Europäische Kommission - Rede - [Es gilt das gesprochene Wort] Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim Festakt des Europäischen Forums Alpbach Alpbach, 21. August 2016 Lieber Franz Fischler, sehr verehrter Erzbischof, sehr verehrter Herr Bundespräsident und Frau Fischer, meine Damen und Herren Abgeordnete, Minister, Landeshauptleute, verdienstvolle Mitglieder des Forum Alpbachs und für viele von Ihnen soweit ich das sehe, liebe Freunde. Ich war zum ersten Mal in Alpbach 1997, Ende August. Ich hatte damals den Vorsitz des Europäischen Rates und war auf einer Reise zwischen Schweden und der Slowakei, damals war Herr Meciar Premierminister in der Slowakei. Alpbach war danach eine regelrechte, wohlverdiente Erholung. Und so ist es auch dieses Jahr; nach einem etwas anstrengenden Jahr bin ich froh, wieder in Alpbach zu sein und auch froh in Tirol zu sein. Ich hab mich sehr darüber gewundert, dass Kommissionspräsidenten nicht regelmäßige Gäste in Alpbach sind. 1991 war Jacques Delors hier, später José Manuel Barroso 2012, und jetzt bin ich vier Jahre nach Barroso hier. Es findet ein Paradigmenwechsel statt. Kommissionspräsidenten kommen inzwischen alle fünf Jahre – und der jetzige zwischendurch auch noch manchmal. Das war, Franz, eine Drohung, damit Du weißt, worauf Du Dich einstellen kannst. Ich bin froh, bei dieser Eröffnung des neuen Kongresszentrums dabei zu sein. Sehr beeindruckend ist das Ganze. Und das Forum Alpbach ist ja nicht nur Nummer Eins, wenn es um Akustik geht. Wenn es um Denkfabriken geht, wenn es um Inspirationsmaschinenräume geht, gehört das Forum Alpbach auch zu den ersten Nummern in der Europäischen Union. Und die Europäische Union braucht ja Inspiration, Anschübe, Ermutigung und auch so etwas – und das kann hier stattfinden – wie Streitkultur. Streitkultur im Sinne, dass man miteinander über Europa und über die richtigen Wege in Europa streiten darf, soll, und muss. Streitkultur aber auch, weil es nicht genügend Menschen gibt, die für Europa streiten; das heißt: sich für Europa einsetzen. Und diese Streitkultur brauchen wir wieder, damit wir nicht vergessen, was wir Europa verdanken und wozu Europa gebraucht wird und inwiefern es bis heute nützlich war und auch in Zukunft den Menschen zu Diensten sein muss. Man redet schlecht über Europa und die, die am schlechtesten über Europa reden, sind die Europäer selbst. Ich reise gerne an das andere Ende der Welt. Weil, wenn man dort aus dem Flugzeug steigt, sieht man die hoffnungsvollen Blicke vieler Menschen, die sich sehr darüber wundern, dass wir an Europa, an der Europäischen Union, kein Vergnügen mehr haben. Weil die alle sagen, was ihr in Europa nach dem 2. Weltkrieg geschafft habt – das erste Forum fand 1945 in Alpbach statt – das ist weltweit und in der Geschichte unerreicht. Die einzigen, die das nicht mehr wissen, sind die Europäer. Wenn ich dann wieder in Brüssel aus dem Flugzeug steige und mitten in diesem Tal der Tränen lande und mir die Klagen der Europäer über die Zeit, die ist, über die Zeit, die war, und über die Zeit, die kommt, anhöre, dann würde ich am liebsten wieder die Rolltreppe rauflaufen und nach Asien und nach Afrika fliegen. Dort wissen die Menschen, was sie an Europa haben. Die Gegenpropaganda, dieses 'sich nicht mehr in Europa verlieben wollen', ist vor allem das Geschäftsmodell einiger Regierungschefs. Ich war 19 Jahre Premierminister – ich weiß, wovon ich rede. Dieses beharrliche