Wissenschaft MEDIZIN „Die schnelle Spritze ist passé“ Die Entschlüsselung des Schmerzes durch Neurowissenschaftler eröffnet der Therapie neue Wege: Auch Patienten mit chronischen Schmerzen kann in Zukunft von den Ärzten wirksamer geholfen werden. W W. M. WEBER T. KLINK / ZEITENSPIEGEL enn das Phantom ihn heimsucht, reits bahnbrechende Folgen für die Thera- π Durch einen frühzeitigen gezielten Einerleidet Bruno Falkenstein Höl- pie haben“: satz von örtlicher Betäubung läßt sich lenqualen: Die rechte Fußsohle π Vor und während chirurgischer Eingrifchronisches Weh nach Verletzungen, brennt, als ginge er auf glühenden Kohlen; fe – vor allem bei Tumor-Operationen – Amputationen oder auch nach Infektioim Schienbein, aber auch im Sprunggelenk kann späterem Leiden vorgebeugt wernen wie der Gürtelrose vermeiden. sticht es „wie frisch gebrochen“, sagt der den, beispielsweise durch Blockaden von Hoffnung können nun auch Patienten 47jährige. Schmerzimpulsen im Rückenmark. schöpfen, deren Pein bereits dauerhaft geSieben Tage nach einem Sturz worden ist: Mit Hilfe neuer Bevom Container-Kran wurde dem handlungsstrategien läßt sich manGöppinger Monteur 1982 der zercher Schmerz, verursacht durch trümmerte Unterschenkel ampuMigräne, Bandscheibenschäden tiert. Seither verfolgt ihn, als Sinoder Gelenkentzündungen, aus nestäuschung, die damals durchdem Zellgedächtnis „wegtrainielittene Pein: Im längst nicht mehr ren“. vorhandenen Bein rumort der Die Einsicht der Forscher in mo„Phantomschmerz“, ein Empfinlekulare Schmerz-Regelkreise hat den, das viele Patienten nach ähnauch die Entwicklung neuer Sublichem Verlust erleben. stanzen vorangetrieben, die eine „Wie amputiert“ kommt sich wirksamere Behandlung von Maria Kießling hingegen nur vor, Schmerzzuständen ermöglichen, wenn sie ihre Prothese ablegt. indem sie die chemische WeiterSchmerzen in ihrer nicht mehr leitung von Schmerzsignalen im vorhandenen rechten Hand, die sie Zellgefüge unterbinden. durch einen Unfall verlor, kann sich Die neuen Therapiekonzepte die Tübinger Hausfrau „absolut sollten, so Schmerzspezialist Gernicht vorstellen“: Während der hard Müller-Schwefe, vor allem jeAmputation wurden die betroffenen Patienten zugute kommen, die nen Nerven örtlich betäubt. Die „ihre Verzweiflung von Praxis zu ständige Lokalanästhesie während Praxis treibt“: Etwa 650 000 chroder Operation sowie eine ausgenisch Schmerzkranke in Deutschklügelte Schmerztherapie vor und land gelten als „Problemfälle“, nach dem Eingriff haben der Entwie der Göppinger Arzt sagt. stehung von Phantomschmerz vor„Ihre Schmerzkarriere dauert im gebeugt. Durchschnitt über zehn Jahre.“ „Sind Schmerzen erst einmal Solche Patienten, ob von Neuralchronisch geworden, lassen sie sich gien, Gelenkweh, Migräne oder schwer behandeln“, sagt Walter Bandscheibenschäden geplagt, Zieglgänsberger, Neuropharmakonsultieren im Durchschnitt kologe und Hirnforscher am Maxnacheinander zehn Ärzte und sePlanck-Institut für Psychiatrie in hen drei Kliniken von innen – oftMünchen. In verschiedenen Expemals ohne jeglichen Erfolg. rimenten hat der Wissenschaftler „Um den insgesamt sieben Milerkundet, wie Schmerzen, obwohl lionen Schmerzkranken gerecht zu sie ihre akute Warn- und Schutzwerden“, meint Müller-Schwefe, funktion längst verloren haben, „bräuchten wir 2000 Schmerzprasich als dauerhafte Erinnerung ins xen und spezialisierte Abteilungen. Gedächtnis von Nervenzellen einDerzeit gibt es aber nur 200.