Ausblick

Ausgabe 105  3 | 2016
26. Jahrgang
Ausblick
Das kostenfreie Magazin für Menschen mit Lust auf Leben
Gl eichberechtigung
Eine Arbeitsgemeinschaft der
www.ausblick-zeitschrift.de
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016
Gleichberechtigung
 Das Titelbild
Bildquellen
li. oben (Dalai Lama): Quelle: wikimedia.org
li. unten (Begegnung):
Reinhild Zenz
Mitte oben (Adam und Eva): Gemälde: Maarten van Heemskerck (1498–
1574), „Adam und Eva“ (Ausschnitt), 1550,
Musée des Beaux-Arts de Strasbourg;
Quelle: wikimedia.org (Ji-Elle)
Mitte unten (Waage):
Fotomontage: Peter Wilke
re. oben (Buchcover): „Worte in meiner Hand“, List im Ullstein
Buchverlag GmbH (Ausschnitt)
re. unten (Buchcover):
„Joan spuckt gegen den Wind“,
rororo Taschenbuch dt. Erstausgabe von 1929
Illustration „yin + yang,":
Beate-M. Dapper
A nzeige
Frauenarbeit in der saline lüneburg?
Foto © Deutsches Salzmuseum
Hilke Lamschus, Museumskuratorin Deutsches Salzmuseum
In der Verpackungsstation
Frauen in der Salzherstellung? Ein Siedemeister bezieht 1917 klar
Stellung zu dem heiklen Thema: „Was die Beschäftigung von Frauen in der Siedung betrifft, so ist mit zwei Frauen ein Versuch von
ca. drei Wochen gemacht worden. Trotz der großen Mühe, welche
ich mir gegeben hatte, ist es mir nicht gelungen, die Frauen an
die schwere Arbeit zu gewöhnen, besonders das Ausschlagen von
Salz, welches doch ziemlich 2 m geworfen werden muss, sowie
das Steinigen der Pfannen, konnten von den Frauen nicht geleistet werden. Wenn auf anderen Salinen die Frauen in der Siedung
arbeiten, so müssen dort andere Arbeitsweisen vorliegen.“
Frauenarbeit fand überwiegend an der Verpackungsstation statt. Das Abfüllen von Kleinpackungen
und das Zunähen gefüllter Salzsäcke mit der Hand waren die typischen Arbeiten für die weiblichen
Mitarbeiter. Die Anzahl der Frauen (bis zu 30 Frauen) und ihre Beschäftigungsdauer richteten sich
nach der Auftragslage der Saline. Sie wurden
kurzfristig eingestellt und entlassen. Dabei
wurden sie schlechter entlohnt als ihre männlichen Kollegen.
Bis in die 60er-Jahre wurden die Säcke mit der
Hand zugenäht und verplombt. Für größere
Säcke erleichterten später Industrienähmaschinen diese Aufgabe. „Was glauben Sie, was wir
manchmal für kaputte Hände hatten!“, beschreibt eine Zeitzeugin ihre mühsame Tätigkeit.
2
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016

Ausblick
E ditorial
Mütter der Gleichberechtigung 1948
Der Staat fördert die
Gleichberechtigung von
Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin.
Grundgesetz, Artikel 3, Abs. 2
Anfang 2015 interviewte der Journalist Franz Alt den Dalai Lama. Dieses Interview
ist im selben Jahr unter dem Titel „Der Appell des Dalia Lama an die Welt. Ethik
ist wichtiger als Religion“ erschienen. – Franz Alt fragte: „Mir kommt soeben
eine Zwischenfrage in den Sinn, die ich schon lange stellen wollte: Kann der
nächste Dalai Lama auch eine Frau sein – Sie sind doch für Gleichberechtigung?“
„Gleichberechtigung? Warum nicht? Wenn sie attraktiv ist“, sagte er lachend.
Ernsthaft fügte er hinzu: „Wirkliche Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung
von Mann und Frau sind eine wichtige Voraussetzung für eine bessere Welt.
Auch hier haben Religionen Nachholbedarf. Das ist ein wesentlicher Aspekt der
säkularen Ethik und zudem eine Frage der Gerechtigkeit und des Mitgefühls.
Viele Frauen sind uns Männern bei der Entwicklung innerer Werte etwas voraus.“
Zwei Mütter unseres Grundgesetzes, Elisabeth Selbert und Friederike Nadig
(beide SPD), haben gegen viele Widerstände durchgesetzt, dass es in Artikel 3,
Absatz 2 heißt: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin.
Vor dem Gesetz sind Frauen und Männer gleich. Im Berufsleben sind sie es nicht. Die
Statistik zeigt: In Deutschland verdienen Frauen 22 % weniger als Männer. Die Lohnkluft
ist viel größer als in europäischen Ländern (fluterHeft Nr. 57). An deutschen Universitäten promovieren weniger Frauen als Männer. Professorinnen sind in der Unterzahl
gegenüber ihren männlichen Konkurrenten. Kinder von Zuwanderern erreichen in
der Regel einen geringeren Bildungsabschluss. Alleinerziehende Mütter, Behinderte,
Schwule und lesbische Paare erfahren Benachteiligungen.
Wir haben uns in diesem
Heft mit den angedeuteten
Themen und vielen anderen
beschäftigt. Im Namen der
Redaktion wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.
Ihre Brigitte Hempel
2016 • Ausblick
Foto © wikimedia.org
Foto © bmfsfj.de + Foto © wikimedia.org
Liebe Leserinnen und Leser,
Eine Frage der Gerechtigkeit und des Mitgefühls
3
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016

Ü berblick
An einer
Mit hoher Geschwindigkeit
Begegnung in Täbris
Editorial ...................................................... 3
An einer Kreuzung in Florida
Koch in Maidiguru, Nigeria
Überblick ................................................... 4
Damals.................................................................. 17
Mein früher Berufswunsch
Lebensmomente .......................................... 5
Durchblick................................................ 19
Ein Projekt der Leidenschaft................................. 5
Gastfreundschaft.................................................... 6
Mythos Mutter..................................................... 19
Sind Frauen, die Karriere machen, Rabenmütter?
Reiseeindrücke aus dem Nordiran
Die Idee der Gleichwertigkeit............................. 20
Mein Garten .......................................................... 8
Das Streben nach Leben, Freiheit und Glück
Gleichberechtigtes Miteinander von Mensch & Natur
Immer diese Hormone......................................... 21
Schönheit ............................................................... 8
Kleine Schwester - große Behörde....................... 9
Von Rechten und Werten
Wie Dreistigkeit nach Willkür Spaß machen kann.
Ein anderer Lebensstil
Familienrecht........................................................ 22
Der zweite Blick.................................................... 10
Gleichberechtigung und Behinderung
Einblick ..................................................... 24
Augenhöhe........................................................... 11
Werft den Weiberrock über Bord....................... 24
Ungleichstellung in der persönlichen Anrede
Hoppla, was bedeutet das?..................................... 12
In Tschechien sind Männer mehr wert..................... 12
Sprüche aus der Segelschifffahrt
Chancengleichheit................................................ 26
Karbon-Prothese gegen gesunde Unterschenkel und Füße
Die ganze Wahrheit............................................. 27
Rückblick ................................................. 13
Eines Tages im Garten Eden
Männer und Frauen sind gleichberechtigt......... 13
Mensch und Maschine ........................................ 28
Vier Frauen auf dem Weg zum Heute
Lise Meitner - Herrin der Strahlen........................... 13
Ein besonderes Verhältnis
Es ist ein Mädchen! Oder:................................... 15
Der Wunsch nach einem Sohn ist der Vater vieler Töchter
Rezensionen.............................................. 29
Mal mit ERNST (Männer, emanzipiert euch!) ..... 30
Frauenbewegt...................................................... 16
Ausblick  Verteiler  Impressum........... 31
Emanzipation in drei Zwanzigjahresschritten
Kennen Sie ... das Haus in der Wallstraße 3 ....... 32
Filmposter © kino.de
Kennen Sie ...?
London 1912, Suffragettenbewegung „Taten statt Worte“
4
...das Haus in der Wallstraße 3?
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
L ebensmomente
Ein Projekt der Leidenschaft
P eter W ilke
Foto: www.foto-behns.de
Die Lüneburger Bürgerstiftung würdigt jährlich schwerpunktmäßig die Generationenverbundenheit in der Stadt.
Am 1. Juni 2016 lud die Stiftung in den Huldigungssaal des Rathauses ein. Elke Frost, Vorsitzende der Lüneburger
Bürgerstiftung, freute sich: „Es gibt so viele Menschen, die so gute Arbeit machen, um die Idee des Miteinanders
und der Generationenverbundenheit zu verwirklichen – einfach umwerfend.“ – Dazu zählten auch unsere älteren
Redaktionsmitglieder mit der Kooperation: Schülerinnen und Schüler der Berufsbildende Schulen I, Klasse HB15B,
die Artikel für die Zeitschrift „AUSBLICK Nr. 104“ über das das Thema „Leidenschaft“ schrieben.
Die Klasse
1. Reihe von links: Lisa-Jacobina Schiemionek, Melissa Hutflesz, Samantha Rezlaw, Carina Weiber,
Janine Hämmerling, Alina Suntic;
2. Reihe von links: Dana Franke, Julia Jung, Erik Kool, Henrik Lütjens, Fynn Schafstall, Björn Schütte;
3. Reihe von links: Michelle Hirsch, Dana Felicitas Burmeister, Rebecca Meyer, Jennifer Behse,
Klassenlehrerin Harriet Hofmann;
4. Reihe von links: Klassenlehrer Daniel Hartmann, Felix Blank, Sascha Fülscher, Maksym Dziwisch.
2016 • Ausblick
5
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016

L ebensmomente
Gastfreundschaft
Reiseeindrücke aus dem Nordiran
Reinhild Zenz
Foto © Reinhild Zenz
„Willkommen in unserem Land!“, scholl es unserer
kleinen Reisegruppe immer wieder auf den Straßen
von Täbris aus dem Mund vieler Menschen entgegen,
die uns anlächelten und sich nach unserem Heimatland
erkundigten.
Stephanuskloster
Foto © Reinhild Zenz
zurück. Im Gegensatz zu vielen anderen – völlig verfallenen oder absichtlich zerstörten Klöstern – wurden sie
in den letzten Jahren restauriert und sind heute Museen. Der armenische Bischof darf dort Gottesdienst feiern, zu dem nur Christen (mit Vermerk im Pass) Einlass
erhalten. Zurzeit baut man im Zentrum von Täbris eine
Moschee für 38.000 Schiiten.
Begegnung in Täbris
In Täbris, der Hauptstadt der Provinz Ost- Azerbeijan,
spricht man Aseri, eine Turksprache. Diese wird aber in
der Schule nicht gelehrt, obwohl alle Menschen sie hier
sprechen, sogar die Prediger in den Moscheen. Denn sie
ist eine Sprache einer Minderheit. Das bedeutet, dass
die Kinder ab der ersten Klasse Farsi (Persisch) und anschließend Arabisch als die Sprache des Korans lernen
müssen.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Bevölkerung der
Region überwiegend christlich, doch heute verbergen
die wenigen Verbliebenen vorsorglich ihre Religionszugehörigkeit.
Mut zur Individualität
Drei Studentinnen, die wir in dem landeskundlichen
Museum trafen, sprachen uns auf Englisch an, weil
sie testen wollten, ob wir sie als Europäer verstehen
könnten. Denn das begehrte Fremdsprachenstudium
verlaufe nur auf Persisch. Gerne kämen sie für einige
Zeit nach Deutschland, doch das sei für sie „much too
Ehemalige Klöster sind steinerne Zeugen des armenischen Christentums, so das einsam gelegene Thaddäuskloster, das jetzt von Kurden betreut wird, und das
Stephanuskloster, beliebtes Ausflugsziel aller Bevölkerungsgruppen .. Beide gehen auf das vierte Jahrhundert
6
Foto © Reinhild Zenz
Steinerne Zeugen
Sprachstudentinnen
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016

