Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dossier Von Anfang bis Ende Zensur in Kuba Autor: Peter B. Schumann Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Freitag, 02.09.2016, 19.15 Uhr Sprecher 1: Jochen Langner Sprecher 2: Josef Tratnik Sprecher 3: Bernt Hahn Sprecher 4: Franz Laake Sprecherin 1: Janina Sachau Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © 2 Sprecher 1: „Die Zensur ist wie eine Hydra mit tausend Köpfen. Sie beeinträchtigt unsere Sprache und die Intention unserer Beiträge. Inhalte werden durch fortgesetzte Eingriffe ins Gegenteil verkehrt, Kommentare ganz verboten. Wer für seine abweichende Meinung bekannt ist, wird bereits am Arbeitsplatz einer Art Hexenjagd ausgesetzt.“ Autor: Aus einem Protestbrief junger Journalisten an ihre Berufsvertretung vom Juli 2016. Sprecherin 1: „Die Zensur in Kuba ist erdrückend und lässt einem keine Wahl. Sie hat dazu geführt, dass mehr als ein Künstler das Land verließ, dass mehr als ein Künstler die Kunst aufgab, dass wir keinen Zugang zu Literatur, Kunst und Film haben, die die Zensoren für subversiv halten. Sich an dieser Form von Kunst zu beteiligen oder sie zu praktizieren, gleicht einem illegalen Akt.“ Autor: Die Künstlerin Tania Bruguera in dem Essay Wie die Zensur Alltag wird vom Juni 2016. Sprecher 2: „Wir verbieten überhaupt nichts, denn Verbote machen die verbotene Frucht erst attraktiv. Wir arbeiten gegen die Welle von Banalitäten und Frivolitäten, aber nicht um etwas zu verbieten, sondern damit die Leute unterscheiden lernen. Die Vorstellung, dass wir in einem Regime leben, das alles kontrolliert, was der Bürger konsumiert, ist eine Lüge.“ Autor: Abel Prieto, Schriftsteller und Kulturminister, in einem Interview vom Juni 2015. Musik Instrumental: Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra Sprecher 4: Von Anfang bis Ende – Zensur in Kuba. Ein Dossier von Peter B. Schumann Sprecher 1: Was ist ein guter Revolutionär? Autor: So fragte sich der Theater- und Filmregisseur Juan Carlos Cremata am 57. Jahrestag der Kubanischen Revolution 2016. Und verschickte seine ironische 3 Antwort in einer seitenlangen Email an zahllose Empfänger. Darin schrieb er unter anderem: Sprecher 1: Das ist jemand, der sich zum Schlafen in die Nationalfahne wickelt und auf der Brust das Nationalwappen eintätowieren lässt, am besten auf dem Rücken auch noch die Jungfrau von Cobre, den heldenhaften Guerrillero und nicht zu vergessen den ‚Comandante en jefe‘, den Oberbefehlshaber. Autor: Juan Carlos Cremata gehört zu den Künstlern, die 2015 am schlimmsten von der Zensur heimgesucht wurden. Der 55-Jährige mit dem obligatorischen Strohhut hat mehrfach mit unbequemen, provokativen Filmen auf sich aufmerksam gemacht. Deshalb galt seiner Inszenierung von Eugène Ionescos altem Hit Der König stirbt die besondere Aufmerksamkeit. Nach zwei Aufführungen wurde sie im Juli verboten. Sprecher 2: „Aufgrund der Entwicklungsstrategien der kubanischen Theaterkunst, des ständigen Dialogs zwischen der Institution und der täglichen künstlerischen Praxis mit dem Ziel eines propositivsten Zustands zwischen den poetischen Obsessionen unserer Schöpfer und der Kulturpolitik der Nation erklären wir das Werk für abgesetzt.“ Autor: Diese kryptischen Worte waren die einzige Stellungnahme des ‚Nationalrats der szenischen Künste‘. Sie überraschten Juan Carlos Cremata nicht. Cremata: Que poco sentido de humor tiene esta gente. Sprecher 1: Mich hat eher der geringe Sinn für Humor dieser Leute verwundert. Wie verbittert müssen sie sein, wenn sie nicht lachen können, wenn sie einen Andersdenkenden nicht tolerieren wollen. Doch wir werden seit mehr als 50 Jahren von Zensur geplagt, von allen Seiten attackiert und aus der Bahn geworfen, bis man endlich wieder seinen Weg gefunden hat. Autor: Die eigentlichen Gründe für das Verdikt waren erst später einem Beitrag in Cubarte, dem offiziellen Webportal der kubanischen Kultur, zu entnehmen. Dort schrieb ein Spitzenfunktionär des Nationalrats: Sprecher 2: „Der König stirbt“ ist ein theatrales Gehabe, das der Idee der Karnevalisierung eines Herrschaftssystems folgt. So sollen die Hierarchien der Macht zer- 4 stört und ins Gegenteil verkehrt werden, um den König zum Narren zu machen, den Führer dem Spott seiner Untertanen auszusetzen in einer Art komischer Oper verkommener Personen, den Zeichen einer kranken Gesellschaft. Autor: Außerdem soll der Regisseur politische Symbole der Revolution wie die Nationalfahne, die Nationalhymne und andere „Objekte der nationalen Souveränität“ lächerlich gemacht haben. Entscheidend aber dürfte ein anderes Sakrileg gewesen sein. Cremata: Cuando nosotros estabamos montando la obra, ensenabamos en un local chiquitido. Sprecher 1: Wir haben zuerst in einem kleinen Raum geprobt. Als wir das Ganze dann auf