SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Tandem aktualisierte Fassung vom: 26.11.13 AutorIn: RedakteurIn: Regie: Inka Bach Katrin Zipse Maria Ohmer Im Ohrenland des Krieges Hörspiel Studiobelegung: Sendung am: 3.-6.2.2014; STG Studio 2; 9.00 – 16.30 Uhr 23.08.2016 um 19.20 Uhr in SWR2 Tandem Wiederholung aus dem Jahr 2014 03.02. 09.00 - 16.30 Uhr Studio 2 Sprecher/Rollen: Leutnant Dr. Heinrich 06.02.14 Elektroingenieur Fasshuber, Obergefreiter Max Murtenberg, Bauer Propagandastimme Diese Kopie wird nur zur rein persönlichen Information überlassen. Jede Form der Vervielfältigung oder Verwertung bedarf der ausdrücklichen vorherigen Genehmigung des Urhebers. © by the author 1 Zeit: Juli 1918 Ort: Frankreich, zweite Schlacht an der Marne 1. Unterstand/ innen Maschinengewehrfeuer, Granateneinschläge fernPapierrascheln nah 1LEUTNANT: Woher kommen Sie, Obergefreiter Murtenberg? 2GEFREITER: Aus dem Irrenhaus, Herr Leutnant. 3LEUTNANT: Wie bitte? Das fängt ja gut an. Ich meinte, aus welcher Gegend. 4GEFREITER: Ostvogesen, Herr Leutnant, nicht weit vom Hartmannweilerkopf. Da hab ich dann bei der Frontlinie 18 mitgemacht, beim „Berg des Todes“, auch „Männerfresser“ genannt. 5LEUTNANT: Gut. Und du warst in der Psychiatrie? 6GEFREITER: Jawohl, Herr Leutnant, Kriegszitterer, ich hab den Schreck gehabt. 7LEUTNANT: Und – wieder hergestellt? 8GEFREITER: Jawohl, Herr Leutnant, wieder hergestellt. 9LEUTNANT: Vollständig? 10GEFREITER: Vollständig. Wieder voll im Einsatz, Herr Leutnant. Man sagt, das Zittern kommt daher, dass durch den Lärm, die Bomben, Minen, Artilleriefeuer, durch die Detonationen, all den Lärm, das Gehirn an die Schädeldecke gedrückt wird und so das Gehirn beschädigt und daher kommt dann das Zittern. 2 11LEUTNANT: Sagt man so? Hattest du nicht eher die Hosen gestrichen voll? Wo warst du noch eingesetzt? 12GEFREITER: Kriegsanfang im Elsass, Col du Bonhomme bei Colmar. 1915 dann am Linge bei Urbeis, Orbey. Dann im Sommer ’16 an der Somme. Ein Höllenlärm. Eine Lärmhölle. Ich hör’s heut noch. 13LEUTNANT: Ja, und? 14GEFREITER: Wissen Sie, ich musst’ dann irgendwann die Beine werfen, als würd ich immerzu Cancan tanzen. Und wenn ein Ast an einem Fenster wischt, dann hört sich ’s an wie ein Maschinengewehr, wissen Sie, und ich musst’ schreien. Geht jetzt wieder. War nach dem Irrenhaus daheim, bei meinen Eltern und meinem kleinen Bruder. Keiner hat ’s verstanden, keiner konnt’ sich ’s vorstellen. Ich mein’, das mit dem Lärm, dass ich ihn noch immer gehört hab, dass ich das nicht loswerde. Und dass ich im Irrenhaus gelandet bin – das war ihnen erst recht peinlich. Wär ihnen lieber gewesen, ich wär verwundet worden. Oder gleich getötet. Als Kriegsheld eben. Sie waren dann aber stolz auf mich, weil ich wieder an die Front wollte. Nur, ich wollt wieder an die Front, weil mich zu Hause ja eh keiner verstanden hat. Ich hab mich noch nie so allein gefühlt. Ich wollt’ wieder zu meinen Kameraden. In der Ferne singen Soldaten „In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn...“ 15LEUTNANT: Brav, bist ein braver Soldat, mein Junge! 16GEFREITER: Danke, Herr Leutnant, nur der Schreck, der sitzt mir... 3 17LEUTNANT: Ein Mann kann auch solche Schrecken durchstehen. Echte Patrioten wissen, dass es Wichtigeres gibt, als am Leben zu bleiben. Wenn du das mal begriffen hast, kommst du durch. Bist du bereit zu sterben und zu töten? Das ist die Frage. Na, auch egal. Jetzt bist du ja wieder hier und kriegstauglich, hoffe ich, und nun wollen wir dich mal einweisen im Ohrenland des Krieges. Hier wird nämlich gehorcht, ich meine, gelauscht. 