Ohrid - Florian Sanktjohanser

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REISE
DEFGH Nr. 190, Donnerstag, 18. August 2016
39
Kultur- und Naturerbe:
Der Ohridsee mit der rekonstruierten
Pfahlbausiedlung ist fast 300 Meter tief.
Die angrenzende Stadt ist durchzogen
von steinernen Gotteshäusern.
FOTOS: SANKTJOHANSER
von florian sanktjohanser
D
er sinkt auf die Knie, er zieht den
Henkel einer Amphore aus dem
Seegras und reicht ihn herum,
dann eine Steinaxt und den Kiefer eines Tieres. Sonnenstrahlen stechen
durch das klare Wasser und leuchten die
prähistorische Müllhalde auf dem Grund
des Sees aus. Überall liegen Scherben zwischen hölzernen Stümpfen. Vor 3000 Jahren stand hier ein Pfahldorf, und seine Bewohner waren so bequem wie die Menschen heute: Sie warfen ihre Essensreste
einfach aus dem Fenster. Daher der Name
des surrealen Tauchplatzes im Südosten
des Ohridsees: „Bucht der Knochen“.
Das Pfahldorf wurde vor einigen Jahren
rekonstruiert, aus Ästen, Lehm und Stroh
wie im Original. Es ist die neueste Attraktion einer Gegend, die man sich als Touristiker nicht schöner basteln könnte: Auf einem Hügel eine Altstadt mit osmanischen
Häusern, einem Amphitheater, einer Festung und so vielen Kirchen, dass man sie
einst „Jerusalem des Balkans“ nannte. Ein
tiefer See, der zu den ältesten der Welt gehört und so sauber ist, dass man sein Wasser trinken kann. Und außen herum mehr
als 2000 Meter hohe Berge, durch deren
Wälder Braunbären, Wölfe und Luchse
streifen. Eine Gegend also, so besonders,
dass die Unesco sie doppelt adelte, als Natur- und Kulturerbe der Menschheit. Das
Erstaunliche ist: In Deutschland ist Ohrid
fast vergessen.
Es gab andere Zeiten. „In Jugoslawien
gab es früher zwei große Ziele für Kulturtouristen“, sagt Lyupcho Kumbarovski,
„Dubrovnik und Ohrid. 40 Prozent meiner
Gäste waren damals Deutsche.“ Kumbarovski, 50, trägt Seitenscheitel und Jackett,
er hat Archäologie studiert und spricht hervorragend Englisch. Seit 27 Jahren führt er
Touristen durch seine Heimatstadt. Zur Be-
grüßung holt er stolz zwei Fotos aus dem
Portemonnaie. Sie zeigen ihn mit Roman
Herzog und Horst Köhler.
„Die letzten Jahre Jugoslawiens waren
für mich das Paradies“, sagt Kumbarovski.
„Ich arbeitete 30 Tage im Monat und verdiente sehr gut.“ Doch dann brach der Bürgerkrieg aus und die Urlauber blieben fern.
Seitdem liegt Ohrid in Mazedonien, einem
Land, das viele Europäer nur wegen der
Flüchtlingskrise kennen.
Doch nun kehrt langsam wieder Normalität ein. Auf dem Platz am Hafen sammeln
sich gerade türkische und japanische Reisegruppen, die Tische vor den Cafés ringsum
sind gut besetzt. Für Kulturtouristen aus
den USA und aus Fernost sei Ohrid heute
Orthodoxe Kirchen und
osmanische Moscheen stehen
hier nebeneinander
wieder ein Pflichtstopp auf der großen Balkantour, sagt Kumbarovski. Und im Sommer ist sowieso alles ausgebucht. Dann
strömen die Badeurlauber aus den Nachbarländern in die Hotels an der Uferpromenade, dann flüchten sich die Hauptstädter
aus dem überhitzten Skopje in ihre Villen
und Ferien-Appartements am kühlen See
auf 700 Metern Höhe.
Trotzdem kann man noch entspannt
durch die Gassen schlendern, vorbei an
den Häusern der Kaufleute aus dem
19. Jahrhundert, die wie umgedrehte Stufenpyramiden mit jedem Stockwerk weiter herausragen. Selbst in der ältesten Kirche des Landes ist man morgens allein. Sveta Sofija sei die Kathedrale schlechthin in
Mazedonien, sagt Kumbarovski. Hier werde der Patriarch von Ohrid und Mazedonien gewählt, wenn der alte stirbt. Die Kirche
des Landes hat sich 1967 für unabhängig erklärt, die anderen orthodoxen Kirchen
Ohrid
Galičica-
Ohridsee Nationalpark
Prespasee
ALBANIEN
MAZEDONIEN
PrespaNationalpark
GRIECHENLAND
Korça
10 km
SZ-Karte
Anreise: Mit dem Flugzeug nach Skopje, von dort fahren Busse in rund vier Stunden nach Ohrid.
Unterkunft: In Ohrid gibt es Hotels und Pensionen aller Kategorien. Schön gelegen ist das Hotel im 29 Kilometer entfernten Kloster Sveti Naum, DZ MIt Frühstück ab 40 Euro, www.hotel-stnaum.com.mk; ein
Zeltplatz liegt am Strand Gradište.
Aktivitäten: Auf den Bergmassiven Petrino und
Galičica gibt es rund 300 Kilometer Wege für Wanderer und Mountainbiker. Hier liegen auch mehrere
Startplätze für Paraglider. Landeplätze sind mit Windfahnen markiert. Ohrid hat ein fast mediterranes Klima. Im Sommer ist es kaum heißer als 30 Grad. Der
See wird im Sommer bis zu 25 Grad warm.