Kindergarten und Grundschule
Foto © Reinhild Zenz
Im Steinzeit-Museum, wo uns eine kompetente Archäologin in korrekter schwarzer Tracht führte, begegneten
wir Mädchenklassen im Kindergarten- und Grundschulalter, die bereits züchtig schwarz uniformiert waren. Ab
dem Alter von neun Jahren müssen alle Mädchen Kopftuch tragen, sehr viele tun es schon viel früher. Für die
ganz Kleinen sind pinkfarbene Kopftücher beliebt.
Mädchenklasse
Freizeit und Entspannung
Ausblick
L ebensmomente
jüngere Paare zeigen sich gemeinsam. Die Sittenploizisten sind allgegenwärtig. Nicht wenige von ihnen
missachten jedoch selbst die Vorschriften, indem sie
z.B. unpassende Sandalen zur Uniform tragen.
Ungewöhnliches Erlebnis
Zu unserem Erstaunen grüßten sie uns freundlich und
ließen sich mit den Männern unserer Gruppe fotografieren. Die Polizisten stammen oft aus Dörfern, wo sie
noch nie einen Europäer gesehen hatten. Sie hießen
uns herzlich willkommen.
Foto: © Reinhild Zenz
hard“. Man brauche ein Visum, viele unüberwindliche
Hürden stellten sich in den Weg. Die drei jungen Damen
bewiesen durch ihre Kleidung und durch ihr Auftreten
Mut zur Individualität: Ihre zwar schwarzen, den Haaransatz aber freilassenden Kopftücher enthüllten ihre
schönen, ausdrucksvoll geschminkten Gesichter.

Begrüßung im Park
A nzeige
In den großen Parks von Täbris, in denen zu Zeiten des Schahs Reza Pahlewi
Musikpavillons und künstliche Seen entstanden, flanieren in der Freizeit unzählige Menschen, denn außer in Teehäusern es gibt kaum Möglichkeiten, sich
zu entspannen. Discos sind ein Fremdwort; Gesang, Tanz und lautes Lachen
sind als „unislamisch“ verboten. Frauen
und Männer unterhalten sich in der Öffentlichkeit meist getrennt. Nur einige
2016 • Ausblick
7
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016

L ebensmomente
Mein Garten
Gleichberechtigtes Miteinander von Mensch und Natur
Ulrike C. Kannengießer
Foto © Ulrike C. Kannegießer
Ein paar Quadratmeter der riesigen Erdkugel gehören
meinem Mann und mir. Darauf steht ein kleines Haus,
ringsherum ist ein Garten mit viel Grün: Bäumen, Büschen, Blumen. Aber gehört dieses winzige Fleckchen
Erde wirklich uns?
im Keller oder unter dem Dach häuslich einzurichten.
Sehr viel größere Wildtiere erheben ebenfalls Besitzansprüche an unseren Garten: Die Rehe kommen aus
dem angrenzenden Wald an den reich gedeckten Tisch.
Im Winter verspeisen sie den üppig gewucherten Efeu
und im Sommer fressen sie gerne Rosenknospen und
Phlox. Zum Glück haben Wildschweine unseren Garten noch nicht entdeckt!
Wenn es Abend wird, verlassen Igel, Kröten und
Schnecken ihre Verstecke und gehen auf Nahrungssuche. Leider stehen Nacktschnecken auf keinem Speiseplan und so können sie ungehindert alles auffressen,
was ihnen schmeckt.
Und jetzt frage ich mich, wem gehört der Garten wirklich?
Wem gehört der Garten wirklich?
Bei den Pflanzen fängt es an: Eine große, alte Buche
wächst hier seit etwa hundert Jahren und beschert uns
Schatten im Sommer und Blätter im Herbst. Efeu und
Giersch wuchern um die Wette und nehmen anderen
Pflanzen den Lebensraum. Sie machen sich breit und
mir das Gärtnern schwer. Der Kirschbaum, den wir vor
ein paar Jahren gepflanzt haben, ist nicht glücklich in
seiner Umgebung. In seiner Nachbarschaft wächst zu
viel Gebüsch.
Der Garten wird auch von Tieren bewohnt, die hier
Nahrung und Unterschlupf finden: Für Vögel gibt es
Futter und Nistmöglichkeiten. Sie fühlen sich aber oft
durch die Anwesenheit von gärtnernden Menschen
oder streunenden Katzen aus der Nachbarschaft gestört. Dann schimpfen sie laut und fliegen aufgeregt
hin und her. Nicht gern gesehen ist der Maulwurf, der
unter dem Rasen seine Gänge pflügt und große Erdhaufen auftürmt. Mäuse und Marder sind ebenfalls
nicht willkommen, weil beide den Drang haben, sich
8
S chönheit
Christel Parlow
Zwei Menschen weiblichen Geschlechts
spazieren durch die Heide.
Die eine hinkt, die andre ächzt
und Falten haben beide.
Und trotz des Alters finden sie
sich beide wunderschön.
Das wird, das ist doch sonnenklar,
bis Hundert weitergehn.
Man sieht, es kommt nicht darauf an,
was Dir Dein Spiegel sagt,
entscheidend ist in jedem Fall,
dass Dich kein Zweifel plagt.
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
L ebensmomente
Kleine Schwester, grosse Behörde
Es war Dienstag, als sie mit ausgefülltem Antrag zum
Arbeitsamt ging. Sie hatte die Unterlagen dabei. Zuversichtlich über das bewilligte Übergangsgeld betrat sie
den Warteflur.
Die Sachbearbeiterin Abt. „P“ blätterte schweigend ihre
Papiere durch, hin und wieder unterbrochen von „hm“.
Klingt wie eine Zustimmung, dachte sie und schaute auf
den Kalender neben der Tür. Um den 8. Dezember 1981
war ein rotes Herz gemalt, daneben stand „Maria Geb.“.
Wahrscheinlich Geburtstag. Ein warmes Gefühl beflügelte
die Vorstellung, dass auch Behördenmitarbeiter nett sind,
ihre Arbeit gut machen und rechtzeitig ihre Büros verlassen wollen, um Geburtstage zu feiern. In wenigen Minuten würde sie an der Auszahlungskasse stehen, endlich
ihre offenen Rechnungen bezahlen können. Doch dann:
„Die Angelegenheit wird weiter bearbeitet – wir melden
uns.“ „Wie bitte? Aber mir wurde zugesagt, dass ich
heute …“ „Es fehlt der Auszahlungsschein für den Vorschuss“, unterbrach die Sachbearbeiterin, „den müssen
Sie noch beibringen.“ „Das wusste ich nicht. Ach bitte,
können Sie ihn nicht im Rahmen der Amtshilfe telefonisch
anfordern?“
Die Sachbearbeiterin musterte sie von oben bis unten:
„Das muss ich nicht. Es ist Ihre Aufgabe, den Schein vorzulegen.“ Ihr stockte der Atem bei dem Gedanken an
Miete, Strom, Telefon. „Aber ich habe keinen Pfennig
für die Rückfahrt. Das letzte Gehalt nach Konkurs meines Arbeitgebers liegt zwei Monate zurück. Meine Rücklage ist aufgebraucht. Ich habe keine neue Arbeit. Ohne
Auszahlungsschein gehe ich hier nicht weg. Oder würden
Sie das Bußgeld übernehmen, wenn ich beim Schwarzfahren erwischt werde?“ „Werden Sie nicht frech! Wenn
Sie hierher kommen, müssen Sie Geld dabei haben. Bitte
gehen Sie jetzt“, eiligst öffnete die Sachbearbeiterin die
Tür, „sonst rufe ich die Polizei.“
Polizei? Geschockt machte sie sich auf den Weg. Ihre Hände
waren eiskalt, als sie nach der stressigsten Bahnfahrt ihres
jungen Arbeitslebens im Sozialamt um den Auszahlungs2016 • Ausblick
schein bat. Doch
auch hier: „Den kann
ich Ihnen nicht aushändigen, die Akte
ist nicht auffindbar.“
Wir trafen uns zufällig – meine Schwester und ich. Sie war
erneut auf dem Weg
zum Sozialamt, ich
hatte im Park fotografiert.
Weinend Klärungsbedarf beim Amt
erzählte sie von ihrer
Situation und der Angst, wieder dort hingehen zu müssen. Nun sei ihre Akte verschwunden. Entsetzt bemerkte
ich, wie krank sie aussah. Mag sein, dass ihr Äußeres Vorurteile oder Neid ausgelöst hatten. Sie war jung, hübsch
mit langem Haar, trug am liebsten bunte Hippiekleider.
Möglicherweise sah man in ihr die Bittstellerin und nicht
die Antragstellerin mit gleicher Berechtigung auf Sozialhilfe, wie jeder andere auch. Ich begleitete sie zum Amt.
Während sie erneut um den ersehnten Auszahlungsschein
bat, hielt ich mich im Hintergrund.
„Ihre Akte hat sich angefunden, aber die Sachlage ist nicht
ganz klar. Tut mir leid.“„So?“, entgegnete mutig meine
Schwester, „und ich habe jemanden von der Presse dabei
zwecks Klärungsbedarfs.“
Ich stellte mich neben sie. Während ich am Fotoapparat
nestelte, nannte ich laut meinen Namen, dann den einer
Presseagentur.
„Einen Moment bitte!“, stotterte die Sachbearbeiterin
verschwand im Nebenzimmer und kam in Begleitung des
Abteilungsleiters zurück. Er grüßte freundlich und legte
meiner Schwester den Auszahlungsschein vor. Die Amtskasse würde ihr zusätzlich noch 50 DM Weihnachtsgeld
auszahlen.
Schweißperlen standen uns auf der Stirn, als wir das Amt
verließen. Im Cafe gegenüber mussten wir lachen – ich
habe nämlich nie bei der Presse gearbeitet.
9
Foto © Monika Sternhagen
Wie Dreistigkeit nach Willkür auch Spaß machen kann
Monika Sternhagen
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016
L ebensmomente

