Altes Handwerk

Kleines Familien­unter­
nehmen mit grossem Namen.
Vater Jo, 63, und Tochter
Viola Lindauer, 26, – beide
gelernte Schreiner – bauen in
ihrer Werkstatt in Schwyz
ihre begehrten Rodel.
Altes Handwerk
Die
Rodelbauer
Vater und Tochter Jo und Viola Lindauer aus Schwyz
schreinern schnelle, schnittige Rodel – den sportlichen Bruder
des klassischen Schlittens. Wintersportler fahren voll drauf ab.
Text Marcel Huwyler Fotos H. R. Rohrer
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Altes Haus mit grosser Geschichte:
die Werkstatt mitten in Schwyz.
W
intersport
macht Freude.
Vor allem,
wenn man
die anderen
überholt. Das sei jedes Mal gross­
artig, schwärmt Jo Lindauer, wenn
er auf der Skipiste auf einem Flach­
stück an staunenden Skifahrern
vorbeisirre und sie alle überhole.
Nicht mit den Ski – mit seinem
Rodel: Marke Eigenbau, LindauerRodel, Swiss made, Schwyz made.
Jo Lindauer ist einer der wenigen
Rodelbauer in der Schweiz.
WAS IST DER UNTERSCHIED?
An einer engen, steil ansteigenden
Gasse, der Klösterlistrasse 13 in
Schwyz, da steht dieses Prachthaus.
Ein paar hundert Jahre unterm
Dach, mächtig, stattlich, stolz. Der
Untergrund gemauert, darauf fünf
Stockwerke aus Holz, die Wände
mit Rundschindeln verkleidet, eine
geschnitzte Heiligenstatue schaut
von der Fassade auf die Besucher
herunter. Hier ist die Schreinerei
Lindauer daheim, das Firmenlogo
an der Hauswand zeigt schnee­
bedeckte Berge, von denen ein Rodel
ins Tal hinunterkurvt.
Schlitten und Rodel sind nicht das
Gleiche. Zwar sind sie wie Brüder,
mögen ähnlich aussehen, wer aber
einmal einen Rodel gelenkt hat,
will nicht mehr auf den Schlitten
sitzen. Schlitteln bedeutet oft hilf­
loses Geradeausfahren auf einem
bockigen Gefährt. Rodeln dagegen
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ist präzises Lenken und elegantes
­Gleiten inklusive Carvinggefühl.
Eine Schlittenfahrt – seien wir
mal ehrlich –, die ist zwar lustig,
gesellig und gehört zum Finale
eines jeden Fonduestübli-Plausches,
aber w
­ irklich im Griff haben das
starre Gefährt die wenigsten. Ein
Gemurkse (und Gekreische) ists
in jeder Kurve, die Füsse ­stochern
im Schnee und erzwingen so irgend­
wie doch noch einen Richtungs­
wechsel. Ganz anders mit dem
Rodel: Der Hightech-Untersatz im
modernen Design hat ein elastisches
Gerüst, beweg­liche Kufen und lässt
sich mithilfe des Steuerseils und
einer Gewichts­ver­lage­rung spielend
leicht lenken. Rodeln – das ist
Rennschlitteln, das ist Sport, Sausen,
Stieben und Surfen im Schnee.
Das fährt sich wie auf Schienen.
KLEINER FAMILIENBETRIEB
Die Werkstatt ist ein Duft-Buffet:
Harz, Leim, Lack, Farbe, Sägemehl.
Und Holz natürlich. Gerüche von
gelagertem, gesägtem, gefrästem,
geraspeltem, geschmirgeltem und
geschliffenem Holz. «Und zwar nur
von stramm gewachsenen Eschen
aus Wäldern der Region, jahrelang gelagert und getrocknet», sagt
Jo Lindauer. Der 63-Jährige mit
dem silbergrauen Haarschopf und
dem kecken Blick eines Tüftlers
trägt beim Arbeiten eine für Schrei­
ner eher unübliche Outdoorjacke.
