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ThPQ 164 (2016), 247– 255
Peter Planyavsky
Zwischen Gregorianik und Songcontest
◆ Der langjährige Wiener Domorganist und Professor für Orgel und Improvisation lädt zu einem gleichermaßen abwechslungsreichen und unterhaltsamen wie auch kundigen und reflektierten Gang durch die Epochen
der Kirchenmusik – von der Gregorianik über klassische Ordinariumsvertonungen bis zum „Neuen Geistlichen Lied“ und zur „Postmoderne“ – und
ihre Bedeutung für die heutige Gottesdienstgestaltung ein. (Redaktion)
„So sie’s nicht singen, glauben sie’s nicht“ –
gilt es noch, das berühmte Wort Martin Luthers? Sind es Glaubensfragen, die
für den Gottesdienstteilnehmer heute im
Vordergrund stehen? Wird er tatsächlich
durch Musik diesem oder jenem religiösen
Thema näherkommen?
In einer großangelegten Umfrage in
der Erzdiözese Wien taucht immer wieder
die Musik als besonders wichtiges Element
des Gottesdienstes auf. „Die Einbeziehung
der eigenen Lebenswelt der Gläubigen verlangt nach einer ‚persönlichen‘ Messgestaltung. Auf die Frage, wie dies geschehen
kann, werden Fürbitten, Predigt und – auffallend häufig – die Auswahl der Musik genannt.“1 Wie sehr sich allerdings diese Lebenswelt in Laufe weniger Jahrzehnte verändern kann, müsste jedem gegenwärtig
sein, der sich mit Gottesdienstgestaltung
beschäftigt. „Was empfinden die Menschen
von heute als bedrohend? […] Vieles, was
Angst machen müsste, wird heute kaum
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gefürchtet. Warum wünschen sich auch
viele Christen heute einen raschen und
schmerzlosen Tod, während ihre Urgroßeltern noch ernsthaft beteten: ‚Vor einem
plötzlichen Tod verschone uns, o Herr?‘ “2
Die Einbeziehung der eigenen Lebenswelt – da ist der Schritt zum jeweiligen
Lieblingslied und Lieblingssound nicht
mehr weit. Dort, wo die Gottesdienstteilnehmer am ehesten selbst die Gestaltung
in die Hand nehmen können, nämlich bei
den Kasualien (und da wieder vornehmlich bei Trauungen), wird die Grenze zum
Wunschkonzert heutzutage schon fast
grundsätzlich überschritten.
1
Das neue Lied
Die Einbeziehung der eigenen Lebenswelt –
das hat man auch vor einem halben Jahrhundert auf die Fahnen geschrieben und
mit einem Stil begonnen, der zuerst unter
Liturgiereferat der Erzdiözese Wien (Hg.), Umfrage Gottesdienst. Eine exemplarische Momentaufnahme des liturgischen Lebens und der „Sonntagskultur“ in der Erzdiözese Wien. Im Auftrag des Leitungsteams des Diözesanen Entwicklungsprozesses APG 2.1, Wien 2015, 31 (https://
www.erzdioezese-wien.at/dl/olttJKJlNmLlJqx4KJK/Umfrage_Gottesdienst_broschuere_2015_
web.pdf [Abruf: 13.04.2016].
Edgar Josef Korherr, Von der Drohbotschaft zur Frohbotschaft. Überlegungen und Fragen zur
Predigt in Eucharistie- und Wort-Gottes-Feiern, in: Rudolf Pacik / Andreas Redtenbacher / Monika Scala (Hg.), Protokolle zur Liturgie 1. Veröffentlichungen der Liturgiewissenschaftlichen
Gesellschaft Klosterneuburg, Würzburg 2007, 117–184.
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Planyavsky / Zwischen Gregorianik und Songcontest
dem semantisch zweifelhaften Begriff „Jazzmesse“ lief; heute spricht man einerseits
vom Neuen Geistlichen Lied (NGL) und
andererseits vom Sacropop. Eine große Anzahl von Liedern aus diesem Genre findet
sich in Gesangbüchern jüngeren Datums.
