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Jahrbuch 2015/2016 | Leutzsch, Markus; Farès, Christophe | Kernspins in kurzlebigen Molekülen –NMRSpektroskopie ermöglicht einzigartigen Einblick in Reaktionsintermediate
Kernspins in kurzlebigen Molekülen –NMR-Spektroskopie ermöglicht
einzigartigen Einblick in Reaktionsintermediate
Spins in Short-Lived Molecules: The Unique Glimpse provided by
NMR Spectroscopy into Reaction Intermediates
Leutzsch, Markus; Farès, Christophe
Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, Mülheim an der Ruhr
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Selbst nach sieben Jahrzehnten Entw icklung der magnetischen Resonanzspektroskopie (NMR) findet diese
analytische Methode immer w ieder neue, kreative Anw endungen, w elche nicht nur durch instrumentelle
Fortschritte ermöglicht w erden; vielmehr erlaubt ihre Nichtinvasivität eine erhebliche Flexibilität bei der
Probenausw ahl und -konfiguration. Dies ist insbesondere in dem Gebiet der Katalyse ersichtlich, w o moderne
NMR-Techniken w esentlich zur Aufklärung von Reaktionsmechanismen beitragen. NMR liefert insbesondere
strukturelle und dynamische Informationen über kurzlebige Reaktionsintermediate.
Summary
Nuclear Magnetic Resonance (NMR), this chemical analytical tool continues to find new creative applications not
only as a result of instrumental advances but also ow ing to the inherent non-invasiveness of the technique,
allow ing considerable flexibility in the choice and configuration of samples. This is especially evident in the field
of catalysis w here modern NMR has had an important impact in revealing the progress of a catalytic reaction in
subtle details, especially providing structural and dynamic information of the fleeting reaction intermediates.
Einleitung
W ie w inzige Stabmagneten innerhalb von Molekülen sind Atomkerne feine Sensoren ihrer unmittelbaren
magnetischen Umgebung. Durch magnetische Resonanzspektroskopie (Nuclear Magnetic Resonance, NMR)
lassen sie sich ausspionieren und liefern damit w ichtige strukturelle Informationen über Moleküle auf der
Nanometerskala.
NMR
benutzt
elektromagnetische
Wellen
mit
geringer
Energie
im
Bereich
von
Radiofrequenzen, um diese Atomkerne beziehungsw eise deren Kernspin oder Spin innerhalb eines starken
Magnetfelds in einen höheren Energiezustand zu versetzen. Wenn nun diese angeregten Spins in den
Gleichgew ichtszustand zurückkehren, emittieren sie elektromagnetische Signale, deren Frequenz sich mit einer
Genauigkeit von w eniger als ein paar Zehntel ppb (parts per billion) bestimmen lässt. NMR ist deshalb zu
einem unentbehrlichen analytischen und diagnostischen Werkzeug in vielen Gebieten der W issenschaft
gew orden. Am bekanntesten ist die Anw endung in der Medizin, w o die NMR detaillierte 3D-Bilder des
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menschlichen Körpers liefert. Aber den w ichtigsten Beitrag hat NMR in der Chemie geleistet, w o sie genaue
Informationen über Konstitution, Konfiguration, Konformation und sogar Dynamik und Austauschprozesse von
Molekülen liefert.
Eine entscheidende Stärke von NMR gegenüber anderen analytischen Methoden w ie Röntgenstrukturanalyse,
Elektronmikroskopie oder Massenspektrometrie besteht in der Möglichkeit, strukturelle Informationen auf
molekularer Ebene in situ zu liefern, unter Bedingungen also, die für eine bestimmte Untersuchung relevant
sind. Im Gebiet der Katalyse stellt das einen großen Vorteil für das Verständnis der zugrunde liegenden
Reaktionsmechanismen
dar.
NMR
kann
nicht
nur
fundamentale
thermodynamische
und
kinetische
Informationen über den Reaktionsverlauf liefern, sondern auch kurzlebige Zw ischenprodukte (Intermediate)
detektieren, charakterisieren und verfolgen [1]. Ein Blick auf diese essentiellen Zw ischenprodukte ist
außerordentlich w ertvoll für das Verständnis katalytischer Reaktionen, und ermöglicht die Entw icklung
besserer, selektiverer und effizienterer Katalysatoren.