die große Bühne brachten, stellten wir fest, dass wir den Thron auf ein Podest bauen mussten, damit der König und auch sein vorgesehener Sturz besser sichtbar wurden. Erst bei der Aufführung wurde mir klar, dass das Publikum darin den Sturz Fidels sah. Autor: Da es in Kuba nur einen König gibt, der sterblich ist, begnügte sich das staatliche Theaterinstitut nicht mit der Absetzung des Stückes, sondern verordnete die Auflösung des gesamten Ensembles und verhängte außerdem ein Berufsverbot gegen Juan Carlos Cremata. Cremata: En todo el tiempo hablabamos de la resistiencia al cambio. Sprecher 4: Wir wollten eigentlich nur den Widerstand gegen Veränderungen, das Hauptthema des Stückes, darstellen. Die Schauspieler haben Louis de Funès imitiert und wollten keinerlei Anspielungen auf Fidel Castro machen. Aber heutzutage werden hier sogar Märchen als konterrevolutionär betrachtet. Autor: Juan Carlos Cremata setzt seine Phantasie seither ein, um sich zu wehren. Im Internet veröffentlichte er den Text seines Einakters: Monolog der Präsidentin. Darin beschreibt er den Fall eines Theatermannes, der kaltgestellt wird: eine satirische Abrechnung mit Autoritarismus und Zensur. Außerdem hat er bei Facebook zum Crowdfunding aufgerufen, denn er plant einen Dokumentarfilm über die Zensur in Kuba. 5 Instrumental: Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra Take Fidel Castro Sprecher 2: Welches sind die Rechte der revolutionären und der nicht-revolutionären Schriftsteller und Künstler? Innerhalb der Revolution alle, gegen die Revolution keinerlei Recht! Autor: Mit diesen so genannten Worten an die Intellektuellen beendete Fidel Castro vor 55 Jahren in der Nationalbibliothek von Havanna eine wochenlange Kontroverse über den ersten Fall von Filmzensur im revolutionären Kuba. Alfredo Guevara, der Direktor des neu geschaffenen Filminstituts ICAIC, hatte den Kurzfilm P.M. für den Kinoverleih verbieten lassen. Dabei war der Beitrag bereits im Fernsehen gelaufen und zwar im staatlichen Televisión Revolución. Atmo Autor: Die beiden Regisseure Sabá Cabrera Infante und Orlando Jiménez-Leal wollten nichts weiter als die abendliche Freizeitgestaltung meist schwarzer Arbeiter dokumentieren: wie sie ein wenig Abwechslung in Kneipen und Bars suchten, sich unterhielten, tranken und tanzten: eine harmlose Momentaufnahme vom Alltagsleben in Havanna. Aber das ICAIC verbot den Film mit der Begründung, er liefere – Sprecher 2: - ein partielles Bild des Havanner Nachtlebens, das weit davon entfernt ist, dem Zuschauer einen korrekten Eindruck vom Leben des kubanischen Volks in dieser revolutionären Etappe zu geben. Der Film verarmt, entstellt und entwertet es. Autor: Die politische Situation war höchst gespannt. Fidel Castro hatte Mitte April den sozialistischen Charakter der Revolution erklärt. Kurz darauf begann die vom CIA geführte Söldnertruppe von Exilkubanern mit der Invasion in der Schweinebucht. Das war der endgültige Bruch mit den USA. Tausende von Kubanern wurden „präventiv“ verhaftet. Die Medien mobilisierten die Massen für einen weiteren „Abwehrkampf“. In dieser aufgeheizten Situation gingen die Hardliner gegen eine einflussreiche Gruppe undogmatischer Intellektueller vor. Sie hatte sich um die Tageszeitung Revolución gebildet. Guillermo Cabre- 6 ra Infante, einer der berühmtesten Schriftsteller der Insel, war damals für die Kulturbeilage Lunes de Revolución verantwortlich. Cabrera Infante: Todos teníamos un miedo enorme. Sprecher 1: Wir hatten alle enorme Angst. Was damals in der Nationalbibliothek ablief, war ein politischer Prozess. Es ging gar nicht um den Film und noch weniger um die Kultur. Fidel Castro nutzte die Gelegenheit, um klar zu stellen: „Für die Revolution alles, gegen die Revolution nichts.“ Und uns wurde bewusst, dass er von nun an selbst bestimmen wollte, wer Revolutionär und wer Konterrevolutionär war. Um das zu betonen, legte er die Pistole, die er immer bei sich trug, auf den Tisch. Autor: Dreimal tagten die Intellektuellen mit Fidel Castro in der Nationalbibliothek. Cabrera Infante: Teníamos dos objetivos. Uno: eliminar Lunes de Revolución. Sprecher 1: Sie hatten zwei Ziele: Die Kulturbeilage Lunes de Revolución zu zerstören, das wichtigste Magazin der Intellektuellen, an dem sie sogar die Typografie störte, und Carlos Franqui zu attackieren, den Herausgeber der Tageszeitung Revolución. Die Diskussion eskalierte zeitweise derart, dass jemand aus der sog. revolutionären Avantgarde die Erschießung der Filmemacher forderte. Das wirkte manchmal so, als ob der Direktor des Filminstituts, Alfredo Guevara, als Robespierre und die Nationalversammlung die Guillotine für uns verlangten. Autor: Der Kurzfilm P.M. verschwand im Giftschrank. Lunes de Revolución wurde eingestellt, Revolución wenig später mit dem Blatt