Festhalten an diesem Strategiefehler, der darin besteht, in Brüssel gemeinsam zu beschließen und zuhause angekommen, das Beschlossene in sein Gegenteil zu verkehren, indem man so tut, als hätte man Recht und alle anderen Unrecht, ist vom Bösen und das nutzt der Europäischen Sache überhaupt nichts. Diese Einteilung der Gipfelteilnehmer in Sieger und Besiegte ist a) lächerlich b) nicht zutreffend und c) gefährlich. Ich habe das als luxemburgischer Premierminister leidvoll erfahren, weil die Luxemburger mehrere Sprachen sprechen. Das hat damit zu tun, dass die Deutschen und die Franzosen und die Belgier sich regelrecht weigern, sich der luxemburgischen Sprache zu bemächtigen. Insofern müssen die Luxemburger Deutsch und Französisch in äquivalenter Form wie das Luxemburgische sprechen. Und deshalb schauen sich die Luxemburger Nachrichten in mehreren Programmen an. Und dann sehen sie den britischen Premierminister – er kommt immer als Sieger aus Brüssel – und man hat ja gesehen, zu was Siege führen können. Der französische Präsident, vor allem als das noch Herr Sarkozy war, hatte schon gesiegt, bevor er Paris überhaupt verlassen hatte. Und die anderen auch. Ich konnte mich also meinem heimischen Publikum nie als Sieger präsentieren, weil es hat schon so viele Sieger in den vorherigen Nachrichtenprogrammen gegeben, dass dies eigentlich nicht sehr glaubwürdig gewesen wäre. Und da habe ich dann beschrieben wie es wirklich war. Und das fand wenig Verbreitung im Rest Europas; das war für den nationalen Konsum. Deshalb sollte man über Europa nicht schlecht reden. Man sollte Europa kritisieren, wo es Kritik verdient; und Europa verdient in vieler Hinsicht Kritik. Aber dort, wo es funktioniert, sollte man sich der gemeinsamen Errungenschaften eigentlich erfreuen. Und es gibt eine Errungenschaft, von der man eigentlich fast nicht mehr spricht, und man sich fast geniert, wenn man noch darüber redet. Und das ist, dass wir es in Europa nach 1945 geschafft haben, Frieden – dauerhaften Frieden – in Europa sesshaft zu machen. Das ist eine große Leistung. Und das war ja nicht meine Generation, die das bewirkt hat. Das war doch die Generation unserer Eltern und Großeltern, die – aus den Konzentrationslagern kommend und von den Frontabschnitten in ihre zerstörten Städte und Dörfer zurückkehrend – gesagt haben: nie wieder Krieg. Aus diesem ewigen Nachkriegsgebet wurde ein politisches Programm entwickelt, das bis heute Wirkung zeigt. Nicht nur in Europa, sondern auch weltweit. Weil Europa ist ja nicht nur ein Projekt für die Europäer selbst, sondern auch ein Beitrag zu diesem kollektiven Werk der Menschen, die versuchen, aus unserem Planeten einen besseren Ort zum Leben zu machen. Und dabei hat Europa eine prioritäre Aufgabe, der es sich immer wieder stellen muss. Wir haben es geschafft, 1989/90 die europäische Geographie und die europäische Geschichte wieder miteinander zu versöhnen, dadurch, dass wir die Europäische Union nach Ost- und Mitteleuropa ausgedehnt haben. Nicht im militärischen Sinne des Wortes, wie dies das Habitus früherer Jahrhunderte war, sondern auf den Wunsch derer, eine Antwort formulierend, die froh waren, der europäischen Familie wieder respektvoll zugehörig zu sein. Wir haben es geschafft, den größten Binnenmarkt der Welt auf die Beine zu stellen. Es gibt keinen größeren. Der amerikanische Binnenmarkt ist kleiner als der europäische. Und das dürfen wir uns jetzt nicht kaputtmachen – nicht