Man merkt: Hier gehts sportlichschnittig zu Werke. Die Rodel­
bauerei Lindauer beschäftigt zwei
Personen: Vater und Tochter, Jo
und Viola. Die 26-Jährige machte
bereits die Schreinerlehre bei ihrem
Papa. Was irgendwie nur logisch
sei, sagt sie: «Denn schon als kleines
Mädchen spielte ich am liebsten
hier in der Werkstatt.» Vater und
Tochter, Tag für Tag, immer nur
zu zweit, am gleichen Arbeitsplatz –
da ist wohl nicht nur das Holz unter
Spannung. Doch beide schütteln
den Kopf, nein, sie hätten es tipp­
topp zusammen, keinerlei Konflikte,
man harmoniere bestens. Sie
sind ja auch aus dem gleichen Holz
geschnitzt. Vater und Tochter
­Lindauer funktionieren denn auch
so präzise aufeinander abgestimmt,
derart parallel, zielorientiert und
spursicher – wie die beiden Kufen
ihrer Rodel.
Der Bau eines Lindauer-Rodels
benötigt 150 Arbeitsschritte. Ganz
besonders heikel ist es, die Eschen­
holzteile in die gewollte Form
zu biegen. In alten Zeiten wurden
dazu Baumstämme verwendet,
die von Natur aus die gewünschte
Krümmung hatten. Später bog
man das Holz mithilfe von Wasser­
dampf zurecht. Heute heisst das
Zauberwort: Schichtverleimung.
Bis zu elf dünne Holzlättli werden
zusammengeleimt und mit einer
Maschine (Marke Eigenbau Jo
­Lindauer und drum fast so etwas
wie ein Betriebsgeheimnis) in die
benötigte Form gepresst. Viele Teile
werden im Sommer vorfabriziert
und dann in den struben Winter­
monaten, wenn die Nachfrage am
Der direkte Kunden­
kontakt ist Lindauers
wichtig. In ihrem
­Verkaufsraum bieten
sie allerlei Rodel an.
Schicht für Schicht. Bis
zu elf Lagen Eschenholz-­
Latten werden zusammen­
geleimt und in Form
gepresst. Das garantiert
maximale ­Elastizität.
Die Kunst ist, das Holz in die
richtige Form zu biegen
Jo Lindauer
schleift ein ver­
leimtes Holzstück.
Zwar könnte er
mehr Rodel bauen,
«doch wir wollen
klein bleiben und
keine Massenware
produzieren».
Das Lager.
­Während der
ruhigeren
­Sommermonate
werden Rodel­
teile vorpro­
duziert und im
Winter dann
je nach Kunden­
wunsch zusammengebaut.
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grössten ist, zusammengebaut.
Kufen, Latten, Lenkseil und eine
Sitzblache, Lkw-Blachen, im haus­
eigenen Nähatelier zugeschnitten.
Je nach Kundenwunsch wird der
Rodel am Schluss lackiert oder in
einem futuristischen Design gespritzt.
SKI, SCHLITTEN UND SÄRGE
Pro Jahr baut Familie Lindauer etwa
70 Rodel, zudem aber auch 200
«normale» Schlitten im Stile des
«Davosers». Den Klassiker gibts als
Längslatten- und Querlattenschlit­
ten. Zwar schlägt das Lin­dauer’sche
Erfinder- und Tüftlerherz besonders
für die Weiterentwicklung ihres
Rodels, doch auch den guten alten
Schlitten produziert man weiterhin.
Nicht zuletzt der Familiengeschichte
zuliebe. Und die ist doch ziemlich
spannend.
Mit Viola ist mittlerweile die vierte
Generation im Geschäft. Schon ihr
Urgrossvater Josef Maria Lindauer
fabrizierte um 1900 herum, nebst
den üblichen Schreinerstücken,
auch Schlitten. Grossvater Josef
Franz, von allen nur Sebi genannt,
baute nicht nur Schlitten, sondern
auch Skibobs und sogar Ski. Im
Verkaufsraum der Lindauers stehen
noch ein paar der Latten, «Lin­
dauer» steht auf den Deckbelägen,
und die in mühseliger Feinarbeit
angeschräubelten Stahlkanten haben
heute Staun- und Schmunzelfaktor.