Jedoch: „Die alte These, dass ein wenig
moderne Musik die Leute wieder zurück
in die Kirche holt, halte ich für längst widerlegt. Vor allem, wenn die Gottesdienstbesucher spüren, dass die moderne Musik
aufgesetzt ist und nicht aus einer inneren
Selbstverständlichkeit kommt, geht der
Schuß nach hinten los.“3 Zudem kann man
zwei nachgerade gegenläufige Tendenzen
in dieser Spielart der „modernen“ Kirchenmusik beobachten: sich hochschraubende
Professionalisierung einerseits, fortschreitende Trivialisierung andererseits. Das
eine widerspricht klar einem Desiderat,
dessen Erfüllung diese nicht-klassischen
Stile und Formen dienen sollten, nämlich
der aktiven – und das heißt: singenden –
Teilnahme aller Versammelten. In der Zeit,
da die participatio actuosa erst als Morgenröte vor dem Zweiten Vatikanum wahrnehmbar war,4 verhieß die „Jazzmesse“
mit ihren Refrains und mit ihrem damals
neuen Rollenspiel zwischen Vorsänger und
Gemeinde eine erste Verwirklichung der
lang ersehnten Beteiligung aller. Aber dem
läuft die fortschreitende Komplexität zuwider, die mit dem höheren Niveau im Kom-
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positorischen und Interpretatorischen einhergeht. „Wenn ich aber einen ‚deutschen‘
Gospelgottesdienst erlebe, in dem die Gemeinde weniger zu singen hat als im traditionellen Sonntagsgottesdienst […], dann
empfinde ich dies als einen Rückschritt.“5
Ähnlich Andreas Marti: Oft verlassen diese Kompositionen „die Gattung des Kirchenliedes (auch in einem relativ weit gefassten Sinn) [… und sind] eher für den
Vortrag als fürs Mitsingen konzipiert.“6
Dass auf der anderen Seite eine gewisse Trivialisierung – Text und Kompositorisches betreffend – Einzug ins neuere Liedgut gehalten hat, braucht nicht erst
statistisch erhärtet zu werden. Das geht
schleichend vor sich oder ganz offen im
Sinn einer bewusst gewählten Reduktion.
So wird auf einer Tagung von Musikern
und Theologen in Erfurt (Mai 2004) festgehalten: „Ein Gesangbuch, das in der Praxis bestehen wolle, müsse also auch einen
gewissen Anteil an banalen, emotionalen
Liedern beherbergen. Es wurde sogar die
These gewagt, banale Lieder seien notwendig.“7 (Bezeichnend die unbekümmerte
Gleichsetzung banal = emotional!)
Ob da „das Volk“ immer gleichbleibend bereitwillig mitzieht, wenn man ihm
so aufdringlich entgegenkommt, ist allerdings mehr als unsicher: „Großer Gott…
Singt dem Herrn ein neues Lied… Mehr
von solchen klaren Worten – und weniger
Albert Frey, Altes und Neues. Gedanken zu Spiritualität und neuer geistlicher Musik, in: Musica
sacra 129/2 (2009), 81 f.
Wiewohl sie gerade im deutschen Sprachraum ansatzweise durch die verschiedenen liturgischen Bewegungen (Beuron, Klosterneuburg, Mecheln u. a.) längst erprobt wurde.
Jürgen Strodthoff, Zwischenruf, in: Forum Kirchenmusik 2000/1, 13 –17.
Andreas Marti, Entwicklungsschwerpunkte des gottesdienstlichen Gesangs, der liturgischen
Musik und der Gesangbücher in der lutherischen und in der reformierten Kirche, in: Wolfgang
W. Müller (Hg.), Musikalische und theologische Etüden. Zum Verhältnis von Musik und Theologie (Schriften Ökumenisches Institut Luzern 9), Zürich 2012, 119.
Siri Fuhrmann, „Es ist Zeit, den Anker zu lichten…“ Das Kirchenlied seit 1960 – Eine Bestandaufnahme, in: Musica sacra 124/4 (2004), 15 f.
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Planyavsky / Zwischen Gregorianik und Songcontest
simple Reime, die uns Gottesdienstbesucher vorwiegend an Kleinkinder-Gottesdienste erinnern –, das wäre schön. Dann
könnten viele Erwachsene wieder aus vollem Herzen mitsingen.“8
Den Sacropop betreffend konstatiert
ein Autor „sogar einen grundsätzlichen
Widerspruch zwischen Kirche und Pop.
Kirchenmusik ist ihre [der Kirche] Kultur, ihr Gefüge von Inhalt und Form, eine
geläuterte, die durch viele Anwendungen
hindurch Bestand bewiesen hat. […] Pop
ist hingegen eine sehr junge Kulturform.
Pop ist ohne die Präsenz der Massenmedien nicht denkbar. Dessen bedurfte die
Kirche und ihre Musik nie.“9 – Diese Argumentation lässt freilich außer Acht, dass
sich auch in den letzten 1000 Jahren Präsentations- und Ausführungsmodi immer
wieder verändert haben. Genauso könnte
man argumentieren, dass es einen „Widerspruch“ zwischen venezianischer Mehrchörigkeit und der früher komponierten
Sakralmusik gibt, denn die Messen von
Dufay hätten nie einer Musizierpraxis auf
mehreren Emporen „bedurft“. –
Kurz und gut: Die Frage, ob diese nicht
mehr ganz neue Schiene der musica sacra
die Kirchen füllen kann, und wenn ja, ob
dies nicht um einen zu hohen Preis punkto Qualität geschieht, kann – und das war
zu erwarten! – nicht eindeutig beantwortet
werden.