Der zweite Blick
Gleichberechtigung und Behinderungen
Miriam Katharina Kleck
somit auch mehr Gleichberechtigung. Es sollte öfter
ein „zweiter Blick“ entwickelt werden, um auch das
nicht Sichtbare zu bemerken.
Stephen Hawking im Gespräch mit Barack Obama
A nzeige
Kraft aufbauen - und die Gesundheit kommt zurück!
Menschen, die unter Beschwerden am Bewegungsapparat leiden, haben häufig zu schwach ausgeprägte Muskeln.
Besonders im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule ist das problematisch. Die Beschwerden wollen einfach nicht
weichen, manchmal über Jahre hinweg. Dagegen können Sie etwas tun – jetzt!
Mit einem medizinischen Trainingsprogramm an eigens dafür konstruierten Geräten, regelmäßig durchgeführt, baut
sich Ihre Muskulatur wieder auf und verändert sich nachhaltig. Bei REHA Lüneburg erhalten Sie eine individuelle Trainingsanalyse und einen ganz persönlichen Trainingsplan nach Ihren Fähigkeiten. Nutzen Sie diese Möglichkeit, für sich
und Ihren Körper aktiv zu sein! Denn für Gesundheit ist es nie zu spät!
10
Ausblick • 2016
Foto: © wikipedia/commons
Gleichberechtigung unter Behinderten ist ein großes
Thema, da es viele Behinderungen gibt, die individuelle Behandlungen und Hilfestellungen brauchen. Ich
habe die Erfahrung gemacht, dass Körperbehinderte
oft wohlwollender behandelt werden, als Menschen
mit psychischen Einschränkungen. Da diese Behinderung nicht sichtbar ist, wirft man ihnen oft böswilliges
Verhalten vor. Gehandikapte, welche nicht eindeutig
einer Gruppe zugeordnet werden können, vermissen
oft Rücksicht und Empathie. Ohne Rücksicht auf ihre
Intelligenz werden seelisch Behinderte schnell in praktische Beschäftigungsfelder wie Hauswirtschaft und
Werkstätten abgeschoben, obwohl sie motorisch und
körperlich oft nicht in der Lage dazu sind. Eine manuelle Beschäftigung ist dann nur Quälerei.
Die Gesellschaft neigt dazu, nur körperlich Behinderten entsprechende Unterstützung zu geben. Deshalb
wünsche ich mir mehr individuelle Behandlung und
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
L ebensmomente
Ungleichstellung in der persönlichen Anrede
Monika Sternhagen
Im Plural der persönlichen Ansprache sind Damen und Herren
auf Augenhöhe. Im Singular verschwindet plötzlich die Gleichstellung und die Höflichkeit wird zur Weiblichkeit. Denn niemand sagt: „Guten Tag, Dame Meier.“ Es sei denn, sie wurde
ritterlich geadelt und darf sich Dame Meier nennen.
In meiner bescheiden rebellischen Phase, vor vielen Jahren, machte ich die damalige Ministerin für Gleichstellung
in Berlin darauf aufmerksam, bekam aber keine Antwort.
Anfang d.J. erlaubte ich mir den gleichen Spaß an die Eu-
ropäische Kommission in Brüssel. Von dort wurde zumindest automatisch geantwortet.
Sinngemäß hieß es, dass im
Durchschnitt innerhalb von drei
Werktagen geantwortet würde. Bei sehr komplizierten bzw.
spezifischen Fragen könne die
Antwort etwas länger dauern.
– Das ist nun ein halbes Jahr
her und ich frage mich, ob frau
das ignorieren oder selbst korriegieren sollte.
A nzeige
Alle Hefte ab Nr. 60 online!
Liebe Leserinnen und Leser,
herzlichen Dank für Ihr Interesse auch an älteren Ausgaben! Daher haben
wir für Sie die Hefte Nr. 60 bis 105 zum Lesen und Herunterladen ins Netz
gestellt: http://ausblick-zeitschrift.de/archiv. Viel Freude beim Stöbern!
Ihre AUSBLICK-Redaktion
Fortsetzung
folgt ...
2016 • Ausblick
11
Screenshot: Monika Sternhagen
Augenhöhe
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016

L ebensmomente
In Tschechien ...
Hoppla, ...
... sind Männer mehr wert!
... was bedeutet das?
Brigitte Hempel
Peter Wilke
Als ich mein Einzelzimmer im Hotel in Telĉ betrete, werde ich an Boris Becker und sein Abenteuer „Besenkammer“ erinnert.
Es ist die typische Beschilderung einer Kreuzung in den USA.
An vielen Kreuzungen mit gleichberechtigten Straßen
gibt es vier Stopp-Schilder mit den zusätzlichen Hinweisschildern:
Foto © booking.com
Nun ist mir klar: „Single-Männer bekommen in Tschechien
die besseren Einzelzimmer zugeteilt“.
Hotel in Telĉ
„4 Way“ oder „All Way“.
Dort gilt, wer zuerst kommt, fährt zuerst nach einem Stopp. Anhalten
wird streng kontrolliert. Wenn die
Reihenfolge unklar ist, wird dies
freundlich durch Handzeichen
untereinander geregelt.
Foto © Peter Wilke
Anders ist dieser Abstellraum nicht zu bezeichnen. Vis-àvis zieht ein männlicher Mitreisender ein. Ich schaue mir
sein Zimmer an, es ist ein perfektes Einzelzimmer. In der
nächsten Stadt ebenfalls die gleiche Situation und die ungleiche Behandlung.
Handzeichen sind erforderlich
A nzeige
Wenn
„Jede eine Frau
r“
sagt:
„jede ,
mein
t
rman
sie
n.
Wenn
e
i
n
:„Jed
Mann
er
„jede “, mein sagt
t e
r Ma
nn“.
r:
Marie
Esche Freifrau vo
nbach
n
(1830 Ebner- 1916
)
12
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
R ückblick
männer und frauen sind gleichberechtigt
Vier Frauen auf dem Weg zum Heute
Maja Schwaak
Diesen Satz gäbe es nicht ohne das besondere Engagement von Dr. Elisabeth Selbert. Ihr ist zu verdanken,
dass er in das Grundgesetz aufgenommen wurde.
Jede der vier Frauen brachte viele Jahre beruflicher und
politischer Erfahrung mit. Elisabeth Selbert war die Einzige
im PR, für welche die Gleichberechtigung selbstverständlich zu den Menschenrechten gehörte. Mit dem Formulierungsantrag „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“
stieß sie auf heftigen Widerstand. Selbst ihre drei Mitstreiterinnen fürchteten, damit könne dem gesamten Familienrecht der Boden entzogen werden und Rechtschaos
wäre die Folge. Nachdem ihr Antrag mehrmals abgelehnt
wurde, mobilisierte Elisabeth Selbert die Öffentlichkeit.
Sie reiste wie ein Wanderprediger von Versammlung zu
Versammlung und erzählte den Frauen, was für eine
Art Ausnahmegesetz sie zu erwarten hätten. Frauen aus
Frauenverbänden, Gewerkschaften und Parteien und Arbeitnehmerinnen engagierten sich für die Festschreibung
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Waschkörbeweise kamen Protestschreiben gegen jegliche Formulierung, die vieldeutige Auslegungen zuließ.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland trat
am 23. Mai 1949 in Kraft. In Artikel 3 Absatz 2 Satz 1 der
neuen Verfassung steht seitdem kurz und klar: „Männer
und Frauen sind gleichberechtigt.“ Im entsprechenden
Protokoll heißt es dazu: „Artikel 3 Absatz 2 hat seine
jetzige Gestalt nach sehr ausführlichen und erregten Debatten gewonnen.“ Der Grundstein für die rechtliche
Gleichstellung der Frauen war gelegt, doch keinesfalls
die Frauenfrage gelöst.
2016 • Ausblick
Foto © bpb.de
Als sich am 1. September 1948 der Parlamentarische
Rat (PR) versammelte, um eine Verfassung zu konzipieren, beschäftigte die Frage der Gleichberechtigung weder
Politiker noch Bevölkerung. 65 Persönlichkeiten waren in
das Gremium nach Bonn berufen worden, darunter nur
vier Frauen. Es waren: Elisabeth Selbert, Friederike Nadig
(SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum).
Die vier Mütter
Erst 1957 konnte sich der Gesetzgeber zu einer Reform
des Bürgerlichen Gesetzbuches durchringen. Am 1. Juli
1958 trat das Gesetz über die Gleichberechtigung von
Mann und Frau in Kraft. Es hat das bürgerliche Recht an
den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau angenähert. So durfte die Frau
nunmehr ihren Mädchennamen als Namenszusatz führen,
die Ehegatten wurden einander gegenseitig zum Unterhalt verpflichtet, den Haushalt konnte die Frau in eigener
Verantwortung führen und hatte zugleich auch das Recht
zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Geschäftsfähigkeit
gestand man Frauen erst Anfang der 70er Jahre zu.
Das Bemühen um die Gleichstellung der Frau blieb ein
mühsamer Kampf; die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts vor allem im Berufsleben weiterhin ein heikler
Punkt. – Die Emanzipation kam voran – so sagte es einmal
Willy Brandt – „… wie eine Schnecke auf Glatteis.“
Quelle:
http://www.meinhard.privat.t-online.de/frauen/grundgesetz.html
13
Ausblick

