Musik Aus unseren Archiven [Orchestergeschichten], Dienstag von 20:03 bis 21:00 Uhr SWR2 Orchestergeschichten (1/10) RSO Stuttgart. Neuanfang. Hans Müller-Kray und andere. Von Reinhard Ermen Die beiden Orchester des SWR, Das Radio Sinfonieorchester Stuttgart und das Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg wurden beide 1946 gegründet; ganz bewusst als Klangkörper des Rundfunks und seiner Bedürfnisse. Kurz bevor die große Fusion die Musiklandschaft nicht nur des SWR verändern wird, nehmen wir dieses Doppeljubiläum zum Anlass, in unserer Archivsendung am Dienstagabend ‚Geschichten‘ von zwei Orchestern zu erzählen, die in ihren Sendebereichen unterschiedliche aber auch ähnliche Aufgaben übernahmen. Die insgesamt 10 Folgen bieten keinen durchgehenden, lückenlosen Rückblick, sondern eine Historie in Einzelaspekten: Das Ganze nicht en bloc, vielmehr in einem dialogischen Ping Pong zwischen Stuttgart und Baden-Baden. Heute die erste Folge: Das RSO Stuttgart. Neuanfang. Hans Müller-Kray, Schuricht und andere. Am Mikrophon ist Reinhard Ermen. Igor Strawinsky, Suite2 für kleines Orchester: Marche RSO Stuttgart, Rolf Unkel 06.06.1946 M0-000789 = 1.17 Der Marsch aus der 2. Suite von Igor Strawinsky, also ein Stück für kleines Orchester, hier gespielt von einem Klangkörper, der zur Zeit der Aufnahme im Juni 1946 das „Große Orchester von Radio Stuttgart“ hieß. In einem weniger historisch orientierten Zusammenhang würde man heute ganz korrekt vom RSO Stuttgart des SWR sprechen, das inzwischen 70 Jahre alt ist. Wann dieses Orchester genau gegründet wurde, ist gar nicht so leicht zu sagen, diese selbstbewusste Namensgebung (nach Auskunft des Archivs im Frühjahr 1946) markiert den Anfang als ein mit 57 Stellen durchaus groß zu nennendes Ensemble. Schon unmittelbar nach dem Krieg, im Oktober 1945 gab es hier ein kleines Orchester, das vom 1 Staatsopernkapellmeister Josef Dünnwald geleitet wurde. Ab Dezember 45 war es bereits auf 40 Musiker angewachsen, die von dem Komponisten Rolf Unkel beaufsichtigt wurden. Er dirigierte auch die Aufnahme mit der Strawinsky Suite. Das passt in diese Zeit, denn im Radio wurde viel aufgeholt, was zwischen 1933 und 45 nicht so genehm oder gar verboten war. Man produzierte für den Sendebetrieb, bzw. für das eine Programm auf der Mittelwelle. Radio Stuttgart stand unter Aufsicht des der amerikanischen Militärbehörde. Erst 1949 wurde der Sender als „Süddeutscher Rundfunk“ eine „Anstalt des öffentlichen Rechts“ im späteren Land Baden-Württemberg. Dass es in Stuttgart schon ab 1924 einen Sender gab, die Süddeutsche Rundfunk AG, ab 1933 der Reichssender Stuttgart, sei hier nur am Rande erwähnt. Immerhin gab es hier trotz der kruden Zeiten Orchester und Chöre und damit verbunden eine qualitativ hochstehende Funkproduktion, die sich als Tradition auch in den Nachkriegssender einschrieb. Doch ganz offiziell waren die Kollektive des Radios nach 1945 Neugründungen. Was die Aufnahme mit der Strawinsky-Suite angeht, so klingt die aus heutiger Perspektive durchaus frisch, besonders, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das arme, hungrige Zeiten waren. Richard Zettler, seit dem 1. Dezember 1945 als Soloposaunist bei Radio Stuttgart, erinnert sich mehr als 50 Jahre später an das erste Kernorchester und erste künstlerische Auseinandersetzungen. O-Ton Zettler 1 = 0.15 „Der Dirigent war Rolf Unkel … den sich der Funk gewünscht hat.“ Die ersten Jahre, so hat man heute gelegentlich den Eindruck, waren ein Kommen und Gehen. Denn nach Rolf Unkel, der später gelegentlich noch als freier Mitarbeiter, auch mit eigenen Kompositionen, beim Südfunk zu hören war, kam Gustav Koslik. O-Ton Zettler 3 = 0.47 „Und ich muss ehrlich sagen … weil es ihm einfach gesundheitlich zu viel war.