kaputtmachen und nicht kaputtmachen lassen. Wir müssen diesen Binnenmarkt weiterentwickeln in Richtung Digitalisierung. Das ist ja ein Thema des diesjährigen Alpbacher Treffens. Da tut die Kommission, was sie zu tun hat. 16 Initiativen sind auf dem Weg, andere werden Ende September folgen. Das schafft Arbeitsplätze, schafft Mehrwert – über eine halbe Milliarde Euro pro Jahr kommen der europäischen Wertschöpfung zugute, wenn dieser digitale Binnenmarkt vollumfänglich funktioniert. Dieser Binnenmarkt braucht eine Kapitalmarktunion, braucht überhaupt mehr Binnenmarkt dort, wo ungenügend Binnenmarkt Wachstumschancen ungenutzt brachliegen lässt. Ich habe gesagt, das dürfen wir uns nicht kaputtmachen lassen. Da bin ich beim Thema Grenze. Die Grenzen sind die schlimmste Erfindung, die Politiker je gemacht haben. Es gibt wenig glückliche Grenzerfahrungen. Es gibt nur eine – und das ist Europa. Dort werden Grenzen nicht mehr als Trennendes empfunden, sondern als Brückenschlagendes. Und wer diese Brücken einreißt, der versündigt sich am Schicksal Europas. Und deshalb müssen wir in der Flüchtlingsfrage sehr aufmerksam sein und auf alle Zwischenzungenschläge achten. Da gibt es viele, die nicht so sind, dass ich sie absolut goutieren würde. Die Flüchtlingsfrage ist zuerst ein Drama für die Flüchtlinge, für die richtigen Flüchtlinge. Für die, die vor Gewalt, Terror, Krieg und Hunger flüchten. Ihnen und ihren Kindern gehört unsere maximale Solidarität. Zur Solidarität gehört, dass man auf naives Denken verzichtet. Ich kriege nicht immer Tränen in die Augen, wenn es in der Debatte über die Flüchtlingsfrage hoch hergeht, weil vieles, was an Bedenkenswertem geäußert wird, stimmt. Aber das ist nicht Grund genug, um den Menschen, die auf der Flucht sind, den Rücken zuzukehren. Und was auch nicht geht, ist, dass man pauschalisiert, das macht keinen Sinn. Ich weiß auch, dass mit den Flüchtlingen Terroristen nach Europa gekommen sind. Aber viele waren schon vorher da. Und viele von denen, die terroristische Anschläge durchgeführt haben in den letzten Monaten, sind in Europa, sind in Belgien, sind in Brüssel, in Paris und in Cannes geboren – die wurden nicht importiert; die wurden großgezogen in unseren Gesellschaften, worüber man mal nachdenken sollte. Also ich möchte mich in Europa weiterhin frei bewegen dürfen. Dies ist eine große Errungenschaft, auch im historischen Gesamtzusammenhang. Und ich hätte auch gerne, dass die Türken frei reisen können. Ich habe ja mit Herrn Erdoğan, den ich seit 20 Jahren kenne, in letzter Zeit etwas angestrengtere, sportlichere Begegnungen, als dies vorher der Fall war. Aber es geht ja nicht nur um Erdoğan, der im Übrigen einiges an demokratischen Fortschritten in der Türkei bewirkt hatte, bevor er wieder in die andere Richtung losmarschiert ist. Es geht um das türkische Volk. Die Frage Visumsfreiheit, die ja im direkten Zusammenhang mit den Vereinbarungen in Sachen Flüchtlingsumgang steht, kann zum 1. Oktober nur eingeführt werden, wenn alle Bedingungen erfüllt sind. Und Antiterrorgesetze können nicht genutzt werden, um Intellektuelle, um Wissenschaftler, um Journalisten ins Gefängnis zu bringen. Das ist nicht der Kampf gegen Terrorismus, den wir meinen. Und wenn die türkische Regierung die gemeinsam festgelegten Bedingungen nicht erfüllt, müssen nicht wir den Türken erklären, wieso sie nicht reisen dürfen. Dann muss Herr Erdoğan seinen Mitbürgern erklären, wieso sie nicht – wie alle