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Die gute alte Kirchenmusik
Dass mit den Werken aus dem thesaurus
musicae sacrae Erbauung, Andacht, Erschütterung und Freude hervorgerufen
werden kann, braucht nicht begründet
zu werden. Ist es unbescheiden, wenn
man dennoch fragt: Genügt das? Als der
erwähnte Dufay seine Motetten schrieb
und als Mozart die Messen komponierte,
konnte man derlei Musik nur innerhalb
der Liturgie hören. Heute gibt es Tonträger, und man kann jede Art von Musik
herunterladen, wo immer man sich auch
gerade aufhält. Und es gibt konzertante
Darbietungen von liturgisch intendierter
Musik; von so manchem wird dies übrigens nicht als zusätzliches Angebot gesehen, sondern als einzig statthafter Ort
der Aufführung. „Eine Spatzenmesse von
Mozart zum Beispiel funktioniert [!] dramaturgisch bei einem Gottesdienst nach
dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht
mehr; bei einer Kommunionfeier wird es
noch schwieriger.“10 Ebenso finden sich
allerdings immer wieder auch schlüssige
Beweisführungen, dass der überwiegende Teil der klassischen Ordinariumsvertonungen sehr wohl mit der heute gültigen Liturgie – genauer gesagt: mit ihrem
Gesamtduktus – in Übereinstimmung gebracht werden kann.11
Barbara Jeremias, Eindrücke eines Laien unterm Schirm. Vom Hauptgottesdienst des 95. Deutschen Katholikentages, in: Musica sacra 124/4 (2004), 13.
Marcus Watta, Von zweierlei Formen christlicher Musik. Oder: Was hat Kirche mit Pop zu
schaffen?, in: Musica sacra 129/2 (2009), 79 f.
So der Gemeindeleiter der Luzerner Pfarrei St. Johannes im Beitrag „Eine Messe, die keine sein
will“, Pfarreiblatt Luzern, Nr. 9/2015, 7 (ohne Autorenangabe).
Aus der Fülle von Beiträgen zu diesem Thema, das naturgemäß vor allem im süddeutsch-österreichischen Raum diskutiert wird, seien genannt: Jakob Johannes Koch, Der Klerus unterbrach die Musik geräuschhaft. Die Problematik der Orchestermesse in der erneuerten Liturgie
am Beispiel W. A. Mozarts, in: Musica sacra 126/2 (2006), 78–81; Franz Karl Praßl, Orchestermesse in der heutigen Liturgie. Anachronismus oder willkommene Bereicherung? – Ein widersprüchlicher Befund, in: Singende Kirche 48/1 (2001), 8 –14.
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Planyavsky / Zwischen Gregorianik und Songcontest
Das „ganz Alte“
in der Kirchenmusik
Seit dem Zweiten Vatikanum steht zwar
der gregorianische Choral schon aufgrund
des Latein nicht mehr im Vordergrund
bei der Gestaltung; nach einer gewissen
Umkehrzeit hat das aber immerhin seine
nostalgische Verklärung und seine Rückkehr in eine speziellere Kirchenmusikpraxis ermöglicht. Für jüngere Gottesdienstbesucher wirkt er nach längerer Absenz
wieder als Neuheit. Da es diese Melodien
ausschließlich im Zusammenhang mit liturgischen Texten gibt, strahlt der gregorianische Gesang per se eine gewisse
Grund-Sakralität aus; er erzeugt zudem
ein Gefühl, mit längst vergangenen Epochen verbunden zu sein. Was vor einigen
Generationen propagiert und postuliert
wurde, scheint heute gleichsam durch die
Hintertür zur Wirkung gelangt zu sein:
dass diese vorgeblich „seit Jahrhunderten
unverändert bewahrte Musik“12 dem Auf
und Ab der Stile entzogen sei und eben
die eigentliche, objektive musica sacra verkörpere. Hier ist eine gehörige Portion ästhetische Sehnsucht am Werk (die übrigens gewiss auch die Anziehungskraft des
tridentinischen Ritus beflügelt). Damit ist
genug gesagt, um auch in einer verstärkten
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Gregorianik-Pflege kein Wundermittel für
die innere Attraktivierung unserer Gottesdienste zu sehen.