Wirklich berühmt wurde Sebi Lin­
dauer aber als Sportler. Er war Ski­
rennfahrer, Langläufer und Biathlet.
Und schaffte es bis ganz nach oben –
an die Olympischen Winterspiele
1936 in Garmisch-Partenkirchen.
Sebi belegte Rang sieben in der
Disziplin Militärpatrouillenlauf. Im
Verkaufsraum hängen noch heute
ein paar Erinnerungsstücke: etwa
sein «Olympia-Ausweis, Nr. 2262»
oder ein Foto, schwarz-weiss-gelbvergilbt, Sebi in Garmisch, mit
Dächlikappe, die Ski geschultert,
ein Köfferli in der Hand. Und ganz
besonders neckisch ist jenes Bild
vom Olympiarennen, wie Sebi mit
Filzhut und Skistöcken (mit frisbee­
grossen Stocktellern) durch den
Tiefschnee stiebt, dazu die Bild­
legende «Lindauer hält durch».
Seinen Vorvätern hat Jo eine Art
Gedenkstätte errichtet. In einer
Ecke der Werkstatt stehen Fotos
der Ahnen, dazu Gegenstände
von ihnen: eine Nickelbrille, eine
Taschenuhr, ein Hobel. Und zwei
alte, staubige Flaschen, «gefüllt
mit schwarzer Lackfarbe», erklärt
Jo L
­ indauer, «damit haben mein
Gross­vater und mein Vater früher
die von ihnen gezimmerten Särge
bemalt».
DAS GEHEIMNIS DER KUFEN
Jo Lindauer selber ist seit 1970
im Geschäft. Erst baute er Skibobs,
optimierte sie und machte sie so
schnell, dass 1977 ein Schweizer
auf einem Lindauer-Skibob Welt­
meister wurde. Später baut Jo vor
allem Schlitten, seit 2006 seinen
berühmten Rodel, der mittlerweile
Die Vorfahren.
Urgrossvater
Josef Maria
(rechts), Gross­
vater Sebi. In
den Flaschen
ist schwarzer
Lack, der früher
fürs Bemalen
von Särgen ver­
wendet wurde.
Grossvater Sebi Lindauer baute
gar seine eigene Skimarke auf.
auch an Wettkämpfen von Renn­
rodlern (nicht im Eiskanal, sondern
auf offenem Gelände) enorm
geschätzt und erfolgreich ist.
Besonders stolz sind die Lindauers
auf ihre auswechselbaren Gleit­
flächen, die man auf die Rodelkufen
aufziehen kann. Beschaffenheit und
Herstellung sind Familiengeheim­
nis. Nur so viel verrät Jo Lindauer:
Die für Rost anfälligen Metallkufen
habe er durch einen speziellen
Kunststoff ersetzt. Jahrelang tüftelte
er daran herum, nun gleiten seine
Rodel dank diesen Kunststoffschie­
nen so gut, dass man bei Testfahrten
gar Skifahrer überholen kann.
Seit vier Generationen sind
die Lindauers am Werken
DAS RASANTE FINALE
Testfahrt. An den Wochen­
enden probieren Viola und
Jo Lindauer jeden ihrer
frisch gebauten Rodel aus.
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Sowieso – diese Testfahrten.
Quasi die Belohnung jeder Arbeit.
Das Schönste zum Schluss – mit
viel Schuss: Am Wochenende packen
Lindauers ihre neu gebauten Rodel
ins Auto und fahren in ein nahe
gelegenes Skigebiet, wo jedes Stück
getestet wird: Tempo, Kurven­radius,
Gleitfähigkeit – «ich liebe das
­rassige Design eines Rodels und
das schnelle, schnittige Fahren mit
ihm», sagt Viola Lindauer. Und
die Frau weiss, wovon sie spricht:
In ihrer Freizeit verschönert, tunt
und pimpt sie Autos und fährt damit Rennen. Ob Rodel oder Auto –
die Lindauers mögen es ziemlich
abgefahren. C
Netzwerk www.lindauerschlitten.ch
Viola Lindauer baut
einen Rodel in
150 Arbeitsschritten
zusammen. Es gibt
­verschiedene Aus­
führungen, alle kosten
um die 600 Franken.
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