Weitere Auskünfte: [email protected]
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Unesco. Nachdem die Kulturhüter Druck
gemacht hatten, strichen die Architekten
zumindest ein Stockwerk und die geplanten Glaskuppeln. Historisierende Fassaden sollen nun die Kritiker besänftigen.
Wie das Ergebnis auch ausfällt, als
Wahrzeichen wird sich das Neubaugebiet
auf dem Hügel kaum durchsetzen. Dieser
Titel ist bereits an die Kirche des Heiligen
Johannes von Kaneo, Sveti Jovan Kaneo
vergeben. Sie ist unbedeutend, liegt aber
extrem fotogen auf einer Klippe hoch über
dem See. Angeblich wird keine Kirche auf
dem Balkan öfter geknipst. Jeden Abend
versammeln sich hier die Touristen zum
Sonnenuntergang-Schauen. Oder sie setzen sich zu den Einheimischen, in eines
der Restaurants unterhalb der Klippen.
Hier speist man in Korbstühlen unter Walnussbäumen und blickt über den See bis
zu den Gipfeln des Galičica Nationalparks.
Und wenn es dunkel wird, spaziert man auf
der Uferpromenade hinüber zu den Clubs
auf der anderen Seite der Bucht, wo DJs bis
zum Morgen auflegen. Weit weg von all
den gestrengen Heiligen.
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Ohrid in Mazedonien
gehörte einst zum Pflichtprogramm
für Kulturreisende, dann wurde die Stadt
gemieden. Höchste Zeit für
eine Wiederentdeckung
schen Zuckerbäcker-Bauten in der Hauptstadt Skopje, auf die wütende Demonstranten Farbbeutel werfen. Es ist der Neubau
der Universität von Sveti Kliment. Eine Bibliothek, ein Museum mit Ikonen-Galerie
und das Institut für Geisteswissenschaften sollen hier einziehen. Gegenüber baut
sich der Erzbischof eine neue, ebenso
wuchtige Sommerresidenz mit angeschlossener theologischer Fakultät. „Der Neubau
der Universität ist umstritten“, sagt Kumbarovski. „Viele in der Stadt finden, dass er
zu groß ist.“ So sah es offenbar auch die
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Die
Fromme
am See
ringsum erkennen sie jedoch nicht an. Balkan-Balgereien.
Als Sveta Sofija 1056 vollendet wurde,
gab es nur eine Kirche, und deshalb ist Sveta Sofija noch in der Form des vereinten
Christentums gebaut: als Basilika. Die Fresken, einst von den osmanischen Eroberern
übertüncht, ehren nun wieder in kräftigen
Farben auf blauem Grund die Heiligen Kyrill und Method, die Missionare der Slawen. Es war einer ihrer Schüler, der Ohrid
zu einem der bedeutendsten christlichen
Zentren auf dem Balkan machte: Sveti Kliment. Steile Gassen führen hinauf zu seinem Grab, in den Vorgärten blühen Feigenbäume, Lavendel und Rosen. Aber dahinter stehen nicht durchwegs hübsch renovierte Osmanenhäuser, sondern auch fade
Neubauten und halb verfallene Bruchbuden. Die Altstadt ist kein poliertes
Schmuckstück aus einem Guss. Die Perle
hat Kratzer.
Manche Besitzer hätten nicht genug
Geld, ihre Häuser gemäß den strengen Regeln des Denkmalschutzes zu renovieren,
sagt Kumbarovski. Andere lägen im Erbstreit. „Aber zu verkaufen wäre Verrat.“ Die
Bewohner der Altstadt sind stolze Alteingesessene, viele Familien leben seit Jahrhunderten in ihren Häusern. Ein Ausverkauf
wie in Marrakesch ist hier undenkbar.
365 Kirchen und Kapellen will ein osmanischer Chronist einst in Ohrid gezählt haben. Das scheint ein bisschen übertrieben
zu sein, aber vom Amphitheater aus versteht man, wie er auf die Idee kam. Allein
den Bischofspalast gegenüber umzingeln
fünf Kirchen, überall sieht man Kuppeln
und Kreuze zwischen den roten Ziegeldächern. Die meisten Gotteshäuser ließen reiche Kaufmänner in der Blütezeit vom elften bis zum 14. Jahrhundert bauen, um
sich so zu verewigen. Die Osmanen setzten
noch einige Moscheen hinzu. Das religiöse
Herz der Stadt aber schlägt seit 2500 Jahren oben auf dem Plaosnik.
Seit Jahrzehnten graben Archäologen
auf dem Hügelplateau Tempel und Kirchen aus. Man geht durch einen Irrgarten
von Mauerresten und Säulen, ein Pavillon
mit Dachziegeln schützt die Mosaike einer
frühchristlichen Basilika. Mitten in der
Ausgrabungsstätte erhebt sich eine Kirche, historisch im Stil, aber zu makellos,
um tatsächlich alt zu sein. Sveti Kliment i
Pantelejmon wurde 2002 vollendet. In ihr
ruht nun wieder der Stadtheilige, der stets
mit seltsam vorgewölbter Stirn gemalt ist,
um seine enorme Intelligenz deutlich zu
machen.
„Der Sarkophag von Sveti Kliment ist
uns extrem wichtig“, sagt Kumbarovski.
Kliment gründete hier Ende des 9. Jahrhunderts die erste panslawische Universität, 3500 Studenten lernten von ihm die slawische Schriftsprache und trugen sie hinaus auf den ganzen Balkan. Ohrid wurde
zur Metropole des frommen Wissens.
Diese glanzvolle Vergangenheit beschwören die Bauherren jenes Monsters,
das derzeit neben der Kirche empor
wächst. In seiner Gigantomanie erinnert
das Betonskelett an die pseudoklassizisti-
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