pro natura magazin

04/ 2016 JULI
pro natura magazin
Städtische Grünräume sind ein Gewinn
für Natur und Mensch
4
Für dieses Thema hat der Fotograf Christian Flierl in
Christian Flierl (2)
2
Grünstädte und ihre Menschen
In Städten findet sich oft eine unerwartete
der gesamten Schweiz Leute in urbanen Grünräumen
Artenvielfalt. Pro Natura begibt sich in dieser Ausgabe
fotografiert; auch beim Titelbild, das im Aarauer Telli-
auf eine Tour de Suisse durch urbane Grünräume.
quartier entstanden ist. .
14 Menschen stellen uns einen Freiraum vor, zu dem
sie eine besondere Beziehung haben, und zeigen so
die Wichtigkeit von Natur in der Stadt auf.
wurden, zuletzt aber frei von Fremdgenen sind? In
Amt für Jagd und Fischerei Graubünden
der Gentechnik eröffnet sich eine neue Grauzone.
pro natura magazin
Mitgliederzeitschrift von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz
24
22
Getty Images / Adam Gault
Die Grauzone der Gentechnik
Was tun mit Pflanzen, die gentechnisch gezüchtet
Wilderei ohne Konsequenzen
Wilderer von Grossraubtieren werden selten gefasst
und müssen selbst dann mit geringen Strafen
rechnen. Personen, die zu diesen illegalen Taten
aufrufen, mit gar keiner Strafe.
von der Zewo als gemeinnützig anerkannt.
Impressum: Pro Natura Magazin 4/2016. Das Pro Natura Magazin erscheint fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN 1422-6235
Redaktion: Raphael Weber (raw), Chefredaktor; Florence Kupferschmid-Enderlin (fk), Redaktion französische Ausgabe; Judith Zoller, pro natura aktiv ­
Layout: Simone Torelli, Raphael Weber.
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Mirjam Ballmer, Daniel Bütler, Jan Gürke, Andrea Haslinger (ah), Susanne Huber (sh), Rico Kessler, Urs Leugger, Sabine Mari, Susanna Meyer (sm), Kurt Marti,
Lorenz Mohler (Übersetzungen), Felix Somm, Pierre-André Varone, Benno Vogel, Rolf Zenklusen.
Redaktionsschluss Nr. 5/2016: 30.08.2016
Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Auflage: 117 000 (85 000 deutsch, 32 000 französisch). Gedruckt auf FSC-Recyclingpapier.
An­schrift: Pro Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel. 061 317 91 91 (9–12 und 14–17 Uhr), Fax 061 317 92 66, E-Mail: [email protected]; www.pronatura.ch; P­ K‑40-331-0
Inserate: CEBECO GmbH, We­berei­str. 66, 8134 Adliswil, Tel. 044 709 19 20, Fax 044 709 19 25, [email protected] Inserateschluss 5/2016: 09.09.2016
Friends of the Earth International.
Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutz­union IUCN und Schweizer Mitglied von
www.pronatura.ch
inhalt
3
editorial
4thema
4 K
eine Widersprüche: Bauliche Verdichtung und
urbane Biodiversität schliessen sich nicht aus.
8 S
ehnsucht: Natur vor der Haustüre entspreche einem
immer grösseren Bedürfnis, sagt Basels Stadtgärtner.
14köpfe
16in kürze
18 brennpunkt
Was Vokuhila-Frisuren
mit Altgrasinseln verbindet
Über wandelnde Schönheitsideale konnte man sich an der soeben zu Ende gegangenen Fussball-Europameisterschaft ein hervorragendes Bild machen. Die zahlreichen Hipster unter den
Fussballprofis stellten ihre Bärte, Tattoos und kahlgeschorenen
Schläfen genüsslich zur Schau, als ob Fussball nur ihre zweitwichtigste Betätigung wäre. Während des Turniers wurden auch
immer wieder Bilder früherer Mannschaften gezeigt. Diese gaben
uns amüsanten Aufschluss über frühere Trends wie S
­ chnäuze,
Koteletten, Vokuhila-Frisuren (vorne kurz, hinten lang) und
extra­kurze Fussballershorts.
18 W
asserkraftlobby: Ist in Bundesbern
bestens vernetzt
22 Chemielobby: Will neue Gentechverfahren vom
Gentechnikgesetz ausnehmen.
Landwirtschaft wurden vor Jahrzehnten störende Elemente wie
24 Wilderer: Werden selten gefasst und selbst dann
milde angegangen.
Auch Pro Natura ist in ihrer Arbeit von wandelnden Schön-
heitsidealen betroffen. Mit der Intensivierung der S
­ chweizer
Hecken, Obstbäume und Auen im grossen Stil ausradiert. Nicht
nur, weil dies den Einsatz grosser Maschinen vereinfachte, sondern auch weil ausgeräumte Landschaften als ordentlich und
26 Umweltbewusste Unternehmer: Stehen hinter der
Volksinitiative «Grüne Wirtschaft».
gut unterhalten galten. Auch in unseren Siedlungsräumen zeigte
27 Bundesrat: Bekennt sich zum
Aktionsplan Biodiversität.
­Maxime der gepflegten Gartengestaltung. Wer es wagte, Blumen-
24news
sich dieser Trend exemplarisch: Sterile englische Rasen galten als
wiesen wachsen zu lassen, stand im Quartier bald im Verruf, seinen Garten nicht im Griff zu haben.
28 Immenberg: Nach 20-jähriger Arbeit ein Juwel unter
Pro Naturas Naturschutzgebieten.