der Kommunistischen Partei zum Parteiorgan Granma zusammengelegt. Mit diesem ersten kulturpolitischen Sündenfall 1961 war der Weg der Kubanischen Revolution zunächst begradigt. Musik: Instrumental: Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra 7 Sprecher 1: Poetik Die Wahrheit sagen, wenigstens deine Wahrheit, und dann auf alles gefasst sein: dass man dir die geliebte Seite ausreißt, dass man mit Steinwürfen deine Tür zertrümmert, dass die Leute sich versammeln vor deinem Körper wie vor einem Wunder, wie vor einer Leiche. Autor: Außerhalb des Spiels hat Heberto Padilla 1968 einen Band mit Gedichten genannt. Dafür erhielt er den Lyrik-Preis des kubanischen Schriftsteller- und Künstlerverbands UNEAC. Die Verbandsspitze distanzierte sich allerdings von der Entscheidung ihrer Jury. Sie warf seinen Texten „Ambiguität“, „Kritizismus“ und „Individualismus“ vor. Sprecher 2: „Solche Haltungen waren immer typisch für das Denken der Rechten und haben traditionellerweise der Konterrevolution gedient.“ Autor: Der Band durfte nur mit einer mehrseitigen Erklärung des Präsidiums der UNEAC erscheinen, denn damals galt noch: Sprecher 2: „Der Respekt der Kubanischen Revolution vor der Ausdrucksfreiheit kann angesichts der Tatsachen nicht in Zweifel gezogen werden.“ Autor: Heberto Padilla, einer der bedeutendsten kubanischen Poeten, war jedoch als Außenseiter abgestempelt. Er hatte als Auslandskorrespondent der staatlichen Nachrichtenagentur u.a. in Moskau gearbeitet. Doch der Aufenthalt in der Sowjetunion hatte sein kritisches Bewusstsein für die Fehler des kubanischen Sozialismus geschärft. Nun mischte er sich mit einem Essay in eine heftige kulturpolitische Debatte über den sozialistischen Realismus ein. Padilla: Hizo un estudio, un juicio total de la cuestión cubana. Sprecher 1: Der Text war eine totale Abrechnung mit den kulturpolitischen Verhältnissen in Kuba. Daraufhin wurde die gesamte Redaktion der Kulturzeitschrift entlas- 8 sen, die meinen Beitrag gedruckt hatte. Und es wurde immer schwieriger für mich, zu veröffentlichen, was ich dachte. Die Debatte über den sozialistischen Realismus wurde abgebrochen. Die Dogmatiker wollten verhindern, dass Leute wie ich Diskussionen vom Zaun brechen über Probleme, die bereits in Kuba sichtbar waren. Autor: Heberto Padilla, einer der Freigeister um Lunes de Revolución, stand von nun an unter ständiger Aufsicht des Staatssicherheitsdienstes. Am 20. März 1971 wurden er und seine Frau, die Poetin Belkis Cuza Malé, „wegen subversiver Aktivitäten“ verhaftet. 38 Tage mussten beide in Villa Marista, dem Knast der Geheimpolizei, ausharren. Sie kamen erst frei, nachdem der Dichter eine sog. „Selbstkritik“ auf sich genommen und sie im Schriftstellerverband verlesen hatte. Ein Auszug: Sprecher 1: Genossen, ihr wisst, dass ich als Konterrevolutionär inhaftiert wurde. Wie schwerwiegend diese Beschuldigung auch sein mag: sie war begründet und zwar durch mein Verhalten, meine Einstellung und Tätigkeit, meine Kritik; nein, Kritik ist nicht der richtige Ausdruck. Es handelte sich um eine Reihe von Beleidigungen und Diffamierungen der Revolution, derer ich mich schäme und stets schämen werde. Autor: Die Verhaftung Padillas und das entwürdigende Schauspiel der Selbstkritik riefen weltweit helle Empörung unter den Intellektuellen hervor, die die Kubanische Revolution bisher unterstützt hatten. Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Jorge Semprun, Hans-Magnus Enzensberger, Carlos Fuentes, Mario Vargas Llosa, insgesamt 61 Schriftsteller und Künstler schrieben einen wütenden Brief an Fidel Castro. Darin heißt es unter anderem: Sprecher 1: Der traurige Bekenntnistext, den Heberto Padilla unterzeichnet hat, kann nur durch Methoden entstanden sein, die Recht und Gerechtigkeit der Revolution verleugnen. Der Inhalt und die Form mit ihren absurden, geradezu delirierenden Anklagen sowie der Akt des Bekenntnisses selbst erinnern an die beklemmenden Maskeraden der Selbstkritik in den schmutzigsten Momenten der stalinistischen Epoche. 9 Autor: Der Brief war eine Absage an Fidel Castro und seine autoritäre Herrschaft und zugleich ein Bruch zwischen zahllosen Intellektuellen und der Kubanischen Revolution. Er sollte nie wieder gekittet werden. Padilla: Estos anos fueron difíciles, difíciles. Sprecher 1: Diese Jahre waren äußerst schwer. Ich habe zu Hause als Übersetzer gearbeitet, habe die schlechtesten bulgarischen Autoren übersetzen müssen, hin und wieder auch romantische englische Poesie. Man wollte mir damit einen Gefallen tun. Aber ich wollte nichts wie weg, ich konnte nicht mehr. Ich habe mich ständig beobachtet und verfolgt gefühlt. Nach acht Jahren ließen sie mich dann raus: über Kanada bin ich in die USA gereist. Ich ging weg, weil ich wusste, dass es nach dem Gefängnis keine wirkliche