18GEFREITER: Jawohl, Herr Leutnant. Ich kenne eigentlich keine Furcht, (Pause) es sei denn, (Pause) ich bekomme Angst. 19LEUTNANT: (lacht) Nun lass mal das mit dem Jawohl! 20GEFREITER: Ich will Ihnen ein brauchbarer Soldat sein. 21LEUTNANT: Das ist zu wenig, Gefreiter – wie? 22GEFREITER: Murtenberg, Herr Leutnant! 23LEUTNANT: Zu wenig! 24GEFREITER: Finden Sie, Herr Leutnant? 25LEUTNANT: Fragen stelle nur ich hier! 26GEFREITER: Jawohl, Herr Leutnant! 27LEUTNANT: Was hast du im zivilen Leben gemacht? 28GEFREITER: Landwirtschaft, Herr Leutnant. 29LEUTNANT: Soso, Landwirtschaft, ein Bauer also, na gut. Ich bin zivil Privatdozent für Elektrotechnik an der Technischen Hochschule 4 Karlsruhe, Lehrgebiet Drahtlose Telegraphie und Telephonie sowie Elektrotechnische Messkunde. 30GEFREITER: Verstehe, Herr Leutnant! 31LEUTNANT: Du musst jetzt sehr schnell lernen, den Lärm zu unterscheiden. Ist für die ganze Mannschaft überlebensnotwendig. Wenn du nicht richtig hinhörst, wenn du was verpennst oder dich irrst, kann das den Tod von Hunderten deiner Kameraden bedeuten. Also, pass auf! Das Austarieren der unterschiedlichen Geschosse und Einschläge, die Entfernung, die Bewegung - je früher du erkennst, was auf uns zukommt, desto größer sind die Chancen für alle, mit dem Leben davonzukommen. Schon bald musst du mit fast absoluter Sicherheit wissen, welcher Art die Geschosse sind. Schaffst du das? 32GEFREITER: Weiß nicht, Herr Leutnant, bin recht gut im Handgranatenwerfen. Und wie die pfeifen, das weiß ich. 33LEUTNANT: Das richtige Geräusch aus dem Lärm zu filtern, sich gegenüber dem nervenaufreibenden Geräusch zu rüsten, dem akustischen Rauschen die leisesten Zeichen abzulauschen, den Bewegungen der unsichtbaren Feinde ober- und unterirdisch nachzuhorchen, das ist entscheidend. Und das perfektionieren wir hier. Unsere Aufgabe ist die Sondierung feindlicher Angriffe. Wir können in die unterirdische Stille mithilfe akustischer Verstärker hören, hiermit, siehst du, quasi in die Erde hineinhorchen. Verstehst du das? Lied von fern „Es braust ein Ruf wie Donnerhall...“, dazwischen „Hurra“-Rufe; Granateneinschläge und Maschinengewehrfeuer fern 5 34GEFREITER: Verstehe, Herr Leutnant! 35LEUTNANT: Das hier ist also ein „Geophon“, ein Gerät, das aus der Medizintechnik stammt. Es erkennt Gefahrensignale. Ein elektromechanischer Wandler, der Bodenschwingungen in analoge Spannungssignale umwandelt. Deutliches unterirdisches Klopfgeräusch, dann wieder aus; dieses „on“ und „off“ wiederholen, je nachdem, ob Geophon „on“ oder „off“, Dialog damit rhythmisieren 36GEFREITER: Verstehe, Herr Leutnant! Ich hör’s. 37LEUTNANT: Geophone bestehen im Wesentlichen aus einer Spule und einem Permanentmagneten, beide sind durch eine Feder gekoppelt. Eine Bodenbewegung führt zu einer Relativbewegung zwischen Spule und Magnet. Proportional zur Geschwindigkeit dieser Relativbewegung wird in der Spule eine Spannung induziert. Du musst das jetzt nicht alles gleich verstehen; das kommt schon mit der Zeit. 38GEFREITER: Glauben Sie, Herr Leutnant? 