Während sich über die Vorteilhaftigkeit der Trends in der
30 Bonfol: Pro Natura wehrt sich gegen eine industrielle
Geflügelmasthalle in unversehrter Landschaft.
heit sagen, dass sich die Grünraumideale aus ökologischer Sicht
Mode- und Fussballbranche streiten lässt, kann man mit Gewisszum Besseren gewandelt haben. Elemente wie Teiche, Hecken,
31 L
avaux: Für die letzten Smaragdeidechsen gibts
ein neues Naturschutzgebiet.
Obstbäume, Asthaufen, Blumenwiesen und Altgras­inseln sind
32 PhaenoNet: Ein wissenschaftliches Projekt für
Naturfreunde aller Art.
geworden. Durch diese Trendwende ist auch in urbanen Umge-
33beobachtet
34leserbriefe
36service
feste Bestandteile bei der Planung von öffentlichen Grünräumen
bungen eine beachtliche Artenvielfalt entstanden.
Aus Anlass des Gartenjahrs 2016 begeben wir uns in die-
sem Pro Natura Magazin deshalb auf einen Städte­trip durch die
Schweiz und zeigen unterschiedliche Beispiele moderner urbaner Biodiversität. Und wir zeigen, dass nicht nur die Natur von
solchen Oasen profitiert, sondern auch wir Menschen. So präsentieren uns in diesem Magazin 14 Personen aus der gesamten
Schweiz städtische Grünräume unterschiedlichster Art, auf deren
39 pro natura aktiv
Entstehung sie oft wichtigen Einfluss hatten. Wir wünschen Ih-
46 shop
anderen Art.
48die letzte
RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin
nen viel Spass bei den Erkundungen mit diesen Trendsettern der
4
thema
Dicht, grün und lebenswert:
Die Städte der Zukunft
In unseren Städten besteht eine oft unerwartete Artenvielfalt. Diese gerät aber mit
der baulichen Verdichtung unter Druck. Viele Projekte in der gesamten Schweiz
zeigen aber, wie auch auf begrenztem Raum Mensch und Natur florieren können.
Bis in die 1970er-Jahre galten «Stadt» und «Natur» als Wider-
spruch. Die Stadt symbolisierte Wohnen, Arbeiten, Verkehr, Beiz
fe und Sportplätze bilden die offensichtlichen Grün- und Frei­
Private Gärten, öffentliche Grünanlagen, Parks, Friedhö-
und Kultur. Draussen vor den Toren der Stadt schien die Natur zu
flächen der Städte. Doch für Flora und Fauna können auch
liegen, in den Wäldern, auf den Feldern und Wiesen, in den Flüs-
Mauer­ritzen und Schutthaufen, Böschungen und gepflasterte
sen und Seen. Der Gedanke lag fern, dass der Siedlungsraum des
Plätze, Bachufer und Randbereiche von Industrie- und Bahn­
Menschen gleichzeitig Lebensraum vieler Tier- und Pflanzen­arten
arealen wichtige Lebensräume darstellen. Die Vielfalt der Struk-
sein könnte. Zum Erstaunen vieler zeigten wissenschaft­liche Un-
turen und deren teils lange Beständigkeit bieten die Grundlage
tersuchungen ab den 1980er-Jahren das Gegenteil: Städte beher-
für viele anpassungsfähige Arten, mehr oder weniger versteckt
bergen charakteristische Lebensgemeinschaften von Tieren und
mitten in menschlichen Siedlungen zu leben.
Pflanzen. In Vergleichen mit monotonen Landwirtschafts­flächen
weisen städtische Lebensräume oft höhere Artenzahlen aus.
staunt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass innerhalb unserer >>
Der gute Zustand der Biodiversität im Siedlungsraum er-
Natur in der Stadt, ohne jede Chemie
Genf: Grüne Lage mitten in der Stadt
«Mit mehr als 9000 verschiedenen Pflanzenarten bie­
tet der Botanische Garten in Genf, der gegenwärtig auf
bio umgestellt wird, eine enorme Artenvielfalt auf einer
sehr kleinen Fläche. 40 Prozent aller Pflanzenarten der
Schweiz findet man hier. Unlängst wurden bei einem In­
ventar 100 verschiedene Wildbienenarten nachgewiesen
und der Botanische Garten als «Hort der Biodiversität»
bezeichnet. Der Standort zwischen Seeufer und Häuser­
zeilen ist ein Standort für gezüchtete oder spontan wach­
sende Wildblumen, aber auch für viele Tiere. Gegenwär­
tig können wir hier gerade den Nestbau des Buntspechts
in einer Eiche beobachten. Für die Stadtbevölkerung ist
der Botanische Garten eine grüne Lunge mitten in den
Häuser­
schluchten. Zahllose Besucher strömen täglich
hierher, auf der Suche nach der Natur in der Stadt. Auf
die Schönheit und Vielfalt der lebenden Sammlung dür­
fen die Genferinnen und Genfer zu Recht stolz sein.» fk
Nicolas Freyre, leitender Gärtner im Botanischen Garten Genf
Pro Natura Magazin 4/2016
thema
5
Pro Natura will
städtische Freiräume
aufwerten
Der Siedlungsraum ist nicht
nur das Zuhause des
Menschen. Er bietet auch
vielen Tier- und Pflanzenarten
einen wichtigen Lebensraum.
