Kurzer Abriss der Geschichte der Orgel Seit etwa 1'000 Jahren werden im christlichen Gottesdienst Orgeln zur musikalischen Bereicherung der Liturgie eingesetzt. Die anfänglich sehr grobschlächtigen und klanglich undifferenziert lauten Instrumente entwickelten sich im Lauf der Jahrhunderte in verschiedener Hinsicht. Einerseits ergaben sich regionale Ausprägungen, die jeweils auch von der liturgischen Verwendung der Instrumente bestimmt waren. So wurden im katholischen Italien und in der Folge davon im süddeutschen Raum (von Italien beeinflusst) in der Barockzeit eher kleine, einmanualige Orgeln gebaut – die Messe verlangte nur kurze Zwischenstücke und kaum Begleitungen. Im norddeutschen (lutherischen) Raum hatte die Orgel auch konzertante Aufgaben zu erfüllen: Es entstanden grosse, mehrmanualige Instrumente mit vielen klanglichen Möglichkeiten. Andererseits haben sich die Entwicklung des Orgelbaus und die Komposition von Orgelmusik zu allen Zeiten gegenseitig beeinflusst. Je leichtgängiger die Instrumente wurden, desto virtuoser wurde komponiert und auch improvisiert. Als sich in der Romantik das Klangideal veränderte (in der Klassik spielte die Orgel keine grosse Rolle) und zum Beispiel eine stufenlos veränderbare Dynamik, vergleichbar dem Orchester oder dem Pianoforte gewünscht wurde, wurden neue Registerklänge (=Pfeifenformen) und Spielhilfen wie Schwellwerke entwickelt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichte die Qualität der neu gebauten Orgeln einen Tiefpunkt. Das billige Produzieren von technisch überladenen, jedoch unausgereiften und lieblos gestalteten Instrumenten taten dem Ruf der Orgel keinen guten Dienst. Auch der Musikstil änderte sich wieder. Nach dem 2. Weltkrieg wollte man sich abwenden vom "romantischen Schwulst". Zu sehr sah man in dieser Musik ein Mittel, das zur nationalistischen Stimmungsmache missbraucht worden war. Die Kompositionen wurden wieder nüchterner und schlichter, zum Teil freitonal und atonal und auch die Orgelsachverständigen besannen sich zurück auf alte bewährte Vorbilder und Techniken, bis hin zum extremen Trend, nur noch detailgetreue Kopien von historischen Instrumenten bauen und gelten zu lassen. Diese Entwicklung wird "Orgelbewegung" genannt. In den letzten Jahren ist man auf einen liberaleren Kurs eingeschwenkt. Vieles ist möglich – wichtig ist, dass jedes Instrument in sich stimmig und dem Raum, in dem es steht angepasst ist. Evelyne Handschin Die Orgel der Thomaskirche Kurz nach der Fertigstellung der Kirche 1967 konnte auch die Orgel vollendet werden, errichtet durch Orgelbau Kuhn in Männedorf, konzipiert und intoniert durch den im Liebefeld ansässigen Gebietsvertreter dieser Firma, Max Mühlemann. Die Orgel fällt zunächst durch ihre architektonische Gestaltung auf. Einerseits nimmt sie die Formensprache des Kirchenraums in die Prospektgestaltung auf und ist optisch völlig in den modernen Raum integriert. Andererseits entspricht ihre eigene Architektur in vollkommener Weise dem klassischen «Werkprinzip», bei dem jedes Manual und das Pedal eigene Teilorgeln mit in sich logischem Klangaufbau darstellen. Im barocken Orgelbau vor allem Norddeutschlands sind diese Teilinstrumente von außen deutlich sichtbar. Bei der Orgel der Thomaskirche sind sie je in einem separaten Gehäuse untergebracht: Das Hauptwerk, vom zweiten Manual aus gespielt, direkt beim Spieltisch, das Schwellwerk in einem Gehäuse hinter dem Hauptwerk, das Pedalwerk seitlich und Rückpositiv in die Emporenbrüstung eingebaut, im Rücken des Organisten. Damit verbinden sich in bemerkenswerter Weise konsequenter Traditionsbezug und ebenso konsequente moderne Gestaltung. In der klanglichen Konzeption und im Registeraufbau steht die Orgel der Thomaskirche zwischen den letzten Ausläufern der «Reformorgel», wie sie durch die Orgelbewegung seit etwa 1920 geprägt war, und der seither erfolgten konsequenteren stilistischen Profilschärfung, hier im damals aktuellen neobarocken Sinn. Die drei Manualwerke mit zusammen 45 Registern stehen für je unterschiedliche