Die Herausforderungen bei der Charakterisierung von Zw ischenprodukten durch NMR liegen meist in deren
Instabilität. In der Tat sind relevante Intermediate typischerw eise nicht nur kurzlebig und in geringer
Konzentration vorhanden, sondern zeigen oft auch unerw artete Eigenschaften. W ährend moderne NMRTechniken und Geräte das Sensitivitätsproblem überw inden können, zielen chemische Strategien darauf ab,
die relevanten Intermediate zu stabilisieren und einzufangen, um sie anschließend mit traditionellen NMRMethoden untersuchen zu können. W ir präsentieren hier einige neue Beispiele, die in der NMR-Abteilung des
MPI für Kohlenforschung erzielt w urden.
PHIP-detektierter geminaler H2 Transfer
Die geringe Sensitivität der NMR-Methode beruht auf der Tatsache, dass das Signal auf der thermischen
Polarisierung der Atomspins innerhalb eines starken magnetischen Feldes basiert. Die Spins verhalten sich w ie
individuelle magnetische Stäbe innerhalb eines Magnetfeldes, die sich entw eder parallel („α“) oder antiparallel
(„β“) zu den Feldlinien orientieren (siehe Abb. 1a). Die NMR-Polarisierung resultiert von dem Überschuss am αZustand gegenüber dem β-Zustand, der unter normalen Bedingungen nur w enigen ppm entspricht (siehe Abb.
1b). In anderen Worten kann NMR die Kernspins von nur einem aus 1000000 Molekülen einer Probe
detektieren.
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A bb. 1: (a ) Die zwe i m ögliche n Zustä nde („α“ und „β“) e ine s
Ke rnspins in e ine m Ma gne tfe ld. (b) Ene rge tische
Q ua nte nnive a us de r zwe i Spinzustä nde (die Linie nstä rk e ste llt
de n Be se tzungsgra d da r): die P ola risie rung (NMR -Signa l)
e ntste ht durch de n α-Spin-Übe rschuss (grün, ca . 0.00001
P roze nt). (c) Die zwe i sta bile n und tre nnba re n Zustä nde de s
m ole k ula re n W a sse rstoffs (ortho- und para-H 2) (d) die
Hydrie rungsre a k tion übe rträ gt e in para-H 2 Mole k ül und bricht
se ine Sym m e trie . Die e ntste he nde „P HIP “-P ola risie rung
die se s Zwe i-Spinsyste m s (re chts) ist vie l stä rk e r a ls die
norm a le the rm ische (Boltzm a nn-) P ola risie rung, be i de r a lle
Zustä nde fa st gle ich be se tzt sind (link s).
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Es gibt jedoch auch andere Quellen der NMR-Polarisierung, die zu einem viel stärkeren NMR-Signal führen. So
existiert etw a molekularer Wasserstoff (H 2 ) in zw ei stabilen und trennbaren Formen, ortho-H2 und para-H2 ,
w elche sich nur durch ihren Kernspinzustand unterscheiden (siehe Abb. 1c). Aufgrund seiner Antisymmetrie ist
para-H2 per se mittels NMR nicht detektierbar. Nimmt hingegen para-H2 beispielsw eise an der Hydrierung einer
Dreifachbindung („Alkin“) teil, so w ird seine Symmetrie gebrochen, der Kernspin-Zustand bleibt aber erhalten
(siehe Abb. 1d). Die daraus resultierende Polarisierung könnte unter thermischen Bedingungen nie erzielt
w erden. In der Tat „speichert“ para-H2 100 Prozent der Polarisierung, die sich durch eine Hydrierungsreaktion
„freisetzen“ lässt. Dieses Verfahren w urde 1987 durch Bow ers und Weitekamp beschrieben [2] und PHIP
(para-H2 induced polarisation) genannt.
Kürzlich veröffentlichte die Arbeitsgruppe von A. Fürstner eine Methodik, die die trans-selektive Hydrierung
interner Alkine mit Hilfe eines Ruthenium-Katalysators ermöglicht [3]. Diese Umsetzung ist von großem
Interesse, da erstmals die Darstellung von trans-Alkenen in nur einer Stufe erfolgt und zugleich eine hohe
Toleranz gegenüber verschiedenen funktionellen Gruppen w ie Estern, Alkoholen oder Amiden aufw eist. Trotz
dieser Vorteile liefern manche Substrate überreduzierte oder isomerisierte Nebenprodukte, deren Bildung mit
dem bestehenden mechanistischen Modell der Reaktion nicht erklärbar w ar. Die Untersuchung der Reaktion
mittels PHIP-NMR sollte zeigen, ob sich w ährend der Reaktion die Signale von Zw ischenprodukten so
verstärken lassen, dass sie detektierbar w erden. In der Tat ließen sich so neue, bisher unbeschriebene
Carben-Spezies (formal zw eiw ertiges Kohlenstoffatom) beobachten, die ohne die Verw endung von para-H2
sicher nicht sichtbar gew esen w ären [4]. Die Carbene bildeten sich vollkommen unerw artet, da sie formell
durch den Transfer eines einzelnen H 2 auf einen Kohlenstoff des Alkins gew onnen w urden (geminale
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Hydrierung).
