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1
1.1
Hilfestellungen zur Dynamik
Vorbemerkungen
Im folgenden wird eine komplette, erdachte Aufgabe vorgerechnet und mit entsprechenden
Erläuterungen versehen. Dies soll dazu dienen, den Studenten eine Hilfe bereitzustellen, mit
welcher sie in der Lage sein sollen, die gestellten Aufgaben der Dynamik selbstständig zu bearbeiten und natürlich auch zu lösen.
Manche Schritte sind farblich hervorgehoben. Sie können dazu verwendet werden, sich eine
Art Kochrezept“ zu erarbeiten. Mit diesem Rezept“ ist eine schematische Abarbeitung der
”
”
Lösungsschritte möglich.
Es wird hier lediglich eine Möglichkeit der Lösung dargestellt. In den Naturwissenschaften
führen meist mehrere Wege zum Ziel. Jeder Student sollte vor dem Bearbeiten einer Aufgabe
prüfen, mit welcher Variante er am schnellsten und einfachsten zum Ziel gelangt.
Das vorliegende Material ist nur zur Unterstützung gedacht und kann und darf das selbsttätige
Üben unmöglich ersetzen.
Des weiteren wird keinerlei Garantie auf Richtigkeit der Lösung übernommen. Der Autor nimmt
Verbesserungsvorschläge jeglicher Art gern entgegen.
1.2
Die Aufgabe
In dieser ersten Version wird es darum gehen, die Bewegungsgleichungen nach dem Prinzip
von D´ALEMBERT herzuleiten. Später wird es eine Version geben, in der diese Gleichungen
mit den LAGRANGE´schen Gleichungen zweiter Art berechnet werden. Dazu dann aber später.
Die Prinzipskizze der Struktur ist in Abbildung 1 dargestellt.
2
r3 , m3 , J3
g
r4 , m4 , J4
r2 , m2 , J2
α
m1
geg.: m1 , m2 , m3 , m4 , J2 , J3 , J4 , g, r2 , r3 , r4
ges.: Bewegungsgleichung für die Masse m4
Abbildung 1: Aufgabenstellung
1.3
Lösungsweg
Mein erster Schritt bei der Lösung dieser Aufgabe ist, dass der Freiheitsgrad der Struktur ermittelt wird. Dazu führe ich die erforderlichen, freien Koordinaten ein, die bei der Bewegung zu
unterscheiden sind. Jede Translation ergibt eine Wegkoordinate und jede Rotation eine Bogenbzw. Winkelkoordinate. Es ist zweckmässig diese Koordinaten in der tatsächlichen Bewegungsrichtung anzutragen. (So erspart man sich die Minuszeichen in den Zwangsbedingungen.) In
der Abbildung 2 kann man die freien Koordinaten sehen. Ausserdem sind die von aussen eingeprägten Kraftgrössen eingetragen. Auf die Auflagerkräfte, die im Festlager angreifen, wurde
bewusst verzichtet, da diese in den späteren Bilanzen keine Rolle spielen.
3
g
s4
φ3
FG3
s2
φ2
φ4
FG4
FG2
α
s1
FG1
Abbildung 2: System mit Koordinaten
1.3.1
Freiheitsgrad
Es sind also zusammen sechs freie Koordinaten. Um den resultierenden Freiheitsgrad zu erhalten, benötigt man die sogenannten Zwangsbedingungen.
Zwangsbedingungen sind meist geometrische Gleichungen, welche die einzelnen freien Koordinaten zueinander in Beziehung setzen. Es gilt der Zusammenhang:
Freiheitsgrad = Anzahl freie Koordinaten - Anzahl Zwangsbedingungen
(1)
Konkret für diese Aufgabenstellung:
Anzahl freie Koordinaten = 6
Die auftretenden Zwangsbedingungen - welche man aus der Skizze ablesen kann - lauten:
s1 = s 2
s2 = r2 φ2
r2 φ2 + s2 = r3 φ3
s4 = r3 φ3
Anzahl Zwangsbedingungen = 5
Der resultierende Freiheitsgrad ist demnach also f = 6 − 5 = 1.
s4 = r4 φ4
(2)
4
Hier nun die ersten Schritte für das Kochrezept“:
”
1.) Skizze im ausgelenkten Zustand zeichnen
2.) freie Koordinaten (bewegungsrichtig) eintragen
3.) Zwangsbedingungen finden (Abrollbedingung ect.)
4.) Freiheitsgrad ermitteln => Anzahl der Gleichungen ist dann bekannt
1.3.2
Freischnitte
Wählt man die Methode nach D´ALEMBERT, so müssen sämtliche Einzelmassen freigeschnitten werden. In dieser Aufgabe sind insgesamt vier Massen vorhanden.
