Arel, Fixing Ethnicity in Identity Documents. The Rise and Fall of Passport Nationality in Russia, in: Canadian Review of Studies in Nationalism 30. 2003, pp. 125 – 136. 99 AA an BMI, Ref. VtK I 5, 8. 11. 1985, in: HStA Stuttgart EA 2/811, AZ 2570 – 4, Nr. 8, item 8, attachment 1. 100 AA an BMI, Ref. VtK I 5, 17. 12. 1985, in: ibid., attachment 2. 101 Ibid. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 529 Jewish by religion, Red Army officer during the War and resident of Leningrad after 1946, was declared not to be German, since his biography did not match this pattern. An amendment to the guidelines about Volkszugehörigkeit concerning Aussiedler who had come via Israel was subsequently endorsed at the session of the judicial committee in Nuremberg in March 1987.102 Based on the observation by the embassy in Moscow, the committee stipulated that the Soviet authorities did not usually grant German Volkszugehörige emigration permits for Israel. After next describing the Soviet passport system with its mutually exclusive German and Jewish nationalities and the different emigration procedures for Germans and Jews, the committee concluded that section 2. 5. 7 of the ethnicity guidelines which stipulated that emigration to Israel was not an indication against German Volkstum should be considered null and void. An applicant whose documents stated that he or she (or his/her parents) were “Jewish” or who had left the Soviet Union with an emigration permit for Israel could only be considered a German Volkszugehöriger if he or she managed to dispel all doubts. As a rule, however, Jewish natsional’nost’ and emigration to Israel should preclude recognition as German. In general, official certificates should be ordered from the Soviet Union for every applicant from the Soviet Union whose fate did not correspond to the typical fate of the Soviet Germans. It would be unfair to highlight that this decision about the mutual exclusivity of Germanness and Jewishness should have been made in Nuremberg of all places. But apart from being polemic, it would also be misleading. The “Nuremberg guidelines” were not about racial exclusivity. Instead they represented the double surrender by the German expellee bureaucracy of its defining power. For one thing, Volkszugehörigkeit in the sense of the German expellee law came to be identified with the natsional’nost’ recorded in the Soviet internal passport. According to this logic, the question “Who is a German?” was no longer answered by the German authorities, but by the Soviet authorities that had issued the passport. The Hesse Social Ministry had criticized this aspect already before the amendment was passed, but to no avail.103 Secondly, the historical narrative of the HASt Soviet Union, which was the narrative of the Landsmannschaft, was fully embraced by the administration and used as an ideal type to fill the notion of German Volkszugehöriger from the Soviet Union with content. And neither in the logic of the Soviets nor of the Landsmannschaft of Germans from Russia could a Jew be a German. 102 Anita Kugler, Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses 1 (Rechtsausschuss) der Argeflü in Nürnberg, 19./20. 3. 1987, in: HStA Stuttgart EA 2/811, AZ 2558, Nr. 52. 103 See the intervention by Hesse (and also North Rhine Westphalia) in: Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses 1 (Rechtsausschuss) der Argeflü in Berlin, 2./3.10.1986, in: ibid., Nr. 51. See also the letter by Prof. Dr. Dr. Kraus from the Hesse Social Ministry to the Bundesausgleichsamt 19.1. 1987, in: HStA Stuttgart EA 2/811, AZ 2570– 4, Nr. 8, item 22. 530 Jannis Panagiotidis VII. Conclusion. “Quota refugees” and the Ultimate Separation of Germans and Jews In spite of the Nuremberg guidelines, there were some last attempts to turn Jews into Germans. In 1990, Green party city counselors in Frankfurt pushed for an easier recognition of Jewish immigrants as Germans, claiming that the entry “Jew” in a Soviet passport should not be considered as a Bekenntnis against German Volkstum.104 Yet by that time events had already overtaken the slow movement of German bureaucracy. In the meantime the continuous trickle of Soviet Jews coming to Germany had started to turn into a stream. Initially this new migration movement was directed to East Berlin, after the GDR government had decided to grant asylum to Soviet Jews threatened by persecution.105 After the reunification, it became an issue for the federal authorities. There were initial considerations to treat the issue