Eingliederung in einem kommunistischen Land gibt. Autor: Heberto Padilla starb im Jahr 2000 im US-amerikanischen Exil. Der Fall Padilla wird erst vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung verständlich. Castro hatte dem Land 1970 eine Zuckerernte von zehn Millionen Tonnen verordnet: er wollte mit einem Schlag die Unterentwicklung überwinden. Alle Fachleute hielten dies technisch für unmöglich. Doch der ‚Comandante en jefe‘ schickte einen Großteil der Bevölkerung aufs Land, um Zuckerrohr zu schlagen. Andere Produktionsbereiche lagen deshalb völlig brach. Er verfehlte dennoch das Ziel: am Schluss wurden lediglich 8,5 Millionen Tonnen geerntet. Es war eine der größten Niederlagen Fidel Castros. Die Sowjetunion, die Kuba durch ihre Hilfslieferungen die Existenz sicherte, intervenierte. Sie verlangte den Aufbau eines Wirtschaftssystems und einer Staatsverwaltung nach sowjetischem Modell. Die Revolution wurde institutionalisiert und mit ihr die Zensur. Das Quinqueño gris begann, das ‚graue Jahrfünft‘ – wie diese finsterste Zeit des Stalinismus euphemistisch hieß. Kuba schottete sich ab. Ideologische ‚Abweichler‘ und auch Homosexuelle erhielten Publikationsverbot oder wurden hinter Schloss und Riegel gesperrt. Musik Atmo Instrumental Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra 10 Sprecher 2: In den letzten zwölf Stunden kamen 32 Boote mit rund 800 Kubanern in Key West/ Florida an. US-amerikanische Marines kümmern sich um sie. Es ist heute nur eine geringe Zahl, doch seit letztem Monat wurden hier 25.000 kubanische Flüchtlinge versorgt. Viele der Ankommenden erzählten Horrorgeschichten über die Ausreise. Jetzt hat die kubanische Regierung für zwölf Stunden diese Flucht-Operation im kubanischen Hafen von Mariel ausgesetzt. Autor: Mariel – der Name steht für einen Massen-Exodus 1980. Innerhalb von sieben Monaten flohen 125.000 Kubaner nach Miami. Kurz zuvor hatten Exilkubaner erstmals ihre Verwandten auf der Insel besuchen dürfen. Sie brachten zahllose Konsumgüter mit, an denen es in Kuba seit langem mangelte, und demonstrierten so, dass es für die Insulaner im Land des Erzfeindes eine bessere Zukunft gab. Der Mythos der Revolution ging endgültig zu Bruch. Die Fluchtwelle begann am 1. April. Eine Gruppe Kubaner durchbrach mit einem Lastwagen den Zaun der peruanischen Botschaft und bat um politisches Asyl. Als die Regierung ihre Auslieferung verlangte und die Peruaner dies ablehnten, zog sie das kubanische Sicherheitspersonal von der Botschaft ab. Daraufhin besetzten innerhalb kurzer Zeit Tausende Kubaner das Gelände. Fidel Castro sah sich gezwungen, den Hafen von Mariel zu öffnen. Mit Hunderten Schiffen holten die Exilkubaner die Ausreisewilligen ab. Take Castro Sprecher 2: Wer keine revolutionären Gene hat, kein revolutionäres Blut, wer keinen Sinn für die Idee einer Revolution und kein Herz für den Heroismus einer Revolution besitzt, den brauchen wir hier nicht. Autor: Castro nutzte die Gelegenheit, um Kritiker loszuwerden. Der heute 52-jährige Schriftsteller Antonio José Ponte erlebte den Exodus als Jugendlicher. Ponte: Antes de salir de Cuba, tenía un rito de pasaje que era… Sprecher 1: Bevor sie ausreisen konnten, erfuhren sie ein Ritual mit Schlägen, Beleidigungen, Drohungen, Terror vor ihrer Wohnung und anderes mehr. Ich fragte mich, was ist das für ein revolutionäres Regime? Denn dies war keine Polizeigewalt. Es war ein inszenierter Volkszorn, der sich gegen die Emigranten ent- 11 lud. Später hießen diese zivilen Kommandos ‚Brigaden der schnellen Antwort‘. So lernte ich die Gewalt des revolutionären Regimes kennen. Autor: Nach den traumatischen Ereignissen von Mariel igelte Kuba sich außenpolitisch erneut ein. Kulturpolitisch folgte eine Art Tauwetter, das sich für Antonio José Ponte vor allem auf die bildende Kunst auswirkte. Take Ponte: Fue un movimiento que se dedica revisar el lenguaje público. Sprecher 1: Sie unterzog u.a. den öffentlichen Diskurs, die Sprache der politischen Symbole einer kritischen Revision. Und begab sich dazu auf die Straße, wo dieser öffentliche Diskurs geführt wurde. Sie ironisierte mit Plakaten und Graffiti die politischen Parolen und die revolutionäre Ikonografie. Sie machte natürlich nicht vor dem sozialistischen Realismus halt, sondern steigerte seinen Kitsch. Alle Symbole, derer sich ein solches System bediente, selbst die Nationalflagge, wurden infrage gestellt. Atmo Happening in der UNEAC Autor: Happening in der UNEAC, dem erlauchten Schriftsteller- und Künstlerverband. Die Gruppe Straßenkunst-Experiment unterbricht lautstark eine Diskussion über neue Formen und Inhalte. Unheimlich sehen die acht Kunststudenten aus: über ihre Köpfe hatten sie Gasmasken gezogen. „Wir wollen uns nicht vergiften lassen“ – verkünden sie auf Transparenten – „nicht vergiften von dem alten Scheiß!