39LEUTNANT: Aber ja. Praxis ist entscheidend. Geophone ähneln in ihrem Aufbau den Seismographen. Sie werden zur Registrierung von refraktierten oder reflektierten Wellen in der Seismik verwendet. Seismik befasst sich im Gegensatz zur Seismologie nicht mit Gegebenheiten, etwa mit Schwingungen im Erdinnern, sondern mehr mit denen an der Oberfläche. Hast du das verstanden? Dieser kleine Seismometer, siehst du, mit dem kommen wir in allen Tunnelsystemen dem Feind sehr nahe und können seine Bewegungen unterirdisch erspüren. Auf 6 See werden entsprechende Hydrophone verwendet. Sie sind in Bojen untergebracht und wichtig für den U-Bootkrieg. deutliches unterirdisches Klopfen 40GEFREITER: Erspüren, unterirdisch, jawohl, Herr Leutnant! deutliches unterirdisches Klopfen 41LEUTNANT: Eine sehr praktische Nutzung von Max Wertheimers und Erich Moritz von Hornbostels Untersuchungen zum Richtungshören. Auf der Grundlage des Verfahrens konstruierte für unsere Zwecke Erich Waetzmann, Professor für physiologische und physikalische Akustik in Breslau, das Geophon, einen Richtungshörer zur Verfolgung von Miniergeräuschen. 42GEFREITER: Entschuldigung, Herr Leutnant, ich kenn’ die Herren nicht. 43LEUTNANT: Aber du hast zwei Ohren. Wozu hat der Mensch zwei Ohren, Gefreiter Murtenberg? Die zweiohrigen Schälle sind, im Gegensatz zu einohrig wahrgenommenen, stärker gestaltet, sie sind Dinge, die hörend wahrgenommen werden, die ruhend oder bewegt, in demselben Raum sind wie die Dinge, die man sieht. Hast du dir jemals die Frage gestellt, warum du hörst und wie und was? 44GEFREITER: Entschuldigung, Herr Leutnant, nein, noch nie. Ich hör’ einfach. 45LEUTNANT: Und damit das, was du hörst, nicht ein großes ununterscheidbares Durcheinander ist, dieser allgemeine Krach hier, haben wir das Geophon. Wenn man noch nichts hört und sieht, hören wir’ s schon. 7 Geophon, das kommt aus dem Griechischen, heißt so viel wie „die Erde klingt“. Verstehst du? Oder klingende Erde. Wir sind wie die Indianer, mit dem Ohr am Gras. Und damit werden wir heldenhaft siegen. Ist das klar, Gefreiter...äh? Stille 2. Unterstand / innen lautes Klopfen deutscher Erdarbeiten, dann durch Geophon Klopfgeräusch der Franzosen leicht versetzt 46LEUTNANT: (flüstert ) Das geht schon seit Stunden so. Hörst du das? Das Klopfen? Da arbeiten sich die Franzosen vor. Stück für Stück, Zentimeter für Zentimeter. 47GEFREITER: Da hab ich ein Leben lang Angst vor dem Sterben gehabt, und jetzt kommt es auf so leisen Sohlen! leichtes Klopfen durchs Geophon noch stärker werdend 48LEUTNANT: Hör hin, Murtenberg! 49GEFREITER: Ein eigenartiges Gefühl. Nur das Klopfen des Gegners und mein Blut im Kopf, das klopft. Geophon aus; nur noch Erdarbeiten der Deutschen 8 50LEUTNANT: Das ist dein Herzschlag. Diese Franzosen sind raffiniert. Sie arbeiten sehr vorsichtig, sie schlagen immer mit unseren Leuten, immer zeitgleich, und sie hören immer gleich auf, wenn wir aufhören. Ich lasse jetzt in den Stollen, die besonders wichtig sind, weiter arbeiten und horche vom Nebenstollen aus. Man hört dann ganz genau das Nachklappen, minimal, aber wahrnehmbar, also dann hört man tatsächlich dieses Nachklappen der französischen Schläge. 51GEFREITER: Was wollen Sie dagegen tun, Herr Leutnant? 