anderen auch ihre Länder – die Türkei verlassen können. Und im Übrigen bin ich der Meinung, – das macht ja in der Republik hier keinen Konsens – dass man die Verhandlungen mit der Türkei weiterführen muss. Nicht, weil man die Perspektive nährte, dass der Beitritt der Türkei in den nächsten fünf oder zehn Jahren stattfinden könnte, sondern damit wir mit diesem Land, das ein wichtiges Land ist, im Dauergespräch bleiben. Nicht mit denen zu reden, mit denen man nicht einer Auffassung ist, ist nicht die Art und Weise, mit der man Fortschritte macht in einem Land, das zu Europa gehört und eine wichtige Scharnierfunktion auf unserem Kontinent spielt – das führt nicht zum Ergebnis. Wir haben aber auch intern in der Europäischen Union viel zu tun. Bürokratieabbau ist ein Schlagwort, das jedem leicht über die Lippen kommt. Das mache ich. Trotzdem geht die Rede, dass Europa zu bürokratisch ist, unvermindert weiter. Meine Kommission, wenn ich diesen exzessiven Gebrauch dieses Possessivpronomens hier einführen darf, hat sich vorgenommen, die Bürokratie abzubauen. Wir haben 400 Gesetzestexte zurückgezogen. Wir starten jedes Jahr nur 23 neue Initiativen, während die Vorgängerkommission im Schnitt 130 neue Initiativen gestartet hat. Es findet also weniger Bürokratie, weniger Regulierung statt. Es findet aber keine Abrüstung statt, wenn es um die rhetorische Begleitung dieses Prozesses geht. Im Gegenteil: im Europäischen Parlament, in einigen Regierungen wird immer noch der Bürokratieabbau gefordert und sich sehr darüber beschwert, dass die Kommission dieses oder jenes nicht so regelt, wie man es regeln sollte. In Europa ist es so, dass man sechs Monate lang die Kommission beschimpft, dass sie zu sehr in Sachen Bürokratie draufsattelt, und sie sechs Monate beschimpft, dass das Pferd nicht anständig gesattelt wäre und man mehr tun müsste. Irgendwo muss man mit dem Blödsinn aufhören und sich entlang der Faktenlage bewegen, anstatt sich nur in meistens innenpolitisch motivierten antieuropäischen Kreuzzügen der schlimmsten Art zu üben. Wobei ich der Meinung bin, dass die Kommission sehr viel Kritik verdient. Nicht so viel wie die Regierungen, aber immerhin Kritik. Ich weiß es besser als alle anderen. Wenn Sie Kommissionspräsident wären, hätten Sie noch mehr Kritik an der Kommission vorzubringen, ganz einfach, weil Sie mehr wüssten, als Sie dies – Gott sei Dank – zur Zeit wissen. Aber die Regierungen tragen doch auch ein gewisses Maß an Schuld. Vorhin wurde gesagt, von den drei Landesobermuftis hier, die Flüchtlingsfrage rufe nach einer europäischen Antwort. Die Kommission hat ihre Vorschläge gemacht. Im Wahlkampf, der zum Europaparlament im Mai 2014 geführt hat, habe ich auf allen Fernsehkanälen – soweit ich da zugelassen wurde – erklärt, dass man Italien, und Griechenland – Malta im Übrigen auch; die sind sehr klein, und deshalb hört man die nicht so gut – Malta, Italien und Griechenland darf man mit der Flüchtlingsfrage nicht alleine lassen. Wir haben Vorschläge gemacht, die sogenannte Quotenregelung, das heißt ein solidarisches Aufteilen der Flüchtlinge auf die verschiedensten europäischen Länder. Weil es nicht sein kann, dass Italien, Griechenland, Österreich, Schweden und Deutschland die Last fast alleine tragen; was im Übrigen auch nicht stimmt. Das sagt man so in Österreich; das sagt man so in Deutschland. Es ist nicht so – pro Kopf ergibt sich eine völlig andere Tabelle. Aber immerhin, die Last, die