“ Sprecher 2: „Es lebe die Revolution!“ Autor: - fetzten sie auf Mauern. Und direkt daneben: Sprecher 1: „Kunst ist nur ein paar Schritte vom Friedhof entfernt.“ Autor: Und während die ältere Generation gewohnt war zu rufen: Sprecher 2: „Vaterland oder Tod! Wir werden siegen!“ Autor: - pinselten die Jungen auf Wände: 12 Sprecher 1: „Kunst oder Tod! Alles ist Lüge! Wir werden siegen!“ Atmo Gruppe Straßenkunst Sprecher 1: Wir haben mit der früheren Generation, diesen Hundertjährigen, nichts am Hut. Die haben sich selbst überlebt, die haben keine Zukunft mehr, wir schon. Wir schauen nicht mit Bewunderung auf diese Vergangenheit und können auch keinen Dank denen gegenüber empfinden, die die Revolution gemacht haben. Denn die ist für uns selbstverständlich, die war schon da, als wir geboren wurden. Autor: Die Gruppe löste sich Anfang 1988 auf. Die Angriffe gegen diese Art von Kunst hatten sich wieder verschärft. Nach einer kurzen Tauwetterperiode führte die zunehmende Liberalisierung in der Sowjetunion wieder zu schärferen Kontrollen und Sanktionen. Experimente waren nicht mehr gefragt, und schon gar nicht das Experiment, das in den sozialistischen Ländern für tiefgreifende Veränderungen sorgte: Perestroika und Glasnost. Fidel Castro begnügte sich mit einer rectificación: einer erneuten Begradigung des revolutionären Weges, der schon wieder in die falsche Richtung geführt hatte. Castro: A medida que muchos países socialistas critican que han hecho durante muchos anos… Sprecher 2: Viele sozialistische Länder kritisieren das, was sie viele Jahre praktiziert haben. Sie negieren sogar Dinge, an denen sie jahrzehntelang festgehalten haben. Wir respektieren das Recht der Anderen auf Kritik. Auch wir haben Fehler gemacht. Doch wir wollen sie auf der Grundlage unserer eigenen Erfahrungen korrigieren und nicht der Fehler anderer. Heute müssen wir mehr denn je feste Bannerträger des Sozialismus und des Marxismus-Leninismus sein. Instrumental Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra Autor: 1989 brach das staatssozialistische System in der Sowjetunion zusammen. Präsident Michail Gorbatschow sah sich gezwungen, die sowjetischen Hilfslieferungen zu kappen, von denen Kuba völlig abhängig war. Das Land stürzte in eine existenzbedrohende Krise, denn es konnte seine Bevölkerung noch immer 13 nicht aus eigenen Kräften ernähren. Fidel Castro verkündete die „Sonderperiode in Friedenszeiten“. Castro: Estamos en un periodo especial difícil, uno de oas más difíciles de nuestro historia… Sprecher 2: Wir befinden uns in einer der schwierigsten Phasen unserer Geschichte. Warum? Weil wir völlig allein gelassen wurden, allein gegenüber dem USImperium. Und woran fehlt es nun? An Einheit, an Werten, an Patriotismus, an revolutionärem Geist. Doch nur ein schwaches, willenloses, feiges Volk ergibt sich und fällt zurück in die Sklaverei. Nicht jedoch dieses tapfere und mutige Volk. Autor: Die Regierung beschloss harte Sparmaßnahmen. Benzin wurde weiter rationiert. Import und Export brachen ein. Rohstoffe konnten wegen Devisenmangels nicht mehr eingeführt werden, zahlreiche Fabriken mussten schließen. Eine Gruppe von Schriftstellern und Journalisten protestierte am 31. Mai 1991 in einem offenen Brief gegen die Notlage. Zu ihnen gehörte der heute 80-jährige Poet Manuel Díaz Martínez. Martínez: Nosotros pedíamos un diálogo nacional para discutir soluciones de los problemas de Cuba... Sprecher 2: Wir forderten einen nationalen Dialog über die Probleme Kubas. Und die Freizügigkeit der Ein- und Ausreise für alle Kubaner. Und die Wiedereröffnung der freien Bauernmärkte, um die gravierende Versorgungslage etwas zu verbessern. Wir forderten eine Petition an die Vereinten Nationen, um dringend benötigte Medikamente zu erhalten. Eine Amnestie für Gefangene aus Gewissensgründen. Und direkte Wahlen. Diese Forderungen schickten wir an das Zentralkomitee der Partei, an den Staatsrat und an die Auslandskorrespondenten, denn wir waren sicher, dass die kubanische Presse sie nicht veröffentlichen würde. Autor: Zum ersten Mal protestierten Intellektuelle öffentlich gegen die Regierung. Bis dahin hatte es nur vereinzeltes Aufbegehren gegeben. Alle Beteiligten waren sich des Risikos bewusst. Auch hatten sie alle ihren Glauben an die Revolution längst verloren, nicht aber die Hoffnung, dass ihr verzweifelter Schritt in die 14 Öffentlichkeit, ihr sachlicher Appell an die Verantwortung wenigstens eine allgemeine Debatte auslösen würde. Doch sie mussten bald einsehen, dass sie zu naiv gehandelt hatten. Manuel Díaz Martínez wurde – wie alle anderen – aus dem Schriftsteller-Verband ausgestoßen und verlor seine Arbeit. Am schlimmsten traf es die Dichterin María Elena Cruz Varela. Die Nationalpreisträgerin für Poesie hatte das Manifest