according to the expellee law, as had been the approach in the past.106 Yet most of these Jews were no longer German-speaking “Zapadniki” but “Russian” Jews from European Russia or Ukraine with no knowledge of the German language or ties to German culture.107 The administrative solution chosen was therefore a different one: Soviet Jews who had entered the country on a tourist visa after 1 June 1990 were retroactively recognized as “quota refugees” (Kontingentflüchtlinge), a legal category that had been used for Vietnamese boat people before.108 Effective as of 10 November 1991, a new formal immigration procedure included the filing of an application at a German embassy in the former Soviet Union, its processing by the Federal Administration Office (Bundesverwaltungsamt) and the Länder, and the eventual awarding by the embassy of an entry permit to the successful applicant.109 This, however, meant 104 Hoffnung für Juden aus Osteuropa, in: Die Tageszeitung, 31. 8. 1990. 105 Barbara Dietz, German and Jewish Migration from the Former Soviet Union to Germany. Background, Trends, and Implications, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 26. 2000, pp. 635 – 652, esp. p. 639. 106 Heribert Prantl, Verbales Versteckspiel um sowjetische Juden. DDR-Ausländerbeauftragte Almuth Berger empört über Bonner Einreisestopp, in: Süddeutsche Zeitung, 14. 9. 1990; Harald Günter, Quote für Juden aus der UdSSR. Stuttgart denkt an Kontingente auch für Aussiedler, in: Die Welt, 5. 12. 1990. 107 Dietz, German and Jewish Migration, p. 643. According to non-representative numbers calculated by Jeroen Doomernik for Berlin in the mid-1990s, 45 per cent of the Jewish immigrants came from Ukraine (mainly from Dnepropetrovsk, Odessa, and Kiev), 31 per cent from Russia (almost exclusively from Moscow and St. Petersburg), and 19 per cent from the Baltic Republics. See Jeroen Doomernik, Going West. Soviet Jewish Immigrants in Berlin Since 1990, Aldershot 1997, p. 76. 108 Dietz, German and Jewish Migration, p. 639. 109 Ibid. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 531 that from now on Jews would have to prove to the German bureaucracy that they were Jewish rather than German in order to be accepted. From 1991 until 2004, 219,604 immigrants came to Germany on these new grounds.110 With the introduction of a separate Jewish immigration process, the almost four-decades lasting contestation about the recognition of Jewish immigrants as German came to an end. A definitive bureaucratic line was drawn between Jews and Germans. The two categories became incompatible. As I have tried to show in this article, the recognition of Jewish immigrants as ethnic Germans had never been the rule, but an exception that had to be justified anew each time. But for the most part there had been no intrinsic incompatibility between being German according to the Federal Expellee Law and being Jewish, as long as “Jewish” only referred to the “Mosaic faith” and not to the Jewish people as a “nationality.” In fact, in the struggle over who was to define who was a German Volkszugehöriger, the Association of Jewish Expellees and Refugees, their associated lawyers, other Jewish associations, and sympathetic Länder like Hesse and Berlin had been remarkably successful in promoting their narrative of the compatibility of Germanness and Jewishness. A major sign of this success were the very accommodating guidelines for the assessment of Volkszugehörigkeit of 1980. Yet with the 1987 “Nuremberg guidelines” which embraced the definitions of ethnic belonging of the Soviet authorities on the one hand, and of the Landsmannschaft of Germans from Russia on the other, the re-separation of the two categories began. The “quota refugee” procedure was in a way the logical continuation of this measure. In essence this meant a substantial “ethnicization” of the German immigration policy in the early 1990s, at the very time when, as Christian Joppke has pointed out, the “demise” of German co-ethnic immigration began.111 The only thing distinguishing the Russian Jewish immigrants from the mostly “Russified” German Aussiedler from Kazakhstan and Siberia immigrating to Germany at the same time was their a priori definition as “Germans” or “Jews” by origin, based on the primordial Soviet nationality nomenclature and an idealized collective biography of Russian German suffering. The “demise” of ethnic selectivity did not result in an opening up of the legal category of “ethnic Germanness,” but instead in the circumscription of the group of eligible candidates for recognition. At the same time, a new category of “ethnic selection” was introduced, namely the Jewish “quota refugee.” Seen from this angle, German immigration policy actually became “more ethnic” rather than less so, both quantitatively – now there were two categories of ethnic selection 110 Sonja Haug, Jüdische Zuwanderer in Deutschland. Ein Überblick über den Stand der Forschung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Working Papers 3/2005, p. 8, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp03juedische-zuwanderer.pdf ?