Ein
derartiger
Mechanismus
ist
nach
unseren
Erkenntnissen
bisher
unbekannt.
In
w eiterführenden Experimenten ließen sich die Intermediate durch chemische Modifikation sow eit stabilisieren,
dass eine vollständige Charakterisierung mittels konventioneller ein- und zw eidimensionaler NMR-Methoden
sow ie durch Kristallstrukturanalyse möglich w ar.
A bb. 2: Be oba chtung und R olle von C a rbe n-Inte rm e dia te n
wä hre nd de r k a ta lytische n Hydrie rung von inte rne n Alk ine n.
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Mit einer neu entw ickelten PHIP-selektiven NMR-Austauschmessung (OPSY-EXSY) konnte man auch das
w eitere Schicksal des Carben-Intermediats klären. Dieses erw ies sich als essentielle Zw ischenstufe, die zur
Bildung der unerw ünschten Nebenprodukte führt (siehe Abb. 2) [4]. Detailierte Rechnungen bestätigten die
experimentell mittels NMR gew onnenen Erkenntnisse. Somit sind diese Untersuchungen ein w ichtiges Beispiel
dafür, w ie eine Kombination aus modernen analytischen Methoden und theoretischer Chemie einen großen
Beitrag zum grundlegenden Verständnis einer neuartigen katalytischen Reaktion liefert und somit dabei hilft,
diese w eiter zu optimieren.
NMR-Charakterisierung stabilisierter Intermediate
Eine allgemein anw endbarere Methode zur NMR-Untersuchung von Intermediaten ist der Versuch, ihre
Lebensdauer w ährend der Messung durch Veränderung der Mess- oder Reaktionsbedingungen zu erhöhen.
Dieses lässt sich durch Arbeiten bei niedrigeren Temperaturen oder durch Weglassen eines der Reaktanten
erreichen, so dass die Umsetzung nicht bis zu Ende ablaufen kann. Eine zielgerichtetere Vorgehensw eise ist
das
Design chemischer Modifikationen, die
Intermediate
stabilisieren und/oder deren Weiterreaktion
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verhindern.
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A bb. 3: (A) Je na ch R e a k tionsbe dingunge n k a nn Ka ta lysa tor
1 sowohl zu P roduk te n (S)-3 ode r (R)-3 führe n. (B)
Blindre a ge nz O Me -2 bilde t e ine n Gold-Kom ple x ä hnlich de m
e rwa rte te n Zwische nproduk t und lä sst sich so durch NMR
cha ra k te risie re n.
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Letzteres w urde genutzt, um den chiralen Gold-Katalysator 1 im Detail zu untersuchen (Abb. 3) [5]. Dieser
Komplex
besitzt
die
bemerkensw erte
und
äußerst
seltene
Eigenschaft
-
abhängig
von
den
Reaktionsbedingungen - ein gegebenes Substrat w ahlw iese in das eine oder andere Enantiomer des Produkts
zu verw andeln; im konkreten Fall w ird die Umsetzung des Hydroxy-Allenes 2 in das entsprechende (R)- oder
(S)-Enantiomer
des
Tetrahydrofurans 3
katalysiert.