die Österreicher und die Deutschen und andere zu tragen haben, hat schon ein besonderes Gewicht. Man muss also solidarisch handeln – alle Regierungen. Die Innenminister haben einen Beschluss getroffen, dass solidarisch aufgeteilt werden soll. Zwei Regierungen zerren dann den Europäischen Ministerrat – nicht die Kommission, wie es in den österreichischen Zeitungen steht, sondern die Regierungen – vor den Europäischen Kadi. Es wird eine europäisch festgelegte Norm nicht mehr respektiert. Einige organisieren sogar Referenden über eine festgelegte europäische Norm. Der Schutz der Außengrenzen – ich höre und lese das – muss dringend kommen. Die Kommission hat am 15. Dezember letzten Jahres einen Vorschlag gemacht; die Regierungen haben gebraucht bis Juli, bevor sie sich einigermaßen untereinander verständigen konnten. 15 Tage, das heißt zwei Wochen, nach den Pariser Attentaten hat die Kommission einen neuen Vorschlag in Sachen Waffenhandel und Sprengstoffhandel vorgelegt. Bis jetzt – das war sehr dringend, musste sofort passieren – ist noch keine Einigung in endgültiger Form zustande gekommen. Ich sage das nicht, weil ich die Kommission verteidigen möchte, sondern weil ich über die Kommission auch etwas Gutes sagen möchte – nämlich, dass wir tun, was wir können und uns redlich bemühen, in all diesen Fragen zu gangbaren Wegen zu finden; und ich hoffe sehr, dass uns dies in besserem Maße gelingen wird als dies bislang der Fall war. Über Europäische Sicherheits- und Außenpolitik rede ich nicht, darüber wird hier dieser Tage geredet, wobei ich nur gerne anfügen wollte, dass wir eine Gemeinsame Europäische Außenpolitik brauchen bis hin zu einer Gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik mit dem endgültigen Ziel, auch eine europäische Armee eines Tages zur Verfügung zu haben, um unserer Rolle in der Welt gerecht zu werden. Da muss man nicht Mitglied der NATO sein; nicht dass einige hier schon den Schüttelfrost kriegen, wenn ich das sage. Es reicht, wenn man sich an dieser europäischen Armee beteiligt, die ja keine klassische Angriffsarmee sein kann – dies entspricht weder europäischem Geschichtswissen noch Notwendigkeiten – sondern hat einfach etwas mit der Wahrung unserer Rolle in der Welt zu tun. Und diese Rolle in der Welt ist in Gefahr – nicht nur wegen Brexit. Das ist ein unschöner Moment, den man wird überwinden müssen, wobei unsere britischen Freunde wissen müssen, dass sie nicht freien Zugang zum Europäischen Binnenmarkt haben können, wenn sie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nicht sicherstellen. Ohne Freizügigkeit der Arbeitnehmer gibt es keinen Zugang zum Europäischen Binnenmarkt. Wir leben in Zeiten einer Polykrise. Zum Amtsantritt habe ich gesagt: dies ist die Kommission der letzten Chance. Es ist eigentlich die Kommission, die sich mit einer Polykrise herumschlagen muss, die es in der Dichte und in der Dimensionierung bislang noch nicht gab. Und diese polykrisenhafte Verdichtung der Globalisierungs- und Europäisierungsprobleme muss uns dazu ermahnen, auf dem als richtig erkannten Weg weiter zu machen. Man muss, um sich in Europa nicht zu verlaufen, Europa nicht nur mit der Lupe betrachten; das wäre schon manchmal angebracht, weil wir eigentlich nicht sehr viel übereinander wissen. Was wissen wir hier über die Lappen? – sind Mitglied der Europäischen Union. Und was wissen die Lappen über die Tiroler? Nicht genug – über Tirol kann man nie genug in Erfahrung