“ 2 Gustav Koslik kam als Gast noch bis ins hohe Alter. Auch er war in seiner Stuttgarter Zeit als Chefdirigent dafür da, den Sendebetrieb mit Repertoirestücken und Novitäten zu versorgen, zum Beispiel im Juli 1946 mit einer außergewöhnlichen Neuheit: „Peter und der Wolf“ von Sergej Prokofjew. Das dürfte eine der frühesten Aufnahmen dieses Musikmärchens im deutschen Sprachraum gewesen sein. 10 Jahre zuvor war es in Moskau uraufgeführt worden. Musikpädagogik, nicht nur für Kinder! Sprecherin war seinerzeit Mila Kopp. Sie war dem Stuttgarter Staatstheater zeitlebens sehr verbunden. Sergej Prokofjew, Peter und der Wolf (Ausschnitt) Mila Kopp, RSO Stuttgart, Gustav Koslik 13.07.1946 M0-018778 = 3.46 Sergej Prokofjews Musikmärchen „Peter und der Wolf“, ein Stück aus dem Anfang; mit Mila Kopp und dem RSO, das damals noch das „Große Orchester von Radio Stuttgart“ war. Am Pult stand Gustav Koslik. Die Aufnahme entstand 1946. Programmdirektor war seit dem 1. Februar 1946 Dr. Peter Kehm, der Sohn eines Stuttgarter Theaterdirektors, der eigentlich selber zum Theater wollte, dann aber beim Rundfunk geblieben ist. Sein Erinnerungsbuch von 1990 „Vorrübergehend lebenslänglich“ ist nicht nur eine wichtige Quelle zur Zeitgeschichte, sondern auch eine amüsante Lektüre über einen Betrieb, der sich entwickelt. Die Versuchung ist groß, gelegentlich eine Geschichte oder ein Geschichtchen weiterzuerzählen, zum Beispiel über Mila Kopp, die mit der Familie Kehm gut befreundet war, aber auch über exzellente Kontakte zu Radio Stuttgart verfügte. Der Administrative Officer von Radio Stuttgart Captain Fred G. Taylor war ein großer Verehrer von Mila Kopp; sie hatte den Vorstellungstermin von Kehm beim Radio eingefädelt. Und das war gut so. Der junge Programmdirektor war auch für die Orchester des Senders zuständig. Er engagierte für das große Radioorchester als Chefdirigenten Hans Müller-Kray. Dienstbeginn 1. September 1948. Das war eine folgenreiche Entscheidung, denn dieser gewissenhafte Mann hat dem Orchester für lange Zeit seinen Stempel aufgedrückt, nämlich bis zu seinem unerwarteten Tod 1969; ab 1950 auch als 3 Hauptabteilungsleiter für die Musik. Das Orchester bestand inzwischen aus 75 Mitgliedern. O-To Zettler 4 = 0.21 „Und nachdem Dr. Koslik gesagt hat … der kam aus Wiesbaden.“ Hans Müller wurde 1908 in Kray geboren; den Namen dieses Ortes, der später ein Stadtteil von Essen wurde, hängte er sich später an den eigenen Namen und machte ihn damit unverwechselbar. Hans Müller-Kray war das jüngste von 14 Kindern eines Bergbaumeisters, der ehrenamtlich auch eine Knappenkapelle leitete. Hier kam der Junge früh zur Musik. Trotzdem begann er noch eine kaufmännische Lehre, bevor er sein Studium an der Folkwang-Schule in Essen begann, wo er schließlich das Musiklehrer Examen machte. Er war Korrepetitor in Essen, Kapellmeister in Münster und zwischen 1942 und 45 Leiter des Orchesters beim Reichssender Frankfurt (Main). Nach dem Krieg ging er als Erster Kapellmeister nach Wiesbaden. O-Ton Zettler 5 = 0.23 „Es war ein sehr guter Dirigent … man konnte sich 100prozenig drauf verlassen.“ Guiseppe Verdi, Traviata Vorspiel RSO Stuttgart, HMK 12/1948 M0-261145 (001) = 3.45 Schon zu Zeiten des Reichssenders wurde in Stuttgart Oper produziert. Diese Tradition hat Hans Müller-Kray fortgesetzt. Er hatte ein Händchen für Verdi. Allein von diesem Komponisten produzierte er insgesamt vier Gesamtaufnahmen und das Requiem. Den Anfang machte die „Traviata“ im Dezember 1948 im Saal des Wirtshauses Krone in Untertürkheim. Später kam als Produktionsstandort das Straßenbahner Waldheim in Degerloch hinzu, das im Übrigen eine ausgezeichnete Akustik hatte. Zeitweilig ging man auch in einen Kinosaal, das Metropol. Ein Ende der Provisorien zeichnete sich ab, als Anfang der 50er Jahre der Süddeutsche Rundfunk die Villa Berg in Stuttgart übernahm und dort einen großzügigen 4 Sendesaal einrichtete. Ab 1957 kam der Neubau des Funkstudios nebenan hinzu, das eine würdige Residenz für das wachsende RSO wurde. O-Ton 7 HMK = 0.10 Ich weiß gar nicht, wie wir damals hießen …nach Stuttgart kam.