Rückkehr-Ästhetik ist wohl auch im
Spiel, wenn es um jenen speziellen Sektor neuer Kompositionen geht, die nicht
nach 20. oder 21. Jahrhundert klingen; das
prominenteste Beispiel ist Arvo Pärt. „Mit
Arvo Pärt ist eine Art ‚Mittelalter-Renaissance‘ aufgekommen: eine klösterlich anmutende, formelhafte Kultsprache zwischen Meditation und Aktion. Ich habe
[…] selber erfahren, dass diese Musik ein
ungewöhnlich hohes Maß an spiritueller
Kraft erfordert, eine auf das Jenseitige hin
gedachte Musikpraxis [!]. Wir empfinden
das heute wieder als ‚neu‘.“13
Archaisieren war auch in der Vergangenheit oft ein Mittel gewesen, um Sakralität anzudeuten. „In der Zeit der Romantik, in einer Zeit stärkster harmonischer
Entfaltung wird der Palestrinastil als der
kirchliche Stil proklamiert. Brahms’ geistliche A-capella-Motetten sind in ihrer Faktur bewußt archaisierend.“14 Bei der Fülle
an Kirchenliedern, die in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts komponiert
worden sind, überwiegen die neu entdeckten, archaisch wirkenden Kirchentonarten,
wobei vor allem das Dorische bevorzugt
wird. Inzwischen hat hier wie stets die Zeit
So wird es, vor allem in konservativen Kreisen, immer wieder formuliert. Aber der gregorianische Choral war im Lauf der zwölf Jahrhunderte seiner Existenz wie jeder andere Musikstil ständigen Veränderungen unterworfen, und auch seine Einbindung in die Liturgie wurde
jeweils wieder neu definiert. Vgl. den Exkurs „Gregorianik-Praxis gestern und heute“ in: Peter
Planyavsky, Katholische Kirchenmusik. Praxis und liturgische Hintergründe, Innsbruck 2010,
260 –264.
Enjott Schneider, Kirchenmusik – Eine Kunstform stirbt aus?, in: GEMA-Nachrichten 172, November 2005, 16 –21; wiederveröffentlicht in: Forum Kirchenmusik, Mai–Juni 2006.
Christoph Albrecht, Das Verhältnis von Geistlich und Weltlich in der Musik der Vergangenheit
und Gegenwart, in: Walter Blankenburg / Friedrich Hofmann / Erich Hübner (Hg.), Kirchenmusik im Spannungsfeld der Gegenwart, Kassel u. a. 1968, 20 –27. – Obwohl seit dem Erscheinen
fast ein halbes Jahrhundert vergangen ist, liefert dieser Band viele auch für die heutige Situation
aktuelle Beiträge zu unserem Thema.
Planyavsky / Zwischen Gregorianik und Songcontest
als Filter gewirkt, und nur ein Teil dieser
Produktion ist noch im Gebrauch.
„Latein für alle“ ist übrigens auf einem
unerwarteten Weg in die Kirchenmusik
zurückgekehrt, nämlich in den Gesängen
aus Taizé. Musikalisch sind sie einfach gehalten und von vorneherein aufs Auswendig-Singen angelegt. Es herrschen Kehrverse vor, und vieles wird als orientalisch
kreisende Endlosschleife realisiert. Als
lingua franca hat hier das Latein über das
Englische die Oberhand gewonnen. Ganz
offensichtlich ist auch hier Nostalgie im
Spiel, gepaart mit einer Neigung zum UnKünstlichen, Natürlichen, Nicht-Technischen.