Nr. 105 | 3.2016

R ückblick
Lise Meitner
„Herrin der Strahlen“
Maja Schwaak
Foto © wikimedia.org
Obwohl sie entscheidend zur physikalischen Erklärung
des Zerplatzens von Urankernen unter Neutronenbeschuss beigetragen hatte, ignorierten mehrere Nobelpreis-Komitees ihre Verdienste. Der aus Deutschland als
Jüdin in die Emigration getriebenen Physikerin widerfuhr damit doppeltes Unrecht.
Ruth Lewin Sime
Universität war einer Frau in Preußen erst ab 1909 erlaubt. Wissenschaftlich und beruflich waren Meitner
und Hahn einander ebenbürtig. Auch privat verstanden
sie sich gut, eine lebenslange Freundschaft verband sie.
Meitner entschied sich aber bewusst gegen eine Ehe,
sie hätte sich sonst nach der damaligen Gesetzgebung
dem Diktat ihres Ehemannes unterwerfen müssen.
Nach 1918 hatten beide eine Professur inne und waren Mitglieder des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie
in Berlin-Dahlem. (In der Weimarer Republik gab es inzwischen Gleichberechtigung.) Sie leiteten dort eigene
Abteilungen – er für Radiochemie, sie für Physik. Hahn
war von 1928 bis 1945 dessen Direktor. Die Jahre der
Weimarer Republik waren die glücklichsten Lise Meitners, sie hatte sich ganz und gar der Wissenschaft verschrieben.
Politische Wirren und Wissenschaft
Als Dozentin in Washington D.C.
Lise Meitner wurde am 7. November 1878 in Wien geboren. Sie studierte dort – damals für eine Frau höchst
ungewöhnlich – Physik und Mathematik. Um 1900
war die allgemeine Meinung, dass gerade diese beiden
Fachgebiete der Natur einer Frau widersprächen. Doch
ihr Lehrer (Ludwig Boltzmann) war von Lises Begabung
überzeugt und erlaubte das Studium. Als zweite Frau
überhaupt promovierte sie an der Wiener Universität.
Max Planck und Otto Hahn
Mit 28 Jahren ging sie – zunächst als Assistentin von
Max Planck – nach Berlin und bildete 1907 mit dem
fast gleichaltrigen Otto Hahn eine Arbeitsgruppe zur
Erforschung der Radioaktivität. In einem Holzschuppen richtete sie ihr erstes Labor ein, der Zugang zur
14
Alles änderte sich 1933 durch die Machtübernahme der
Nazis. Sie durfte nicht mehr lehren und musste nach Außen eine untergeordnete Stelle im Institut annehmen. Intern änderte sich nichts, sie forschte weiter gemeinsam
mit Otto Hahn, blieb seine engste Vertraute, gleichrangige und -berechtigte Mitarbeiterin. Ihre Forschungsergebnisse konnten nur noch von Hahn veröffentlicht werden,
da es Juden und Ausländern untersagt war, wissenschaftliche Arbeiten zu publizieren. Als österreichische
Staatsbürgerin und gebürtige Jüdin war sie nach dem
Anschluss Österreichs Reichsdeutsche und somit von den
Nürnberger Rassegesetzen betroffen.
Die Flucht
1938, nach 30-jähriger Forschung am Institut, wurde
Meitners Lage bedenklich. Sie musste fliehen und gelangte über Holland nach Schweden, wo sie eine bescheidene Anstellung am Nobel-Institut fand. Sie blieb
in regem Briefkontakt mit Hahn und trug maßgeblich
zum Gelingen der Kernspaltung bei. Gemeinsam mit ihAusblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
R ückblick
Es ist ein Mädchen!
Oder: Der Wunsch nach einem Sohn ist der Vater
vieler Töchter
Ulrike C. Kannengießer
Im Nachhinein ...
Manche Historiker unterstellen Hahn, dass er Meitners
Verdienste verschwieg, um die Ehre für sich allein zu beanspruchen. Aber ihm waren von 1933-1945 die Hände
gebunden. Viele seiner Mitarbeiter waren Parteimitglieder (er nicht) und warteten nur auf Fehler, um ihn zu
denunzieren. Hahn weigerte sich, Gastvorlesungen zu
halten über Forschungen, die er mit Meitner gemeinsam
betrieben hat. Vielen seiner Mitarbeiter hat Hahn die
Flucht ermöglicht.
Ich persönlich glaube nach eingehender biografischer
Lektüre, dass ihm Unrecht geschieht, wenn man unterstellt, er habe Meitners Ergebnisse für sich allein beansprucht. Er schlug sie bereits vor 1933 mehrfach als
Kandidatin für den Nobelpreis vor. Vielmehr bin ich der
Meinung, das schwedische Nobelpreiskomitee hatte die
wissenschaftlichen Hintergründe ihrer Forschung nicht
verstanden. Außerdem gab es ab 1933 keine Veröffentlichungen mehr von ihr und so wurde angenommen,
Otto Hahn sei der führende Wissenschaftler auf diesem
Gebiet. In der Zeit des Dritten Reiches war Zivilcourage mit Lebensgefahr verbunden. Lise Meitner hat ihm
jedenfalls keine dahingehenden Vorwürfe gemacht.
Sie blieb bis zu ihrem Tod 1968 in Cambridge mit ihm
freundschaftlich verbunden.
Quellen:
1. Thea Dorado „Lise Meitner – Herrin der Strahlen“,
München 2011
2. https://www.dhm.de/lemo/biografie/lise-meitner
2016 • Ausblick
Für meinen Vater und seinen Vater gab es eine unumstößliche Wahrheit: Eine Familie setzt sich durch
Söhne fort.
Deshalb war es in ihrer Vorstellung sehr erstrebenwert,
männlichen Nachwuchs zu zeugen. Leider machte die
Natur meinem Vater einen Strich durch die Rechnung:
Er hatte vier Töchter und einen Sohn.
Als meine Schwester und ich noch kleine Mädchen waren, sagte er einmal, dass man im alten China die Töchter verkauft hätte. Ich nahm das ernst, bat ihn aber, uns
bitte nicht auf dem „Schwarzen Markt“ zu verkaufen.
Nach der Geburt des dritten Mädchens gratulierte mein
Großvater meiner Mutter, stichelte allerdings: „Da es
wieder nur ein Mädchen ist, wird sich der Herr Assessor
wohl noch mal bemühen müssen.“
Das Ergebnis dieser Bemühungen war eine vierte Tochter. Zum Glück hatte sich zwischendurch auch ein Sohn
eingeschlichen.
Foto © Ulrike C. Kannengießer
rem Neffen Otto Robert Frisch lieferte sie die erste theoretische und mathematische Deutung der Kernspaltung. Otto Hahn bekam alleine den Nobelpreis 1945
für 1944 in Chemie, obwohl Lise ebenbürtig an der
Forschung mitgewirkt hatte.
Die Kannengießer-Familie
15
Ausblick

Nr. 105 | 3.2016

R ückblick
Frauenbewegt
Emanzipation in drei Zwanzigjahresschritten
Ingrid Venhuis
Als Fünfzehnjährige schrieb ich in der Mädchenklasse
meiner Realschule einen Aufsatz zum Thema: Wie stelle
ich mir eine echte und wirkliche Frau vor? Meine Gliederungspunkte hießen: Lieben, Dienen, Helfen, Opfern. Im
Text finden sich Redewendungen und Sätze wie: „... das
zarte, weiche, echt frauliche Wesen der Frau ... wie es ihrer Art entspricht ... ihre Ureigenschaften ... hausfrauliche
Eigenschaften ... bescheiden und untertan sein ... es gibt
eine Urbestimmung in ihr ... wahrhaft fraulich ... die Frau
ist der Diener der Mannes ...“
All das ist seit 1975 schriftlich überliefert, sonst würde ich
es selbst nicht glauben. Der Aufsatz liest sich heute wie
eine Satire. Aber damals habe ich jedes Wort geglaubt.
Aufgewachsen im katholischen Münsterland gingen wir
Mädchen vor der Schule in die Kirche, kontrolliert von den
Lehrkräften. Wir trugen winters wie sommers lange Hosen
nur mit Röcken darüber. Der Pausenhof trennte Mädchen
von Jungen. Wer sich oft in der Nähe des Zaunes aufhielt,
wurde zu mehr Sittsamkeit ermahnt.
Frauenbewegt
Suffragetten, Emanzen, Feministinnen – der steinige Weg
der Frauen, mit Männern ein gleichberechtigtes Leben zu
führen, ist uralt. Er wurde wurde belächelt, verspottet,
abgewertet und bekämpft. Erst die Anti-Baby-Pille veränderte in den frühen 1960ern das Verhalten von Frauen
weltweit und das nicht nur sexuell. Die Pille war der revolutionäre Schritt zur Befreiung von Frauen.
Es ist viel erreicht worden, seit meinem Aufsatz, z.B. das
Wahlrecht, das Recht auf finanzielle Eigenständigkeit, auf
gleiche Arbeit, auf gleichen Zugang zur Bildung, freie Berufswahl und Aufstiegschancen, Strafverfolgung bei sexueller Gewalt, Gleichstellung des Mannes in Haushalt und
in der Kindererziehung, Scheidungsrecht u.v.m.
16
Foto © filmposter.de
Die Frau sei dem Manne untertan
Auf steinigem Weg
Dennoch halten sich überliefertes Rollenverhalten, Bevormundung von Männern über Frauen und religiöser Fanatismus immer noch hartnäckig insbesondere in nicht demokratischen Nationen.
Veränderungen für beide Geschlechter
Die Geschlechterrollen verändern sich aber auch zum
Vorteil für Männer, die verstanden haben, dass Gleichstellung oder Emanzipation auch mit ihnen zu tun hat. Sie
erkennen die berufliche Entlastung, nicht mehr nur Alleinversorger oder das starke Familienoberhaupt sein zu
müssen. Ihnen bieten sich Möglichkeiten, ihren Kindern
auch „Tagesvater“ zu sein, etwas, wovon ihre Väter nicht
einmal geträumt hätten. Vorbei sind die Zeiten, dass Männer als „Milchsemmel“ verschrien wurden, wenn sie den
Kinderwagen schoben, auf Spielplätzen mit ihren Kindern
spielten, den Hausflur fegten oder sich schämten, wenn
die Nachbarn erfuhren, dass ihre Frauen in hochbezahlten
Jobs „das Geld nach Hause brächten“.
Mir geht das Herz auf, wenn ich heute partnerschaftlich
geführte Ehen und Familien erlebe. Dann erinnere ich
mich, dass ich mich in den 60er und 70er Jahren mit meinem Ehemann nicht ganz vergebens für die Gleichberechtigung engagiert habe.
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
R ückblick
Damals
Mein früher Berufswunsch
Marlis Schömburg
Eine ganz andere Erinnerung betrifft meine vierjährige Volksschulzeit. Wie alt ich genau war, weiß ich
nicht mehr, aber lesen konnte ich schon. Ich war leider viel krank, musste mit geschwollenen Gelenken
wochenlang im Bett liegen und etliche Medikamente
schlucken. Die Namen lernte ich auswendig und hatte
damals schon den Wunsch, die Tabletten eines Tages
zu untersuchen und vielleicht auch zu verbessern, damit man schneller gesund werden könne. Meine Eltern
ver-standen meinen Wunsch und schickten mich in
die „Staatliche Wilhelm-Raabe-Schule zu Lüneburg“
– Oberschule für Mädchen, hauswirtschaftliche und
sprachliche Form – wo mein Vater zu der Zeit noch
Schulgeld bezahlen musste.
Es war wie für mich gemacht, in einen gymnasialen
Zweig zu kommen, in dem das erste Mal überhaupt
schon ab der 7. Klasse Latein als 2. Fremdsprache gelehrt wurde. Davor mussten Mädchen mit dem Lateinunterricht bis zur 9. Klasse warten. Nicht nur meine
Klassenkameradinnen, sondern alle, denen ich von
meinen Zukunftsplänen erzählte, waren sehr verwundert, dass ich schon so früh in meinem Leben eine
genaue Vorstellung von meiner späteren Arbeit hatte, überhaupt: dass ich arbeiten wollte. Mein Berufswunsch war Chemielaborantin.
Foto © Ulrike C. Kannengießer
Vor mir liegt die „Jubiläumsausgabe 90 Jahre Bund der
Ehemaligen der Wilhelm-Raabe-Schule zu Lüneburg“
und erinnert mich an meine Schulzeit. Was hat sich
seitdem alles verändert! Als ich die Wilhelm-RaabeSchule besuchte, gab es nur Schülerinnen und heute
strömen morgens nicht nur junge Mädchen, sondern
auch Jungen in das schöne, alte Gebäude in der Feldstraße.
Imposant: die Wilhelm Raabe Schule
Als ich nach einer 3½-jährigen Ausbildung einen Arbeitsvertrag erhielt, war es allgemein Usus, dass Frauen weniger verdienten als Männer. Man musste dankbar sein, als Frau angestellt zu werden.
Ich wollte wissen, wie es heute für junge Leute aussieht. Auf meine Frage bei der Industrie- und Handelskammer, welche Tarife für Frauen und Männer in meinem Berufszweig vorgeschrieben seien, erhielt ich die
gute Auskunft, dass der Gesetzgeber für beide Gruppen gleiche Entlohnung festgelegt habe, aber was die
Arbeitgeber tatsächlich zahlen, sei ein besonderes Kapitel im positiven wie im negativen Sinn.
Noch heute kenne ich Menschen, die nicht verstehen
können, dass sich eine Frau für Chemie begeistert, das
sei doch etwas für Männer!
2016 • Ausblick
17
Ausblick

Nr. 105 | 3.2016

I ntermezzo
Idealistisch:
„Liberté Fraternité Egalité“
Brigitte Abraham
Was in Frankreich einst begonnen
ward schon bald im Schmutz zerronnen.
Friedrich Schiller hebt es wieder:
Alle Menschen werden Brüder.
In der „Ode an die Freude“.
Das ist Utopie bis heute.
Freiheit schon – doch nur im Denken.
Brüderlich – wer will schon schenken?
Dabei könnten Überfüllen
allen Weltenhunger stillen.
Gleichheit, gleichberechtigt sein
ist oft nur ein schöner Schein.
Denken wir an Männer – Frauen:
Machtgefüge – sich nicht trauen.
Denken wir an Arme – Reiche,
Geld und Macht, es ist das Gleiche:
Ist man ein Privatpatient,
teuer auch das Medikament.
Und Termine gibt es gleich,
denn man ist ja schließlich reich.
Arme warten oft viel länger
und das Herz schlägt bang und bänger.
Gibt es mal ‚ne höh‘re Löhnung,
(in Prozenten ist die Krönung)
ist‘s sehr viel bei bessren Posten.
Doch „Harzvierer“ sind Verlierer,
müssen weiter Armut kosten.
Denn was sind vier Euro schon
bei dem niedrig-kleinen Lohn?
Foto © de.wikipedia.de
Und so kommen wir zum Schluss,
dass sich vieles ändern muss.
Gleiches Recht sei allemal
uns ein nahes Ideal!
Rathaus von Vannes, Frankreich
18
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016