entworfen. Der sog. Volkszorn zog vor ihrem Haus auf – 72 Stunden lang. Cruz Varela: Tres personas conocidas me hicieron abrir la puerta de mi casa… Sprecherin 1: Drei mir bekannte Personen veranlassten mich dann, die Wohnungstür zu öffnen. Als ich jedoch aufmachte, stürzte eine Meute herein und schlug auf die Leute ein, die bei mir waren. Sie zerrten mich an den Haaren die Treppe runter, stopften mir vor dem Haus ein paar von den Flugblättern in den Mund, auf denen wir die Kubaner aufgerufen haben, sich uns anzuschließen. Gerade das hat sie besonders empört, dass es jemand wagte, so etwas öffentlich zu verteilen, auf der Straße, die den Revolutionären gehörte. Schließlich kam die Polizei und ‘rettete’ mich. Auf dem Revier wurde ich zunächst von einem Arzt untersucht, der die Blutergüsse dokumentierte. Dann kam ein Polizeioffizier und drohte mir, nicht mehr für mein Leben garantieren zu können, wenn ich meine Aktivitäten fortsetzte, Ich würde mit dem Feuer spielen, und das sei sehr gefährlich. Autor: María Elena Cruz Varela und einige andere Manifestanten wurden wenig später „wegen unerlaubter Versammlung“, „konterrevolutionärer Propaganda“ und „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ in Schnellverfahren zu Gefängnisstrafen zwischen einem und zwei Jahren verurteilt. Internationale Proteste verhallten wirkungslos. Nach ihrer Freilassung blieben sie unter permanenter Beobachtung und erhielten keine Arbeit: sie waren praktisch mittellos und wurden von Freunden und Verwandten unterstützt. María Elena Cruz Varela musste sich monatelang regelmäßig beim Staatssicherheitsdienst melden und über jeden ihrer Schritte Rechenschaft ablegen. Sie lebt heute – wie alle anderen Unterzeichner der Petition – im Ausland. Atmo Schrei 15 Autor: Havanna, 21. Juni 1991: drei Wochen nach dem ‚Brief der Zehn‘. Wegen „konterrevolutionärer Tendenzen“ haben die kubanischen Behörden den Film Alicia im Ort der Wunder von Daniel Díaz Torres verboten. Während der Vorführungen war es zu heftigen Protesten gegen einzelne Szenen und Dialogstellen und vor dem Kino sogar zu Schlägereien zwischen Gegnern und Befürwortern gekommen. Daraufhin wurde Alicia aus dem Verkehr gezogen. Kurz darauf brach in der bis dahin schweigsamen Presse eine Verleumdungskampagne gegen Werk und Regisseur los, am schärfsten im Parteiorgan ‘Granma’: Sprecher 2: „Der Film weckt Defätismus, Hoffnungslosigkeit und Verdruss durch seinen exzessiven Pessimismus, seine Überfülle an missverständlichen Schlüsselbotschaften, die jeder Form von Spekulation Vorschub leisten. Er ist ein Werk, das unserer schlimmsten Feinde würdig ist und das historische Projekt der Revolution auf eine verleumderische Karikatur reduziert.“ Musik Autor: Die junge Alicia trifft in der tiefsten Provinz auf Leute, die sich längst daran gewöhnt haben, die absonderlichsten Eingriffe in ihr Leben als natürlichste Sache der Welt hinzunehmen. Alicia will sie aufrütteln und stößt dabei auf die hartnäckige Gegenwehr all derer, die ihren Besitzstand gefährdet sehen. Daniel Díaz Torres nutzt diesen äußeren Rahmen, um eine geballte Ladung an ironischen Seitenhieben auf Spitzelei, Bürokratie, Korruption, Schwarzhandel und Parteiherrlichkeit auszuteilen. Er entfaltet mit Humor und - wie bei ‚Alice im Wunderland‘ mit den Mitteln des Phantastischen eine umfassende Systemkritik, wie es bis dahin noch kein anderer Künstler der Insel gewagt hat. Díaz Torres: Esta necesidad de la participación… Sprecher 1: Wir wollten die Notwendigkeit des aktiven Mitwirkens herausstellen: Jeder Einzelne soll aktiv in die Gesellschaft eingreifen und sich nicht entmutigen lassen, auch nicht durch Bedingungen, die manchmal zum Verzweifeln sind, so dass er in eine pessimistische oder gar zynische oder nihilistische Position flüchtet. Für uns war es wichtig, dass der Film keine Zugeständnisse machte, sondern dass er zu den positiven Werten Stellung nahm, die wir verteidigen wollten. 16 Autor: Alicia im Ort der Wunder verschwand im Panzerschrank. Der Präsident des Filminstituts wurde seines Amtes enthoben. Das ICAIC, ein fast liberal zu nennendes Filminstitut, sollte aufgelöst und mit den Filmstudios der Armee und des Fernsehens, also der Propagandaabteilung, zusammengelegt werden. Der Anschlag auf seine Selbständigkeit scheiterte am Widerstand der Filmschaffenden. Alicia im Ort der Wunder kam nie wieder in die kubanischen Kinos. Die phantasiereichen Kubaner kennen das Werk jedoch besser als jeden anderen einheimischen Film: sie haben es auf illegalen Videokassetten gesehen. Musik Instrumental Introducing Rubén González. Nr. 7 Almendra Autor: Die Verhaftung der Unterzeichner des Briefes der Zehn und das Verbot von Alicia waren der Auftakt für zwei Jahrzehnte ausgeprägter Intoleranz in Kuba. Ihre Ursache lag – wie in den 70er Jahren – in der ökonomischen und sozialen Krise, die sich nach dem Ende der sowjetischen Dauerversorgung extrem verschärfte. Doch diesmal kamen neue Faktoren hinzu: die ideologische Verunsicherung durch den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung. Da sie nach drei Jahrzehnten der Revolution noch immer keinen Fortschritt sah, begann sie sich stärker als bisher zu wehren. Take Maleconazo Autor: 1994 eskalierte die Lage. Im August kam es zu spontanen Demonstrationen auf der Uferstraße Malecón, dem sog. Maleconazo. Sie wurden brutal zusammengeknüppelt. Danach versuchten innerhalb eines Monats rund 32.000 Kubaner auf lebensgefährlichen Flößen der Not via Miami zu entfliehen. Am 19. und 20. März 2003 – die Welt schaute gebannt auf die US-amerikanische Invasion des Iraks – ließ Fidel Castro 75 Journalisten, Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivisten verhaften, unter ihnen auch den mehrfach ausgezeichneten Schriftsteller und bekannten Journalisten Raúl Rivero. Rivero: Este fue a las cuatro y tanto, a las cinco... Sprecher 1: Es war fünf Uhr nachmittags, da sah ich vom Balkon meiner Wohnung eine Reihe von Autos in die Straße einbiegen. Und dann standen auch schon so an die 18 oder 20 Mann vor der Tür. Sie müssen mich für einen Gewaltverbrecher gehalten 17 haben. Sie durchsuchten minutiös meine gesamte Wohnung und konfiszierten ganze Pakete von Büchern, Manuskripten, Familienfotos, meine alte OlivettiSchreibmaschine und den Computer. Dann brachten sie mich zur Villa Marista, ins Gefängnis der Staatssicherheit. Die ganze Operation dauert sechs oder sieben Stunden. Autor: Bereits zwei Wochen später verurteilten Schnellgerichte die 75 Verhafteten in summarischen Verfahren zu drakonischen Strafen von bis zu 25 Jahren Gefängnis. Für den 58-jährigen Raúl Rivero hätte die erhaltene Höchststrafe lebenslänglich bedeutet. Doch damit gab sich das Regime nicht zufrieden, denn er hatte es zweimal herausgefordert: als Unterzeichner des Briefs und als Gründer eines illegalen Presse-Netzwerks. Deshalb hatte man für ihn eine Strafzelle vorgesehen. Rivero: Una celda de castigo es más chico que el bano de tu casa Sprecher 1: Sie ist kleiner als ein normales Badezimmer. Ich konnte sechs Schritte gehen, aber meine Arme nicht völlig ausbreiten. Es gab eine Zinkplatte mit einer Matratze, ein stinkendes Loch im Boden als Toilette, ein Zementbecken zum Waschen, ein Rohr, aus dem Wasser floss, zweimal für 15 Minuten am Tag. Und das bei der unerträglichen feuchten Hitze im kubanischen Sommer. Außerdem gab es unzählige Mücken, jede Art von Ungeziefer, Frösche, Ratten, kleine Schlangen und Grillen, die einen nicht schlafen ließen. Dort verbrachte ich ein ganzes Jahr. Autor: Auf Druck der Europäischen Union wurde Raúl Rivero nach insgesamt zwei Jahren schwerkrank als einer der ersten entlassen. Danach kamen auch alle übrigen frei. Die meisten leben heute im Ausland. Als Schwarzer Frühling ging dieses Kapitel in die kubanische Geschichte der Unterdrückung Andersdenkender ein. Atmo Demo Damen in Weiß Autor: Ihre Angehörigen hatten monatelang jeden Sonntag für die Freilassung der Gefangenen demonstriert. Als Damen in Weiß wurden sie weltbekannt. Auch heute noch versuchen sie nach dem sonntäglichen Gottesdient an das Schicksal von politischen Häftlingen zu erinnern. Bei diesen friedlichen Demonstrationen werden sie regelmäßig von der Polizei festgenommen oder von zivilen Rollkommandos malträtiert. 18 Die Taktik der Repression hat sich während der Regierung von Raúl Castro nur in einem Punkt geändert: die Dissidenten werden nicht mehr zu langen Strafen verurteilt, sondern ihre Aktionen werden sofort unterdrückt und die Akteure nur kurzfristig weggesperrt – wie Antonio Rodiles. Vor sechs Jahren gründete der Menschenrechtsaktivist eines der ungewöhnlichsten Projekte der kubanischen Dissidenz. Take Sprecher 1: Autor: Estado de Sats „Estado de Sats – wo Kunst und Denken zusammenfließen.“ So heißt sein Forum kritischer Diskussionen über die Gegenwart und die Zukunft Kubas. Die Debatten organisiert er in seinem Haus, lässt sie auf Video aufzeichnen und dann im Internet verbreiten. Von Anfang an wurde diese Aktion vom Sicherheitsapparat observiert und Gäste bedroht oder mit Gewalt an der Teilnahme gehindert. Deshalb veranstaltet der 44-jährige solche Treffen nur noch selten. Heute gilt Antonio Rodiles als einer der intellektuellen Wortführer der kubanischen Opposition. Take Rodiles: Se ha hablado de que en Cuba se están ocurriendo transformaciones de índole económica. Sprecher 1: Es heißt, dass in Kuba wirtschaftliche Veränderungen stattfinden. Aber das ist völlig falsch. In Kuba kann es keinerlei Wandel geben, solange das System fundamentale Rechte wie die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit verletzt. Und was heißt wirtschaftlicher Fortschritt? Der einfache Kubaner darf sich lediglich als Miniunternehmer betätigen, darf sich jedoch nicht weiterentwickeln, weil das Regime dies nicht duldet. Wir fordern eine Demokratie, einen Rechtsstaat, ein blühendes Land, in dem jeder Kubaner nach seinen Fähigkeiten leben kann. Autor: Wegen seiner öffentlich geäußerten Ablehnung der Castro-Regierung wurde Antonio Rodiles immer wieder für Stunden oder Tage inhaftiert. 