4
Die Postmoderne
Im 20. Jahrhundert waren die „profanen“
Komponisten keineswegs abgeneigt, Sakralmusik zu schreiben; noch lieber allerdings wandten sie sich geistlichen Stoffen
in sicherer Distanz zur Liturgie zu. Bereits auf dem Wiener Kirchenmusikkongress von 1954 – also erst in der Mitte des
Jahrhunderts – spricht der angesehene
Musikwissenschaftler Andreas Liess von
einer deutlichen Zunahme von im weitesten Sinn geistlichen Werken: „Das Anzielen des allgemeinen sakralen Urgrundes
menschlichen Lebens und menschlichen
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Ausdrucks ist seit Jahrhunderten in der
Kunst nicht mehr mit einer solchen drängenden Unmittelbarkeit und Deutlichkeit
in Erscheinung getreten wie heute.“15 Liess
zählt eine beeindruckende Reihe von Werken auf, die aus heutiger Perspektive noch
großräumig zu ergänzen wäre. Freilich begegnen einem hier und auf einer gedachten Fortsetzung seiner Liste viele Kompositionen, die in einer gewissen Grauzone
angesiedelt sind: die Gerade-Noch-NichtSakralen und die Gerade-Nicht-MehrGeistlichen Musiken. Dabei geht es nicht
um (beispielsweise) Bernsteins Mass oder
das Deutsche Requiem, wo aus der liturgienahen Bezeichnung und der gleichzeitigen
Distanz zum Kultischen eine zusätzliche
Spannung gewonnen wird. Hierher gehören auch das War Requiem von Benjamin
Britten oder Alfred Schnittkes Requiem zu
Don Carlos. „Man täusche sich nicht: ‚Das
ist Musik im Vorhof des Religiösen.‘ “16 –
Schließlich trifft man auch noch auf eine
Missa für Bläserquintett (1971) von Heinz
Martin Lonquich (1937–2014) oder auf
eine Missa für Streichquartett (1985) von
Frank Michel Beyer (1928–2008) …17
In einem lesenswerten großen Beitrag „Mut zur neuen Musik – Offenbarung
als Zumutung“18 geht Markus Eham weit
über die Fragen der Neuen Musik hinaus
und befasst sich mit der Polarität zwischen
der (immer wieder neuen) Musik und der
Andreas Liess, Das Sakrale in der profanen Gegenwartsmusik, in: Bericht über den 2. Internationalen Kongress für katholische Kirchenmusik in Wien, 4. bis 10. Oktober 1954, Wien 1955,
269 –271.
Josef Friedrich Doppelbauer, Kompositorische Aufgaben und Fragen, in: Musik und Kirche 47/2
(1977), 69 –75.
Eine eindrucksvolle Liste mit sakralen und sakral-nahen Kompositionen aus dem 20. Jahrhundert findet sich bei Niko Firnkees, Sakrale Musik nach 1945 als musikpädagogische Aufgabe (Forum Musikpädagogik 42), Augsburg 2000 (Anhang, 339 – 357). In einer Fußnote merkt Firnkees
zum genannten Werk Beyers originellerweise an: „Das Werk vertont den Messgedanken ohne
das Credo.“
In: Musica sacra 130/1 (2010), 10 –12; 130/2 (2010), 84 – 90, 130/3 (2010), 161–162.
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Planyavsky / Zwischen Gregorianik und Songcontest
(eher traditionellen) Liturgie. Er konstatiert für die Musikentwicklung nach 1950
einen „tiefen Einschnitt: […] Die Komponisten wenden sich radikal ab von jeder vorausgesetzten Ordnung des musikalisch Geltenden. Es gibt kein Zurückgreifen auf schon Dagewesenes […] D. h. der
Hörer hat keine Chance für ein ‚Das kenn
ich doch‘.“ Eham führt im Folgenden aus,
dass der Rückbezug auf bereits Gehörtes
und der ständige Vergleich mit dem aktuell
Neuen die nötige Brücke ist, damit eine Art
„inhärentes Einverständnis des Hörers“
wirksam werden kann. Auch Heinz Werner Zimmermann – sicher nicht von vorneherein ein Anwalt der besonders leicht
verständlichen musica sacra – stellt diesen
Zusammenhang her, freilich zu einem Zeitpunkt, als die Wiederkehr von „Dur und
Moll“ noch lange nicht gesichert war: „Die
Wiederkehr der Tonalität gibt dem musikalischen Klassizismus eine neue Chance. Erweisen müssen wird er sich freilich
in einem neuen Melos, in der Wiederkehr
memorierbaren thematischen Materials.“19
Hier klingt bereits an, worum es in
einem sehr großen Bereich der Kirchenmusik geht:
5
sein müssen. Und man wird nicht immer
professionelle Musiker zur Verfügung haben; auch das wirkt sich auf das technische
Niveau aus. Es wird auch immer Forderungen von der Funktion und, damit zum Teil
verbunden, in der zeitlichen Ausdehnung
geben. Der Schweizer Kirchenmusiker Stephan Simeon klagte schon vor 40 Jahren
über „Gebrauchsmusik, die – zumindest
in absehbarer Zeit – kaum Gemeinsamkeiten aufweist mit den kompositorischen
Tendenzen und Strömungen unserer Tage,
die vor allem auf den Anspruch verzichtet,
selber impulsgebend zu wirken.“20
So paradox es zunächst anmutet: In
unseren Überlegungen können wir Gebrauchsmusik eigentlich übergehen; ihr
Einsatz ist unumgänglich, führt aber künstlerisch in aller Regel zu nichts – eine Art
Nullsummenspiel. Jedoch: Der als Bremser
Mozartschen Höhenflugs gebrandmarkte
Erzbischof Colloredo beauftragte Michael Haydn, textlich passende Gradualien zu
komponieren. Sie waren einfach zu singen
und kurz; sie sollten die gängigen Epistelsonaten ersetzen, die zweifellos unterhaltsamer, aber liturgisch inadäquat waren.
