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Hybride Wesen
Zu den Photographien von Gabrielle Strijewski
Text von Christina Tschech
Von der Zeit gezeichnete Schwarzweissphotographien - anscheinend aus einem Familienalbum
stammend - zeigen Mutter/Tochter oder Vater/Tochter Paare.
Die frappierende Ähnlichkeit läßt nicht an der Verwandschaft zweifeln. Da sich beide Individuen
gemeinsam auf der Photographie zeigen, ist zu vermuten, dass sie am selben Tag und zur selben
Stunde aufgenommen wurden, eine Feststellung, die man aber aufgrund der divergierenden physischen Dimensionen sofort wieder verwerfen muß. Das übermäßig entwickelte monströse Kind
drängt sich in den Vordergrund. Seine physische Präsenz, vor allem die des Kopfes, scheint sich
in eine außergewöhnliche mentale Kraft zu verwandeln und bedrohlich zu werden. Diese Differenz in der Dimension irritiert, um so mehr da die physische Gleichstellung die zeitliche Spanne
der Entwicklung ausblendet und so eine paradoxe Ungleichzeitigkeit in der Momentaufnahme der
Photographie produziert.
Wenn wir eine Photographie von uns und eine in der Inszenierung ähnliche von unseren Eltern
im gleichen Alter betrachten, sind es nur die Qualität des Abzuges, die neuen Techniken - Farbe,
Digital - oder die Mode einer jeweiligen Epoche, welche die historische Spanne zwischen den zwei
Aufnahmen anzeigen.
Gabrielle Strijewski thematisiert den Riss, der zwischen dem photographischen Moment und der
“Wahrheit”, die mit dem Medium einhergehen, aufbricht. Die Photographie, die einen winzigen
Lebensmoment einfriert, beansprucht eine überzeitliche Geltung, da sie das Subjekt über den Moment der Aufnahme hinaus, diesen quasi verewigend, in einen außerzeitlichen Raum versetzt.
Gabrielle Strijewski verleiht dem Kind die illusorische Position eines selbständigen Subjekts,
indem sie das kleine Mädchen auf Erwachsenengröße anwachsen lässt. Die Thematisierung des
Kind-Elternverhältnisses über das Darstellungsmittel der Photographie, die als Bezeugungsinstrument eingesetzt wird, lässt an die Serie Temps von Christian Boltanski denken. Hier werden
Photos von Erwachsenen und Kindern, die eine deutliche Ähnlichkeit aufweisen, ohne Kommentar einander gegenübergestellt. Zweifel über die Art der familiären Beziehungen kommt auf, denn
die Nahaufnahme verrät hier nicht ihren Bezug zur Zeit. Es stellt sich die Frage, ob es sich um
Mutter-Tochter Paare oder um dieselbe Person in verschiedenen Lebensmomenten handelt. Bei
der Betrachtung von Strijewski Photos hingegen verwirft man diese Vermutungen sofort wieder, da
Eltern und Kinder im Stil derselben Epoche bekleidet sind. Lange ungebändigte Haare wie der Vater, eine absolute Ähnlichkeit der Gesichtszüge - das kleine Mädchen ernst und bestimmt in seiner
Haltung, scheint wie ein Alter Ego des Vaters zu funktienieren, der sich eher in lockerer Haltung
zeigt. Der überdimensional wirkende Kopf des Kindes betont noch diesen Effekt von imposanter
physischer Domination, welche sich in eine spirituelle Macht zu verwandeln scheint. Rollentausch?
“Wir tragen alle ein Kind in uns”, sagte Boltanski.