52LEUTNANT: Ich hätte längst sprengen können wie es ja Oberleutnant Richter immer getan hat - ob zum Nutzen der eigenen Stellung bezweifele ich - aber ich will die Franzosen lieber noch 12 bis15 Meter herankommen lassen und sie dann vernichten. Zwanzig Meter sind sie etwa noch entfernt. Da heißt es Nerven behalten. Aber lieber lass ich die Franzosen sprengen, als dass ich mir mein System zerstöre. Die Franzosen sprengen jedes Mal zu früh und erreichen damit wenig oder nichts. Sollen sie also sprengen! Die Stellung können sie nicht zerstören, meine Leute auch nicht abquetschen, da wir viel tiefer sind, auch haben wir ja eine gut ausgebaute Minengalerie - das einzig Brauchbare von meinem Herrn Vorgänger. Also, lassen wir sie kommen! Je näher sie kommen, desto besser. Und dann machen wir sie zu Mus. Telephonklingeln (Telephonleitung der Kompagnie) 53GEFREITER: Hier Abhörabteilung von Leutnant Dr. Fasshuber. Jawohl, Herr Unteroffizier, ich richte es aus. Ende. 9 Er legt auf. 54GEFREITER: Leitungspatrouille, Herr Leutnant, Panik in der Stellung! Die Infanterie behauptet, die Franzosen bohren unter dem vorderen Stollen. 55LEUTNANT: Wie bitte? Blödsinn! Das ist ja nun undenkbar; sie müssten dann mindestens in einer Tiefe von vierzig Metern unter uns durchgehen. Also, das ist Blödsinn. Das ist ausgeschlossen, ich horche alle sechsundzwanzig Stollen ab, teilweise mit dem Ohr, teilweise mit dem Horchgerät - und zwar dauernd. In den übrigen wird noch gearbeitet, aber da machen wir acht Horchpausen innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Also, das kann nicht sein, das ist Blödsinn. Aber wir geben sicherheitshalber Befehl zur Vorbereitung aus. (beiläufig, lässig) Alles vorbereiten zur Sprengung! 56GEFREITER: Zu Befehl, Herr Leutnant. mit Geophon Brummen 57LEUTNANT: Dieses Geräusch hier, komm mal her, hör genau hin, das kommt von einem sehr tief fliegenden französischen Flugzeug, das hat sich in den Unterständen verfangen und hört sich wie Bohrgeräusche an. Das ist es! Geh, melde das! Kein Grund zur Panik! mit Geophon verstärktes Brumm-Geräusch; danach verstärkt klares Prasseln des Regens 58LEUTNANT: Und das andere hier, hörst du, das sind keine Franzosen, das ist nichts weiter als der starke Regen. Möchtest du eine Zigarette? 10 59GEFREITER: Danke, Herr Leutnant. Sie rauchen. 60LEUTNANT: Ich habe eine Eingabe verschickt. Der neue Stahlhelm taugt nichts. Er beeinträchtigt den Soldaten. Die tiefe Krempe an den Seiten und im Nacken des M1916 liegt auf den Ohren, so behindert sie nun das Hörvermögen. Der Soldat hört dadurch ein Rauschen. Die sollen mal schnell ein Sondermodell produzieren, hab ich denen mit Dringlichkeitsvermerk geschrieben, und an der Ohrenpartie ein Stück ausschneiden. Hab ich also an die Heeresleitung geschrieben. Ist nun bewilligt worden. Das neue Modell soll in die Produktion gehen. Ich befürchte nur, dass es vor Kriegsende nicht mehr fertig wird. Darauf können wir lange warten, eh die damit rüberkommen. Man kennt das ja. Geh mal wieder horchen, Murtenberg! Geophon Alltagsgeräusche 61GEFREITER: Mein Gott, ich hör den furzen. Der Franzmann scheißt. 62LEUTNANT: Das ist nicht wahr! So nah? französische Stimmen fern deutlich, dann aus, dann wieder durch Geophon stärker 63GEFREITER: Ja. Hören Sie! Da beklagt sich grad einer über das saumäßige Essen. Sie klappern wütend mit den Kochtöpfen. Warum soll ’s denen auch besser gehen als uns! 64LEUTNANT: Ein Segen, dass du auch Französisch verstehst. Bleib dran mit dem Ohr! 11 melodisches Pfeifen eines französischen Liedes 65GEFREITER: Jetzt pfeift einer. Scheinen ganz dicht unter uns zu sein, mein Gott, zwei Meter höchstens. 66LEUTNANT: Befehl, Sprengen, sofort! Und raus hier, aber sofort, verstanden, schnell! 