2015 schlugen ihn Sicherheitskräfte auf offener Straße derart zusammen, dass seine Nase brach. Später stellten er und seine Lebensgefährtin Ailer María González nach einer Demonstration dunkle Flecken am Körper fest. 19 Rodiles: Me dieron como un piquete acá, como una mordida… Sprecher 1: Ich hatte zwei Einstiche an beiden Armen und Ailer einen in der linken Brust. Aber wir konnten nicht in Erfahrung bringen, was für eine Substanz uns verabreicht worden war. Autor: Andere Dissidenten klagten nach Demonstrationen über Gliederschmerzen und Fieber. Anzeigen bei der Polizei blieben wirkungslos, nach Untersuchungen im Krankenhaus erhielten sie keine Diagnose. Wer öffentlich an einem friedlichen Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte in Kuba teilnimmt, hat heute mehr denn je mit harter Repression zu rechnen. Atmo Straßenarbeiten Autor: Straßenarbeiten in Alt-Havanna. Eine Brigade des Elektrizitätswerks führt „dringend notwendige Reparaturen“ durch und zwar vor der Parterre-Wohnung von Tania Bruguera. Take Bruguera Autor: Die berühmte Performance-Künstlerin hatte im Rahmen der Kunstbiennale 2015 in Havanna zu einer Lesung von Hannah Arendts Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft eingeladen. Die rund 1000-seitige Studie sollte in einem viertägigen pausenlosen Marathon von verschiedenen Teilnehmern vorgelesen und per Lautsprecher auf die Straße übertragen werden. Da ihr Telefon ständig abgehört werde, könne sie das auch gleich öffentlich verbreiten – meinte die Künstlerin. Die ‚Performance‘ von Castros Bauarbeitern konnte ihre Aktion nicht wirklich torpedieren. Tania Bruguera hat vor kurzem das Internationale Institut für Artivismus Hannah Arendt gegründet. Bruguera: Tiene mucho que ver con arte política… Sprecherin 1: Es soll die politische Kunst erforschen und zeigen, was Kunst zur sozialen Veränderung beitragen kann, zum Artivismo – wie ich das nenne: zu Kunst und Aktivismus. Hannah Arendts Buch kann gerade in der kubanischen Situation viele Erkenntnisse beitragen. Denn wir wollen hier theoretisch und praktisch studieren, wie wir mit der Kunst auf den gesellschaftlichen Wandel einwirken können. 20 Autor: Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete 48-jährige Künstlerin wurde wegen ihrer provokanten Auftritte vom Verband der Schriftsteller und Künstler mehrfach verwarnt. Sie gab schließlich demonstrativ den Nationalpreis zurück und trat aus der UNEAC aus. Im Dezember 2014 – kurz nach dem Ende der diplomatischen Eiszeit zwischen Washington und Havanna – rief Tania Brugueras zu einer Performance auf der symbolträchtigen Plaza de la Revolución auf, dem zentralen Ort revolutionärer Begeisterung und endloser Castro-Reden. In ein Mikrofon sollte jeder Kubaner eine Minute lang seine Meinung über Kuba sagen. Doch wer immer sich für diese Aktion anmeldete, wurde verhaftet: insgesamt 80 Menschenrechtler, Intellektuelle und Journalisten. Und auch die Künstlerin. Bruguera: En este momento el gobierno de Cuba tiene mucho miedo... Sprecherin 1: Damals fürchtete die Regierung wohl, die politische Kontrolle zu verlieren, denn mit dieser Aktion begann ein Kampf um Symbole. Auch wollte sie das Volk daran hindern zu begreifen, dass es ein Recht hat, sich zu äußern... Über mich als Rädelsführerin verhängte man eine 8-monatige Ausreisesperre und inhaftierte mich dreimal. Autor: Die Meinungsfreiheit ist ein Gradmesser für die demokratische Entwicklung einer Gesellschaft. In Kuba können die Menschen bis heute nur von dem Rechtsstaat träumen, von dem der Liedermacher Pedro Luis Ferrer singt. Musik Pedro Luis Ferrer: Venga el estado de derecho Sprecher 1: Der Staat des Rechts soll kommen, und herrschen auf dieser Insel, ein Staat für das ganze Volk, nicht für eine Sekte, nicht für einen Führer, mit verschiedenen Ideologien und freier Wirtschaft. Ein Staat mit einem Höchstmaß an Freiheit und Recht: ein pluralistisches Projekt, für das ganze Volk. 21 Musik Pedro Luis Ferrer: Venga el estado de derecho Absage: Von Anfang bis Ende Zensur in Kuba Ein Dossier von Petr B. Schumann Es sprachen: Bernt Hahn, Jochen Langner, Josef Tratnik, Janina Sachau und Franz Laake Ton und Technik: Daniel Dietmann und Hanna Steger Redaktion und Regie: Birgit Morgenrath Eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.
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