“ Hans Müller Kray erinnert sich 1969 kurz vor seinem Tod. Was er da ansprach erscheint beim Blick in die Materialien des Archivs in der Tat etwas verwirrend. Das „Große Orchester von Radio Stuttgart“ wurde gelegentlich auch schon mal als „Radio Stuttgart-Symphonieorchester“ bezeichnet oder als „Radio Stuttgart Orchester“. 1949, im Zusammenhang mit der Übergabe des Senders in deutsche Hände, wurde es gleich zweimal neubenannt. Im Sommer 49 hieß es „Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks“, ab Juli 1959 sprach man vom „Südfunk Sinfonieorchester“; der heute noch vertraute Name „Radio Sinfonieorchester Stuttgart“ (kurz: RSO) kam im Januar 1975. Hans Müller –Kray war ein solider Dirigent mit gelegentlichen Sternstunden, vor allen Dingen aber ein guter Trainer seines Klangkörpers; früher nannte man das einen „Orchestererzieher“. Er war kein Kommunikationsgenie, auch ein Skeptiker in Sachen moderner Technik. Überliefert ist eine Antwort aus der Mitte der 60er Jahre, als er gefragt wurde, was er von der Stereophonie halte. Da sagte er sinngemäß: Die neue Errungenschaft interessiere ihn weniger, er höre seine Sendungen ohnehin nur auf der Mittelwelle, weil da das Klangbild “weicher“ sei. Das klingt heute komisch, doch als die CD eingeführt wurde konnte man von eingefleischten Nostalgikern ähnliche Statements hören. – Zurück zu Müller-Kray. Wahrscheinlich war er auch ein Realist, der sich als Orchesterleiter ein menschliches Antlitz bewahren wollte. O-Ton 8 HMK = 1.06 „Gute Kollegen, soviel gute Kapellmeister … damit das Menschliche nicht verloren geht.“ Die Stücke waren wichtiger als die Interpretationen! In den ersten Jahren seiner Amtszeit war er, wie alle, damit beschäftigt, dem Sendebetrieb Musik zuzuführen; Gustav Mahler etwa. Müller-Krays Aufnahme der Vierten vom Juni 1949 ist die erste 5 Gesamtaufnahme eine Mahler Sinfonie im gesamten Archivbestand des SWR. Die Musizierweise klingt heute ein wenig wie buchstabiert, profitiert aber vom Charme der frühen Jahre. Man meint zu hören, dass hier einer Neuentdeckung vor sich geht, man tastet sich in den Text, aber das Ergebnis verdient die Etiketten „durchhörbar“ & „textverständlich“. Die Überschrift zum vierten Satz lautet: Sehr behaglich. Solistin ist Elfriede Trötschel. Gustav Mahler, Sinfonie 4, 4. Satz Elfriede Trötschel, RSO Stuttgart, HMK 03.06.1949 M0-275471 (004) = 9.47 Der vierte Satz aus Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 4 in einer Aufnahme vom Juni 1949 mit dem RSO Stuttgart unter Hans Müller Kray und der Sopranistin Elfriede Trötschel. O-Ton Bausch 11 = 0.47 „Hand Müller-Kray hat im Musikprogramm … treu und fleißig mit seinen Musikern erarbeitet hat.“ Hans Bausch, seit 1958 Intendant des Süddeutschen Rundfunks, über Hans MüllerKray, der am 30. Mai 1969 im Alter von 60 Jahren in Stuttgart gestorben ist. O-Ton Bausch 12 = 1.02 „Am vergangenen Montag haben wir … an diesen bedeutenden Mann bewahren.“ Bescheidenheit, Sachlichkeit und Fleiß waren die Tugenden dieses Erziehers. Das ist seinen Aufnahmen anzuhören, wobei das Quäntchen an Objektivität, das dabei mitläuft, eine Qualität ist, die heute möglicherweise etwas mehr zählt. Dem Orchesterklang ist gelegentlich anzuhören, dass er noch unterwegs ist zu einem allgemeinverbindlichen Niveau. Aus den Reihen der Musiker formuliert sich indessen bald das Bedürfnis nach erfüllten Augenblicken, die die Arbeit selbst vergessen lassen. Dazu nochmal Richard Zettler, Soloposaunist beim RSO seit der ersten Stunde. 