Sonja Fritz „Guck mal über'n Tellerrand... nach China" Eine Nachmittagsveranstaltung in einer Kinderbibliothek Anhand von alltäglichen Dingen wie Märchen, Schrift oder Sprache vermittelt die Veranstaltung einen ersten Eindruck über das Leben von Kindern in China. Dieser Beitrag erschien in: Krüger, Susanne (Hrsg.): Zusammen sind wir bunt. Interkulturelle Projekte in der Kinderbibliothek. Berlin : Deutsches Bibliotheksinstitut. S. 121-130. Zielsetzungen Das Ziel ist, 9-11 jährigen Kindern im Rahmen einer offenen Nachmittagsveranstaltung (max. 2 Stunden) ein Bild des heutigen China zu vermitteln. Es gibt kaum aktuelle Kinderbücher, die aus China stammen und/oder dort spielen, und die vorhandenen Sachbücher behandeln fast ausschließlich das „Alte China". In diesem Zusammenhang ist es zentral, eine „Originalbegegnung" zu ermöglichen. Damit soll vermieden werden, bestehende Klischeevorstellungen aus Unwissenheit zu verfestigen oder gar erst aufzubauen. Außerdem sollen die Kinder die Möglichkeit haben, im persönlichen Kontakt mit einem Menschen aus diesem Land ihre eventuell vorhandene Scheu vor einer für sie fremden Kultur zu überwinden. Durch eine persönliche Bekanntschaft mit einer Chinesin, die in Schanghai geboren und aufgewachsen ist, nun aber seit einiger Zeit in Deutschland lebt und arbeitet, war der Kontakt ohne Probleme herzustellen. Thema Aus der Fülle der möglichen Themen und Aktionsvorschläge muß durch die Beschränkung auf 2 Stunden stark ausgewählt werden. Um die einzelnen Aktionen in eine Rahmenhandlung einzubauen, wird die Idee umgesetzt, mit den Kindern einen Tag im Leben eines Kindes aus Schanghai „nachzuspielen": Schule (Sprache/ Schrift, Kung-Fu), Mittagessen (chinesisches Essen), Freizeitgestaltung (Spiele, Märchen hören). Die Form, den Tagesablauf eines Kindes nachzuspielen, habe ich gewählt, weil sich Kinder am besten mit Kindern identifizieren können. Die Elemente Schule, Essen/Süßigkeiten, Spiel, Märchen sind Punkte, die auch in ihrem Leben eine Rolle spielen und die Gemeinsamkeiten zwischen Kindern verschiedener Kulturen deutlich machen. Ablauf Ankunft Die ankommenden Kinder erhalten chinesisch-deutsche Namensschilder, die sie sich am Pullover befestigen dürfen, und setzen sich auf die im Kreis ausgelegten Kissen. Im Hintergrund läuft währenddessen chinesische Musik.1 Durch die chinesische Musik, die Kissen und den mit Bildern, Ausstellungstisch etc. hergerichteten Raum soll Atmosphäre geschaffen und auf das Thema eingestimmt werden. Die Namensschilder ermöglichen ein persönliches Ansprechen der Kinder und sollen die Anonymität nehmen. Auf den Namenskärtchen stehen die Namen auch auf chinesisch, da erfahrungsgemäß fremde Schriftzeichen, ähnlich wie eine Geheimschrift, Faszination ausüben und Interesse wecken. Begrüßung Während der Begrüßung nenne ich noch einmal das Thema dieses Nachmittags und weise die Kinder darauf hin, daß China ein riesiges Land ist, fast so groß wie ganz Europa, und daß es dort genauso kulturelle Unterschiede gibt wie innerhalb Europas. Wir können nur einen kleinen Teil davon kennenlernen, das östliche China mit Schanghai. Dann stelle ich den Kindern unseren chinesischen Gast, Frau Shi-Beneke, vor. 1 Orchestra of Traditional Chinese Music Shanghai: Treasury of Chinese musical instruments, vol. 4 Vorstellungsrunde Ich erzähle den Kindern etwas über Namen in China. Jeder chinesische Vorname hat eine Bedeutung. Die Eltern nennen ihre Kinder z.B. gern nach Blumen, Edelsteinen oder Tugenden.2 Eine zweite Besonderheit ist, daß der Nachname vorangestellt wird. Nun dürfen sich die Kinder china-like vorstellen. Da auch „deutsche" Namen z.T. eine Bedeutung haben, weil sie meist aus einer anderen Sprache abgeleitet sind, darf jedes Kind seinen Namen, zuerst den Nachnamen, dann den Vornamen und - wenn es sie weiß - die Bedeutung seines Vornamens sagen. Mit Hilfe eines Vornamenbuches3 können die