Nachfolgend werden die von aussen eingeprägten Kräfte mit der Farbe Rot, Schnittkräfte und
-momente mit der Farbe Blau und die D´ALEMBERT´schen Hilfskraftgrössen mit der Farbe
Grün gekennzeichnet.
Wichtig: Diese Hilfskraftgrössen werden immer entgegengesetzt zur Koordinatenrichtung eingetragen!
Masse 1
F1
s1
m1 s̈1
FG1
Abbildung 3: Freischnitt 1
Das vertikale Gleichgewicht ergibt dann die folgende Gleichung:
↑:
F1 = FG1 + m1 s̈1
(3)
5
Masse 2
J2 φ̈2
F2
F3
P
s2
φ2
m2 s̈2
FG2
F1
Abbildung 4: Freischnitt 2
In diesem Freischnitt sind eigentlich zwei Bilanzen aufzustellen (vertikales Kräftegleichgewicht
und Momentengleichgewicht). Wird der Drehpunkt für das Momentengleichgewicht jedoch clever gewählt, kann die unbekannte Kraft F2 elliminiert werden.
Als Drehpunkt soll also nicht der Mittelpunkt der Scheibe sondern der Punkt P genommen
werden.
Die Bilanz der Momente liefert:
֒→ P :
F3 2r2 = J2 φ̈2 + (m2 s̈2 + FG2 + F1 ) r2
(4)
Masse 3
Anders als bei Masse 2 gibt es an der Masse m3 eine reine Rotation um den Mittelpunkt.
Das Trägheitsmoment ist gegeben, wäre aber auch aus dem Radius und der Masse leicht zu
berechnen. Die entsprechenden Terme werden wir dann am Ende noch einfügen.
Bei einer reinen Rotation genügt eine Bilanz der Momente um den Drehpunkt.
Zuerst der Freischnitt:
6
J3 φ̈3
S3
φ3
F4
FG3
F3
Abbildung 5: Freischnitt 3
Momentengleichgewicht:
֒→ S3 :
F4 2r3 = J3 φ̈3 + F3 r3
(5)
Wie anfangs schon erwähnt, sind keine Lagerkräfte eingezeichnet. Sie haben bei einer Drehung
um den Mittelpunkt der Scheibe keinen Hebelarm. Ihr Wert ist also für das Lösen der Aufgabe
nicht von Bedeutung.
Wenn es darum geht saubere Freischnitte“ zu produzieren, dann sollten sie jedoch auch ein”
gezeichnet werden.
Masse 4
Kommen wir nun zum letzten Freischnitt in dieser Aufgabe. Auch hier sind formal mehr Kräfte
vorhanden, die beachtet werden müssen, aber aus der Aufgabenstellung nicht ermittelt werden
können. Die Rede ist von der Tangentialkraft. Damit eine rollende Bewegung stattfinden kann,
muss eine solche Kraft vorhanden sein. Auch wenn in der Aufgabenstellung keine Reibkoeffizienten gegeben sind, ist diese Kraft im Freischnitt zu beachten. Diese Tangentialkraft muss ja
auch nicht zwingend eine Reibung sein. Man stelle sich vor, dass die Unterlage eine Zahnstange
ist und die Scheibe dementsprechend ein Zahnrad. Da wird ja auch keine Reibung gebraucht.
Sollte aber diese Kraft nicht vorhanden sein, dann wird es niemals eine Rotation geben, sondern
nur eine Translation.
Der Sachverhalt wird klar, wenn man sich einmal Gedanken darüber macht. Der Schlüssel
bei Aufgaben der Dynamik ist das saubere Freischneiden“.
”
Hier der saubere Freischnitt der Masse 4: (bewusst alle Kräfte eingezeichnet!)
7
s4
F4
J4 φ̈4
φ4
FT
FN
m4 s̈4
FG4
FN
FT
α
Abbildung 6: Freischnitt 4
Es ist offensichtlich, dass die Tangentialkraft aus einer Kräftebilanz entlang der Koordinate s4
berechenbar ist. Dies ist jedoch nicht nötig, wenn das Momentengleichgewicht um den Auflagepunkt aufgestellt wird. Der Auflagepunkt stellt bei einer rollenden Bewegung den Momen”
tanpol“ dar. Dieser wandert und wird dadurch charakterisiert, dass um ihn eine reine Rotation
stattfindet. Von mir wird die rollende Bewegung jedoch wie schon in Abbildung 4 zerlegt in
eine reine Rotation um den Schwerpunkt und eine reine Translation des Schwerpunktes.