__blob=publicationFile. 111 Joppke, Selecting by Origin, pp. 157 – 218. 532 Jannis Panagiotidis instead of one –, and qualitatively, since legally defined Germanness became more exclusive and more focused on primordial descent than it had ever been.112 While the German authorities changed the legal definition of German Volkszugehörigkeit and its administrative implementation several times in the course of the 1990s, they refrained from providing their own official definition of who was a Jew. In effect, this defining power was again devolved to the Soviet authorities which had issued the prospective immigrants’ papers: according to instructions by the Foreign Office to the German embassies, applicants with “Jewish” natsional’nost’ in their documents or descendants of at least one parent with such a registration should be eligible for immigration as quota refugees.113 This went beyond the narrower halachic definition of a Jew as someone born of a Jewish mother or who had converted to Orthodox Judaism, but was more restrictive than the Israeli Law of Return which extended eligibility also to persons with a Jewish grandparent.114 Since the Jewish communities in Germany adhered to the halachic definition, many of the newcomers were actually excluded from official membership in the communities.115 This is why in 2001, the immigration commission headed by former minister Rita Süssmuth suggested the introduction of the halachic criterion into immigration policy.116 In doing so, it followed a Zentralrat recommendation.117 As the sociologist and Jewish community activist Irene Runge pointed out, “immigration according to halacha” would have been something 112 Accordingly, the new version of section 6 BVFG introduced in 1993 made “descent” a necessary “objective marker” to be proved alongside the “subjective” Bekenntnis, while before it had just been one of the possible auxiliary criteria. See Silagi, Vertreibung und Staatsangehörigkeit, p. 131. 113 Haug, Jüdische Zuwanderer in Deutschland, p. 8; Franziska Becker, Ankommen in Deutschland. Einwanderungspolitik als biographische Erfahrung im Migrationsprozess russischer Juden, Berlin 2001, p. 55. 114 Yinan Cohen and Irena Kogan, Jewish Immigration from the Former Soviet Union to Germany and Israel in the 1990s, in: Leo Baeck Institute Year Book 50. 2005, pp. 249 – 265, esp. p. 252. 115 This ever growing discrepancy becomes clearly visible in Dietz et al., Jewish Emigration, p. 37, table 4. According to these statistics, in 1994, 8,811 people came to Germany as Jewish quota refugees, but only 5,521 or 62.6 per cent were registered as Jews by the communities. In 1997, only 7,092 of 19,437 quota refugees (36.5 per cent) were recognized as halachically Jewish. 116 Zuwanderung gestalten, Integration fördern. Bericht der unabhängigen Kommission Zuwanderung. Zusammenfassung, p. 11, http://www.bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/150408/publicationFile/9074/Zuwanderung_gestalten_-_Integration_Id_7670_de.pdf. 117 Irene Runge, Einwanderung nach der Halacha?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 46. 2001, pp. 1031 – 1034, esp. p. 1031. ipabo_66.249.66.96 Negotiation of National Belonging 533 that not even the Orthodox in Israel had ever been able to impose.118 This suggestion was never implemented, but had it been, it would have been yet another twist in the twisted history of Jewish immigration to Germany within the complicated triangle of German, Eastern European, and Jewish definitions of belonging. Jannis Panagiotidis, European University Institute, Department of History and Civilization, Via Boccaccio 121, I-50133 Florence E-Mail: [email protected] 118 Ibid. ZEITHISTORISCHE FORSCHUNGEN Studies in Contemporary History Thema: Sicherheit 7. Jahrgang 2010/2 Einzelheft: € 26,45 D ISSN 1612-6033 Aus dem Inhalt des Heftes: Achim Saupe: Von »Ruhe und Ordnung« zur »inneren Sicherheit« Eckart Conze Nato-Nachrüstung und Friedensbewegung in der Bundesrepublik Melanie Arndt