Bedeutungen ermittelt werden. Frau Shi-Beneke erzählt In China leben viele verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammen, z.B. die Han-Chinesen, zu denen sie selbst gehört und die mit 90 % die größte Gruppe darstellen, die Tibeter, Mongolen u.a. Sie zeigt uns die Gebiete auf einer Chinakarte. Anschließend wird nachgesehen, wo Schanghai, ihr Geburtsort, liegt. Wir vergleichen die Größe der Stadt mit unserem Wohnort Stuttgart und rechnen aus, wie oft Stuttgart - was die Einwohnerzahl betrifft - in Schanghai paßt. Sie erzählt uns über die Schule in Schanghai, daß die Kinder dort sehr viel Unterricht haben und jeden Samstag Workshops angeboten werden, in denen man malen, tanzen, werken etc. kann. Anschließend zeigt sie uns Gegenstände, die u.a. in solchen Workshops hergestellt werden. Sie bezieht die Kinder mit Fragen in das Gespräch ein, erzählt von der Schule, von chinesischen Klassenkameradinnen und stellt selbst Fragen. Anhand einer Weltkarte zeigt uns Frau Shi-Beneke, dem Landweg nach Deutschland gekommen ist, und läßt uns raten, wie lange die Reise gedauert hat. Daraufhin bringt sie uns noch bei, mit den Händen au chinesisch zu zählen, und macht ein kleines Spiel daraus, indem sie zum Beispiel Zahlen nennt, die die Kinder ganz schnell mit den Fingern zeigen müssen. Anders als bei uns kann man in China mit einer Hand bis neun und mit zwei Händen bis neunundneunzig zählen. Zählen mit den Händen 2 Kuan, Yu Chien / Häring-Kuan, Petra: Kultur-Knigge China. - Köln: Edition Simon und Magiera im Hayit-Verl., 1990, S. 146. 3 z.B. Voorgang, Dietrich (Hrsg.): Die schönsten Vornamen. - Niedernhausen/Ts.: Falken, 1994. Schule Wir wollen nachspielen, wie ein Kind in China bzw. in Schanghai seinen Tag verbringt. Dabei weise ich darauf hin, daß die Kinder in China wegen des langen Unterrichts während der Woche kaum zum Spielen kommen, weshalb wir Wochentag und Wochenende etwas mischen werden. Da die Schule die meiste Zeit der Kinder in Anspruch nimmt, wollen wir auch damit anfangen. Dazu dürfen sich die Kinder wie in einem Klassenzimmer in Reihen hintereinander setzen. Zuerst steht heute „Chinesisch-Unterricht", und zwar chinesisch sprechen, auf dem Stundenplan. Da Kinder in diesem Alter erfahrungsgemäß noch viel Freude an fremden Sprachen haben und man dazu keine Materialien benötigt, wie das bei chinesisch schreiben der Fall gewesen wäre, entschied ich mich für diese „Schulstunde". Dadurch erfahren die Kinder auch indirekt, wie schwierig es ist, eine neue Sprache zu erlernen. Bei der Auswahl der Sätze und Wörter waren die Einfachheit der Aussprache und die Kürze der Sätze ausschlaggebend. Die Kinder in China können natürlich alle chinesisch, aber innerhalb des Landes gibt es sehr große Sprachunterschiede. Ein Chinese aus Nordchina, z.B. Peking, kann einen Bewohner aus Südchina, z.B. Hongkong, kaum verstehen. Deshalb lernen die Kinder in der Schule Hochchinesisch. Außerdem ist es gut, wenn man diese Sprache beherrscht, da es die meistgesprochene der Welt ist.4 Nach dieser kurzen Einführung lernen die Kinder auch einige chinesische Wörter. Zuerst sprechen Frau Shi-Beneke und ich den Satz vor, dann sprechen ihn die Kinder nach: Lautschrift ni hau ni hau ma hen hau, schiä, schiä! dsai djiän deutsch Guten Tag Wie geht es? Danke, sehr gut! Auf Wiedersehen Anschließend dürfen je zwei Kinder dies als kleine Begegnungsszene spielen. Danach wollen wir mit den Kindern Kung-Fu üben, eine karateartige Selbstverteidigungssportart. Dabei können sich die Kinder nach dem verhältnismäßig langen Sitzen wieder etwas bewegen. Die Kinder werden in zwei Gruppen geteilt, und Frau Shi-Beneke macht mit jeder Gruppe eine kleine Einführung, während die andere Gruppe zusieht. Kung-Fu wird in der Schule unterrichtet und ist somit auch kindgemäß. Mittagessen Hier wird zuerst das Eßbesteck der Chinesen, Stäbchen und Löffel, vorgestellt. Daraufhin bekommt