Das Kind ist die exemplarische Figur dieses poetischen Raumes des Imaginären, in den sich
Erwachsene gerne hin und wieder zurückziehen, “denn sein Kind wiederzubeleben, heißt seinen
eigenen Zorn wieder hochkommen zu lassen, seine Ängste, seine Fähigkeit sich zu erschrecken,
seine Kraft des Jubels und des Scheins. In der Regression liegt die Kraft der Revelation.” 1
Die Darstellung überdimensionaler, monströser Kinder findet sich in der romantischen Tradition
(besonders bei Runge) wieder, bevor Van Gogh sie wiederaufnimmt, und setzt sich heute im Werk
von Künstlern wie dem Engländer Charles Ray oder dem Australier Ron Mueck fort. Weder Runge, noch Van Gogh assoziieren Kinder mit dem Niedlichen, Dekorativen, Sentimentalen: diesem
konventionellen Bild entgegen sehen sie sie eher als Hüter mysteriöser Energien. Wie Gabrielle
Strijewski, nehmen diese Künstler den eigenen Maßstab ihres Sujets an - was hier heißt, den
der Sicht des Kindes. Sie betrachten diese seltsamen humanoiden Kreaturen nicht aus der Höhe
eines Erwachsenen von oben herab, sondern sie gehen auf Augenhöhe des Kindes. Die paradoxale Disproportion zwischen den zwei Wesen suggeriert, dass die Kindheit vor allem eine Frage
des Maßstabs und der Sichtweise zwischen groß und klein ist. Das Aufblasen des Mädchens auf
Erwachsenengröße veranschaulicht auch, dass die Klassifizierung nach Alter immer willkürlicher
wird und Jugend und Alter keine Daten sondern soziale Konstruktionen sind. Außerdem verschiebt
sich diese willkürliche Grenze zwischen den Generationen - in allen Gesellschaften konfliktbehaftet - ständig, denn die Beziehungen zwischen biologischem und sozialen Alter erweisen sich als
komplex.2
Heutzutage suchen Erwachsene in der Unterhaltungskultur und auch immer mehr in der Kunst
sich von der Last der Gesellschaft im virtuellem Spielraum zu befreien, während Kinder immer
mehr zum Selbstlehrgang vorm Fernseher oder am Computer veranlasst werden, um möglichst
schnell verantwortungsbewusst zu werden. Sind sie nicht schon im Umgang mit neuen Technologien über uns hinausgewachsen? Durch die Kluft, die in der Photographie über die Disproportionierung veranschaulicht ist, entsteht eine Spannung zwischen den beiden Personen, die als Metapher der Komplexität der Eltern/Kindbeziehungen oder allgemeiner gesagt, als die Komplexität
der Beziehungen zwischen Generationen interpretiert werden kann. “Die Kluft Kindheit-Jugend ist
in etwa mit der zwischen Feminin und Maskulin existierenden Kluft zu vergleichen (...) Deshalb ist
es also kein Zufall, wenn das Ende des Jahrhunderts zur Verschiebung dieser Grenzen tendiert,
wenn nicht sogar zu ihrer Abschaffung. In beiden Fällen finden wir diesen nicht determinierten
Zustand, weder Mann noch Frau, weder Kind noch Erwachsener, die wie eine Figur ohne Grenzen
erscheint, eine dritte Stimme, die nicht nur die Überschreitung der Gegensätze wäre, sondern ein
freies Zirkulieren zwischen zwei Polaritäten, welches ein neudefinieren menschlicher Konfigurationen erlaubt.” 3
„Das junge Mädchen ist so etwas wie ein Block des Werdens, dem jeder der Terme, die man aneinander entgegensetzen kann, zeitgleich bleibt: Mann, Frau, Kind, Erwachsener. Nicht durch das
junge Mädchen, das zur Frau wird, sondern durch das Frau-Werden, wird ein universelles junges
Mädchen geschaffen; nicht durch das Kind, das erwachsen wird, sondern durch durch das KindWerden wird eine universelle Jugend geschaffen.“ 4
1 Marie-Laure Bernadoc, “La societé du pestacle” Musée de Bordeaux:2000
2 Pierre Bourdieu, “Questions de sociologie”, Paris
3 Marie-Laure Bernadoc, ouvr. cité
4 Gilles Deleuze et Felix Guattari, “Kapitalismus und Schizophrenie: Tausend Plateaus“
übersetzt von G. Ricke und R. Vouillé, Berlin