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Herrn
Richter Dr. Jürgen Koll
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Berlin, den
02.05.2016
15 A 4193/15 As SN
AFR 40-16.007
15.08.2016
VERWALTUNGSSTREITVERFAHREN EINES MUTMAßLICHEN ERITREISCHEN STAATSANGEHÖRIGEN
Sehr geehrter Herr Richter Dr. Koll,
vielen Dank für Ihre Anfrage in der Verwaltungsrechtssache eines mutmaßlichen eritreischen
Staatsangehörigen und die Zusendung zusätzlicher Unterlagen.
Ihre Fragen kann Amnesty International wie folgt beantworten:
1. Hat der Kläger ab der Staatsgründung Eritreas am 24. Mai 1993 die eritreische
Staatsangehörigkeit besessen?
Es ist vorab darauf hinzuweisen, dass Amnesty International keine Expertise für die Verifizierung der
Echtheit von Passdokumenten besitzt.
a)
Die den zusätzlichen Unterlagen beigefügte Kopie des eritreischen Personalausweises der Mutter des
Klägers entspricht optisch dem eritreischen Personalausweis, der für die Teilnahme am Referendum
über die Unabhängigkeit Eritreas im Jahr 1993 ausgestellt wurde. Die Echtheit des Dokumentes
vorausgesetzt ist folglich davon auszugehen, dass die Mutter des Klägers die eritreische
Staatsangehörigkeit besaß.
Art. 3 Abs. 1 der eritreischen Verfassung bestimmt zwar, dass Eritreer durch Geburt sei, wessen Mutter
oder Vater Eritreer ist. Die Verfassung wurde jedoch seit ihrer Annahme im Jahr 1997 nicht offiziell in
Kraft gesetzt. Die eritreische Staatsangehörigkeit wird durch die Eritreische
Staatsangehörigkeitsverordnung (Eritrean Nationality Proclamation No. 21/1992) geregelt. Nach Art. 2
Abs. 5 der Verordnung besitzt jede Person die eritreische Staatsangehörigkeit durch Geburt, deren
Vater oder Mutter eritreischer Abstammung ist, unabhängig davon, ob der Wohnsitz in Eritrea oder
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außerhalb liegt. Die Echtheit des Personalausweises der Mutter vorausgesetzt ist demnach davon
auszugehen, dass auch der Kläger die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt.
b)
Würde die Kopie des Personalausweises der Mutter außer Acht gelassen werden und käme man so zu
der Annahme, dass die Eltern des Klägers im Jahr 1993 nicht am Referendum in Eritrea teilgenommen
hätten und somit auch nicht die eritreische Staatsangehörigkeit erlangt hätten, kann man umgekehrt
nicht davon ausgehen, dass die äthiopischen Behörden dem Kläger automatisch die äthiopische
Staatsangehörigkeit zuerkennen würden.
Die äthiopische Regierung hat im Rahmen des gewaltsamen Konfliktes mit Eritrea von 1998-2000
über 70 000 Personen u.a. wegen ihrer eritreischen Volkszugehörigkeit nach Eritrea abgeschoben und
ihnen ihre äthiopische Staatsangehörigkeit aberkannt. Alle Eritreer, deren man habhaft wurde, wurden
zunächst für ein bis zwei Tage festgenommen und dann in Bussen zur eritreischen Grenze gefahren
und gezwungen, diese in Richtung Eritrea zu passieren. Die Aberkennung der äthiopischen
Staatsangehörigkeit konnte auch Personen mit eritreischer Volkszugehörigkeit betreffen, die sich
außerhalb Äthiopiens aufhielten, insbesondere wenn diese am Referendum in Eritrea teilgenommen
haben. Dieses Vorgehen der äthiopischen Behörden sollte durch Art. 20 des neuen äthiopischen
Staatsangehörigkeitsgesetzes 2003 legalisiert werden. 1
Im Fall des Verlustes der Staatsangehörigkeit besteht nach Art. 22 die Möglichkeit, die
Wiedereinsetzung der Staatsangehörigkeit zu beantragen. Außerdem erließ die äthiopische Regierung
im Januar 2004 die „Directive to Determine the Residence Status of Eritrean Nationals Residing in
Ethiopia“2, wonach einer Person eritreischer Volkszugehörigkeit, die sich nicht für die Annahme der
eritreischen Staatsangehörigkeit entschieden hat, die äthiopische Staatsangehörigkeit garantiert wird
(Art. 4(2)). Ebenso kann im Rahmen dieser Direktive und auf Basis von Art. 22 des
Staatsbürgerschaftsgesetzes 2003 nach einem Verlust der äthiopischen Staatsangehörigkeit ihre
Wiedereinsetzung beantragt werden (Art. 4(3)). Weiterhin gibt es für Personen mit eritreischer
Volkszugehörigkeit mit permanentem Wohnsitz in Äthiopien die Möglichkeit, eine permanente
Aufenthaltserlaubnis zu erlangen (Art. 6(1)). Dies ist verbunden mit der Ausgabe eines
Fremdenausweises, der es der Person ermöglicht, ein- und auszureisen (Art. 6(2)).
