Cochamo - Florian Sanktjohanser

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BERGE 41
DEFGH Nr. 98, Donnerstag, 28. April 2016
Blätter, Moose und
Flechten bilden einen
dichten Wald aus
Grüntönen. Durch ihn
führt ein alter Viehweg mit
neuer Hängebrücke.
Die Granitfelsen, zu denen
sich die ersten Kletterer
den Pfad noch freihacken
mussten, erinnern an
das Yosemite-Tal,
bevor dort die
Touristen einfielen.
FOTOS: SANKTJOHANSER
Planet
der Affen
Das Cochamó-Tal in Chiles Regenwald
wirkt wie eine andere Welt. Doch das Paradies
für Kletterer und Abenteurer ist bedroht.
Auch durch die Besucher
von florian sanktjohanser
D
as Leben im Paradies kann karg
und frostig sein. Aber Mono will
nicht klagen, hier am Lagerfeuer, unter den Sternen. Nicht über
die harte Arbeit, nicht über das kalte Wasser, mit dem er sich wäscht, nicht über die
Einsamkeit im Winter, wenn er allein in diesem Urwald-Tal in Patagonien sitzt. „Ich
bin sehr glücklich, hier zu leben“, sagt er.
„Ich habe frisches Wasser und frische
Luft.“ Vor allem aber hat Mono die Berge.
Tausend Meter hoch ragen ringsum Granitwände auf, von Gletschern zu Kuppeln und
Überhängen geschliffen. Nur dafür ist er
aus seiner Heimat Argentinien hierhergezogen, ins abgelegene Valle Cochamó in
Chile: um jeden Tag zu klettern.
„Das Yosemite Südamerikas“ nannten
US-Zeitungen und Klettermagazine das
Tal. Einer dieser lächerlichen SuperlativVergleiche. In diesem Fall aber eher untertrieben. Tatsächlich ist Cochamó so schön,
wie man sich das Yosemite-Tal vor 200 Jahren vorstellt, ohne Straßen, ohne Busse
voll lärmender Touristen. Klare Flüsse strömen durch den Regenwald, auf den Hängen wachsen uralte Baumriesen, Wasserfälle stürzen die Felswände herab.
„Ich sah diese Berge und war sofort hingerissen“, erzählt Christian Gallardo Lancaqueo, wie Mono bürgerlich heißt, von seinem ersten Besuch vor 13 Jahren. Seitdem
ist er immer wieder gekommen, vor fünf
Jahren schließlich blieb er. Mono ist so etwas wie der Hausmeister des Tals, er kümmert sich um die Schutzhütte und den Zeltplatz. Der 30-Jährige ist klein, drahtig und
hat kräftige Pranken. Daher sein spanischer Spitzname: Mono, Affe.
Früher schauten ab und zu ein paar fanatische Kletterer aus den USA und Europa
im Tal vorbei, meint Mono, das war’s. In
den vergangenen Jahren aber explodierte
die Zahl der Besucher, angelockt durch
Sehnsuchtsbildern mit einer Mischung
aus Regenwald, Flüssen und hohen Bergen. „Nur zehn Prozent der Gäste klettern
heute“, sagt Mono. Die übrigen sind Mochillandos, junge Chilenen, die mehrere Monate mit dem Rucksack durch ihr Land reisen. Ausländische Touristen dagegen haben meist noch nie von Cochamó gehört. In
Reiseführern kommt das Naturjuwel als
Randnotiz vor, wenn überhaupt. Der
Grund dafür ist einfach: die Anreise.
Rinder und Regen höhlten
den Weg aus. Heute ähnelt
er einem Schützengraben
Der Trek durch den Urwald beginnt bei
Claudio Sandoval. Er lebt mit seiner Frau
ein paar Kilometer hinter dem Fischerdorf
Cochamó in einem Holzhaus. Hier endet
die Straße – „Bitte registrieren!“, befiehlt
ein Schild. 8000 Besucher hätten im vergangenen Jahr in seinem Buch unterschrieben, sagt Sandoval. Allen gibt er einen Tipp
mit auf die Wanderung nach La Junta:
Nehmt den Weg ernst und geht nicht erst
um vier Uhr nachmittags los. „Auch wenn
es nur 16 Kilometer sind“, sagt Sandoval,
„es dauert sechs Stunden.“
Warum, sieht man bald. Die Stiefel sinken in den Morast, der Rucksack mit Zelt,
Schlafsack und Vorräten zerrt an den Schultern. Dabei trägt Jason Angress, der Wanderguide aus Kalifornien, ohnehin das
meiste. Immer gilt es, sich auf Seitenwegen durch Bambus zu zwängen, wenn der
Hauptweg zu matschig oder von einem umgestürzten Baum versperrt ist. Nicht gerade Genusswandern, aber der Weg wurde ja
auch fürs Vieh gemacht. Seit Jahrhunderten haben die Gauchos auf dem Pfad ihre
Rinderherden aus Argentinien über den Paso León zur Pazifikküste getrieben. Zwei
von ihnen sollen Butch Cassidy und Sun-
dance Kid gewesen sein. Die Bankräuber
hatten sich nach Patagonien abgesetzt,
nachdem es ihnen in den USA zu heiß geworden war.