“ graben. Ärzte wissen zuwenig über Mit neuen mikroskopischen Schmerzbekämpfung und halten Techniken, die tiefe Einblicke in oftmals an alten Vorurteilen fest, das Gewebe und einzelne Zellen wonach Schmerz stoisch zu ertragewähren, lassen sich auch die Bilgen sei. Unnötige Qualen erduldung von Schmerzreizen und ihre den vor allem Krebskranke, weil Bahn im Körper sichtbar machen deutsche Mediziner mit starken – molekularbiologische Erkennt- Schmerzpatient Falkenstein (o.), Forscher Zieglgänsberger Opiaten wie Morphium immer nisse, die, so Zieglgänsberger, „be- „Bahnbrechende Folgen für die Therapie“ noch geizen – obwohl der Umgang d e r s p i e g e l 1 6 / 1 9 9 7 235 Wissenschaft mit dem hochwirksamen Betäubungsmittel gesetzlich liberalisiert wurde und erwiesen ist, daß die Gabe von Morphium an Schmerzpatienten zwar körperlich abhängig, aber nicht süchtig macht. Das wichtigste Anliegen moderner Schmerztherapeuten, so Wissenschaftler Zieglgänsberger, müßte die Prävention sein: Bevor häufige Schmerzerfahrungen sich ins Gehirn eingeprägt haben, können unterschiedliche Verfahren späteren chronischen Leiden vorbeugen. Voraussetzung war die Erkundung der Schaltstellen, welche die Schmerzimpulse auf ihrem Weg vom Ort der Attacke über das Rückenmark bis ins Gehirn weiterleiten. Eine Schlüsselfunktion spielen dabei die von den Nervenzellen ausgeschickten und empfangenen Botenstoffe, sogenannte Transmitter, die die unangenehmen Reize aktivieren, aber auch dämpfen können. Während bei kurzem Schmerz das durch komplexe Vorgänge ausgelöste Neuronengewitter im Kopf bald wieder abzieht, bleibt bei chronischem Schmerz eine Übererregbarkeit der Nervenzellen bestehen. In Tierversuchen am Münchner MaxPlanck-Institut zeigte sich, wie Nervenzellen des Rückenmarks, die immer wieder gereizt wurden, schließlich auch ohne weitere äußere Schmerzimpulse überaktiv werden können. Im Lauf der ständigen Irritation verändert die Zelle allmählich ihre Eigenschaften: Sie produziert „neue Proteine, verändert ihre Reaktionsbereitschaft und wird auf diese Weise eine andere Zelle“ (Zieglgänsberger). Eine derart sensibilisierte, schließlich auch genetisch umgebaute Nervenzelle antwortet dann sogar auf schwache Reize mit verstärkter Entladung. Die Ausschüttung von schützenden Endorphinen, chemischen Botenstoffen, die als körpereigene Schmerzbremse wirken, ist hingegen gehemmt: Der Schmerzimpuls wird, als kontinuierliches Bombardement, ungehindert ans Gehirn gemeldet. Wenn beispielsweise bei Operationen Nerven durchschnitten werden, kann es zu einer solchen Sensibilisierung von Zellen kommen. Um zu verhindern, daß Schmerz sich als dauerhafte Erinnerung ins Zellgedächtnis einprägt, muß er deshalb noch im akuten Zustand wirksam behandelt werden, fordern die Schmerzspezialisten. Die herkömmliche Anästhesie ist dafür nicht ausreichend, denn mit den gängigen Narkosemitteln wird zwar das Bewußtsein ausgeschaltet und das Gehirn eine Weile für die Verarbeitung von Schmerzreizen blockiert. Währenddessen laufen jedoch aus dem Operationsgebiet viele Millionen Schmerzimpulse in den Schaltstellen des Rückenmarks auf. Nachdem der Patient aus der Narkose aufgewacht ist, überrennt eine Impulslawine sein Gehirn, der Schmerz wird in gesteigerter Intensität wahrgenommen. Zusätzlich zur Narkose sollten deshalb Ner236 d e r s p i e g e l 1 6 / 1 9 9 7 venzellen im Rückenmark oder auch in den unmittelbar betroffenen Körperregionen blockiert werden – eine Strategie, die beispielsweise an skandinavischen Kliniken schon Routine ist. Für solche Prävention eignen sich Morphine, die lokal injiziert oder auch intravenös verabreicht werden: Sie heften sich an die passenden Empfangsstellen („Opioid-Rezeptoren“) der Zellen an – die Durchschaltung einlaufender Schmerzimpulse zum Gehirn wird erheblich gebremst. Amerikanische Chirurgen pflanzen ihren Patienten winzige Kapseln mit Schmerzmittel an den Nervenendigungen ein, die Schmerzsignale noch in ihrer Entstehung kappen und mehrere Tage lang wirksam sind. Denn auch nach der Operation soll der Patient schmerzfrei sein. Nicht wie bislang nur nach Bedarf seien die Medikamente zu verabreichen, sondern gemäß einem strikten Zeitplan in fester Dosierung. Durch einen frühzeitigen Einsatz geeigneter Mittel können auch chronische Schmerzzustände wie die gefürchteten Neuralgien nach Herpes-Zoster-Infektionen vermieden werden. Etwa 70 Prozent aller älteren Gürtelrose-Patienten leiden schwer unter diesen Folgen. Werden die Schmerzleitungsbahnen im Anfangsstadium durch lokale Anästhesie