Besonders bei siedlungstypischen Arten besteht noch
ein grosses Förderungspotenzial. Pro Natura möchte
deshalb anhand konkreter
Projekte aufzeigen, wie
Siedlungsräume nicht nur für
spezifische Tier- und Pflanzenarten, sondern auch für den
Menschen wieder vielfältiger
und attraktiver gestaltet
werden können. Dazu suchen
wir die Zusammenarbeit mit
Baugenossenschaften und
Immobilienbesitzern. Ziel ist
es, möglichst grosse Aussenräume nach einem gemeinsam
erarbeiteten Konzept so zu
gestalten und aufzuwerten,
dass auch siedlungstypische
Arten davon profitieren.
Die Projekte sollten folgende
Kriterien erfüllen: Das Areal
befindet sich in einer Stadt,
Christian Flierl (2)
die Grösse des Aussenraums
Schmetterlinge, Bienen und Frösche
ein paar Schritte neben der Migros
Lausanne : Ein Kleinod im Herzen des städtischen Trubels
«Jeder Ausflug mit meinen Grosseltern in diesen Garten war für mich als kleines Mädchen eine Ent­
deckungsreise. Ich liebte es, die Pflanzen wachsen zu sehen, die Kraft der Bäume zu spüren, den Vö­
geln zu lauschen und meine Hände in die Erde zu tauchen. Heute ist hier alles wilder und dichter. Ich
beobachte gern, wie die Pflanzen miteinander zurechtkommen, und lasse der Natur hier freien Lauf;
wir können so viel von ihr lernen. Der Gemüsegarten ist stattlich geworden und reicht fast schon
zur Selbstversorgung und für die Nachbarn. Die Bienen fühlen sich hier wohl in den Bienen­stöcken
hinten im Garten, Mölche und Frösche tummeln sich im Teich, und an den Hochstammobstbäumen
wachsen feine Früchte. Meine Enkel geniessen dieses grüne Kleinod, das nur ein paar Schritte von
ihrer Schule entfernt liegt. Ich zeige ihnen die wichtigsten Handgriffe, damit sie sich dereinst um
diesen magischen Ort kümmern können.» fk
Isabelle Veillon, Gärtnerin im Ruhestand
Pro Natura Magazin 4/2016
beträgt mindestens tausend
Quadratmeter und bestehende
Naturwerte wie alte einheimische Bäume, Wildhecken,
Ruderalflächen oder extensive
Wiesen sind im Umkreis von
hundert Metern vorhanden. ah
Interessierte Personen dürfen
sich gerne bei der Projektleiterin
melden: Andrea Haslinger,
Tel. 061 317 91 49,
[email protected].
Für Einfamilienhausbesitzer
mit kleinerem Garten hat Pro
Natura mehrere Faltblätter
veröffentlicht,
die Tipps für die naturnahe
Gartengestaltung geben:
www.pronatura.ch/publikationen >
Pro Natura Faltblätter
Zudem finden Sie mehrere Ratgeber
in unserem Shop: www.pronatura.ch/
der-shop
6
Ein Ort der Begegnung und
Erholung
«Ein Park mitten in einer Stadt erfüllt viele wich­
tige Aufgaben für Mensch und Natur. Die Stadt ist
auf dem Buckel der Natur entstanden und hat Le­
bensräume fragmentiert. Deshalb hat ein Stadt­
park eine wichtige Funktion für Fauna und Flora.
Bei den Pflanzen ist die Artenvielfalt übrigens
grös­ser als in den Randregionen der Stadt. Der Bo­
tanische Garten, die alten Bäume, die Teiche, die
Trockenwiesen, der Hügel von Montriond und die
Waldflächen sind Zufluchtsort für Kleintiere und
Lebensraum für zahlreiche Arten. Im Park geht
man gern spazieren, alleine oder mit der Familie,
trifft sich mit Freunden, kann ausspannen und auf­
tanken. Und es geht nicht nur mir so: Der Parc de
Milan ist wie ein Ameisenhaufen, es wimmelt hier
immer von Menschen; man kommt, um zu lesen,
Fussball zu spielen oder zu picknicken. Er gehört
zum Leben in Lausanne.» fk
Pascale Aubert, zuständig für Grünflächen
im Stadtgebiet und ein Fan des Parc de Milan
Städte gemäss Arealstatistik des Bundesamts für Statistik (BFS)
der Bundesrat erkannt, er schreibt in seinem Bericht «Umwelt
60 Prozent der Fläche durch Gebäude, Verkehrsflächen und an-
Schweiz 2015»: «Eine Aufwertung der Landschaften der Agglo-
dere Infrastrukturanlagen versiegelt sind und nur 6 Prozent aus
merationen soll dazu beitragen, dass die Lebensqualität der Be-
Grün- und Erholungsanlagen bestehen.
völkerung erhöht und die Biodiversität erhalten und gefördert
werden». Eine gute Koordination der gestalterischen Ansprüche,
Steigender Druck auf Freiflächen
der sozialen Aufgaben und der Biodiversitätsanforderungen ist
Dieser Wert wird sich kaum zugunsten der Grünflächen ver-
entscheidend für die sorgfältige Verdichtung an geeigneten Orten.
ändern, weil ein Trend zur Verdichtung der bestehenden Sied-
lungsräume im Gang ist – dass also innerhalb der Städte und
Schlüssel­fragen gestellt werden: Wo ist der Spielraum für eine
Agglomerationen zusätzlicher Wohnraum entsteht. Dies ist eine
Verdichtung am grössten? Welche Funktionen von Grünräumen
grundsätzlich erfreuliche Tendenz, findet auch Pro Natura. Denn
stehen im Vordergrund? Was für eine Form der Urbanität soll
damit kann die rasante Überbauung von wertvollem Kulturland
sich entwickeln? Der Einbezug der lokalen Bevölkerung ist ent-
gebremst werden.
scheidend für die Akzeptanz und den Erfolg des Projekts. Die
So müssen zu Beginn jedes Planungsprozesses einige
Doch dieser Trend stellt grosse Herausforderungen an die
Grenzen zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten
Planung dar. Denn mit der Verdichtung nach innen steigt nicht
Freiflächen sollen durchlässiger werden, um zu Orten der Be-
nur der Druck, Freiflächen zu überbauen, sondern auch der
gegnung und des Austauschs zu werden.