Von der Anti-AKW-Bewegung zum Engagement für die »Tschernobyl-Kinder« Debatte Die große Unsicherheit – Zur Historisierung der jüngsten Weltwirtschaftskrise Die Zeitschrift Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History wird am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow in Verbindung mit Zeitgeschichte-online. Sie erscheint dreimal jährlich in zwei sich ergänzenden Ausgaben: einer Online-Ausgabe (www.zeithistorische-forschungen.de) innerhalb des neuen Internetportals Zeitgeschichte-online und einer parallelen Druck-Ausgabe bei Vandenhoeck & Ruprecht mit etwa 160 Seiten je Heft (Bestellungen unter: [email protected]). ipabo_66.249.66.96 Von Brandkatastrophen zur Feuerversicherung Cornel Zwierlein Der gezähmte Prometheus Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne Umwelt und Gesellschaft, Band 3 2011. 449 Seiten mit 7 Abb., 7 Tab., 21 Grafiken und 18 Farbtafeln, gebunden € 49,99 D ISBN 978-3-525-31708-2 In der Vormoderne stellten Stadtbrände eine der größtmöglichen Katastrophen überhaupt dar: Sie vernichteten alles Hab und Gut, brannten Städte bis auf den Grund nieder und markierten zugleich die Grenzen der Beherrschbarkeit der Natur. Feuerversicherungen waren seit dem 17. Jahrhundert als Vorläufer heutiger Versicherungsgiganten die frühesten Formen institutioneller serieller Katastrophenbeobachtung. Cornel Zwierlein verfolgt Umfang, Charakter und Wahrnehmung großer Brandkatastophen der Vormoderne, die Entwicklung des Versicherungsprinzips und der Feuerversicherung in Deutschland und England von der Frühzeit im 15. bis in die Hochzeit der Globalisierung im 19. Jahrhundert, von Istanbul über Kalkutta/Bombay bis in die USA. Die Studie liefert damit einen wesentlichen Beitrag zur Katastrophen- und Sicherheitsgeschichte. Aktuelle Sicherheitspolitik Michael Staack (Hrsg.) Zur Aktualität des Denkens von Wolf Graf von Baudissin Innere Führung Baudissin Memorial Lecture 2011. 57 Seiten. Kart. 7,90 € (D) ISBN 978-3-86649-450-3 Mit seinen Konzepten des „Staatsbürgers in Uniform“ und der „Inneren Führung“ prägt Wolf Graf von Baudissin die Entwicklung der Bundeswehr bis heute. Welche Bedeutung haben seine Konzepte für die aktuelle Sicherheitspolitik? Die drei Beiträge der Veröffentlichung beschäftigen sich mit der Aktualität seines Denkens. Wissen, was läuft: Kostenlos budrich intern abonnieren! Formlose eMail an: [email protected] – Betreff: budrich intern Verlag Barbara Budrich • Barbara Budrich Publishers Stauffenbergstr. 7. D-51379 Leverkusen Opladen Tel +49 (0)2171.344.594 • Fax +49 (0)2171.344.693 • [email protected] www.budrich-verlag.de • www.budrich-journals.de ipabo_66.249.66.96 Volker Grieb / Sabine Todt (Hg.) Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart Unter Mitarbeit von Sünje Prühlen Historische Mitteilungen – Beiheft 81 Volker Grieb / Sabine Todt (Hg.) Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart Unter Mitarbeit von Sünje Prühlen Piraterie ist aufgrund der zahlreichen Übergriffe vor der Küste von Somalia und im Golf von Aden wieder verstärkt in den Fokus einer größeren Öffentlichkeit geraten. Dabei geht es nicht nur um die Operation „Atalanta“ zum Schutz der zivilen Seefahrt, sondern auch um Fragen, die Staatlichkeit, internationales Handeln und wirtschaftliche Interessen betreffen. Dieser Band beleuchtet im ersten Teil Piraterie in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Im zweiten Teil wird das Problem der modernen Piraterie aus verschiedenen Perspektiven eingehend betrachtet. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf Somalia und der Piraterie vor der Küste des Landes. Der Band zeigt somit unterschiedliche Facetten wie auch Kontinuitäten der Piraterie und trägt zu einem differenzierteren, epochenübergreifenden Verständnis dieses Phänomens von der Antike bis zur Gegenwart bei. ....................................................................................... 2012. 313 Seiten mit 15 Abbildungen. Kart. ¤ 59,– ISBN 978-3-515-10138-7 Ebenfalls lieferbar Jürgen Elvert / Sigurd Hess / Heinrich Walle (Hg.) Maritime Wirtschaft in Deutschland Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert Historische Mitteilungen – Beiheft 82 2012. 