6 O-Ton Zettler 6 „Wo er Schwierigkeiten hatte … hier fängt die Musik an.“ April 1950, Carl Schuricht mit der Ouvertüre zur Schauspielmusik zu „Athalia“ op. 74 von Felix Mendelssohn. Felix Mendelssohn, „Athalia“ op. 74. Ouvertüre RSO Stuttgart, Carl Schuricht 29. 04. 1950 M0-006087 = 9.28 Carl Schuricht dirigierte die Ouvertüre zur Schauspielmusik „Athalia“ von Felix Mendelssohn. Bald prägten auch Gastdirigenten den Stuttgarter Betrieb. Vielleicht sah Müller-Kray, der ja auch Hauptabteilungsleiter der Musik in Stuttgart war, und damit auch Manager des Klangkörpers in solchen Engagements eine Fortsetzung der Aufbauarbeit. So kam Furtwängler im März 1954, um seine eigene zweite Sinfonie zu dirigieren. Häufiger kam in diesen frühen Jahren Ferenc Fricsay und eben Carl Schuricht, der hier so etwas wie der erste Gastdirigent war. Das erste offizielle Konzert mit dem RSO war am 5. November 1950. Die Aufnahme der „Athalia“-Ouvertüre aus dem Straßenbahner Waldheim entstand am 29. April 1950. Sozusagen als Probeaufnahme, um den Kandidaten zu testen, so kann man es in den Erinnerungen von Peter Kehm nachlesen. Die Verbindung funktionierte. Über 120 Aufnahmen, also Konzertmitschnitte und Produktionen entstanden, wie Ulf Scharlau, der langjährige Leiter des SDR Schallarchivs betont, - der größte Teil des akustischen Nachlasses von Schuricht ist heute in Stuttgart zu finden. Der Dirigent wurde 1880 in Danzig geboren und entwickelte sich langsam zu einem der wichtigsten Orchesterleiter seiner Zeit in Deutschland, durchaus in Augenhöhe mit Bruno Walter oder Otto Klemperer. Im Zentrum seiner Arbeit stand die Stadt Wiesbaden, doch war seine Ausstrahlung europaweit. Besonders eng arbeitete er mit dem Concertgebouw in Amsterdam zusammen, die bedeutenden Orchester in Deutschland hat er ebenfalls dirigiert. Ende 1944, buchstäblich in letzter Minute, entging er seiner Verhaftung durch die Emigration in die Schweiz. Nach dem Krieg machte er eine große internationale Karriere, die ihm freilich noch genug Zeit ließ, 7 um bei den deutschen Rundfunkanstalten zu gastieren; mit besonderer Vorliebe eben in Stuttgart. Er vermittelte dem Orchester seine Könnerschaft in Verbindung mit der Tradition der deutschen Schule, deren Teil er selber war, um es einmal ganz allgemein zu sagen. Dazu gehörte auch das entsprechende Repertoire, also Mozart, Haydn, Beethoven, Brahms, Bruckner uns andere, auch Strauss und Mahler. Der Mann mit der charismatischen Persönlichkeit entwickelte zum RSO eine besondere Vorliebe. Sein Loblied in diesem Sinne, 1956 bei einer öffentlichen Veranstaltung zum Ludwigsburger Mozartfest 1956, klingt jedenfalls so: O-Ton Schuricht 13 = 1.46 „Übrigens ist es mir ein besonderes Bedürfnis … den Ausdruck meines allerwärmsten Dankes.“ Auch seine letzte Aufnahme entstand im März 1966 in Stuttgart, eine Stereoproduktion mit Brahms Zweiter und sinfonischen „Parsifal“-Auszügen. Am 7. Januar des folgenden Jahres ist er in der Schweiz gestorben. Richard Wagner, Parsifal (Schluss) RSO Stuttgart, Carl Schuricht 18.03.1966 M0-010319 (001) = Auf Zeit Der Schluss aus Richard Wagners „Parsifal“ in einer Sinfonischen Fassung mit dem RSO Stuttgart unter Carl Schuricht; aufgenommen am 18. März 1966. Die frühen Jahre waren zu diesem Zeitpunkt längst vorbei. Die erste Folge unserer Orchestergeschichten ging damit zu Ende. In der nächsten Woche widmet sich an dieser Stelle Lydia Jeschke den frühen Jahren beim SWF: Wie alles begann. Heinrich Strobel, Hans Rosbaud und die Energie des Aufbruchs. – Am Mikrophon verabschiedet sich Reinhard Ermen. 8
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