Nutzungsdruck der Grünräume nimmt zu. Der Bund Schweizer
Landschaftsarchitekten und Landschaftsarchitektinnen (BSLA)
Vielfältige Massnahmen für die Artenvielfalt
formuliert die Herausforderung treffend: «Je höher die bauli-
Dach- und Fassadenbegrünungen stellen in verdichteten Stadt­
che Dichte, desto höher die Ansprüche an die Qualität der Frei­
bereichen besonders wichtige Elemente dar, um auf wenig Raum
räume in Bezug auf Gestaltung, Nutzungsvielfalt und Erreich-
viel Natur unterzubringen. Zur Förderung der Biodiversität im
barkeit». Pro Natura würde hier noch anfügen: «... sowie in Be-
Strassen­raum sollten konsequent nur noch einheimische Bäume
zug auf die Biodiversität».
und Sträucher gepflanzt werden. In weniger intensiv genutzten
Garten- und Parkbereichen bieten artenreiche Blumenwiesen viel
Parallel zur Siedlungsverdichtung braucht es daher eine
«ökologische Verdichtung», die der flächenmässigen Einschrän-
grössere Potenziale für Naturerlebnisse als englischer Rasen. In vie-
kung eine qualitative Aufwertung entgegensetzt. Dies hat auch
len Gärten gibt es Ecken, die sich für Ast- oder Steinhaufen eignen.
Pro Natura Magazin 4/2016
Christian Flierl (3)
Lausanne: Ein Stadtpark mit Mehrfachfunktion
thema
Ein Modell für urbane Ökologie
Villars-sur-Glâne, Fribourg: Ein Schulhof als Paradies für die Biodiversität
« Seit 40 Jahren bin ich leidenschaftlicher Natur- und Vogelliebhaber und möchte späte­
ren Generationen eine hochwertige Pflanzen- und Tierwelt hinterlassen. Deshalb habe ich
um unsere Schule herum an rund 30 Stellen Massnahmen ergriffen, um die Biodiversität zu
fördern: Nistkasten aus Recycling-Material, Lesesteinhaufen für Eidechsen, grosse Baum­
stämme aus Eichen- und Tannenholz als Insektenhotel und an Bäumen befestigte Ast­bündel
für Wildbienen. Mit solchen einfachen, aber wirkungsvollen Massnahmen können Schüler
und Bürger der Gemeinde dafür sensibilisiert werden, wie wichtig die Natur im städtischen
Umfeld ist. Welche Freude, wieder Blaumeise, Trauerschnäpper und Gartenbaumläufer in
den Gärten um die Schule zu entdecken! Die Schüler ziehen teilweise selber Gemüse und
Kräuter und erhalten so einen direkten Bezug zur Natur – eine wichtige Erfahrung für ihr
späteres Leben.» fk
Roger Despont, Abwart der Primarschule Rochettes
Grössere Vielfalt als in Monokulturen
Bern: Bienenzucht auf einer Wiese der heilpädagogischen Schule Weissenheim
«Ich behaupte, dass meine Bienen in der Stadt eine grössere Vielfalt an Blüten­
honig sammeln, als wenn sie auf dem Land neben Monokulturen wären. Die Bienen
finden ihre Nahrung in einem Umkreis von 400 Metern im Quartier Weissenstein
mit vielen Grünflächen, Blumen und Obstbäumen. Diese Obstkulturen brauchen
Bienen in der Nähe, denn an kühlen Frühlingstagen fliegen die Tiere nicht weit. Der
Einfluss des Imkers liegt bei 10 Prozent, den Rest erledigt die Natur. Das finde ich
faszinierend – vor allem, weil alles auf so kleinem Raum passiert. Seit dem Film
‹More than honey› erlebt die Imkerei einen Boom. Die Zahl der Stadtimker nimmt
zu; die Gesamtzahl der Bienenvölker aber leider nicht. Die Imkerei ist ein hoch­
interessantes, aber zeitintensives Hobby.» zen
Beat Wenger, Stadtimker
Renaturierte Flussufer laden auch in Stadtzentren zum Ver-
Im Rahmen des Gartenjahrs 2016 organisiert Pro Natura in Zu-
weilen. Teiche und Tümpel werten Parks zu Naturerlebnis­
sammenarbeit mit Stadtgärtnereien und Grünämtern eine Exkursi-
räumen auf und sind bei geeigneter Anlage gleichzeitig Lebens-
onsreihe zum Thema «Mehr Natur in der Stadt» in neun Schwei-
raum für eine Vielzahl an Pflanzen und Tieren. Wege und Plätze
zer Städten. Ergänzend dazu fand im Frühjahr 2016 ein Kurs zu
mit durchlässigem, bewuchsfähigem Belag lassen Niederschlags-
Dach- und Fassadenbegrünung und artenreichen Blumen­wiesen
wasser versickern und stellen ohne zusätzlichen Flächenbedarf
im Garten statt. An Setzlingsmärkten werden regionale Pflanzen
Nischen für Bewuchs und Kleintiere dar. Ein Mosaik aus vielen
für den Garten angeboten. In Schulklassen und Jugendgruppen
kleinen Ruderalflächen, Baumscheiben und Strassenböschungen
fördert Pro Natura die Sensibilisierung für das natürliche Lebens­
fördert die Biotopvernetzung in der Stadt.