67GEFREITER: Jawohl, Herr Leutnant. gewaltige Detonation 3. Unterstand / innen 68Propagandastimme: (krächzender Lautsprecher (Archiv oder neu auf Alt) Soldaten, Sie sind unsere eiserne Jugend. Denken Sie an Ihre Rolle in diesem vaterländischen Krieg! Von Ihnen hängt das Schicksal unserer Kulturnation und das der ganzen Welt ab. Erfüllen Sie Ihre Pflicht gegenüber dem Vaterland! Zum Schutze des Vaterlands! 69GEFREITER: Es sind immer die falschen, die krepieren. Glaub ich. Was haben die mir da drüben getan? 70LEUTNANT: Ich denk an meine Mutter. 71GEFREITER: Ich an Rudi. 72LEUTNANT: Bist du vom andren Ufer? 12 Streichholz anzünden; beide rauchen 73GEFREITER: Rudi? Ist mein Bruder. Ich hab ihm ’s Boxen beigebracht, er ist fünf Jahre jünger als ich. Rudi hat nächstes Jahr seinen Schulabschluss. Hab ihm versprochen, mit ihm einen Kampf zu machen. Auf die Hand versprochen. 74LEUTNANT: Warum versprichst du auch so was! 75GEFREITER: Was für ein herrlicher Sommertag! Zum Mäusemelken! Man müsst schwimmen gehen. 76LEUTNANT: Mir würd’ noch was Besseres einfallen. Wir haben keine Verbindung mehr mit der Leitungspatrouille. Leitung flicken, schnell, los, los! 77GEFREITER: Zu Befehl, Herr Leutnant! Wollen Sie einen Schwank hören? Auf den Schrecken...? Optimist ist ein Mensch, der die Dinge nicht so tragisch nimmt, wie sie sind. Oder den? Ich freue mich heute noch, dass es mir gelungen ist, den heutigen Tag noch zu erleben. Die Oberste Heeresleitung sorgt gut für uns, sie sorgt für Nachschub, bringt neue Särge zum Nachfüllen. Wenn sie Käse schicken und Schnaps, dann geht’s danach gleich in die Hölle. Der Tilsiter schmeckt mir schon gar nicht mehr. 78LEUTNANT: Stellungskrieg – so sind wir hingestellt, man steht, nichts bewegt sich, seit Monaten, mal ein paar Meter Landgewinn für den Franzmann, dann wieder ein paar für uns, hin und her, vor und zurück, am Ende ist alles wie zu Anfang, und all die Toten, 13 hundertsiebentausend Gefallene allein im letzten Monat. Aber das Blatt wird sich wenden. Bombardement fern 79GEFREITER: Hören Sie? Unerhört! Ich möcht’ die Ohren zuklappen können. schreit Wie mit ’ner schalldichten Tür! Mit ’ner Panzertür! 80LEUTNANT: Diese dröhnenden Einschläge, das ist schwere Artillerie. Sie fliegen immer zu dritt, um ihre Bomben abzuwerfen. (Pause) Keine Angst, ihr Ziel ist links von uns. Die hört man gut von weitem. Deutliche, nahe, zischende sss-Geräusche, fern Bombeneinschlägen Aber worauf du achten musst, sind diese kleinen Dinger, die wie Mücken klingen. Du hörst dieses ssss? Wie Mücken. Du hast fünf bis zehn Sekunden zwischen den Einschlägen, um weiterzulaufen. Und immer mit dem Kopf unten. Ach, was soll’s, bist ja kein Anfänger. Hör auf zu schlottern, wird schon nicht so schlimm. 81GEFREITER: Es ist dieses Pfeifen, das Zischen und Fauchen. Wenn ich das hör’, dann weiß ich ja, was kommt, gleich schlägt eine Granate ein, dann weiß ich aber nicht, was passiert, dann denk ich, gleich bist du tot, und du kannst nichts machen. 82LEUTNANT: Das wird schon, Murtenberg, die Deutschen holen auf, auch technisch. Wir haben den ersten Röhrensender, von Siemens und Haske entwickelt, und jetzt auch mit Rückkopplungs-Empfängern, zum ersten Mal bei Telefunken erprobt. 14 Die Briten hatten schon vor zwei Jahren die Hochfrequenztriode V24 und haben sie dann auch prompt mit HF-Verstärker zur Funkpeilung bei der Skagerrakschlacht eingesetzt. Aber wir holen auf. Wir lassen uns nicht das Wasser abgraben. 