Wo die Industrie in Europa ausstirbt

András Szigetvari: http://derstandard.at/2000042297208/Wo-die-Industrie-in-Europa-ausstirbt,
der Standard, vom 04.07.2016
Wo die Industrie in Europa ausstirbt
András Szigetvari
4. August 2016, 06:00
Die Deindustrialisierung in Europa geht weiter. Österreich und Deutschland trotzen diesem Trend, die Zahl der Industriearbeiter sinkt aber auch hier
Wien – Der Anteil der Industrie an der Wirtschaftsleistung liegt in Österreich deutlich
über dem EU-Schnitt. Während in den meisten westeuropäischen Ländern die Bedeutung des verarbeitenden Gewerbes in den vergangenen 20 Jahren zum Teil stark zurückgegangen ist, ist Österreich von diesem Strukturwandel bisher weitgehend verschont gewesen.
So lauten zwei der zentralen Ergebnisse eines neuen Forschungspapiers von zwei
Ökonomen des Instituts für Höhere Studien (IHS). Die Wissenschafter Brigitte Ecker
und Klaus Weyerstraß haben sich angesehen, wie sich Beschäftigung und der Industrieanteil zwischen 1995 und 2005 in diversen EU-Ländern entwickelt haben. Im Schnitt
der 28 EU-Länder ist der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung, also an der Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen, in der Zeit
von 16,3 auf 15,7 Prozent gesunken.
Kritische Entwicklung in Krisenländern
Dabei gibt es Unterschiede: In Krisenländern wie Spanien und Griechenland hat die
Deindustrialisierung über die vergangenen Jahrzehnte ebenso große Dimensionen
angenommen wie in Großbritannien. Auch in Frankreich, Italien und Portugal ist der
Industrieanteil stark zurückgegangen.
Die Entwicklung ist eine Folge der Verlagerung von Jobs und Ressourcen in den
Dienstleistungssektor. In einigen Ländern wie Großbritannien war diese Strategie bewusst gewählt: So wurde London seit der Ära von Premierministerin Margaret Thatchers gefördert, während der Kohleindustrie Subventionen entzogen wurden. In anderen Staaten ist der Anteil des produzierenden Gewerbes als Folge des zunehmenden
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der Standard, vom 04.07.2016
Wettbewerbs mit Ländern wie China zurückgegangen. Aus den Zahlen ist für mehrere
große EU-Staaten ein Kahlschlag ablesbar. In Spanien liegt der Anteil der Industrie
nur bei zwölf Prozent, in Frankreich sind es elf, in Großbritannien überhaupt nur 9,5
Prozent.
Gegen den Trend in Europa
Der Industrieanteil liegt dagegen sowohl in Deutschland als auch Österreich über 20
Prozent. Diese Länder stechen zudem hervor, weil hier die Bedeutung der Warenerzeugung "entgegen dem Trend gestiegen ist".
Noch stärker zugelegt hat der Industrieanteil in Osteuropa, in der Slowakei, Tschechien und in Ungarn. Das ist eine Folge der Ansiedelung neuer Betriebe, primär aus der
Automobilbranche. Die Zahl der produzierten Autos pro Einwohner ist nirgends so
hoch wie in der Slowakei. Peugeot Citroën, VW und Kia lassen hier Pkws zusammenbauen.
Überall ist die Zahl der Industriearbeiter zurückgegangen. In Österreich, Deutschland
und der Slowakei ist das eine Folge der Technologisierung. Maschinen ersetzten
Menschen. Der zunehmende Wettbewerb und der technologische Fortschritt sind für
Ecker und Weyerstraß die größte Herausforderung für Betriebe.
Mehr Maschinen, mehr Export
Länder mit einem höheren Industrieanteil sind besser durch die Krise gekommen,
heißt es im IHS-Papier, das aktuell in den Wirtschaftspolitischen Blättern, einer Publikationsreihe der Wirtschaftskammer, erschienen ist. "Das liegt daran, dass die Krise
ihren Ursprung im Banken- und Bausektor hatte", sagt Ökonom Weyerstraß. Länder,
die mehr Maschinen erzeugen, konnten nach einem anfänglichen Einbruch von einer
Exporterholung profitieren.
Deshalb forciert die EU-Kommission eine Reindustrialisierung. Ihr Ziel den EUIndustrieanteil über 20 Prozent zu heben, ist laut IHS-Ökonomen schwer erreichbar.
Das Wachstumspotenzial dürfte im Dienstleistungssektor (Pflege, Medizin) liegen.
(András Szigetvari, 4.8.2016) - derstandard.at/2000042297208/Wo-die-Industrie-inEuropa-ausstirbt