umfeld. Und nicht zu vergessen: Pro Natura Schutzgebiete liegen
nicht immer weit draussen, sondern häufig auch ganz nah vor
Pro Natura engagiert sich auf verschiedenen Ebenen für mehr
Stadtnatur. Sie bietet gemeinsam mit der Organisation Praktischer
Umweltschutz (Pusch) Kurse für Gemeindearbeiter und -behör-
der Haustüre in Städten und an Siedlungsrändern.
den an, um für eine naturnahe Bewirtschaftung kommunaler
JAN GÜRKE ist Koordinator der Pro Natura Kampagne
«Flower Power – für farbenfrohe Blumenwiesen».
Grünflächen zu sensibilisieren und Fachwissen aufzubauen.
www.gartenjahr2016.ch
Pro Natura Magazin 4/2016
7
8
thema
«Wir spüren eine
grosse Sehnsucht
nach Grünräumen»
Nach einem Jahr schon 73 Tierarten
Bern-Bümpliz: Biodiversitätsprojekt in der Siedlung Fröschmatt
«Der Innenhof der Fröschmatt wurde von einem Rasen
mit Einzelbäumen in eine naturnahe Landschaft mit
Obstbäumen, Sträuchern, Kieswegen, Ruderalflächen,
Wildwiesen, Hügeln und Asthaufen verwandelt. Erdbee­
ren und Küchenkräuter wurden gepflanzt, aber auch sel­
tene Wildrosen. Wichtig war der Einbezug der Mieter der
45 Wohnungen. Die Gestaltung wurde in Workshops defi­
niert. Für Pflege und Einhaltung der Nutzungsregeln ist
eine Gartengruppe zuständig.
Unser Ziel, das Naturerlebnis zu fördern und Lebens­
räume für gefährdete Arten zu schaffen, haben wir
schneller erreicht als erwartet: Bereits nach einem Jahr
wurden 73 Tierarten gezählt. Das Projekt ist ein grosser
Gewinn – für die Natur wie für die Menschen. Die Bewoh­
ner nutzen den Innenhof häufiger als früher; es gibt we­
niger Mieterwechsel als in anderen Siedlungen.»
Der Wunsch nach attraktiven Grünräumen
nimmt laut Emanuel Trueb markant zu. Deshalb
empfiehlt der Leiter der Stadtgärtnerei Basel,
neue Grünräume zu erschliessen und die
vorhandenen Flächen gut zu pflegen.
Pro Natura: Herr Trueb, als Leiter der Stadtgärtnerei Basel
besteht Ihre Rolle darin, den Grünraum zu verteidigen.
Wie schwierig ist das?
Emanuel Trueb: Es wird zunehmend schwieriger. Ein Grund
dafür ist der enorme Druck auf Grünflächen, der ständige Wettbewerb unter Städten und Gemeinden, um Steuerzahler und damit die Einwohnerzahl und Arbeitsplätze zu erhöhen. Und natür-
Sabine Tschäppeler,
Leiterin Fachstelle Natur und Ökologie bei Stadtgrün Bern
lich geht es privaten Investoren darum, für den investierten Franken eine möglichst gute Rendite zu erzielen. In Basel gibt es aber
auch Grosskonzerne, die erkennen, dass sie hochqualifizierten
Fachleuten nicht nur einen hochwertigen Job, sondern auch ein
hochwertiges Arbeitsumfeld anbieten müssen. So hat Novartis
auf dem neuen Campus beachtliche Grün- und Parkanlagen ausgeschieden. Das Gleiche gilt auch für die öffentliche Hand: Eine
attraktive Stadt mit zufriedenen Menschen braucht eine attraktive, grüne Umgebung. In den Städten gibt es mehr Möglichkeiten
für die Artenvielfalt als in einer ausgeräumten Agrarlandschaft.
Sehr oft gerät man dabei in Konflikt mit der Verdichtung.
Das stimmt. Wenn aber die Verdichtung dazu beiträgt, dass
stadtnahe Räume frei bleiben und weniger Zersiedlung stattfindet, haben wir eben auch sehr viel erreicht. In der Stadt geht es
vor allem darum, vorhandene Grünräume langfristig zu sichern
oder im Rahmen der Umnutzung von Industrie-, Bahn- und Hafenarealen neue Grünräume anzulegen. Gute Beispiele dafür sind
etwa die Basler Erlenmatt oder Zürich West. Das dortige Gebiet
rund um den Prime Tower wurde so verdichtet, dass neue Freiräume für Mensch und Natur entstanden sind.
Gibt es noch andere Möglichkeiten für neue Grünräume?
Wir könnten neue Grünstrukturen auf Dächern und Fassaden
schaffen. An Fassaden gibt es interessante Projekte: In Mailand
werden Häuser zu vertikalen Gärten umfunktioniert. Weil so viel
Technik dahintersteckt, stösst man aber schnell an Grenzen. Einfacher ist es auf den Dächern: Dort können wir besondere Grünräume anlegen, die auch in der Natur vorkommen.