Ausblick
D urchblick
M ythos M utter
Sind Frauen, die Karriere machen, Rabenmütter?
Brigitte Hempel
Fotomontage © Peter Wilke
Berufstätige Mütter sind nichts Neues. Wie sieht aber
die Akzeptanz in der Bevölkerung aus? Der Vorwurf
„Rabenmutter“ ist in Deutschland oft zu hören. Nicht
selten sind Männer in gehobenen Positionen der Meinung, es sei nicht realisierbar, ihre Karriere mit einer
50:50 Kinderbetreuung zu vereinbaren.
Vorurteile
Vorurteile gibt es mehr oder weniger in allen Schichten
der Gesellschaft. So finden sich nicht wenige Frauen,
nachdem sie Mutter wurden, in der klassischen Rollenverteilung wieder. Unser gesellschaftliches Klima wird noch
stark von der Rollenerwartung früherer Zeit dominiert.
Manch Vater, der wochentags seine Kinder auf Spielplätze
begleitet, dürfte ein Lied davon singen können.
Gleichgestellt?
Die Benachteiligung von berufstätigen Frauen in Deutschland ist eine nicht zu leugnende Tatsache. Sie verdienen
bei gleicher Qualifikation weniger Geld und ihre Aufstiegschancen sind denen der Männer nicht gleichgestellt.
Wenn Mütter Karriere anstreben oder im Beruf voll anerkannt sind, erleben sie den Druck der Gesellschaft. Da
bleiben Schuldgefühle nicht aus.
Rabenmutter auf dem Flug zur Krippe
Eine Realität
Kürzlich kam ich mit einer jungen Frau über dieses Thema
ins Gespräch. Sie berichtete mir, dass in ihrem Beruf als
Lebensmittelchemikerin überwiegend Frauen tätig seien.
Lachend fügte sie hinzu: „Die Spitzenpositionen besetzen
Männer!“
Sie hatte noch ein anderes Beispiel: Ihr Schwager wollte
sechs Monate in Elternzeit gehen. Das wurde bei Beiersdorf gar nicht gern gesehen. Er nahm nur drei Monate in
Anspruch ...
Liebe versus Gleichheit?
Dabei lieben sie ihre Kinder nicht
weniger als Mütter, die Teilzeit oder
gar nicht berufstätig sind. Ein kurzes, aber intensives Miteinander
kann eine Mutter-Kind-Beziehung
sogar befördern und Zufriedenheit
verstärken. Frauen und Männern
sollte es gleichermaßen möglich
sein, Beruf und Kinder miteinander
zu verbinden und zwar ohne, dass
ihnen Nachteile entstehen.
2016 • Ausblick
A nzeige
19
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016
D urchblick
Die Idee der Gleichwertigkeit
Das Streben nach Leben, Freiheit und Glück
Peter Friedrich
Die Familienrechtsordnungen unseres Kulturkreises sind
ursprünglich patriarchal: Der Mann behielt lange Zeit
traditionelle Schutz-, Entscheidungs-und Verwaltungsrechte. Diese Geschlechterordnung war am stärksten
in Tradition und Leben verwurzelt. Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau wird vorangetrieben
durch die steigende Funktionalisierung in der modernen Gesellschaft. Zunehmende Isolierung der Kleinfamilie (Ehepaar und Kind) ist die Folge davon, sowie ein
gegenwärtiges labiles Gleichgewicht im beteiligten Personenkreis.
Entscheidend dafür war die Verabschiedung des Grundgesetzes 1948. Der Letztentscheid des Mannes wird
aufgehoben, in Zukunft bestimmen Mann und Frau gemeinschaftlich die Geschicke in der Familie. Gleichberechtigung wird als Gleichwertigkeit verstanden.
Das Christentum nahm den Gedanken der Stoa auf, begründete ihn aber mit dem Verhältnis der Menschen
zu Gott. Vor ihm sind, obwohl geschaffen nach Gottes
Ebenbild, alle Menschen Sünder, aber in Jesus Christus
zur Gotteskindschaft berufen. In Galater 3,17-28 wird
A nzeige
Stoa von Attalos in Athen: Hier trafen sich die Athener
diese Gleichheit proklamiert. Dies hebt aber die realen
Ungleichheiten nicht auf. Die Unterschiede sind nur
zeitbedingt, begründen keine Ungleichheit vor Gott.
In der Reformation mündete die Idee der Gleichheit
ausschließlich in die Lehre vom allgemeinen Priestertum. Die protestantische Polemik richtete sich vor allem
gegen kirchliche Hierarchie und Mönchtum. Die Reformatoren haben aus der Gleichheit vor Gott keine Umgestaltung der politisch-sozialen Ordnung abgeleitet.
Das geschah erst in der Neuzeit, vor
allem während der Aufklärung.
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es,
dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unabdingbaren
Rechten ausgestattet sind, dass
dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.
Quelle: Evangelisches Staatslexikon,
Stuttgart 1975, 2. Aufl. S. 895-902
20
Ausblick • 2016
Foto © Tourismus Media, expedia.com
Die Idee der Gleichheit aller Menschen wurde bereits
um 300 v. Chr. von der Stoa formuliert, aufgrund der
Teilhabe an der weltdurchwaltenden Vernunft.
Nr. 105 | 3.2016

Ausblick
D urchblick
Immer diese Hormone?
Von Rechten und Werten
Beate-M. Dapper
„Gleichberechtigung und deren Auslegung hat in den
letzten über hundert Jahren einiges an Schindluder mit
uns getrieben“, sagte das Testosteron, und das Östrogen
antwortete gefühlvoll: „Ja, denn zur GleichbeRECHTigung
gehört auch eine neue Sichtweise von WERTigkeit (siehe
auch den Beitrag links von Peter Friedrich).
Till zum Beispiel ist gerade mitten in der Pubertät. Mit geschwollener Brust macht er sein Territorium klar und beeindruckt durch aufkeimendes selbstbewusstes Verhalten. Sein
Problem? Die weiblichen Vertreter seiner Generation pfeifen
auf das alleinige Vorrecht von Hormonen und machen sich
die kämpferischen epigenetischen Aspekte ihrer Vorfahr/
innen zunutze, die sie durch Erfahrung in ihren Genen weitergegeben haben. – Otto hingegen ist seit sechs Wochen
Rentner und versucht mit aller Macht, seine nun wichtige
Stellung zu Hause abzustecken. Nicht mehr so euphorisch wie
Till, aber genauso verbissen. Und das hat folgenden Grund:
Bei dem einen kommt’s, bei dem anderen geht’s, das Testosteron. Wer viel davon hat, kann besser abstrakt denken, hat
eine fantastische räumliche Vorstellungskraft und findet in
Suchbildern schneller das gewünschte Objekt – aber nicht
die Butter im Kühlschrank, die richtigen Worte in emotiona-
A nzeige
2016 • Ausblick
len Angelegenheiten und auch wenig Zusammenhang in
vielfältig wahrnehmbaren Lebenssituationen. Dafür sorgen
nämlich die weiblichen Hormone, zum Beispiel das Östrogen.
Allerdings hat Ottos Frau mittlerweile nicht mehr so viel davon,
dafür jedoch einen höheren Testosteronwert.
Aber unsere Persönlichkeit hängt ja nicht nur von Hormonen
ab, sondern auch von den Genen und Lebenseinflüssen.
Otto zum Beispiel – gezeichnet von sinkenden Testosteronwerten – appelliert an seine Gene und seine Erfahrungen,
bäumt sich noch einmal auf und verkündet: „Ich werde
jetzt als ehemaliger Abteilungsleiter Form und Struktur in
die Haushaltsorganisation meiner Frau bringen.“ Und seine
Frau vertraut der besten Freundin an: „Seit sechs Wochen ist
Otto in Rente, und ich hätte nie gedacht, dass ich nach 45
glücklichen Ehejahren einmal an Scheidung denken würde.“
Otto gleicht intuitiv sein sinkendes Männlichkeitshormon
aus, indem er sich dem Stress des Fitnesscenters aussetzt,
so seinen Kortisolwert erhöht und sich das Gefühl von
„Mut und Stärke“ antrainiert. Die Stimmung steigt, weil
sich gleichzeitig Botenstoffe wie Serotonin und Dopamin
einstellen. Mit vorletzter Kraft verausgabt er sich und erhält dafür das Gefühl, belohnt zu werden. Doch als er mit
peinlicher Genauigkeit und stundenlang das Geschirr abwäscht, weil die Maschine es nicht gut genug macht; als er
Tischdecken abschaffen will, weil sie zusätzliche
Arbeit bedeuten; und als er beginnt, die Kaffees
zu zählen, die seine Frau mit ihrer Freundin trinkt,
hat diese genug und regt eine Neuordnung unter
veränderten Bedingungen an. – Und bis beide
erkennen, dass ihr Hormonhaushalt eine ganz
natürliche Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit vorgenommen hat, lässt sie ihn zunächst
noch stundenlang abwaschen und geht in dieser
Zeit mit ihrer Freundin Kaffee trinken.
Und was Till und alle weiteren Generationen
angeht, empfiehlt es sich, Wertungen wie „gut“
oder „schlecht“ durch „funktioniert“ oder „funktioniert nicht“ zu ersetzen, weil der wahre Sinn
von scheinbaren Gegensätzen das gleichwertige
und gemeinschaftliche Zusammenspiel ist.
21
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016
D urchblick
Familienrecht
Ein anderer Lebensstil
Gabriele Bianchii
Das war 1980. Frauenemanzipation und Gleichberechtigung waren in Europa ein allgegenwärtiges
Thema. Vorsichtig und möglichst diskret begann ich,
mich über Frauenrechte in den unterschiedlichen Religionen und Kulturen zu informieren. Meine Informationen bekam ich durch Gespräche, Fragen und Erlebnisse und hatten keine Allgemeingültigkeit, sondern
bezogen sich auf Familien oder Gruppen in unserem
Umfeld. So erfuhr ich, dass ein islamischer Mann sich
nur eine nächste Frau nehmen darf, wenn er in der
Lage ist, seiner ersten Frau den gewohnten Lebensstandard zu erhalten. Diese Regel führt sich fort bis
zur vierten Frau. Das sei in mehreren Kulturen so. In
vielen Familien soll es die Absprache geben, dass die
Frauen ihre Rollen umschichtig einnehmen. Diejenige,
die mit dem Mann das Bett teilt, hat auch das Sagen
bei der aufwendigen Zubereitung der Speisen. Eine
andere Frau kümmert sich in erster Linie um die Kinder. Wäschepflege, Putz- Garten- oder Feldarbeit werden ebenfalls aufgeteilt. Ich hörte, dass in guten Gemeinschaften ein wöchentlicher Wechsel stattfindet.
Zweifellos ist dies für uns ein befremdliches System.
Ich glaube aber, mit Ablehnung und negativer Kritik
sollten wir vorsichtig sein. Gerne erinnere ich mich an
die offene, lustige und freundschaftliche Atmosphäre, die ich mit afrikanischen, syrischen, libanesischen
und palästinensischen Frauen in deren Küchen erlebt
habe. Übers Kochen, Würzen und Einkaufen habe ich
dort viel gelernt. Wir hatten viel Spaß bei der Zubereitung der Speisen für die Männer, die natürlich unter
22
Foto © filmposter.de
Die zweite Frau unseres Kochs lebte nur kurze Zeit mit
auf unserem Grundstück in Maiduguri / Nigeria. Hochschwanger verließ sie ihre hiesige kleine Familie, um
in ihr Dorf zu ihrer Herkunftsfamilie zurückzukehren.
Oder wurde sie verstoßen? Ich fragte, was mit dem
Baby werden würde. Erstaunt über diese Frage antwortete unser Koch: „Selbstverständlich darf die Mutter eine Tochter behalten, ein Sohn kommt zu mir und
meiner ersten Frau.“
Koch in Maidiguru, Nigeria
sich im Wohnraum blieben. Wir Frauen gönnten uns
nach dem leckeren Essen heimlich einen Arrak. Die Flasche war in der unteren Herdschublade versteckt – ein
Tabubereich für die Männer. Die Kinder spielten derweil
im Hof, Garten oder Kinderzimmer und wurden von
den größeren Geschwistern beaufsichtigt. Bei Fragen
oder Streitereien liefen sie entweder zur Mama in die
Küche oder zum Papa in seiner Männerrunde.
Nicht alle afrikanischen oder arabischen Frauen beneiden uns Europäerinnen. Die hohe Arbeitsbelastung und
die große Verantwortung, die unsere Freiheit mit sich
bringt, verstört so manche Frau aus anderen Kulturkreisen. Wir werden oft als einsame Einzelkämpferinnen
angesehen. Dem konnte ich wenig entgegen setzen.
Begriffe wie „ Grüne Witwe“ für die am Stadtrand Lebenden und „Nur Hausfrau“ für nicht Erwerbstätige
sind wenig schmeichelhaft. Über häusliche Gewalt und
Alkoholexzesse in unserer Kultur und den damit verbundenen Leiden der Frauen haben wir nie gesprochen.
Ich glaube, Gleichberechtigung kann es auf dieser Welt
nicht geben. Mehr Respekt, Anerkennung und Achtung
und weniger Angst vor dem Anderen, dem Fremden,
wären für mich ein großer und wünschenswerter Fortschritt.
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
W erbung
Ein neues SaLü-Kursbecken mehr Angebote im Wasser
A nzeige
Im August 2016 startete die neue Kursstaffel mit vielfältigen Angeboten für
Aqua-Fitness im SaLü-Salztherme Lüneburg. Dafür steht auch das im Frühsommer eröffnete neue Kursbecken zur
Verfügung. Mit einer Wasserfläche von
etwa 100 m2, einer zunehmenden Wassertiefe von 0,90 bis 1,35 Metern und
einer Temperatur von ca. 32 °C bietet
es optimale Bedingungen für FitnessKurse im Wasser.
Große Glasflächen nach draußen, zum
benachbarten Bewegungsbecken und
zur angrenzenden SaLü-Badewelt
tauchen den Innenraum des Kursbeckenneubaus in helles Licht. Sichtachsen zwischen den Gebäudeelementen
vermitteln Weite und Verbundenheit.
Das neue Becken ist sowohl über einen
separaten Umkleidebereich als auch die
SaLü-Badewelt zu erreichen.
Wer außer Fitness auch Erholung sucht,
kann sich unter anderem in der Kleinen
Sauna entspannen. Das vierteljährlich
wechselnde Aufgussprogramm orientiert sich an den vier Elementen Feuer,
Wasser, Luft und Erde und lädt zu kleinen Entspannungsritualen, Duft- und
Geschmacksüberraschungen ein.
Informationen zu allen Angeboten und
Terminen gibt es unter:
www.salue.info
2016 • Ausblick
23
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016