Auch das war Gebrauchsmusik – allerdings von einem Haydn komponiert.
Gebrauchsmusik
6
Sie wird immer ihren Platz haben, wo es
um einen gottesdienstlichen „Normalbetrieb“ (der Ausdruck ist genauso unangemessen wie „Gebrauchsmusik“) geht. Es
gibt einfach sehr viele Gelegenheiten, wo
man Musik braucht, und entsprechend
knapp wird der Probenaufwand insgesamt
19
20
Orgelmusik auf dem Rückzug?
Auf den ersten Blick scheint es keinen
Grund für Pessimismus zu geben. Jedenfalls für den deutschen Sprachraum kann
man konstatieren, dass die Dichte an mindestens guten, wenn nicht sehr guten Instrumenten und Organisten hoch ist. Da-
Heinz Werner Zimmermann, Neue Musik im Zwiespalt – Evangelische Kirchenmusik 1979, in:
Musik und Kirche 49/5 (1979), 221– 228. Hervorhebung von P. P.
Stephan Simeon, Konfrontation der heutigen Komponisten mit den Erfordernissen und Grenzen liturgischer „Gebrauchsmusik“, in: Musik und Gottesdienst 28/5 (1974), 106 –109.
Planyavsky / Zwischen Gregorianik und Songcontest
rüber hinaus gibt es sogar eine gewisse
Konnotation von Orgelklang und Mystischem, Geheimnisvollem; zahllose Filmszenen bestätigen diese Beobachtung.
Und doch könnte einiges den Optimismus dämpfen. Die Kehrseite der erwähnten hohen Orgeldichte heißt Übersättigung. Als der Verfasser studierte, reiste man manchmal mit Gleichgesinnten
stundenlang oder auch einen Tag lang, um
ein besonderes Konzert an einer außergewöhnlichen Orgel zu hören. Heutzutage
hat sich das Niveau im Orgelbau gegenüber damals deutlich gehoben, und die
nächste gute oder sogar sehr gute Orgel ist
in einer halben Stunde zu erreichen. Als
der Verfasser studierte, musste man noch
darum kämpfen, Literaturstücke im katholischen Gottesdienst spielen zu dürfen und
nicht bloß – immer auf das Geschehen im
Presbyterium schielend – zu „präludieren“.
Heutzutage ist Literaturspiel weitgehend
eingebürgert; gerade zum Auszug werden
immer öfter virtuose und/oder sehr laute
Stücke dargeboten. Darin liegt allerdings
auch ein Keim des Inflationären. Aber abseits davon ist die Frage zu stellen, ob das
Ende des donnernden Postludiums nicht
ohnehin aus einem anderen Grund in Sicht
ist: Die kleiner werdenden Gottesdienstgemeinden werden immer mehr personenbezogen sein, und nach der Messe wird
sich der Zelebrant persönlich von den Teilnehmern verabschieden wollen;21 das wird
ihm leichter fallen, wenn er nicht mit lauter Stimme gegen die noch lautere Orgel
ankämpfen muss. – Übrigens ist erst noch
abzuwarten, wie sich die diversen Strukturmaßnahmen auf die Kirchenmusik
insgesamt auswirken werden; es wird im
Gottesdienst weniger Zeit zur Verfügung
21
253
stehen, wenn nicht nur der Pfarrer zum
nächsten Gottesdienst reist (oder rast?),
sondern auch – möglicherweise im selben
Auto – der Kirchenmusiker.
Der stärkste Grund für eine im umfassenden Sinn abnehmende Attraktivität
von Orgelmusik könnte aber mit einem
Phänomen zu tun haben, das außerhalb
aller kirchenmusikalischen Evaluierung
liegt: Wir stehen vielleicht am Ende eines Jahrhunderts der Orgelmusik! Diese
Vermutung bezieht sich auf großräumige
Zyklen, wie es sie immer wieder gegeben
hat. Das 19. Jahrhundert etwa war eine
Ära der Sonate; wer immer als Komponist
etwas gelten wollte, musste sich an dieser
Form beweisen, und dies, obwohl nach
Meinung einiger Beobachter die Gattung
schon mit Beethoven ihre Erfüllung gefunden hatte. Oder: Gegen Ende des 19.