>>
Pro Natura Magazin 4/2016
Christian Flierl (3)
9
250 Gemüsesorten hinter
dem Messeturm
Basel: Biodynamischer Gemeinschaftsgarten Landhof
«Nach dem Wirtschaftsstudium wollte ich nä­
her zur Natur und zum natürlich produzierten
Essen. Im Verein Urban Agriculture Netz Basel
konnte ich sofort mitarbeiten, mitdenken – und
mitessen. Eines der 50 Projekte ist der Ge­
meinschaftsgarten Landhof: Die Ruhe, Schön­
heit und Natürlichkeit auf diesen 1100 Qua­­
dratmetern hinter dem Messeturm faszinieren
mich. Der Garten wird geplant, Fruchtfolgen
werden eingehalten und Saatgut vermehrt –
alles im Sinne der Permakultur. Hier wachsen
250 verschiedene Sorten – von Kräutern und
essbaren Stauden sowie Beeren bis zu Kultur­
gemüse, Wildpflanzen und Feigenbäumchen;
darunter viele alte Sorten, denn wir arbeiten
mit Pro Specie Rara. Jeder kann Gemüse mit­
nehmen, jeder arbeitet so viel er kann.»
Tatjana Nebel,
Vorstandsmitglied Urban Agriculture Basel
Seltene Arten in der Industriebrache
Basel: Gezielter Naturschutz bei der Umnutzung des Hafenareals
«Die Gleisanlagen im Basler Hafengebiet Klybeck-Kleinhüningen beherbergen eine wertvolle Flora und Fauna. Es gibt 14
Pflanzen, die auf der Roten Liste stehen, und eine Heuschreckenpopulation mit gefährdeten Arten. Bei der Zwischen­
nutzung am Klybeckquai ist es gelungen, diese ökologischen Werte zu erhalten. Anstatt die Gleise zu entfernen, wurden
diese in die Neugestaltung integriert und blieben zum Teil unberührt; der wertvolle Uferbereich bleibt erhalten. Dank be­
pflanzten Industriecontainern und Gärten auf Industriebrachen ist neues Grün entstanden. Bei den Ausbauprojekten für die
Hafen- und Güterlogistik wie auch bei der weiteren Transformation von ehemaligen Hafenarealen werden wir Grün­inseln
den nötigen Raum geben. Stadtentwicklung bedeutet Aushandeln im Dialog; dabei werden Win-Win-Lösungen erzielt.»
Thomas Waltert, Leiter Transformation Basel Nord, Planungsamt, Bau- und Verkehrsdepartement Basel-Stadt
Pro Natura Magazin 4/2016
10
thema
Für Gründächer sehen Sie ein grosses Potenzial?
Ja, das Potenzial ist riesig, es steht aber oft in Konkurrenz mit
der Fotovoltaik. Eine Einschränkung ist auch die Höhe: Die
Wind- und Wetterverhältnisse lassen auf Hochhäusern keine
Grün­dächer zu.
Wie weit pflegen Sie die Grünanlagen? Wie weit über­lassen
Sie diese der Natur?
Unsere Konzepte sind sehr breit angelegt. Zuerst einmal legen
wir Gebiete fest, die einer Nutzung durch Menschen entzogen
werden – etwa Böschungen und steile Ufer. Zweitens können
wir Einfluss nehmen auf die Zusammensetzung der Böden. Erst
dann kommt die Pflege. Gewisse Arten fördern wir gezielt, zum
Beispiel die Zauneidechse auf Bahnarealen oder den Garten­
rotschwanz in Freizeitgärten. Wir richten den Lebensraum genau
auf dieses Tier aus, was oft zur Folge hat, dass er für andere Tie-
Auen direkt neben den Wohnblöcken
re und Pflanzen auch interessant ist. Der Mensch wird so gelenkt,
dass er wertvolle Naturräume nicht zerstört, zum Beispiel indem
Aarau: Ökologisch wertvolles Auengebiet im Telli-Quartier
Wege durch Wiesen vorgegeben werden. Aber auch innerhalb
«Der Auenschutzpark Aargau beginnt mit einer Aue
mitten in der Stadt Aarau, direkt neben den Wohn­
blöcken des Telli-Quartiers. Es ist faszinierend, wie
hier das Zusammenspiel von Natur und Zivilisa­
tion funktioniert. Dafür braucht es einerseits eine
Besucher­
lenkung mit befestigten Wegen, anderer­
seits Flächen, die völlig der Natur überlassen wer­
den. In Auen, die nur 0,3 Prozent der Landesfläche
be­decken, kommen 40 Prozent aller einheimischen
Pflanzen vor; 80 Prozent aller Tierarten nutzen die
Auen als Lebensraum. Das zeigt, wie wichtig solche
Grüninseln für die Artenvielfalt sind. Während unse­
ren Führungen im Auenschutzpark Aargau entdecken
viele Leute die Natur mit einem ‹Aha-Erlebnis›, wo­
bei vor allem der Biber und der Eisvogel beliebt sind.»
der Grünflächen gibt es Konkurrenz – etwa durch schädliche invasive Pflanzen. Umso wichtiger ist eine professionelle Pflege.
Wie wichtig ist die Vernetzung der Grünräume?
Sehr wichtig. Wir legen fest, welche Naturwerte wir haben, wie
durchgängig und vernetzungsfähig diese sind und wie die Vernetzung verbessert werden könnte. Dafür haben wir ein Biotop­
verbundkonzept erstellt, wie das in den meisten Städten in
Mittel­europa im Rahmen der Raumplanung gemacht wird. Die
Öffentlichkeit und die Politik nehmen das aber kaum wahr.
Wie gross ist die Sehnsucht der Menschen nach mehr
Grünraum?