Damit die Rinderhufe nicht in der vom
Regen weichen Erde versanken, legten die
Gauchos einen Knüppeldamm an. Mittlerweile ist nicht mehr von ihm übrig als zerbrochene und vermoderte Planken. Selbst
das Hartholz konnte nicht verhindern,
dass Rinder und Regen eine immer tiefere
Rinne gruben. Stellenweise ähnelt der Weg
einem Schützengraben.
Immerhin wurde vor zwei Jahren eine
Hängebrücke gebaut, zusammen mit einem halben Dutzend Holzstegen. Seitdem
muss man zumindest nicht mehr durch die
Flüsse und Bäche waten. „Aber es ist immer noch wild hier draußen“, sagt Angress.
„Die Leute haben ein trügerisches Gefühl
von Sicherheit.“ Manche ausgetrockneten
Flussarme sehen wie Wege aus, man verläuft sich leicht. Einmal habe er einen wimmernden Touristen gefunden, erzählt Angress, keine 50 Meter vom Weg entfernt,
aber verloren. Und wenn es heftig regnet –
und das passiert oft – könne der Fluss in
wenigen Stunden um Meter steigen.
Jason Angress, 35 Jahre alt, kam vor
fünf Jahren aus Tonga nach Patagonien.
Auf der Südseeinsel hatte er eine schöne
Chilenin getroffen und begonnen, im Internet über ihr Land zu lesen. Dabei stieß er
auf Bilder von Cochamó. Und er fand ein
Gedicht von Pablo Neruda mit der Zeile:
„Wer den chilenischen Wald nicht kennt,
kennt diesen Planeten nicht.“
Neruda hatte recht. Jeder Stamm, jeder
Ast, jeder Fels ist in tausend Grüntöne eingesponnen. Moose polstern den Boden,
Bartflechten hängen von den Zweigen und
basteln mit am Zauberwald. Irgendwo
lacht ein Magellanspecht.
Jason Angress liebt jenes Ökosystem
zwischen Pazifik und Anden namens Valdivianischer Regenwald. Obwohl er ein Gringo ist, kennt er ihn wahrscheinlich besser
als die meisten Einheimischen. Er doziert
über die vier Schichten des Waldes und die
drei Arten von Flechten. Er erklärt, dass es
hier in der Region Los Lagos, wo die Anden
aufs Meer treffen, viele Mikroklimata gibt
und damit auch außergewöhnlich viele Arten. Er holt seine Lupe heraus, um die
Pracht im Kleinen zu zeigen: Diese Farne
da hießen Paraguitas, sagt er. Sie sehen tatsächlich aus wie kleine Regenschirme.
Die letzte halbe Stunde folgt der Weg
dem smaragdgrünen Río Cochamó. Im klaren Wasser liegen Baumstämme, die zeigen, zu welcher Gewalt der Fluss anschwellen kann. Und dann, endlich, lichtet sich
das Blätterdach, und wir treten hinaus in
das Amphitheater aus Granit, Urwald und
Schnee, in Szene gesetzt von den letzten
Sonnenstrahlen.
Ein einziges Zelt steht auf der Lichtung
La Junta, ein paar Kühe grasen. Es ist Nebensaison. Als er das erste Mal hierher
kam, erzählt Angress, habe er sein NerudaGedicht in eine Tafel geritzt gefunden. „Da
wusste ich, dass ich am richtigen Ort angekommen bin.“
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4 km
SZ-Karte
So ähnlich ging es auch Clark Stede. Der
deutsche Abenteurer war lange um die
Welt gewandert und gesegelt, bis er Anfang der 1990er-Jahre ins Valle Cochamó
kam. Stede sah die Schönheit der Natur,
das touristische Potenzial. Er baute das
Campo Aventura und ritt mit seinen Gästen durch den Regenwald. Ein paar Jahre
später folgten ihm die ersten Kletterer, die
sich mit Macheten durch das Bambusdickicht bis zu den Felswänden hackten.
Heute kann man im Refugio Cochamó
in Doppelzimmern übernachten, auf dem
Zeltplatz stehen Hütten zum Kochen, Kompost-Toiletten und solarbeheizte Duschen.
Im Sommer quetschen Wanderer bis zu
400 Zelte auf die Lichtung. „Die Infrastruktur ist nicht bereit für die vielen Gäste, die
jetzt kommen“, sagt Angress. Der rasant zunehmende Tourismus ist eine Gefahr.
Aber vielleicht auch die Rettung.