Jahrhunderts gab es eine kurze Phase der
Streicherserenade; zwischen 1890 und
1910 wurden zahlreiche Werke dieser Art
komponiert. Aber diese Blüte hielt nur
wenige Jahre an. Und ebenso scheint es
ein Jahrhundert der Orgel zu geben, und
vieles deutet darauf hin, dass es zu Ende
geht. Ein deutliches Anzeichen dafür
könnte sein, dass den Organisten selbst
ihre Orgelmusik langweilig geworden
ist! Seit etwa zwanzig Jahren nimmt in
den Programmen der Prozentsatz an Bearbeitungen von Orchester- und Klavierwerken stetig zu, wobei Konzerte, Gottesdienste und CDs gleichermaßen betroffen
sind. Was hingegen vor fünfzig Jahren
noch eine Art Kern des Repertoires ausgemacht hat, nämlich die barocke Orgelmusik in ihren vielen Facetten, wird heute offenbar zunehmend als uninteressant
oder überholt empfunden.
Dies vor allem dann, wenn er zur nächsten Messe in der nächsten Kirche eilen muss und daher
nicht ins Pfarrcafé bzw. zur Agape mitkommen kann.
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Planyavsky / Zwischen Gregorianik und Songcontest
Musik-„Konsumation“ heute
Wir sollten unserer gewohnten Kirchenmusikpraxis einmal die Präsentationsformen gegenüberstellen, die „draußen in der
Welt“ üblich sind. Wer etwa den jährlichen
Eurovisions-Songcontest ansieht, wird bemerken, dass die Unterschiede nahezu
hundert Prozent ausmachen. Zugrunde
liegt jeweils ein „Lied“, das relativ einfach
gestrickt ist. Nachdem der schlichte Gesang Monate vorher ausgewählt worden
ist, wird der Sänger (die Sängerin) dann
tagelang gecoacht, damit es überhaupt
nach etwas klingt und etwas hermacht. In
der Show sieht man dann aufwändige Video-Projektionen, Lichteffekte, Kostüme
und Choreografie; die optischen Elemente
dürften bis zu 75 % Anteil an der Gesamtwirkung ausmachen. Dazu passt gut, dass
man die Texte kaum verstehen kann; sie
werden auch nirgends hinprojiziert, sie
können nirgends abgelesen werden – denn
sie spielen offenbar kaum eine Rolle.
Weiterführende Literatur:
Fundiert Kritisches zu neuen Liedern:
Kristlieb Adloff, Auf ein neues Lied? Widerspruch gegen eine verfehlte Gesangbuchplanung, in: Musik und Kirche 55/4
(1985), 184.
Rudolf Pacik, Kriterien für Text und Melodie des Gemeindeliedes, in: Heiliger Dienst
42 (1988), 62 – 96.
Winfried Bönig (Hg.), Musik im Raum der
Kirche. Fragen und Perspektive. Ein ökumenisches Handbuch zur Kirchenmusik.
Stuttgart–Ostfildern 2007. Umfassendes
Kompendium zu vielen Aspekten vor allem
neuerer Kirchenmusik und ihrer Praxis.
22
Dass das alles so ist, befinden 40 000
Menschen live für gut, und 180 Millionen
Menschen sind über das Fernsehen dabei.
Das hat mit unserer Welt des Kirchenmusik-Machens und -hörens nichts zu tun –
gar nichts, außer dass ein kleiner Teil des
Gebotenen auf fünf Linien notiert und auf
schwarzen und weißen Tasten gespielt werden kann. Was wir sind und was wir machen, das ist ein winziger Ausschnitt aus
einem schmalen Sektor in einem kleinen
Teil dessen, was auf diesem Planeten unter
Musik läuft.
Was bietet demgegenüber die musica
sacra? Einen Organisten, den man in vielen Fällen nicht sieht …, einen Chor, der
diszipliniert dasteht …, bestenfalls eine
Kindergruppe, die nett anzusehen ist; sie
mögen tanzen und springen und auch zur
Musik passende Tanzschritte machen …
Inzwischen ist es ja bei Orgelkonzerten Mode, das Spiel des Organisten auf einer Videowand in Altarnähe sichtbar zu
machen; auf diese Weise erspart man dem
Publikum die Zumutung, Musik bloß hören zu müssen. Es gibt eine ganze Reihe
von Argumenten, die dagegenspricht oder
die zumindest die Behauptung entkräftet,
dies sei heutzutage unverzichtbar.22 Jedenfalls korrespondiert diese Video-Mode
mit einem Grundzug heutiger Kommunikation, nämlich der Sorge, der Rezipient
könnte unterfordert oder gelangweilt sein,
sobald er es nur mit einem einzigen Sinnesreiz zu tun hätte. Beispiele finden sich
zuhauf: In nicht wenigen Fällen werden Interviews oder sogar Hauptnachrichten im
TV mit bewegten Ornamenten im Hintergrund garniert, als ob die Inhalte selbst zu
langweilig wären; in Ausstellungen läuft
leise Hintergrundmusik; sogar in einem als
„Raum der Stille“ bezeichneten Teil eines
Vgl. Peter Planyavsky, Video für unten! (warum eigentlich?), in: Musica sacra 132/5 (2012), 334.