Bei einer solchen Zerlegung sind jedoch die D´ALEMBERT´schen Hilfskraftgrössen für beide
Bewegungen einzutragen. Das Hilfsmoment setzt sich dann aus der Winkelbeschleunigung φ̈4
und dem Massenträgheitsmoment um den Schwerpunkt J4 zusammen.
Sollte es jemand vorziehen, diese Zerlegung nicht zu machen, dann ist nur die Rotation um
den Momentanpol einzuarbeiten. Dazu gehört dann auch keine Hilfskraft m4 s̈4 sondern nur der
Term J4A φ̈4 . Hierin ist das Massenträgheitsmoment allerdings auf den Auflagepunkt bezogen.
Man kann beweisen, dass der Hilfskraftterm nach D´ALEMBERT dem STEINER-Anteil aus
der Transformation des Trägheitsmomentes der Scheibe auf den Auflagepunkt entspricht.
Die Bilanz um den Auflagepunkt ergibt dann (mit der Zerlegung):
֒→ Auf lagepunkt :
m4 s̈4 r4 + J4 φ̈4 + F4 r4 = FG4 r4 sin(α)
(6)
Weitere Schritte für das Rezept“:
”
5.) alle Einzelmassen freischneiden
6.) Schnittreaktionen, Hilfskraftgrössen eintragen (saubere Freischnitte)
7.) Kräfte- und Momentenbilanzen aufstellen (einmal mehr überlegen wo man die Momentengleichgewichte aufstellen kann => spart Zeit und Arbeit
8
Wenn man das alles hinter sich hat, verbleibt nur noch das Einsetzen der Zwangsbedingungen und das umstellen nach der gesuchten Koordinate.
Welche der freien Koordinaten für die Lösung wichtig ist, lässt sich aus der Aufgabenstellung
erkennen. Diese Grösse nennt der Dynamiker generalisierte Koordinate“ bzw. die Mehrzahl
”
davon, wenn der Freiheitsgrad höher ist.
Ist diese generalisierte Koordinate gewählt, müssen die restlichen freien Koordinaten über die
Zwangsbedingungen ersetzt werden. In dieser Aufgabe ist nach der Beschleunigung der Masse
4 gefragt. Da liegt es nahe, die Koordinate s4 als generalisierte Koordinate zu wählen.
Die Gleichungen (2) präsentieren sich dann in der folgenden Form:
s1 =
s4
2
s2 =
s4
2
φ2 =
s4
2r2
φ3 =
s4
r3
φ4 =
s4
r4
(7)
Nun setzt man alles ein und stellt nach der gesuchten Beschleunigung s̈4 um.
Noch die letzten Schritte zur Vervollständigung des Rezeptes“:
”
8.) generalisierte Koordinate(n) wählen (Aufgabenstellung beachten)
9.) Zwangsbedingungen umstellen
10.) alles einsetzen und nach der gesuchten Grösse auflösen
1.4
Ergebnis
Wer alles beachtet und sich nicht beim Umstellen vertan hat, der sollte auf folgendes Ergebnis
kommen:
s̈4 = g
1.5
m4 sin(α) −
1
4
m1 + m 2 +
J2
r22
1
2
(m1 + m2 )
+
J3
r32
+
J4
r42
(8)
+ m4
Schlussbemerkung
Wer diese Schritte gewissenhaft abarbeitet, sich den Sinn dieses Verfahrens vertraut macht und
das Finden der Zwangsbedingungen ein wenig übt, der wird mit den in der Dynamik gestellten
Aufgaben weniger Probleme haben.
Das Aufstellen der Bewegungsgleichungen ist eine der zentralsten Problemstellungen. Alle Aufgaben, die noch kommen werden, gehen davon aus, dass der Student diese Gleichungen aufstellen
kann.
Das Prinzip von D´ALEMBERT stellt nur eine Möglichkeit dar, die Bewegungsgleichungen
herzuleiten. Später soll diese Aufgabe noch mit den LAGRANGE´schen Gleichungen zweiter
Art gelöst werden. Die entsprechende Hilfe wird dann ebenfalls in dieser Form von mir bereitgestellt.
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Des weiteren überlege ich, ob ich diese Aufgabe nicht noch erweitern sollte, damit die Probleme der Schwingungslehre auch mit dargelegt werden.
Denkbar wäre eine Erweiterung auf freie, harmonische Schwingungen mit oder auch ohne
Dämpfung. Als letzten Zusatz könnte ich mir noch das Einbringen einer Erregung vorstellen. Dann würde die Aufgabe eine erzwungene Schwingung darstellen.
Vorschläge und Anregungen sind willkommen. Mithilfe ebenso.
Meine Mailadresse ist bekannt, oder kann erfragt werden.
Soweit von mir!
Gruss