Junge Chilenen rutschen gerne
die Felsen in den Pool hinab –
bis der Helikopter kommt
Denn die Energiekonzerne hatten das
Tal schon im Blick, am Río Cochamó waren
Staudämme und Kraftwerke geplant. Dutzende Firmen stritten angeblich um die
Wasserrechte. 2007 erklärte die Tourismusbehörde Sernatur das Valle Cochamó
zu einer wichtigen Tourismuszone, von
der Unesco wurde es als Biosphärenreservat anerkannt. Und 2008 überzeugte die
Organisation Conservación Cochamó die
Lokalregierung, die Gegend durch eine
Klausel im Wasserrechte-Gesetz zu schützen. Am Ende stoppte Chiles Präsidentin
Michelle Bachelet alle Energieprojekte per
Erlass. „Es war ein Wunder“, sagt Angress.
„Aber der Schutz ist schwach.“ Künftige
Präsidenten könnten den Erlass zurücknehmen. Deshalb sei es wichtig, das Tal
zum Nationalpark zu erklären. „Das wird
aber noch viele Jahre dauern.“
Bis dahin gilt es, die Natur im Kleinen zu
schützen. Also auch vor den Touristen.
„Viele junge Chilenen kommen nur zum
Feiern hierher“, schimpft Mono. „Sie lassen den Müll da und halten sich nicht an
die Regeln.“ Am liebsten hängen die Mochillandos im Sommer am Wasserfall auf
der anderen Seite des Flusses ab. „Der gefährlichste Ort von Cochamó“, sagt Jason
Angress. „Die Kids haben auf Youtube Videos von Leuten gesehen, die den Felsen
runterrutschen. Was sie nicht bedenken,
ist, dass die Menge des Wassers schwankt.
Und dann schlagen sie unten im Pool auf,
das Wasser färbt sich rot, und sie fliegen
mit dem Helikopter raus.“
Genauso haarsträubend hören sich allerdings Geschichten übers Klettern an.
„Man kraxelt Risse in der Felswand empor“, erklärt Mono, „nichts für Anfänger.“
La Junta ist der Startplatz aller Touren.
Die schönste, sagt Angress, führe zum Arco Iris, dem Regenbogenberg. Der Weg
windet sich zunächst durch Bambusdickicht und führt dann aufwärts zwischen Patagonischen Eiben und Canelos,
Anreise: Flug von Deutschland über Santiago de Chile
nach Puerto Montt. Von dort fahren täglich mehrere
Busse nach Cochamó.
Reisezeit: Die Kletterer kommen Ende Oktober, wenn
der Regen nachlässt. Im Januar und Februar sind die
Unterkünfte von La Junta oft voll. Am besten eignen
sich März und November.
Unterkunft: Am Startpunkt der Wanderung ist das
Camping Los Pozones. In La Junta gibt es mehrere
Zeltplätze sowie das Refugio Cochamó, www.cochamo.com/lodging und das Campo Aventura www.campoaventura.cl
Weitere Auskünfte: Botschaft der Republik Chile,
Tel.: 030/72 62 03 610; oder auch chile.travel/de,
www.cochamo.com, www.cochamo.org
die den Ureinwohnern vom Stamm der
Mapuche heilig sind.
Mit jedem Höhenmeter wird das Unterholz lichter, die Bäume wirken umso gewaltiger und älter. Gelegentliche Plastikbändchen an Zweigen weisen den Weg. Nach eineinhalb Stunden bleibt Angress stehen.
„Da, deine ersten Alercen.“ Die bleichen
Bäume sind mehrere Meter dick und gerade wie eine Säule. Ihre kurzen Äste in der
Höhe wirken wie die verkümmerten Arme
eines Tyrannosaurus Rex. „Sie sind Überlebenskünstler“, sagt Angress. Die Patagoni-
schen Zypressen brauchen nur Sonne und
viel Wasser, sie wachsen in Sümpfen und
auf Klippen, unter schlechtesten Bedingungen. Aber auch extrem langsam. „Diese Bäume standen hier schon, als Sokrates lebte.“
Es geht weiter – bis zu einem Felsen,
über den Wasser rieselt. Ein verwittertes
Seil ist oben an einen gewundenen Stamm
geknotet. „Du musst dem Seil vertrauen“,
sagt Angress. Dann stemmt er die Beine
waagrecht in den Fels und zieht sich Hand
für Hand hoch. Ich folge ihm und versuche,
nicht daran zu denken, was passiert, wenn
das Seil reißt. Oben angekommen, meint
Angress: „Warte auf den Abstieg.“
Am höchsten Punkt ist es windstill, die
Sonne wärmt. Vollkommen unpatagonisches Wetter. Nur das Rauschen der Wasserfälle ist zu hören. Mit etwas Fantasie
sieht man in der Felswand des Cerro Trinidad einen gigantischen Fußabdruck, die
Wand links daneben erinnert an ein Tribal
Tattoo. Vier Kondore segeln in Formation
in Richtung des Meeres am Horizont. Wie
hat Mono gesagt? „Dieser Ort muss geschützt werden.“
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