jedes Kind ein Paar Stäbchen, und Frau Shi-Beneke zeigt uns, wie man sie hält. Um möglichst viele Sinne der Kinder anzusprechen, wird auch etwas zu essen angeboten. Es werden vorbereitete Teller mit chinesischen Süßigkeiten (Ananaskekse, getrocknete Oliven, Haw Flakes) herumgereicht, und die Kinder dürfen versuchen, sie mit dem chinesischen Besteck herunterzunehmen. Die Kinder dürfen die Stäbchen als Andenken mit nach Hause nehmen. Ich bin mir bewußt, daß chinesische Süßigkeiten sich in der Art und im Geschmack ziemlich von den in Deutschland üblicherweise gegessenen unterscheiden und die Kinder diese möglicherweise nicht mögen. Ich denke jedoch nicht, daß sich dies negativ auf das Verständnis der fremden Kultur auswirkt. Geschmäcker sind grundsätzlich verschieden, auch innerhalb einer Kultur, so daß Kinder häufig mit der Tatsache konfrontiert werden, daß ihnen etwas nicht schmeckt, was andere gerne 4 vgl.: Latsch, Marie-Luise / Forster-Latsch, Helmut: Sprachführer. In: Scheck, Frank R. (Hrsg.): Volksrepublik China. Kunstreisen durch das Reich der Mitte. - Köln: DuMont-Buchveri., 6. Aufl., 1995, S. 644. essen und umgekehrt. Wichtig erscheint mir jedoch, die Kinder zum Probieren zu ermuntern, ihnen aber gleichzeitig zuzugestehen, die Kostproben nicht ganz aufessen zu müssen, wenn sie ihnen nicht schmecken. Spiel Beim vorbereiteten chinesischen Sing- und Klatschspiel : stehen die Kinder im Kreis und legen jeweils ihre rechte I mit der Handfläche nach unten zeigende Hand auf die nach oben geöffnete linke Hand des rechten Nachbarn. Auf bzw. unter einer Hand liegt ein kleiner Gegenstand, zum Beispiel ein Radiergummi. Nun singen die Kinder ein Lied und klatschen dazu alle gleichzeitig im Takt auf ihre linke Hand und wieder zurück. Auf diese Weise wird auch der Gegenstand weitergegeben. Wenn das Lied zu Ende ist, muß das Kind, bei dem der Gegenstand gelandet ist, eine Spielrunde aussetzen und darf sich so lange in Ruhe den Ausstellungstisch ansehen. Märchen Bevor ich das Märchen vorlese, zeige ich den Kindern 1 Bilder von chinesischen Drachen aus Büchern und auf einer chinesischen Teetasse und lese ihnen etwas über I Aussehen, Wesensart und Wohnort chinesischer Drachen vor, da sie sich von den uns bekannten Drachen unterscheiden.5 Anschließend verteile ich vorbereitete Lesezeichen, auf denen ebenfalls ein Drache abgebildet ist, derselbe wie auf der Einladung6, sowie Buntstifte und Malunterlagen. Während ich das Märchen vorlese, in dem es auch um Drachen geht, dürfen die Kinder die Lesezeichen ausmalen. Nach Abschluß der Geschichte werden sie noch mit Klebefolie überzogen und mit farbigen Wollfäden versehen. Ich habe zwei Märchen von unterschiedlicher Länge vorbereitet, die alternativ vorgelesen werden können. Das Märchen „Tränen"7 erzählt die Geschichte der 24 kleinen Seen am Fluß Min in der Provinz Sitschuan und handelt von der Verwandlung eines Jungen in einen Drachen. Die Vorlesedauer beträgt knapp 10 Minuten. Von Erlebnissen eines Menscher mit einem Drachenkönig erzählt das Märchen „Drachenhütte"8, Vorlesedauer 15-20 Minuten. Beide Märchen haben geschichtliche bzw. sozialkundliche Bezüge. Abschluß Zum Schluß möchte ich den Blick der Kinder auf die vielen anderen Länder lenken, die es zu entdecken lohnt. Dabei mache ich sie auch auf die vorbereitete Buchausstellung aufmerksam mit dem Hinweis, daß sie dort viele Geschichten, Spiele und Lieder aus und über andere(n) Länder(n) finden können. Und dann: dsai djiän!!! 5 Aus: Sanders, Tao Lui: Geister und Drachen der Chinesen. Hamburg: Tessloff, 1981. S. 48 und 58. Motiv für Einladung und Lesezeichen aus: Sanders, Tao Lui: Geister und Drachen der Chinesen. s. Anm. (5) 7 Aus: Stovickova, Dana / Stovickova, Milada: Chinesische Volksmärchen. Nach chines. Quellen erzählt. - Hanau/M.: Dausien, 7. Aufl., 1983, S. 17 ff. 8 a.a.O., S. 140 ff. 6
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