Gerade bei der städtischen Bevölkerung spüren wir eine grosse
Kathrin Ruprecht,
Biologin beim Aargauer Naturmuseum Naturama
Sehnsucht nach Grün, vor allem nach Gärten. Viele Leute fangen
an zu realisieren, dass sie in ihrem Leben nicht nur keine Zeit
mehr haben, sondern auch kein Gartenland besitzen. Und dass
sie zu wenig Bescheid wissen über natürliche Prozesse – dass sie
also immer mehr entrückt sind von Dingen, die sie glücklich machen und ihnen eine Perspektive geben würden. Es hat etwas mit
dem Verstossensein aus dem Paradies zu tun. Die Menschen wollen Grün in der Stadt. In Basel zeigt sich diese Haltung auch bei
Abstimmungen: Wiederholt hat das Volk an der Urne die Überbauung von grossen grünen Gebieten verhindert.
Welche Arten von Grünflächen sind für eine Stadt am
wichtigsten?
Für Biodiversität, Stadtklima und Durchlüftung spielen Flusslandschaften und Seen die wichtigste Rolle. Auch stadtnahe Wälder und Parkanlagen leisten einen grossen Beitrag, gefolgt von
den Strassenbäumen und unversiegelten Böden.
>>
Pro Natura Magazin 4/2016
11
Eine Mauer voller Leben
Luzern: Die Museggmauer, ein wichtiger Lebensraum
für seltene Tier- und Pflanzenarten
«Wenn die Fledermäuse um die Türme der Musegg­
mauer flattern, entsteht eine einzigartige Atmo­
sphäre – vor allem, wenn noch der Mond scheint.
Während der Sanierung der Mauer haben die Hand­
werker dank ökologischer Begleitung darauf geach­
tet, Schlitze, Hohlräume und Nischen, die verschie­
denen Tieren als Quartier dienen, zu erhalten oder
neue Unter­schlüpfe zu bauen. Dank des angrenzen­
den Bauern­hofs mit Tieren und Obstbäumen sowie
der Nähe zur Reuss ist die Museggmauer ein wert­
volles Jagdbiotop für mindestens sechs in der Stadt
lebende Fledermausarten – zum Beispiel die Rauhaut­
fledermaus. An der Museggmauer leben auch viele
Vögel, etwa die bedrohten Turmdohlen und Gänse­
säger. Dass die Mauer ein Lebensraum für seltene
Flechten ist, unterstreicht den Wert dieses ökologi­
schen Kleinods mitten in der Stadt.»
Ruth Ehrenbold, Fledermausschutz-Beauftragte des
Kantons Luzern von 1997 bis 2012
Christian Flierl (3)
Ungestörte Artenvielfalt auf
dem Stadtdach
Zürich: Dachbegrünung auf dem Einkaufs- und Bürozentrum
Sihlcity
«Das Potenzial von Gründächern ist riesig, in Zürich
liegen leider noch unzählige Flächen brach. Ein po­
sitives Beispiel ist das Einkaufszentrum Sihlcity, das
mit 2,1 Hektaren begrünter Fläche zu den grössten
Gründächern Zürichs gehört. Gerade in Städten sind
Gründächer ökologisch sehr wertvoll, weil sich dort
praktisch ungestört eine grosse Artenvielfalt ent­
wickelt. Mit der richtigen Erd- und Samenmischung
lässt sich die Vegetation auch steuern. So konnten
zum Beispiel bedrohte Orchideenarten angesiedelt
oder neue Lebens­
räume für die gefährdete Blau­
flügelige Ödlandschrecke angelegt werden. Grün­
dächer halten Regenwasser zurück, filtern Schmutz­
partikel aus der Luft und helfen mit, die Temperatur
auszu­gleichen. Begrünungen wirken wie ein Schutz­
schild für das Dach.»
Nathalie Baumann, Stadtökologin an der Zürcher
Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
Pro Natura Magazin 4/2016
thema
Braucht es also viel mehr Bäume in den Städten?
Allein das Pflanzen von Bäumen bewirkt wenig für die Bio­
diversität. Ohne durchwurzelbaren Boden, der in Ruhe gelassen wird, ohne entsprechende Pflege und ohne Perspektiven für
Jahrzehnte gibt es keine Bäume, die schliesslich einen echten
Naturwert darstellen.
Wo sehen Sie die Gefahren für städtische Grünräume?
Die grösste Gefahr ist, dass sich die Gemeinden nicht mehr bewusst sind, wie wichtig der Einsatz von Fachleuten im Umgang
mit Grünflächen ist. Sobald die Gemeinden nicht mehr bereit
sind, sich Fachleute zu holen und professionelle Arbeit zu leisten, kann die Nachhaltigkeit für das öffentliche Grün nicht mehr
gewährleistet werden.
Strukturelle Vielfalt am Stadtrand
Also sind die Stadtgärtner gute Naturschützer?
Die allermeisten Schweizer Gartenämter sind hoch professionelle Naturschützer. Auch deshalb sprechen wir mit Pro Natura absolut auf Augenhöhe.
ROLF ZENKLUSEN arbeitet als freischaffender Journalist.
Der gelernte Landwirt Emanuel Trueb (55) leitet seit 22 Jahren die
Basler Stadtgärtnerei. Von 2013 bis 2015 war er Präsident der
Internationalen Föderation für Parks und Freizeitanlagen (Ifpra, heute
WUP World Urban Parks). Er ist Gemeinderat in Pratteln (BL).