83GEFREITER: Eine Nacht sind wir in einem Unterstand mitten im Niemandsland gestanden, voller Schlamm und Wasser, wir standen die ganze Zeit bis zur Hüfte in dem Matsch, unter vollem Granatenbeschuss, so dicht nebeneinander, dass wir uns nicht bewegen konnten, stockdunkel war’s die meiste Zeit, unter ständigem Beschuss. Uns sind zweiundzwanzig Stunden die Granaten um die Ohren geflogen. Eine nach der anderen. Zwei Trupps als Zielscheiben. Wofür? Weil angeblich jederzeit die absolute Kontrolle übers Niemandsland erforderlich ist. Wer hat sich bitteschön diesen Schwachsinn ausgedacht, Herr Leutnant? Zwei Wachmänner hat’s zerfetzt. Nichts mehr übrig. 84LEUTNANT: Ja, wer hat sich das ausgedacht? Ich weiß nicht, Murtenberg. (leise, wie zu sich selbst): "Süß ist der Krieg nur dem Unerfahrenen, der Erfahrene aber fürchtet im Herzen sein Nahen." Pindar, 500 Jahre vor Christi Geburt. (plötzlicher Stimmungsumschwung, laut): Warum mach ich das eigentlich alles mit? 85GEFREITER: Man tritt auf eine Leiche und Giftgas entweicht. Es stinkt bestialisch, ich muss würgen, wenn ich nur..., ach du grüne Neune... (er kotzt) Werd’ wohl nie wieder was essen können. Gesang fern:... Heil dir im Siegerkranz... 15 86LEUTNANT: Ein Offizier macht es im Schnitt drei Wochen. Hier. Drüben beim Gegner wird’s nicht anders sein. Wie ’s an der Ostfront aussieht, weiß ich nicht. Gefreiter singt mit glockenheller Stimme zum Lied die Parodie: 87GEFREITER: Heil dir im Siegerkranz! Kartoffeln mit Heringsschwanz. Heil Kaiser dir! Friss in des Thrones Glanz Die fette Martinsgans Uns bleibt der Heringsschwanz In Packpapier. 88LEUTNANT: (wieder gefasst, zuversichtlich) Junge, Junge, bald gibt’s das nächste Feuerwerk, der Franzmann macht heut Silvester. (am Telefon Summen) Gott sei Dank, die Verbindung ist wieder hergestellt. Hallo, Leitungspatrouille, Deckung, Deckung! Sucht den Unterstand! Wir warten noch, bis der Franzmann ausgetobt hat. Dann geht’s los! Schreie von Verwundeten und Geschosse fern 89LEUTNANT: O Mann, der Murtenberg kotzt schon wieder. fern Trillerpfeife, Losstürmen der Soldaten (Hurra!), Maschinengewehrfeuer, Granaten pfeifen, Verletzte schreien; Beschuss, Trillerpfeife dazwischen immer ferner fern minutenlang ohrenbetäubender Schützenlärm, dazwischen Schreie der Getroffenen; Maschinengewehrsalven weiter; Kommandoschreie, nicht verständlich; nah Schreie von Verwundeten; schwere Einschläge; Pferdegewieher, krepierend 16 4. Unterstand/ innen Stille nach dem Sturm 90GEFREITER: Granattrichter neben Granattrichter. Ganz Europa besteht nur noch aus Granattrichtern. Die arme Erde, durchlöchert, überall Schlamm, tote Bäume. Und die Toten liegen da wie Maiskolben, wie die Weizengarben, einer neben dem anderen. Lassen wir die jetzt einfach liegen? 91LEUTNANT: Wir können sie nicht bergen. Würde ihnen auch nichts mehr nutzen. 92GEFREITER: Man wird hier noch in hundert Jahren unsere Beine ausbuddeln. Wetten? Die Köpfe liegen ja herum wie Kieselsteine. Irgendwelche Burschen in kurzen Hosen werden in hundert Jahren mit meinem Schädel Fußball spielen. Wetten? 93LEUTNANT: Lass die Leichen herbeiholen! Schnell! Auch alle Leichenteile. Wir müssen die zur Verstärkung der Brustwehre benutzen. Tut mir Leid, Murtenberg, es geht nicht anders! Und hier auch, schnell, bring den Rumpf her, hierher, den Türbogen abstützen, schnell, der sinkt gleich ein. Nimm Beine und Arme für die Lücken in den Laufbrettern! Beeil dich, keine falsche Pietät, mir kracht sonst die Bude ein. Da, in dem Stiefel, da steckt noch ein Stück Bein. Murtenberg ächzt und keucht und rennt und stöhnt 17 94LEUTNANT: Die haben