Alle diese Möglichkeiten sind jedoch daran geknüpft, dass die Person ihren Wohnsitz in Äthiopien hat
und seit der Unabhängigkeit Eritreas im Jahr 1993 ununterbrochen in Äthiopien gelebt hat (Art. 1, Art.
2). Dies trifft auf den Kläger insofern nicht zu, als dass er sich seit seiner Geburt außerhalb von
Äthiopien aufhält, wie aus dem Beweisbeschluss hervorgeht. Wurde dem Kläger durch den
Auslandsaufenthalt die äthiopische Staatsangehörigkeit entzogen bzw. durch die eritreischstämmigen
Eltern gar nicht erst zuerkannt, hat er daher kaum eine Möglichkeit, ihre Wiedereinsetzung zu
beantragen.
Selbst wenn der Kläger über äthiopische Identifikationsdokumente verfügen würde, wäre nicht
sichergestellt, dass die äthiopischen Behörden ihm Passdokumente ausstellen und ihn zur Einreise
nach Äthiopien ermächtigen würden.
Laut Auswärtigem Amt ist „die Rückübernahme äthiopischer Passinhaber eritreischer Abstammung ...
nur dann gewährleistet, wenn { ein } Reisedokument deutlich nach Ausbruch des Grenzkonflikts mit
Eritrea im Mai 1998 ausgestellt wurde, da nur in diesen Fällen eine Überprüfung der
Staatsangehörigkeit wie auch eine Sicherheitsüberprüfung stattgefunden hat“ 3.
1
http://www.refworld.org/docid/409100414.html; 15.08.2016 12 Uhr 16
http://www.refworld.org/docid/48abd56c0.html; 15.08.2016 12 Uhr 19
3
Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien 2007; S.
20
2
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Laut dem kanadischen Amt für Immigration und Flüchtlinge besteht für Äthiopier mit eritreischer
Volkszugehörigkeit generell die Möglichkeit, einen Pass ausgestellt zu bekommen, wenn sie einen bis
mindestens 1998 gültigen alten äthiopischen Pass vorweisen können. In jedem Fall muss bei der
äthiopischen Botschaft ein Nachweis für die äthiopische Staatsbürgerschaft erbracht werden. Generell
behält sich die äthiopische Botschaft vor, die Anerkennung von Identifikationsdokumenten von
Äthiopiern eritreischer Volkszugehörigkeit zu verweigern und insbesondere Dokumente, die vor der
Unabhängigkeit Eritreas in Äthiopien ausgestellt wurden, für ungültig zu erklären4.
2. Müsste der Kläger bei seiner Einreise nach Eritrea unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit
befürchten, den Militär- oder den Nationaldienst wie ein eritreischer Staatsangehöriger zu
leisten?