Planyavsky / Zwischen Gregorianik und Songcontest
Thermalbades ist ganz schwach Musik zu
hören (hier werden paradoxerweise zwei
Hör-Reize gleichzeitig angeboten, nämlich „Stille“ und „Musik“). Die schon beschriebene multisensorische Präsentation von Songs liegt genau auf dieser Linie,
und das optische Element ist noch nicht
alles: Es hat schon Pop-Keller gegeben, in
die von Zeit zu Zeit heißer Wasserdampf
eingeblasen wurde; dort hat man also eine
weitere (olfaktorische? taktile?) Dimension
dazugeholt. Vereinzelt ist derlei auch schon
in der Liturgie angekommen, wie man aus
einem Bericht über einen der „Find-FightFollow“-Gottesdienste in Wien erfährt:
„[…] 375 Liter Nebelflüssigkeit unterstützten die mystische Stimmung.“23
Die heutige Liturgie und mit ihr die
Kirchenmusik tritt mit diesen überall anzutreffenden mehrschichtigen Sinnesreizen in Konkurrenz, ob sie nun will oder
nicht. Das heißt jedoch keineswegs, dass
wir unsere Kirchen mit Scheinwerfern,
Konfettikanonen und Dampfdüsen ausrüsten müssen. Es bedeutet nur, dass das
Gewöhnliche, das stets Wiederholte und
das routiniert Lustlose keine Chance hat –,
aber auch, wie man gesehen hat, das vordergründig Originelle nicht. Das Gewöhnliche und das Wiederholte wird es jedoch
geben müssen; ein Sonntagsgottesdienst
ist kein Sonderevent und kann auch nicht
durch allerlei Kniffe zu einem solchen gemacht werden.24 Wer genug herumkommt,
wird es wahrscheinlich immer wieder erlebt haben: Es hängt von den Personen ab,
ob man sich als Gemeindemitglied mit23
24
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genommen fühlt – nicht vom Musikstil
und nicht vom materiellen Aufwand. Es
ist schon vielfach beschrieben worden, sei
aber auch hier noch einmal angemerkt: In
vielen Gottesdiensten wird zu viel erklärt
und geredet, und es gibt zu wenig Stille.
Beides tritt, mehr als man auf den ersten
Blick bemerkt, in Wechselwirkung mit der
Musik in einer solcherart zerredeten oder
un-ruhigen Liturgie.
Düster-verheißungsvolle Prognose:
Vielleicht wird der „normale“ Sonntagsgottesdienst bald von selbst zu einem jeweils singulären Sonderevent –, dann
nämlich, wenn es nur mehr diese eine
Messe pro Woche gibt …
Der Autor: Peter Planyavsky, Studium der
Orgel und Kirchenmusik in Wien; 1969 bis
2004 am Wiener Stephansdom tätig (1983
bis 1990 als gesamtverantwortlicher Dommusikdirektor, sonst als Domorganist). 1980
bis 2012 Professor für Orgel und Improvisation an der Wiener Musikhochschule,
1996–2003 Leiter der Abteilung für Kirchenmusik. Konzerte und Aufnahmen in zahlreichen Ländern Europas, Nordamerikas, Fernost, Australien und Südafrika; Basisarbeit in
der Kirchenmusik, Aufgaben als Orgelberater
und Juror, Artikel in Fachzeitschriften und
CD-Einspielungen. Als Dirigent ist er mit den
großen Werken der Kirchenmusik hervorgetreten. Aus seiner essayistischen Tätigkeit
sind vor allem die Monographie „Anton Heiller – Alle Register eines Lebens“ (Wien 2009)
sowie das umfassende Buch „Katholische Kirchenmusik (Innsbruck 2010) hervorzuheben.
Gregor Jansen / Nina Sevelda-Platzl / Florian Unterberger, lauter feiern – voll gott. 100 Ideen für
Jugendgottesdienste, Wien 2011, 41. – Die Gottesdienste der Prägung „Find-Fight-Follow“ fanden 2003 bis 2011 in Wien statt und hatten regen Zulauf.
Einmal bekamen sogar die Gottesdienste des Triduum sacrum in einer Wiener Kirche – insgesamt mit ansprechendem und hochwertigem „Angebot“ – noch griffige Untertitel verpasst,
als ob „Karfreitag“ erst noch mit ein wenig Tünche vom gewöhnlichen zum besonderen Gottesdienst „upgegraded“ werden müsste …