228 Seiten mit 41 Abbildungen und 4 Tabellen. Kart. ¤ 36,–. ISBN 978-3-515-10137-0 Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de Schriften der Gesellschaft für europäisch-jüdische Literaturstudien Herausgegeben von Alfred Bodenheimer und Barbara Breysach Alfred Bodenheimer Barbara Breysach (Hg.) SCHRIFTEN DER GESELLSCHAFT FÜR EUROPÄISCH-JÜDISCHE LITERATURSTUDIEN BAND 5 Sylvia Jaworski n e u Vivian Liska (Hg.) Am Rand Grenzen und Peripherien in der europäisch-jüdischen Literatur Band 5 AM RAND Grenzen und Peripherien in der europäisch-jüdischen Literatur Gastherausgeber: Sylvia Jaworski und Vivian Liska etwa 230 Seiten, ca. € 28,– ISBN 978-3-86916-203-4 Die »Schriften der Gesellschaft für europäisch-jüdische Literaturstudien« vermitteln jüdisches Schreiben in Europa von seinen Anfängen bis zur Gegenwart und bieten ein Forum für interdisziplinäre Forschung im Bereich von Literaturwissenschaft und Jüdischen Studien. Der aktuelle Band erkundet die europäisch-jüdische Literatur geografisch und konzeptuell neu. Dabei werden in allen Beiträgen Grenzbereiche – räumliche und solche in den Köpfen – des jüdischen Schreibens untersucht. 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Popper die Impulse für seine frühe geistige Entwicklung und stellt die philosophischen Problemstellungen dar, mit denen er sich jahrzehntelang auseinandergesetzt hat. Die Ausgangspunkte eröffnen den Zugang zu Problemstellungen von Erkenntnistheorie, Logik, Wahrscheinlichkeit, Marxismus, Historizismus, Induktion, Quantenmechanik, Kunst und Musik, Darwinismus, Leib-Seele-Problem und dem Konzept der Welt 3, und können als Einführung in Poppers Lebenswerk gelesen werden. 2012. Ca. 500 Seiten. ISBN 978-3-16-150288-0 Ln € 109,– ; in der Subskription € 94,–; ISBN 978-3-16-152069-3 Br € 49,– (November) Søren Gosvig Olesen Transzendentale Geschichte Aus d. Dänischen übers. v. Monika Wesemann Im Austausch mit der Philosophie des europäischen Kontinents von Kant und Hegel bis Derrida und Agamben geht es um zwei Zielsetzungen: Um den Begriff der geschichtlichen Zeit und die These, dass Geschichte die Bedingung der menschlichen Erkenntnis bildet. 2012. VIII, 161 Seiten (PhU 29). 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X, 362 Seiten. ISBN 978-3-16-151829-4 Ln € 84,– Mohr Siebeck Tübingen [email protected] www.mohr.de Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa. Economic and Social History of Modern Europe. Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa Economic and Social History of Modern Europe Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa Economic and Social History of Modern Europe l 1 Hesse | Kleinschmidt | Reckendrees | Stokes [Hrsg.] Ute Engelen Europäische Wirtschaftsund Sozialgeschichte Demokratisierung der betrieblichen Sozialpolitik? l 2 Das Volkswagenwerk in Wolfsburg und Automobiles in Sochaux 1944 - 1980 Nomos Nomos Europäische Wirtschaftsund Sozialgeschichte Demokratisierung der betrieblichen Sozialpolitik? Herausgegeben von Jan-Otmar Hesse, Christian Kleinschmidt, Alfred Reckendrees und Ray Stokes Das Volkswagenwerk in Wolfsburg und Automobiles in Sochaux 1944 – 1980 2012, Band 1, ca. 350 S., geb., ca. 64,– € ISBN 978-3-8329-7760-3 2013, Band 2, ca. 680 S., brosch., ca. 59,– € ISBN 978-3-8329-7759-7 Von Ute Engelen Erscheint ca. Dezember 2012 Erscheint ca. Mai 2013 www.nomos-shop.de/19568 www.nomos-shop.de/19564 Der Auftaktband der „Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europas“ präsentiert eine Auswahl von Themen, die das Profil der neuen Schriftenreihe umreissen. Renommierte europäische Autorinnen und Autoren geben einen inhaltlichen Überblick über aktuelle Forschungsthemen und verweisen auf Forschungskontroversen und –perspektiven. Die Studie an der Schnittstelle von Unternehmens- und Sozialgeschichte gibt auf breiter Quellengrundlage nicht nur Aufschluss über den inhaltlichen Wandel und die zunehmende Aushandlung betrieblicher Sozialleistungen nach 1945. Neben Entwicklungen in zwei Automobilbetrieben analysiert sie auch gesellschaftliche Trends in Deutschland und Frankreich. Nomos ipabo_66.249.66.96 Aus dem Inhalt von Heft 4-2012 Neue Menschenrechtsgeschichte Herausgeber: Stefan-Ludwig Hoffmann Stefan-Ludwig Hoffmann Einleitung Samuel Moyn Die neue Historiographie der Menschenrechte Jan Eckel Humanitarisierung der internationalen Beziehungen? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren Michal Kopeček Human Rights Facing a National Past. Dissident ‘Civic Patriotism’ and the Return of History in East Central Europe, 1968–1989 Diskussionsforum Christian Marx und Karoline Krenn Kontinuität und Wandel in der deutschen Unternehmensverflechtung. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, 1914–1938 Hilmi Ozan Ozavci Liberal Thought and Public Moralists in Turkey. The Transmission of Ideas and the Conceptions of the Self, 1891–1948
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