Um
die
Ursachen
dieser
überraschenden
„Enantioinversion“ besser zu verstehen, w urde der Komplex aus dem Katalysator und dem blockierten und
somit unreaktiven Methoxy-Allene-Derivat OMe-2 mittels NMR untersucht. Basierend auf einer Kombination aus
13 C-chemischen Verschiebungen des Allenes und den Kopplungskonstanten zw ischen dem 31 P-Kern des
Katalysators
und
dem zentralen 13 C des Allenes ließ sich zeigen, dass das Gold-Zentrum zunächst
verschiedene η 1 -Komplexe mit der π-Oberfläche des Allenes bildet, die in einem schnellen Austausch
miteinander stehen. Weiterhin zeigten zw ischenatomare Abstände (NOEs) eindeutig, dass nur zw ei der vier
möglichen π-Oberflächen des Allenes sterisch zugänglich für den Gold-Komplex 1 sind. Diese Ergebnisse
stimmten hervorragend mit den berechneten Strukturen des Organo-Gold-Intermediates überein. Weiterhin
festigen sie die Vorstellung, dass der stereochemische Verlauf der Reaktion durch eine starke entropische
Komponente getrieben w ird.
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A bb. 4: (Link s) NMR -be wie se ne e le k tronische Ve rte ilung im
R h-C a rbe n 4. (R e chts) Krista llstruk tur von 4.
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Ein w eiteres Beispiel findet sich in einer aktuellen Strukturanalyse einer Rhodium-Carben-Spezies [6].
W ährend der letzten Jahrzehnte hat sich diese Verbindungsklasse als Schlüsselintermediat in verschiedenen
homogen-katalytischen (asymmetrischen) Reaktionen, w ie Cyclopropanierungen, Cycloadditionen oder YlidBildungen, erw iesen; eine direkte strukturelle Untersuchung stellte sich allerdings in vielen Anläufen w egen
ihrer extremen Instabilität als sehr schw ierig heraus. In einer aktuellen Arbeit konnte dieses Handicap
erstmals überw unden und viele dieser Spezies kristallisiert w erden, w as w ichtige Informationen über ihre
Struktur im Festkörper lieferte. Daneben leistete die Kernresonanzspektroskopie einen w ertvollen Beitrag. So
bestätigte
etw a die
Entartung der NMR-Signale
von Carben 4, das sow ohl einen elektronenreichen
(NMe 2 C 6 H4 -) als auch einen elektronenarmen (CF3 C 6 H4 -) Aromaten besitzt, die spezielle elektronische
Struktur dieser Spezies. Auf der NMR-Zeitskala ist die Doppelbindung zw ischen C1 und C2 in diesem Fall starr,
jedoch sind die Bindungen C1-C10 und C1-Rh1 frei drehbar (Abb. 4). Die eigentliche Carbenbindung zw ischen
Metall und dem benachbarten C-Atom hat somit nur geringen Doppelbindungscharakter, w ährend der
elektronenreiche Aromat am Rückgrat das reaktive Zentrum stabilisiert. Diese Zuordnung w ird durch
charakteristische 15 N-NMR-Verschiebungen der NMe 2 - Gruppe als auch durch orthogonale Positionierung der
Ringe, die auf Messung der Kernabstände mittels NOE basieren, bestätigt.
Literaturhinweise
[1] Bargon, J.; Kuhn, L. T. (Eds.)
In situ NMR Methods in Catalysis
Topics in Current Chemistry 276, 1-169 (2007)
[2] Bowers, C. R.; Weitekamp, D. P.
Para-Hydrogen and Synthesis Allow Dramatically Enhanced Nuclear Alignment
Journal of the American Chemical Society 109 (18), 5541-5542 (1987)
[3] Radkowski, K.; Sundararaju, B.; Fürstner, A.
A Functional-Group-Tolerant Catalytic trans Hydrogenation of Alkynes
Angew andte Chemie International Edition 52 (1), 355-360 (2013)
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[4] Leutzsch, M.; Wolf, L. M.; Gupta, P.; Fuchs, M.; Thiel, W.; Farès, C.; Fürstner, A.
Formation of Ruthenium Carbenes by gem-Hydrogen Transfer to Internal Alkynes: Implications for Alkyne
trans-Hydrogenation
Angew andte Chemie International Edition 54 (42), 12431-12436 (2015)
[5] Ilg, M. K.; Wolf, L. M.; Mantilli, L.; Farès, C.; Thiel, W.; Fürstner, A.
A Striking Case of Enantioinversion in Gold Catalysis and Its Probable Origins
Chemistry - A European Journal 21 (35), 12279-12284 (2015)
[6] The Structures of Reactive Donor/Acceptor and Donor/Donor Rhodium Carbenoids in the Solid State
and their Implications for Catalysis
Werlé, C.; Goddard, R.; Philipps, P.; Farès, C.; Fürstner, A.
Journal of the American Chemical Society, submitted (2015)
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