keine Ahnung, wovon sie reden, wenn sie sagen, dass wir schwere Verluste erlitten haben beim letzten Angriff. Es widert mich an, sie schwadronieren von Menschenmaterial, von Zermürbung und was weiß ich. So redet niemand, der einen Kameraden neben sich hat sterben sehen. Und dann wieder das Übliche: Strategie, Taktik, Kriegsziele. Selbstzufriedener Quatsch! Technik! Dass ich nicht lache! Mumpitz! Alles für die Katz! Mut, Geschicklichkeit, Tapferkeit – alles überflüssig… 95GEFREITER: Es geht wieder los, Herr Leutnant, das Zittern. Wieder Elektroschocks. Es geht wieder los. (stotternd) Zzzisch! Bbbbumm! Zzzzisch, Bbbbumm! (öfter wiederholen ab hier, auch wenn Leutnant spricht) 96LEUTNANT: Der Krieg, das sind vielleicht hundert Sandsäcke, mehr nicht, ein winziger Abschnitt, mehr habe ich nicht vom Krieg gesehen bisher. Das ist also das Grandiose am Krieg! Fünfzig Meter Frontabschnitt und Dreck und Gestank und Krach und jeden Tag Tote, Verletzte. Eine kleine, dreckige, stinkende Welt, die einem das Trommelfell zerfetzt, bis sie einen ganz und gar zerfetzt. 97GEFREITER: Was uns beim Angriff erwartet, weiß man nie. Im bombensicheren Unterstand kann man zerquetscht werden, bei stundenlangem Trommelfeuer auf freiem Feld überleben. Gesang von fern: „Die Wacht am Rhein“. Leutnant schreibt, Kratzen der Feder 18 98LEUTNANT: Ich habe 70% meiner Männer verloren. 70% der ganzen Kompanie. (hält inne) Den Namen habe ich doch vor drei Wochen schon mal geschrieben. Krüger... Es waren wohl Brüder. Jetzt sind sie beide tot. 99GEFREITER: Da war nichts zu machen, Herr Leutnant. Das Senfgas, das können wir nicht hören, Herr Leutnant. Und dann war da der Matsch. Durch die Gasmaske sieht eigentlich alles so grünlich-gelb aus, wie Schlamm, Moder. Aber es war wirklicher Matsch, es war wie ein Moor, fünf Meter tief (schluckt) sind wir auf Lattenrosten vorgerückt. Und so im Moder ist Krüger eingesackt. (schluckt) Immer tiefer. Es hat ihn einfach verschluckt. Vom Lattenrost abgerutscht, bei dem Matsch auch kein Wunder. Und der Tornister wiegt an die zehn Kilo. Der hat ihn auch noch runtergezogen. Er ist abgerutscht. Und dann war da nur noch seine Hand. Und dann war da auch nicht mehr die Hand. 100LEUTNANT: Man bricht ja nicht wegen nur eines einzelnen Schockerlebnisses zusammen. Es ist die Summe aller Schrecken, die der menschlichen Seele den Garaus macht. Die Bewegungslosigkeit, der Lärm, die toten Kameraden, dieses unentwegte Ohnmachtsgefühl, der Lärm, ein Ausgeliefertsein, der Lärm, die ständige Bedrohung, der Lärm, andauernd, die Belastung, nicht schlafen zu können bei dem ewigen Geschützlärm - und immer wieder die Ohnmacht. Wir sind in den Krieg gezogen, um Männer zu sein, hatten Abenteuer und Kampf gesucht und sind in Wirklichkeit hilflos und passiv wie die Weiber. 101GEFREITER: Herr Leutnant, hören Sie mal! 19 Geophon verstärkt Rascheln, dann Piepsen 102GEFREITER: Ganz nah, hören Sie, ganz nah, gleich neben uns! Können Sie sich vorstellen, wie ich mich erschrocken habe? Hören Sie das? Frage mich also die ganze Zeit, was das ist. Unheimlich. Ich hab ’s jetzt aber raus. Das sind Ratten! Nagende Ratten! Hören Sie! Ich haue auf das Schurzholz, so. Warten Sie! Hören Sie jetzt das Fiepen? Da huschen sie weg und - fiepen! - Ratten! Geophon aus; Rascheln und Fiepen jetzt direkt im Zimmer Bombardement im Hintergrund weiter, Einschläge näher 103LEUTNANT: Und was ist das? Was raschelt da hinten? 104GEFREITER: Ratten. 