blockiert, kann der Schmerz gar nicht erst entstehen. Die neugewonnenen Erkenntnisse haben neue Behandlungskonzepte hervorgebracht, in denen das lange verfemte Morphium, aber auch andere hochpotente Narkotika wie Kodein oder Methadon einen wichtigen Platz einnehmen. In drei Studien, in welche insgesamt 25 000 Krebspatienten einbezogen waren, haben Ärzte vom amerikanischen Sloan-Kettering Cancer Research Center nachgewiesen, daß nur sieben der Kranken nach den ihnen verabreichten Narkotika süchtig wurden. Das überraschend geringe Suchtpotential sei zum Teil auf neue Zubereitungen von Schmerzmitteln zurückzuführen, nimmt Schmerzspezialistin Kathleen Fo- ley vom Sloan-Kettering Center an: So gibt es Morphium in Tablettenform oder Narkotika-Pflaster, die ihren Wirkstoff langsam durch die Haut in den Blutstrom abgeben. Andere Studien lassen vermuten, daß Morphium vom Körper Schmerzleidender gleichsam aufgezehrt wird, so daß zur Suchterzeugung nichts übrigbleibt. In klinischen Versuchen werden derzeit Schmerzmittel der Zukunft erprobt, die – beispielsweise als eine Art Cocktail aus mehreren Substanzen zusammengemischt – jeweils unterschiedliche Schmerzkanäle im Körper blockieren. Bei über 80 Prozent der Migräne-Patienten erwies sich in verschiedenen Studien die neue Wirkstoff- gruppe der sogenannten Serotonin-Agonisten als hilfreich: Serotonin, ein im ganzen Körper vorkommender Neurotransmitter, beeinflußt die bei Migräne-Attacken gestörte Regulation der Blutgefäßspannung. Ihre ständige Pein können Patienten auch mit Hilfe einer psychologischen Behandlungsmethode loswerden, dem Biofeedback. Normalerweise unbewußte Funktionen wie Herzfrequenz, Muskelspannung oder auch die elektrische Gehirnaktivität werden mit Hilfe von Sensoren und einem speziellen Computersystem optisch dargestellt und akustisch wahrnehmbar gemacht. So erlebt der Kranke die Veränderungen durch den Schmerz mit – und lernt zugleich, den Schmerz über ein Rückkopplungssystem zu mindern. Ähnliches beobachteten die MaxPlanck-Forscher bei Patienten, die – nach Jahren des Leidens – ein paar Wochen schmerzfrei lebten. Neuroforscher Zieglgänsberger: „Während der Zeitspanne ohne Schmerzimpulse erlangen die Nervenzellen viel von ihrer ursprünglichen Erregbarkeit zurück.“ Das Schmerzgedächtnis wird deprogrammiert. Für Nils Bierbaumer, der die Biofeedback-Methode am Tübinger Universitätsinstitut für Verhaltensneurobiologie anwendet, ist „der herkömmliche Umgang unseres Gesundheitssystems mit Schmerzpatienten fast schon ein Kunstfehler“: „Da liegen Migräne- und Rückenschmerz-Geplagte jahrelang auf der Couch, werden nach ihren sexuellen Gewohnheiten und ihren Kindheitserlebnissen befragt, bekommen ein Schmerzmittel nach dem anderen, verlieren ihren Job und schließlich auch sonst jeden Bezug zum gesellschaftlichen Leben.“ Die Methode des Biofeedback, meint der Neurologe, könnte vielen von ihnen „all das ersparen“. Die Wirksamkeit des Biofeedback, die sich nach etwa 15 Sitzungen zeigt, ist in weltweit bislang 100 Studien untersucht worden. Die sehr häufigen Schmerzen durch Muskelverspannungen beispielsweise konnten in 60 Prozent aller Fälle geheilt oder soweit gebessert werden, daß die Patienten keine zusätzliche Therapie mehr brauchten. In der Kontrollgruppe, die die üblichen Medikamente erhielt, lag die Erfolgsrate nur bei etwa 25 Prozent. Die Schmerzbehandlung der Zukunft, so meint auch Therapeut Müller-Schwefe, müsse „ganzheitlich und umfassend“ sein: Sie setzt sich zusammen „aus moderner Medikamentierung nach einem Stufenplan“ mit nicht-opioiden und mit OpiumPräparaten, ferner aus psychologischer und psychosomatischer Therapie und anderen Verfahren wie Lokalanästhesie oder Akupunktur. „Das schnell verordnete Schmerzmittel oder die simple Spritze, die sich ein Patient morgens und abends beim Arzt abholt“, so Müller-Schwefe, sollte künftig „ein für allemal passé sein“. ™ d e r s p i e g e l 1 6 / 1 9 9 7 237
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