E inblick
Werft den Weiberrock über Bord
Sprüche aus der Segelschifffahrt
Peter Wilke
Diese und ähnliche Sprüche waren zur Zeit der Segelschifffahrt gang und gäbe.
Aus aller Welt kommen Schiffe nach Hamburg. An Bord
arbeiten Männer und Frauen. Das ist auch das Verdienst
der Pionierin Annaliese Teetz. Mit abgeschnürter Brust
und in Jungsklamotten heuert sie 1924 auf einem Fischdampfer an. Die 14-Jährige muss sich verkleiden, denn
Frauen durften damals nicht auf Schiffen arbeiten.
Sie bleibt beharrlich und bekommt tatsächlich eine Sondergenehmigung – von Adolf Hitler persönlich – und erhält im Dezember 1943 das Steuermannspatent. Doch
das Bundesverkehrsministerium erschwert ihr nach dem
Krieg das weitere Vorwärtskommen. 1955 hat es Annaliese Teetz geschafft: Sie bekommt das Große Patent
überreicht und ist erste Kapitänin Deutschlands. Ein Triumph noch vor dem Gleichberechtigungsgestz von 1958.
Im 19. Jahrhundert und früher hat es zahlreiche Frauen gegeben, die auf Schiffen arbeiteten. Viele lebten mit ihren Familien an Bord kleiner Küstensegler, einige auch auf Frachtsegelschiffen. Während sie auf kleinen Schiffen den Haushalt
versahen und Matrosenarbeit verrichteten, wurden sie auf
den großen Seglern vor der Besatzung verborgen gehalten.
A nzeigen
Zwischen 1929 und 1938 gelang es einzelnen Frauen,
auf den letzten Frachtseglern des finnischen Reeders
Gustaf Erikson zu arbeiten. Einige waren sehr ambitioniert und wollten Offizier bzw. Kapitän werden. Doch
keine von ihnen schaffte es.
Piraterie
Frauen an Bord von Piratenschiffen waren generell verboten. Die Piraten hatten Angst, dass es ihretwegen Ärger unter der rauen Mannschaft geben würde und dass
die Frauen dem harten Leben an Bord nicht gewachsen
wären.
Doch zwei Frauen an Bord der Piratenschiffe sind noch
heute berühmt: die Engländerinnen Anne Bonny und
Mary Read. Beide hatten sich in ihren Piratenkapitän
verliebt und gingen mit ihm auf Beutejagd. Die beiden
kämpften genauso wild und entschlossen wie ihre männlichen Kollegen. Obwohl sie ausgezeichnete Seeräuberinnen waren, durfte niemand an Deck sie als Frauen
erkennen. Sie trugen immer Männerkleidung. Da auch
die Männer lange Haare hatten und weite Hemden und
Hosen trugen, war das kein Problem.
Fantasie
Die Kalifornierin Joan Lowel veröffentlichte 1929 ihre Autobiographie, Titel: „Ich spucke gegen den
Wind“, in der sie schildert, wie sie
die ersten 17 Jahre ihres Lebens auf
dem Viermastschoner ihres Vaters
verbrachte. Wunderbar und abenteuerlich sind die monatelangen
Fahrten zwischen den Südseeinseln
und Australien. Das Buch verkaufte
sich als Bestseller, doch kurz nach
seiner Veröffentlichung entpuppte
sich die angebliche Autobiographie
24
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016

Aberglaube
... war und ist bei Seeleuten weit verbreitet. Von der Besatzung als »Jonas« – als Unglücksbringerin – wurden
die Frauen gemieden oder demoralisiert. Für einen meiner ehemaligen Chefs war der Freitag ein Unglückstag,
da lief man nicht aus. Der Sonntag war immer der gute
Tag. Auf Jungfernfahrten wollte er keine Weiberröcke
an Bord haben. Wenn die Cateringfirma das Festessen
und die Getränke lieferte und das Personal für diesen Tag
stellte, empfing er persönlich die Frauen an der Gangway, drückte ihnen einen Bonus in die Hand und schickte
sie nach Hause.
Während meiner Fahrenszeit nahm der Anteil der Frauen
an Bord stetig zu; jedoch nur auf Schiffen mit europäischen Besatzungen. Waren sie anfangs als Küchen- und
Servierpersonal tätig, fahren sie heute als Nautische Offiziere und Kapitäninnen über die Weltmeere. Auf meinen
Ausblick
Einblick
Schiffen fuhren oft Ehefrauen von Besatzungsmitgliedern mit. Für mich waren Frauen an Bord eine Bereicherung. Die Männer benahmen sich in ihrer Gegenwart viel
zivilisierter. Wir feierten und tanzten gemeinsam nach
getaner Arbeit.
Foto © rororo TB dt., 1929 (Joan Lowell: Ich spucke gegen den Wind)
als reine Erfindung. Tatsächlich verbrachte sie nur ein
Jahr auf einem Schiff im sicheren Hafen.

Joan spuckt gegen den Wind.
Von Zirze bezirzt, also beraten, sich vor den Sirenen ich Acht zu nehmen, schiffte Odysseus mit offenen Ohren, aber
festgebunden, an deren Insel vorbei. Gut, dass seine Mannschaft Wachs in den Ohren hatte und ohne weiblichen
Schaden an der Insel vorbeiruderte. Nach ein paar Stunden war es geschafft: Insel außer Sichtweite, kein Ton zu
hören, Odysseus vor den Frauen gerettet! (Nachzulesen in: Die Irrfahrten des Odysseus)
2016 • Ausblick
25
Mosaik Odysseus und die Sirenen 3 Jh n Chr Museo del Bardo a Tunisi
Bezaubernden Wesen, halb Frau, halb Fisch, entkommen ...
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016