Amnesty International warnt grundsätzlich vor der Abschiebung von Personen nach Eritrea. In Eritrea
gibt es keinerlei Rechtsstaatlichkeit. Die Menschenrechtssituation ist desaströs. So geht die UNUntersuchungskommission zur Menschenrechtssituation in ihrem Bericht 2016 von der Verübung von
Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus.5
Bezogen auf den Kläger sind insbesondere zwei Aspekte zu berücksichtigen:
1. Einziehung zum Militärdienst
a)
Die Echtheit des Personalausweises der Mutter des Klägers vorausgesetzt besitzt der Kläger die
eritreische Staatsangehörigkeit. In diesem Fall droht ihm bei einer Abschiebung nach Eritrea in jedem
Fall die Einziehung zum Militärdienst.
Jeder Erwachsene im Alter von 18 bis 50 Jahren muss in Eritrea Wehrdienst leisten. Dieser besteht aus
einer 18-monatigen Grundausbildung und sechsmonatigem Militärdienst. Anschließend folgt ein
zwölfmonatiger Einsatz, der auf unbestimmte Zeit verlängert werden kann. Dafür bekommen die
Rekrutierten 3-9 US-Dollar pro Monat. Dieser Lohn reicht nicht aus, um die Grundbedürfnisse zu
decken.
Die Regierung Eritreas behauptet, dass das System des unbefristeten Wehrdiensts zur
Selbstverteidigung gegen das Nachbarland Äthiopien notwendig wäre. Der Wehrdienst ist ausnahmslos
verpflichtend. Deserteure und deren Angehörige werden mindestens so lange inhaftiert, wie sie ihre
Wehrpflicht versäumt haben. Allerdings wird die Haftstrafe in vielen Fällen willkürlich verlängert.
Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nicht gestattet.
Die Umstände, unter denen der Wehrdienst abgeleistet werden musste, kommen Zwangsarbeit gleich.
Ein großer Teil der Bevölkerung war auf unbestimmte Zeit - in einigen Fällen bis zu 20 Jahre lang zum Militärdienst eingezogen. Die Wehrpflichtigen dienen in den Streitkräften und werden zu Arbeiten
in der Landwirtschaft, der Bauindustrie, im Schul- und öffentlichen Dienst sowie in anderen Bereichen
verpflichtet.
Das Militär führt Razzien durch, um Menschen aufzuspüren, die sich dem Wehrdienst entziehen
wollen. Personen, die von den Behörden bei einem Fluchtversuch aufgegriffen werden, werden
willkürlich ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren und unter harten Bedingungen inhaftiert. Sie
dürfen weder von einem Rechtsbeistand noch von Angehörigen besucht werden. Nach wie vor gibt es
4
http://www.refworld.org/docid/41501c072a.html; 15.08.2016 12 Uhr 45
https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G16/093/42/PDF/G1609342.pdf?OpenElement; 15.08.2016
14 Uhr 44
5
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einen Schießbefehl gegen jeden, der versucht, sich der Gefangennahme zu entziehen und die Grenze
nach Äthiopien zu überqueren.6
b)
Ginge man von dem Fall aus, dass der Kläger die äthiopische Staatsangehörigkeit besäße, was
entsprechend der oben erfolgten Erklärungen unwahrscheinlich ist: Amnesty International liegen keine
Informationen darüber vor, ob äthiopische Staatsangehörige in Eritrea zum Militärdienst eingezogen
wurden. Dies erscheint jedoch als unwahrscheinlich.
Die Feindseligkeiten zwischen Eritrea und Äthiopien sind so stark, dass Eritrea an der Grenze zu
Äthiopien noch immer eine „Shoot to kill policy“ verfolgt. Alle Personen, die über diese Grenze das
Land verlassen wollen, werden als Verräter angesehen. Auf sie wird geschossen. Daher erscheint es als
unwahrscheinlich, dass Eritrea Personen eritreischer Volkszugehörigkeit und mit äthiopischer
Staatsangehörigkeit für den Militärdienst rekrutieren würde.