105LEUTNANT: Nimm den Spaten, schlag sie tot! Da, da ist eine. Ratten totschlagen, um die Zeit totzuschlagen. Ein Irrsinn! Dieses Warten auf den nächsten Angriff... 106GEFREITER: Verlaust und die Ruhr - und nun auch noch diese Viecher! Er schlägt wieder zu, steigert sich in seiner Wut und drischt wahllos drauflos. 107LEUTNANT: Jetzt schicken sie schon Sechzehnjährige in den Krieg. Hast du die Milchgesichter gesehen, die heute angekommen sind? (Pause) Einhundertdreiundzwanzigtausend Tote im letzten Monat. Auf unserer Seite. Die da drüben wahrscheinlich auch noch mal so viel oder mehr. Lied: Lieb Vaterland, magst ruhig sein... Gefreiter hört auf, Ratten zu töten 20 Bombardement setzt wieder ein 108GEFREITER: Seit achtunddreißig Stunden bombardieren die nun schon. Wir sitzen in der Falle! 109LEUTNANT: Bleib ruhig! Sie wollen uns nur wieder vor dem nächsten Angriff müde machen. Zermürben. 110GEFREITER: Angriff – Gegenangriff, so geht das jetzt schon vier Jahre. Immer hin und her, grässlich! 111LEUTNANT: Es ist so unerträglich heiß. 112GEFREITER: Es stinkt nach Leichen, der Wind dreht. (Pause) Noch so ein Angriff, dann sind wir erledigt. Dann ist es vorbei. Dann geben sie uns den Rest. Wir sind ausgeblutet, nichts mehr an Reserven, sehen Sie unseren Fraß? Tilsiter gibt’s auch nicht mehr. Brot mit Sägemehl. Wir sind am Ende. Die da drüben haben alles, seit die Amis dabei sind, Nachschub, Weißbrot, Fleisch, Granaten, Pferde. Wir, wir haben nichts mehr. Zuhause hungern sie auch schon seit dem Steckrübenwinter. Die Moral ist im Eimer, alles ist im Eimer. 113LEUTNANT: Pass auf, du Vaterlandsverräter, auf solche Sätze steht die Todesstrafe! Hohngelächter beide, schlägt um in verzweifeltes Schreien: 114LEUTNANT: Warum hören die nicht auf? Es ist vorbei. Es ist doch längst aus. 115GEFREITER: Für Sie, Herr Leutnant, muss das alles ja viel schlimmer sein als für unsereinen. Sie kennen den Dreck nicht und auch nicht solchen 21 Krach. Bei Ihnen zu Hause sind die Tischdecken immer sauber und es geht vornehm und zivilisiert zu. Für mich ist der Krieg wie eine Verlängerung, etwas wie eine Verstärkung von dem, was mir sonst auch passiert: Drangsaliertwerden, Herumgeschubstwerden, Gestank und Dreck und Krach, immer Krach. Auch hier im Krieg haben die feineren Herren die feineren Sachen an. Sie können auch jetzt ins Bordell, während unsereinem nur Wichsen bleibt. Sie gehen ins Casino und trinken Champagner und Rotwein und Cognac. Dazu gibt’s Leberpastete. Sie scheißen anders und vielleicht sterben sie auch anders. plötzliche Stille 116LEUTNANT: Nein, Murtenberg, ich glaube nicht. (Pause) Diese Stille, unheimlich. In der Ferne singt plötzlich ein Franzose in die Stille hinein „Die Ballade von Kleinzack“ aus Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ http://www.youtube.com/watch?v=HBfnYQHVacg 117LEUTNANT: Was singt der da? Hörst du den Franzmann? 118GEFREITER: Mein Gott! Lied 1.Teil aus; sie applaudieren; dann immer lauter werdendes Trommeln von drüben, dann abrupt wieder Stille. Fauchen. Dann schlägt ganz nah und bellend ein Geschütz ein; heftiger Krach durch Detonation; Glas birst und zerspringt nah. Leutnant schreit kurz auf 119GEFREITER: Herr Leutnant, was ist Ihnen, Herr Leutnant! Der Gesang setzt wieder ein, 2.Teil. 22 120GEFREITER: Herr Leutnant! Hören Sie, er singt wieder. Hören Sie! Herr Leutnant! (schreit) Herr Leutnant... Schreien leiser werdend; Gesang lauter Ende
© Copyright 2024 ExpyDoc