E inblick
Chancengleichheit
Karbon-Prothese gegen gesunde Unterschenkel und Füße
Peter Wilke
Wenn ich mir im Fernsehen die Sportlerinnen und Sportler bei
Paralympischen Wettkämpfen und ihr sympathisches Auftreten
anschaue, empfinde ich jedes Mal Hochachtung vor ihrer Leistungsfähigkeit, ihrem Ehrgeiz, ihrem Willen und ihrer Lebensfreude.
Am 30. Juli 2014 entschied der Deutsche Leichtathletik-Verband, dass Rehm nicht an den Leichtathletik-Europameisterschaften 2014 teilnehmen dürfe. Laut Verbandspräsident
bestünden „… deutliche Zweifel, dass Sprünge mit Beinprothese und einem natürlichen Sprunggelenk vergleichbar sind.“
– Messungen der Biomechaniker hatten ergeben, dass Rehm
beim Anlauf kurz vor dem Absprung deutlich langsamer war
als andere Männer bei vergleichbaren 8-Meter-Sprüngen und
trotzdem beim Absprung eine höhere Vertikalgeschwindigkeit
erreichte.
Auf einer Veranstaltung im Deutschen Sport- und Olympiamuseum in Köln „Auf dem Sprung nach Rio!“ machte Markus
Rehm klar, dass er in diesem Sommer den Doppelstart bei den
Olympischen Spielen und bei den Paralympics in Brasilien erreichen wolle. Jetzt müsse der Leichtathletik-Weltverband entscheiden. Der Athlet wäre mit einem Olympiastart außerhalb
der Wertung zufrieden. – Ob das so kommt, ist aber weiter
völlig offen. Wissenschaftler aus Deutschland, Japan und den
USA kommen zu dem Ergebnis, dass "… zu diesem Zeitpunkt
nicht eindeutig ausgesagt werden kann, dass die Prothese von
Markus Rehm ihm beim Weitsprung einen oder keinen Gesamtvorteil gegenüber nicht behinderten Athleten bietet".
26
Foto © www.fotografie-irishensel.de
2014 wurde der Deutsche Meister im Weitsprung und EMGoldmedaillengewinner Markus Rehm Behindertensportler
des Jahres. Markus Rehm ist Orthopädietechniker-Meister. Als
14-Jähriger verlor er bei einem Sportunfall sein rechtes Bein
unterhalb des Knies. Dennoch kehrte er bald zum Sport zurück und widmete sich dem Weitsprung. Bei Paralympischen
Wettkämpfen stellte er neue Rekorde auf und gewann viele
Medaillen. Sein Ziel ist es, wie schon zuvor der südafrikanische
Leichtathlet Oscar Pistorius, in offiziellen Wettbewerben gegen
nicht behinderte Athleten antreten zu können.
Der Knackpunkt: Absprung mit der Prothese
Fundamental andere Technik
Professor Wolfgang Potthast von der Deutschen
Sporthochschule in Köln fasste die Ergebnisse so
zusammen: „Die behinderten Athleten haben
Nachteile im Anlauf, die der Prothese zugeordnet werden. Beim Absprung sind die ProthesenSpringer allerdings deutlich im Vorteil, weil die
Karbon-Prothesen viel mehr Energie speichern
und dem Springer zurückgeben als das System
aus Muskeln, Sehnen, Bändern und Knochen.“
Bei allem Mitgefühl für behinderte Sportler:
„Techno-Doping“ sichert einen Vorsprung
gegenüber Gesunden. Ich wünsche Markus
Rehm den „Sprung nach Rio!”, doch nur zum
Start bei den Paralympics. Und so entschied
der Leichtathletik-Weltverband kurz vor Beginn der Spiele.
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
A ugenzwinkern
Die ganze Wahrheit
Eines Tages im Garten Eden
Urheberschaft unbekannt
Gemälde Maarten van Heemskerck (1498–1574), „Adam und Eva“ (Ausschnitt), 1550 – Musée des Beaux-Arts de Strasbourg; Quelle: wikimedia.org (Ji-Elle)
Eines Tages im Garten Eden sagte Eva zu Gott: „Gott, ich habe ein Problem!“
– „Was ist das Problem, Eva?“
„Gott, ich weiß, dass Du mich erschaffen hast, mir diesen wunderschönen
Garten und all diese fabelhaften Tiere und diese zum Totlachen komische
Schlange zur Seite gestellt hast, aber ich bin einfach nicht glücklich.“ „Warum bist du nicht glücklich, Eva?“ kam die Antwort von oben.
„Gott, ich bin einsam, ...
... und ich kann Äpfel einfach nicht mehr sehen.“„Na gut, Eva, in diesem Fall
habe ich die Lösung für dein Problem. Ich werde für dich einen Mann erschaffen und ihn dir zur Seite stellen.“
„Was ist ein Mann, Gott?“
„Dieser Mann wird eine missratene Kreatur sein, mit vielen Fehlern und schlechten Charakterzügen. Er wird lügen, dich betrügen und unglaublich eitel und
eingebildet sein. Im Großen und Ganzen wird er dir das Leben schwer machen.
Aber er wird größer, stärker und schneller sei und er wird es lieben zu jagen und
Dinge zu töten. Er wird dümmlich aussehen, wenn er erregt ist, aber da du dich
ja beschwert hast, werde ich ihn derart beschaffen, dass er deine körperlichen
Bedürfnisse befriedigen wird. Er wird witzlos sein und solch kindische Dinge
wie Kämpfen und einen Ball herumkicken über alles lieben. Er wird auch nicht
viel Verstand haben, sodass er deinen Rat brauchen wird, um vernünftig zu
denken.“ – „Klingt ja umwerfend“, sagte Eva und zog dabei eine Augenbraue
ironisch hoch.
Foto © Beate-M. Dapper
„Wo ist der Haken, Gott?“
„Also ... du kannst ihn unter einer Bedingung haben.“
„Welche Bedingung ist das, oh Gott?“
„Wie ich schon sagte, wird er
stolz und arrogant sein und sich
selbst stets am meisten bewundern ... Du wirst ihn daher im
Glauben lassen müssen, dass
ich ihn zuerst geschaffen hätte.
Denk dran, das ist unser beider
kleines Geheimnis ... – Du weißt
schon, von Frau zu Frau.“
Mit zwei Äpfeln wäre das nicht passiert!
2016 • Ausblick
Adam und Eva
27
Ausblick 
Nr. 105 | 3.2016

E inblick
Mensch und Maschine
A nzeige
Ein besonderes Verhältnis
Foto © Ulrike C. Kannengießer
Der Mahlzeit folgt der Abwasch des schmutzigen Geschirrs wie das Amen in der Kirche. In der Küche stapeln sich Teller, Tassen, Gläser, Bestecke, Schüsseln,
Kochtöpfe.
Foto © xxx
Ulrike C. Kannengießer
Der Stein des Anstoßes
In den Studenten-WGs wartete man mit dem Abwasch, bis
kein sauberes Geschirr mehr aufzutreiben und das Chaos in
der Küche zum Fürchten war. Und dann kam der Tag, als
der Geschirrspüler Einzug hielt in die Küche.
Seitdem kämpfen die Mitglieder des Haushaltes um das richtige Einräumen des Geschirrspülers. Jeder macht es anders
und keinem ist es recht. Mal ist angeblich noch viel Platz,
und das Frühstücksgeschirr würde am nächsten Morgen bestimmt noch reinpassen. Oder man streitet darum, ob die
Töpfe nicht besser mit der Hand abgewaschen werden sollten. Wie oft hat ein Haushaltsmitglied nach einem kritischen
Blick in den Geschirrspüler alles noch einmal neu einsortiert,
bis alles so verstaut war, wie es seiner Ansicht nach sein musste. Wie viele Ehekrisen eskalierten vor dem Geschirrspüler?
Eine fürsorgliche Partnerin sollte daher den perfekt beladenen Geschirrspüler fotografieren und das Foto gut sichtbar
in der Küche aufhängen. Aber wie kann sie dem Mann beibringen, dass er nicht sein gebrauchtes Geschirr in eine volle Maschine einräumt, in der das bereits gereinigte Geschirr
darauf wartet, ausgeräumt zu werden?
Merke: Mache um einen fremden Geschirrspüler einen
großen Bogen! Denn hier endet die Freundschaft.
28
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016


Ausblick
R ezensionen
Bücher zum Thema
G. Glasfurd
Th. Straubhaar
Michael S. Metzner
Worte in
meiner Hand
Achtsamkeit
und Humor
List im Ullstein
Der Untergang ist abgesagt
Buchverlag GmbH,
Wider die Mythen
des Geistes
Berlin; ISBN 978-
des demogra-
Schattauer GmbH,
3-471-35123-9 *
fischen Wan-
Stuttgart; ISBN 978-
€ 18,00
dels; Ed.Körber
3-86739-116-0 * €
Stiftung, ISBN
19,95
Das Immunsystem
978-3-89684-174-2, € 18,00
Amsterdam um 1630. Helena Jans van
den Strom lebt und arbeitet als Magd bei
einem Buchhändler. Dass sie lesen und
schreiben kann, ist für Mädchen in der damaligen Zeit eine absolute Ausnahme. Sie
hat es sich selbst beigebracht.
Der französische Philosoph, Mathematiker
und Naturwissenschaftler René Descartes
(„Ich denke, also bin ich“) wohnt als Gast
im Haus. Ihm fällt der Wissensdurst der jungen Frau auf. Beide verlieben sich ineinander. Als sie schwanger wird, sorgt er für sie.
Heiraten können sie nicht. Nicht nur der
Standesunterschied ist zu groß; Descartes
ist Katholik und Helena Calvinistin.
Der Roman basiert auf Tatsachen und ist
aus der Perspektive der jungen Frau geschrieben. Guinevere Glasfurd gelang ein
eindringlich historisches Buch. Es ist kein
Buch zum zwischendurch Abschalten.
Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird als
Leser gefordert. Er bekommt dafür ein
wunderbares Lesevergnügen.
. Brigitte Hempel
Thomas Straubhaar wagt es, die demografische Entwicklung in Frage zu stellen und
eigene optimistische Vorstellungen entgegenzusetzen. Er stellt seine Mythen in den
Mittelpunkt wie: Schrumpfung und Alterung bedrohten Deutschlands Wohlstand;
Deutschland sei für Talente nicht attraktiv;
Deutschland drohe ein Fachkräftemangel. –
Hier verweist er auf das ungenutzte Potential
der Älteren und der Frauen. „Traditionellen
Mustern der Rollenverteilung der Geschlechter folgend, reduzieren insbesondere Frauen
ihren Beschäftigungsgrad bei der Geburt
eines Kindes.“ Im Alter zwischen 20 und
45 Jahren arbeiten 78,7% der Frauen und
88,7% der Männer (Stat. Bundesamt 2014).
Er meint, die Arbeitsbedingungen müssten
so angepasst werden, dass fähige Frauen, die
wollen, auch mehr arbeiten können.
Der Autor ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und Direktor des Europa-Kollegs Hamburg. In seinem
gut verständlichen Werk zeigt er neue Wege.
. Brigitte Hempel
Ein Christ, ein Buddhist und ein Hindu fahren auf einem See zum Angeln heraus. Nach
fünf Minuten hat der Hindu keine Angelköder mehr – er brennt drei Räucherstäbchen
ab, murmelt ein Gebet [...][, steigt aus dem
Boot, läuft übers Wasser, holt die Würmer
[...]. Wieder zehn Minuten später hat der
Buddhist keine Köder mehr. Er meditiert eine
Weile, spricht „om mani padme hum“, steigt
aus dem Boot, läuft übers Wasser, holt sich
die Würmer und kommt zurück.
Eine halbe Stunde später hat auch der Christ
keine Würmer mehr. Er fragt: „Kollegen, wie
macht ihr das mit dem übers Wasser laufen?“ „Na, wie Jesus“, antwortet der Hindu:
„Beten, fest dran glauben, und schon geht
das.“ – Der Christ betet drei Vaterunser, drei
Ave Maria, schlägt ein Kreuz, steigt aus,
macht zwei Schritte – und blubb, weg ist er.
[...] – Wie es weiter geht, erfahren Sie im
Buch, einem Ratgeber zum Nachdenken für
Profis und für Laien versehen mit einer Einlage für achtsame Bewegungsübungen.
 Brigitte Hempel
A nzeige
Das Buch
„Worte in meiner Hand"
WURDE EMPFOHLEN VON
LÜNEBUCH.de
2016 • Ausblick
29
Ausblick 
M al
mit
Nr. 105 | 3.2016
ERNST
Männer, emanzipiert euch!
Mal mit ERNST
Beate-M. Dapper
N
eulich spazierte ich zeitvergessen durch den Park und ließ mich für einen Moment auf einer Bank nieder. Die ersten Herbstblätter fielen von
den Bäumen und die ersten Pullover wurden um die Schultern oder Hüften
gebunden. Es wurde hier und da noch Federball gespielt, obwohl der Ball immer häufiger unkalkulierbaren Aufwind bekam. Einige Paare, alte und junge,
genossen entspannt den Charme der flacher einfallenden Lichtverhältnisse.
Foto & Illustration © Beate-M. Dapper
I
... wenn keiner wichtiger ist.
Selbst die Vögel zwitscherten in vollkommener Harmonie ein gemeinsames Lied. – Da tauchte – wie aus dem
Nichts – mein junger Nachbar Max auf, der durch seine
gespannte Haltung und sein verzerrt-verkrampftes Gesicht eine Dissonanz in meine heile Welt brachte. Nach
einer kurzen Begrüßung kam er gleich auf den Punkt:
„Finden Sie nicht auch, dass das Thema ‚Gleichberechtigung‘ heutzutage viel zu groß geschrieben wird?“
E
in bisschen überfahren von der problematischen Thematik in meiner gerade bunten Welt wich ich aus. „Kommt
darauf an“, sagte ich. Max zögerte nicht lange, biss sich auf
die Lippen und erzählte: „Nächste Woche kommt unser Sohn
zur Schule. Und heute eröffnete mir meine Frau, dass sie ihre
Stundenzahl von 3 auf 6 erhöhen will.“ – „Na, das ist doch
gut“, warf ich ein, obwohl Max wohl augenscheinlich eine
andere Reaktion erwartet hatte. Er verdrehte die Augen und
hob trotzig seine Schultern. „Jetzt will sie, dass ich dreimal
in der Woche unseren Sohn abhole und auch noch etliche
Aufgaben im Haushalt übernehme“, entrüstete er sich. „Sie
nennt das Gleichberechtigung. Ich nenne das Schikane!“
30
ERNST
n bewusst weichem Ton und auch auf die Gefahr, dass ich
mich jetzt vollkommen in die Nesseln setzen würde, fragte ich: „Was spricht denn gegen eine Stundenreduzierung in
IHREM Job?“ – Wie ein kleines Gewitter aus heiterem Himmel donnerte er mir entgegen: „Na soweit kommt es noch!
Ich bin schließlich der Hauptverdiener, auch wenn meine Frau
einen besseren Beruf hat.“ – Mittlerweile hellwach und mit
gespitzten Ohren fragte ich: „Und wenn SIE die Hauptverdienerin wäre?“ Max‘ komplette Körperhaltung sagte mir,
dass er gleich explodieren würde. Und tatsächlich entfuhr es
ihm so spontan wie laut: „Dann bekäme sie trotzdem weniger Geld! Immerhin ist sie eine Frau!“ – Mittlerweile etwas
angesäuert fragte ich bewusst provokativ weiter: „Ach, dann
sind Sie also gegen das Wahlrecht, das Recht auf Bildung,
Privateigentum und Erwerbsarbeit für Frauen?“
N
ein, natürlich nicht. Aber dieser ganze Emanzipationsmist nimmt ja echt gigantische Ausmaße an. Da weiß
ein Mann ja gar nicht mehr, wo es langgeht …“ – Jetzt war
der Punkt da, an dem ich ihn fröhlich angrinste, was ihn vollkommen irritierte: „Was“, lieber Herr Nachbar, „was spricht
dagegen, dass SIE sich nun emanzipieren und sich nicht
selbst versklaven und sich artig Ihrem Job und Ihrer Mannesrolle verschreiben?“ Verdutzt sah er mich an: „Wie meinen
Sie das?“ „Die Augenhöhe zu Ihrer Frau ist eine tolle Chance, sich zu emanzipieren und die große Verantwortung eines Managers und Diplomaten im Kompetenzfeld ‚Zukunft‘
anzunehmen. – Zeit genug hatten wir Männer ja, denn im
18. Jahrhundert schon sagte der irisch-englische Staatsmann
und Denker Edmund Burke:
Die Gleichberechtigung der Männer in Amerika macht Fortschritte: Wirbelstürme tragen jetzt auch männliche Namen!“
Ausblick • 2016
Nr. 105 | 3.2016