stilistische Akzente. Das Hauptwerk ist noch stark von der Orgelreform geprägt und enthält darum nur die Standardgrundstimmen, dazu allerdings als Referenz an den Barock zwei Mixturen, ein Prinzipalzungenregister und das zusammengesetzte Cornett, diese beiden besonders im Hinblick auf den französischen Barock. Das Rückpositiv mit seinen vielen hochliegenden Registern vertritt ein helles und durchsichtiges barockes Klangideal, wie es gegen 1970 vorherrschend wurde; farbige Zungenregister verweisen auf norddeutsche Vorbilder. Das Schwellwerk nähert sich vor allem mit seinen charakteristischen Zungenregistern der französischen Romantik an, ohne allerdings seinen Hintergrund in der Orgelbewegung und im Neobarock völlig verleugnen zu können. Das ganze dreifache Orgelwerk ruht klanglich auf einem reich disponierten kräftigen Pedalwerk, dies eine Referenz an alte niederländische und norddeutsche Gestaltungsprinzipien. Ganz der handwerklichen Orgelbautradition verpflichtet ist die mechanische Traktur, die einen direkten Kontakt zwischen Taste und Pfeife herstellt und so eine subtile Beeinflussung des Klangs durch die Spielweise erlaubt. Die Registersteuerung dagegen erfolgt elektrisch; die Vorwahlvorrichtung mit Hilfe von Relaisschaltungen, der «Setzer», begann nach 40 Jahren Betriebszeit Altersschwächen zu zeigen, so dass er im Rahmen der Gesamtrevision von 2013 durch ein elektronisches Vorwahlsystem mit praktisch unbegrenzten Möglichkeiten ersetzt wurde. Diese Gesamtrevision lag in den Händen von Orgelbauer Thomas Wälti, Gümligen, und seinem Team, vor allem Intonateur Jean-Marc Pittet. Zusätzlich zur periodisch erforderlichen Reinigung und Wartung konnten einige Anpassungen in der Intonation und auch in der Disposition vorgenommen werden. Im Schwellwerk wurde die allzu barocke hohe Zimbel durch eine «Voix céleste» ersetzt. Dieses Register, das vor allem in der französischen Romantik häufig eingesetzt wird, erzeugt durch eine leichte Verstimmung eine Schwebung im Klang. Eines der drei 16-Fuß- (d.h. Unteroktav-) Register im Pedal wurde um eine Quinte verschoben. Zusammen mit einem 16-Fuß-Register erzeugt es auf akustischem Wege die doppelte Unteroktave (32-Fuß), was dem Orgelklang Größe und Raum verleiht. Schließlich erhielt das Rückpositiv – wie vorher schon das Schwellwerk – einen Tremulanten, damit auch barocke Solostimmen mit diesem Sondereffekt versehen werden können. Mit diesen Maßnahmen hat sich das klangliche und stilistische Spektrum der Thomas-Orgel nochmals ausgeweitet und erlaubt die Wiedergabe eines großen Teils der gesamten Orgelliteratur verschiedener Epochen und Stilbereiche. Man hat Instrumente dieses Typs gelegentlich als «Kompromissorgeln» bezeichnet, mit einem abschätzigen Unterton. Verglichen mit Orgeln der 1950er und frühen 1960er Jahre ist hier aber der Schritt zu einer stärkeren klanglichen Profilierung der einzelnen Register bereits getan worden, so dass an Stelle des «Kompromisses» guten Gewissens die «Vielseitigkeit» gesetzt werden kann. Kontaktperson bei Fragen zur Orgel und Orgelbenützung: Elie Jolliet, Kirchenmusiker 076 503 11 05 [email protected] Disposition [ ] = bis 2013 * = 2013 neu Hauptwerk (II. Manual) 10 Register Gedacktpommer 16' Principal 8' Rohrflöte 8' Octave 4' Hohlflöte 4' Octave 2' Mixtur 1 1/3' Scharf 1' Zinke 8' Cornett 8' Rückpositiv (I. Manual) 12 Register Gedackt 8' Quintatön 8' Principal 4' Rohrflöte 4' Quinte 2 2/3' Octave 2' Terz 1 3/5' Larigot 1 1/3' Mixtur 2/3' Rankett 16' Krummhorn 8' Schalmei 4' *Tremolo Schwellwerk (III. Manual) 12 Register Holzprinzipal 8' Koppelflöte 8' Salicional 8' *Voix céleste 8' Octave 4' Gedacktflöte 4' Nasat 2 2/3' Flageolet 2' Fourniture 2' [Zimbel ½’] Trompette harmonique 8' Oboe 8' Clairon 4' Tremolo Pedal 11 Register Principalbass 16' Offen Subbass 16' [Gedacktbass 16’] *Quintbass 10 2/3' Principal 8' Spitzflöte 8' Octave 4' Rohrflöte 4' Mixtur 2 2/3' Posaune 16' Trompete 8' Trompete 4' Andreas Marti, Lee Stalder, Elie Jolliet
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