bringen, weil die sind nicht nur lustig, sondern auch tüchtig, deshalb mag ich die Tiroler so sehr. Wir wissen nicht genug übereinander und wir wissen auch über den eigenen Kontinent nicht genug. Europa ist der kleinste Kontinent. Wir denken immer, wir wären die Größten der Welt, wir wären die Herren der Geschichte – sind wir nicht. Die Geschichte braucht im Übrigen keine Herren. Immer wenn sie Herren hatte, ging es schief. Es ist besser, wir sind Teil eines organisierten, multipolaren Raumes, der die Welt ist. Wir sind der kleinste Kontinent. Wir sind wirtschaftlich auf dem Weg in eine andere Kategorie als die, in der wir uns zurzeit befinden. Der relative Anteil der Europäer an der globalen Wertschöpfung geht drastisch nach unten. In ein paar Jahren stehen wir nur für 15% des weltweiten Bruttoinlandproduktes – 25% heute. Wer denken wir eigentlich, dass wir sind, dass wir über andere so abschätzig reden? Über Chinesen, über Asiaten, über Afrikaner; Afrika ist der boomende Kontinent der nächsten 30 Jahre. Die Chinesen haben das erkannt; die sind in allen afrikanischen Ländern präsent. Und wenn ich mit meinen afrikanischen Freunden rede, sagen die: das ist normal, die stellen keine blöden Fragen, während wir über Menschenrechte reden – und das sollten wir auch tun, weil dies ein europäisches Thema ist. Nicht nur außerhalb Europas, auch innerhalb Europas gilt es, auf die Menschenrechtslage sehr genau zu achten. Und wir sind ein Kontinent, der sich demografisch nach unten bewegt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts stellten die Europäer 20% der Weltbevölkerung – jetzt sind es nur 7%; Ende des 20. Jahrhunderts nur 4%. Das heißt, wir sind der kleinste Kontinent, wir verlieren an relativer Wirtschaftskraft und wir verlieren an demografischem Gewicht, haben keine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die den Namen verdient, wir haben nur den Euro – nur. Aber hätten wir den nicht, was hätten wir dann? Wenn es den Euro nicht gäbe, was wäre dann passiert während der Wirtschafts- und Finanzkrise? Was wäre passiert nach dem angekündigten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union? Alle Regierungen, alle Zentralbanken der Mitgliedstaaten, die dann im Europäischen Währungssystem verblieben gewesen wären, hätten ihr eigenes Ding gemacht und Europa wäre den Krebsgang gegangen. Insofern gilt es, an dem Bewährten festzuhalten und die Menge dessen, was sich einmal bewähren muss, anwachsen zu lassen, wobei ich doch zwei Wünsche habe: wir brauchen in Europa mehr Geduld, mehr Aufmerksamkeit für die anderen, mehr Umsicht im Umgang mit anderen Kontinenten und manchmal auch mit uns selbst. Man braucht die Geduld, die man braucht, wenn man eine lange Wegstrecke vor sich hat und wenn man größere Ambitionen für den Kontinent hat, und – das ist mir besonders wichtig – wir müssen wissen, wir sind nicht alleine auf der Welt. Wir sind nicht alleine auf der Welt. Wenn ich die Lebensumstände – obwohl ich das nicht schönreden möchte, weil es gibt auch viele Arme in Europa – vergleiche mit denen der Generation meiner Eltern und Großeltern, ist das doch fantastisch, dass wir so viel Wohlstand in einem friedlichen Umfeld geschafft haben. Aber solange jeden Tag fast 20,000 Kinder weltweit den Hungertod sterben, solange ist Europa mit seiner Aufgabe nicht am Ende angekommen. Ich danke für das aufmerksame Zuhören. SPEECH/16/2863
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