Foto © betterplace.de
Das Thema für Ausgabe 106
Das Verständnis über Dankbarkeit hat sich gewandelt. Waren
die Menschen 1945 noch von
Dank erfüllt, wenn sie ein Dach
über dem Kopf und satt zu essen hatten, sind es heute andere
Gründe, die in uns das Gefühl der
Dankbarkeit auslösen. Heute sind
viele Dinge normal und selbstverständlich. Dankbarkeit beruht auf
persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen und finanziellen
Gegebenheiten. Wenn Sie Grund zur Dankbarkeit haben/
hatten, lassen Sie uns an Ihren Geschichten teilhaben.
Redaktionsschluss ist der 17. Oktober.
Ausblick-Verteiler
AWO, Käthe-Krüger-Straße
Barmer Ersatzkasse
Begegnungsstätte Glockenhaus
Bürgeramt
DRK O. V.
Edeka Loewe Center
weitere Bergmann Edeka Fil.
Ev. Familienbildungsstätte
Kirchengemeinden
Lünebuch am Markt
Ratsbücherei
Salü-Salztherme
Sandpassage Tschorn
Senioren- und Pflegestützpunkt
Theater Lüneburg
Tschorn am Bockelsberg
VHS Region Lüneburg
Adendorf
Bücherei
Supermärkte
Olympic-Sportcenter
Ashausen
Sankt Andreas-Kirche
Bad Bevensen
Göhrde Apotheke
Herz- und Gefäßzentrum
Kurzentrum
2016 • Ausblick
Ausblick
A usblick
Dankbarkeit
Lüneburg

Bardowick
Dom
Bienenbüttel
Aportheke
Bücherei
Post
Bleckede
Albert-Schweitzer-Familienwerk
Dahlenburg
Apotheke
Winsen
Gemeindehaus St. Marien
Kreiskrankenhaus
Scharnebeck
Edeka Markt
Tespe
Edeka Markt
Geesthacht
Johanniter-Krankenhau
Westerdeichstrich
Büsum
Fehmarn
Impressum
Herausgeber
AUSBLICK-Redaktion VHS Region Lüneburg
Haagestraße 4, 21335 Lüneburg, Tel.: 04131 | 15 66 0
[email protected]
Erscheinungsweise
4x jährlich; Verteilte Auflage: 10.000
Redaktion
Dr. Brigitte Hempel (Leitung) Tel.: 51 211
[email protected]
Ulrike C. Kannengießer (stellv. Leitung)
Peter Wilke (Chefredakteur)
Beate-M. Dapper, Peter Friedrich, Miriam Katharina Kleck, Waltraut
Peter, Marlis Schömburg, Maja Schwaak, Monika Sternhagen,
Reinhild Zenz
Satz & Gestaltung
Peter Wilke (verantw.), Beate-M. Dapper,
Ulrike C. Kannengießer & Maja Schwaak
Layout: Beate-M. Dapper
Internet: www.ausblick-zeitschrift.de
Webmaster: Peter Wilke
Anzeigen
Peter Wilke (verantw.), Tel.: 220 36 86
Dieses Heft enthält Anzeigen der Unternehmen
Bestattungsinstitut Ahorn Trauerhilfe Lips / Bestattungsinstitut
Manfred Imhorst Gmbh & Co KG / Beate-M. Dapper, LuckyTEXT /
DRK OV Lüneburg-Stadt e.V. / Gaststätte „Grüne Stute" / Gärtnerei
und Floristik Koch/Gürtler / Lünebuch.de Buchhandlung am Markt
/ Massagepraxis Ilse Philipp / Museumsstiftung Lüneburg – Deutsches Salzmuseum / REHA LÜNEBURG Konrad-Zuse-Allee 9 / Salü,
Salztherme Lüneburg / Sandpassage Tschorn GmbH & Co KG
Wir bitten um freundliche Beachtung.
Anzeigenkunden finden unsere Mediadaten im Internet:
http://ausblick-zeitschrift.de/mediadaten
Druck: v. Stern‘sche Druckerei GmbH & Co KG,
Zeppelinstraße 24, 21337 Lüneburg
Verteilung: November-Echo, CB-Funk-Freunde LG
Die Redaktion behält sich vor, eingegangene Artikel und Leserbriefe zu
kürzen. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine
Haftung übernommen.
und an vielen anderen Stellen!
31
Kennen Sie . . .
... das Haus in der Wallstraße 3?
Wann sind Sie, liebe Leserinnen und Leser, zuletzt durch die Wallstraße gegangen? Hatten Sie ein wenig Zeit, sich die Häuser im
Vorübergehen anzuschauen?
Mich interessierte die Geschichte des einzigen freistehenden Hauses
Nr. 3 von der Roten Straße kommend kurz nach der Einmündung
rechts: Nachdem um 1860 der Rote Wall südlich der Altstadt zum
großen Teil abgetragen war, entstand zwischen der Sülztor- und
Roten Straße die Wallstraße.
1868 wurde der repräsentative Backsteinbau im neugotischen Stil errichtet. Der Medizinalrat Dr. Otto Sprengell hatte die Architektenbrüder Adolf und Werner Narten und E. A. F. Maske mit dem Bau beauftragt. Aufgrund seines Zeugniswertes für die Bau- und Kunstgeschichte steht das Beispiel der damaligen bürgerlichen Wohnkultur heute
unter Denkmalschutz. Zwischen den massigen großen Blockbauten der ehemaligen Landeszentralbank
– heute u.a. das Stadtarchiv – und dem neu bezogenen Wohnkomplex für Senioren der Lüwobau, präsentiert sich stolz das kleine zweigeschossige villenähnliche Haus mit der Hausnummer 3.
Seine Fassade zeichnet eine reiche Dekoration in neugotischer Formensprache. Aufwändige Details spiegeln sich z.B. in dem abwechselnd aus grün und braun glasierten Formsteinen gemauerten Spitzbogenportal wider, das die original erhaltene Eingangstür krönt. Die ähnlich gerahmten Segmentbogenfenster
mit steilen Sohlbänken und abschließenden Konsolgesims ergänzen das wunderschöne Portal. Ein herausragender Akzent ist der breite Vierpassfries aus grün glasierten Terrakotten an der Geschossgrenze.
Der schmiedeeiserne Vorbau vor dem Eingang wurde 1872 angefügt. Beachtenswert sind weiter die z.T.
farbigen Bleiverglasungen der Eingangstür und der beiden mittigen Spitzbogenfenster im Obergeschoss.
In einem Anbau auf der Rückseite des Hauses ist im Giebel ein Zierfachwerk erhalten.
Nach Dr. Sprengell (er war fast drei Jahrzehnte engagiertes Mitglied und Mitarbeiter des Museumsund Naturwissenschaftlichen Vereins für das Fürstentum Lüneburg von 1851 e.V.) wohnten in dem
schönen Haus ein Ober-Stabsarzt, der Fabrikant W. Brandt, ein Ökonom und ein weiterer Arzt mit
Praxisbetrieb bis 1932.
Machen Sie sich auf einem Ihrer nächsten Spaziergänge durch die „Wall Street“ Lüneburgs die Freude dieses besondere Kleinod näher zu betrachten, selbst wenn die auf einen Schnitt wartende Buchenhecke es zu verbergen versucht.
Quellen:
Stadtarchäologe Prof. Dr. Ring
Baudenkmale in Niedersachsen - Hansestadt Lüneburg 22.1
Rümelin, H., Stadtentwicklung und Architektur. Lüneburg im 20. Jh.,
Jahrbuch des Naturwissenschaftlichen Vereins für das Fürstentum Lüneburg von 1851 e.V. Bd. 15, 1899
Anmerkung: Kurz vor Drucklegung erhielt die Buchenhecke einen fein getrimmten Schnitt.
Foto © Waltraut Peter
Waltraut Peter