2. Misstrauen der Behörden gegenüber Asylantragsstellern und Ausländern
Aus dem oben genannten Grund scheint es äußerst fragwürdig, dass Eritrea eine Person mit
äthiopischer Staatsangehörigkeit und eritreischer Volkszugehörigkeit überhaupt einreisen und
anschließend in Freiheit in Eritrea leben lassen würde.
Hinzu kommt, dass die eritreischen Behörden grundsätzlich jeder Person, die in einem Drittland einen
Asylantrag gestellt hat, misstrauisch gegenüberstehen. Flucht wird in Eritrea als Verrat und Opposition
zur Regierung verstanden. Daher muss jeder Asylantragsteller aus Eritreer bei einer Abschiebung nach
Eritrea mit sofortiger Verhaftung und Internierung durch Polizei und Militär rechnen.
Nachdem die Asylanträge der beiden eritreischen Staatsbürger Yonas Haile Mehari und Petros Aforki
Mulugeta in einem beschleunigten Verfahren am Flughafen Frankfurt/Main als offensichtlich
unbegründet abgelehnt worden waren, wurden die beiden Männer am 14. Mai 2008 nach Eritrea
abgeschoben. Bei ihrer Ankunft nahmen die eritreischen Behörden sie fest. Am 20. Juli wurden beide
Männer ins Gefängnis Adi Abeto überstellt. Am 30. Juli verlegten die Behörden Petros Aforki Mulugeta
in das Gefängnis von Wia. Yonas Haile Mehari, den die Behörden als Deserteur einstuften, wurde zu
einer Militäreinheit gebracht, wo er in Gefahr war, gefoltert oder in anderer Weise misshandelt zu
werden. Ihnen gelang später die Flucht und die Rückkehr nach Deutschland, wo ihnen die
Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde.7
In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Personen, die sich in anderen Ländern wie Ägypten
und Sudan als Flüchtlinge aus Eritrea registrieren lassen wollten, bei einer Abschiebung nach Eritrea
von den eritreischen Behörden verhaftet und in Geheimgefängnisse oder Militäreinrichtungen gebracht.
Derzeit befinden sich mehrere tausend Menschen in geheimen Hafteinrichtungen. Die
Haftbedingungen sind geprägt von unwürdiger Unterbringung und Folter. Die Unterbringung in
unterirdischen Zellen oder Schiffscontainern, häufig auch in Wüstengegenden, setzt die Gefangenen
extremer Hitze oder Kälte aus. Tageslicht, eine ausreichende Menge an Nahrung und Wasser, sanitäre
Einrichtungen und medizinische Versorgung werden den Inhaftierten vorenthalten.
Folter und andere Formen von Misshandlung sind alltäglich in eritreischen Gefängnissen. Gefangene
werden über lange Zeiträume hinweg in schmerzhaften Positionen gefesselt und dabei der Sonne
6
Vgl. Amnesty International: "Just Deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of
refugees", 2015 (http://www.amnesty.de/2015/12/2/eritrea-endloser-militaerdienst-vertreibt-ganze-generationenaus-ihrer-heimat?destination=node%2F2909)
7
https://www.amnesty.de/urgent-action/ua-145-2008/abschiebung
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ausgesetzt, geschlagen oder gezwungen, barfuß über scharfkantige Steine zu laufen oder nackt darüber
zu rollen. Viele Todesfälle sind in diesen Haftbedingungen begründet. 8
Auch für den Kläger ist nicht auszuschließen, dass seine bloße Asylantragsstellung als Landesverrat
erachtet und er folglich verhaftet wird. Ginge man davon aus, dass er die äthiopische
Staatsbürgerschaft besäße, ist zudem anzunehmen, dass das Misstrauen der eritreischen Behörden
noch potenziert würde.
Wir hoffen, Ihnen mit diesen Informationen weiterzuhelfen.
Mit freundlichen Grüßen
Franziska Ulm-Düsterhöft
Fachreferentin für Afrika
8
Vgl. Amnesty International: “Twenty years of independence but still no freedom”
(https://www.amnestyusa.org/sites/default/files/afr640012013.pdf)