Chur: Trockenrasen, Hecken und Obstbäume im Seidengut
«2012 hat die Stadt Chur eine Parzelle gekauft, wo
früher Seidenraupen gezüchtet wurden. Die Maul­
beerbäume, die als Futterbasis dienten, sind ver­
schwunden. Heute besteht das Seidengut aus Tro­
ckenrasen, Hecken, Fromentalwiesen, Obstbäumen,
Wald und Trockenmauern. Die ökologische Vielfalt
ist sehr gross, unter anderem gibt es Lebensräume
für den seltenen Deutschen Backenklee und für viele
Brutvögel. Unser spezielles Pflegekonzept sorgt für
ein Gleichgewicht zwischen der Kulturlandschaft mit
Obst­
bäumen und offenen Wiesenflächen. Das Ge­
biet ist steil und schlecht zugänglich; der Pflegeauf­
wand entsprechend hoch. Momentan sanieren wir die
200-­jährigen Trockenmauern; später werden Maul­
beer- und alte Obstbäume wieder angesiedelt und
das Areal für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.»
Urs Tischhauser, Leiter Stadtgärtnerei Chur
Fuchs und Dachs neben den Gräbern
Zürich: Naturnah gepflegter Friedhof Sihlfeld
«Weil sich Friedhöfe wenig verändern, finden Wildtiere dort einen idealen Rückzugsort. Auf
einem Stadtfriedhof mit extensiv gepflegten Flächen kann die Artenvielfalt gleich gross sein
wie in einem ländlichen Gebiet. Nicht nur Generalisten wie Füchse, Dachse, Eichhörnchen und
Igel leben auf Friedhöfen, sondern auch seltene Arten, etwa Iltisse, Glühwürmchen oder baum­
höhlenbewohnende Fledermäuse. Ein gutes Beispiel ist der Friedhof Sihlfeld, die grösste Grün­
anlage Zürichs. Das funktionierende Nebeneinander von intensiv vom Mensch genutzten und zu­
rückhaltend gepflegten Flächen finde ich faszinierend. Manchmal gibt es kleine Konflikte, wenn
etwa ein Fuchs mit Grabkerzen spielt oder ein Blumenbeet aufwühlt. Doch das Verständnis für
die Wildtiere auf den Friedhöfen ist sehr gross.»
Sandra Gloor, Wildtierbiologin, Arbeitsgemeinschaft SWILD
Pro Natura Magazin 4/2016
Christian Flierl (3)
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zur sache
Die Lebens- und Erlebnisqualität
vor unserer Haustür fördern
«Raum für Begegnungen», so lautet der Zusatz des vom Schweizer Heimatschutz organisierten Gartenjahres 2016, an dem sich
auch Pro Natura beteiligt. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf
städtische Gärten und Parkanlagen. Dies in einer Zeit, in der die
Bedeutung städtischer Grünräume ebenso zunimmt wie die berechtigte Forderung nach baulicher Verdichtung, um damit die
umliegende Landschaft zu schonen.
Geht es um Lebensqualität in den Siedlungen, rückt immer
wieder der öffentliche Raum ins Zentrum der Diskussion. Für
die Akzeptanz von baulicher Dichte kommt attraktiven öffentlichen (Grün-)Räumen eine zentrale Bedeutung zu. Das Bedürfnis der städtischen Bevölkerung nach Natur wird weiter zunehmen. Deshalb müssen vermehrt Wege gefunden werden, damit
ein Ort verschiedenartigen Nutzungsansprüchen wie Freizeit,
350 Pflanzenarten auf
dem Stadtwanderweg
Natur, Ästhetik oder der Milderung des im Sommer aufgeheiz-
Lugano: Der Seewanderweg Sentiero di Gandria
«Der Sentiero di Gandria verläuft an exponierter Südlage am
Luganersee, wo die Temperaturen fast nie unter Null Grad
fallen. Am Weg, der in der Stadt beginnt, haben wir auf zwei
Kilometern über 350 Pflanzenarten gefunden. Dort gedei­
hen etwa seltene Blumen wie der Weisse Diptam oder die
Weinraute, aber auch Manna-Eschen und europäische Zürgel­
bäume. Dazu gesellt sich die üppige Vegetation aus histo­
rischen Gärten mit tropischen und subtropischen Pflanzen.
Nach unseren politischen Interventionen pflegt die Gemeinde
das Gebiet neu nach ökologischen Kriterien. Die Verbuschung
wird bekämpft; seltene Arten werden punktuell gefördert,
schädliche Neophyten entfernt. Damit wird auch die touristi­
sche Attraktives des Weges gesteigert.»
keine Hindernisse sein, sie können sich sogar gegenseitig stär-
Nicola Schoenenberger, Botaniker und grüner Stadtrat
ten Stadtklimas gerecht werden kann.
Unterschiedliche Ansprüche an einen Raum müssen aber
ken. Auch Naturschutz und Gestaltung müssen keine Gegensätze
sein. Dies durfte ich auch in meinen «Wanderjahren» in der Stadt­
gärtnerei Basel feststellen. Neue Gestaltungskonzepte schaffen
Identität für die Anwohnerinnen und Anwohner und fördern zugleich die Biodiversität. Etwa mit den Grünflächen eines gänzlich
neuen Basler Stadtquartiers wie der Erlenmatt auf einem ehemaligen Bahnareal. Oder bei der Entwicklung aus bestehenden Strukturen, wo die Orientierung an der vorhandenen Substanz und an
Identität stiftenden Elementen wichtige Prämissen sind.
Zuletzt geht es darum, ökologische und ästhetische Quali-
tät zu vereinen und so Lebens- und Erlebnisqualität vor unserer Haustür zu schaffen: Raum für Begegnungen – für Begegnungen der Menschen untereinander, aber auch für Menschen mit
der Natur. Orte, wo wir uns wohl, wo wir uns «zu Hause» fühlen.
Orte der Vertrautheit und des Ausgleichs zur Hektik des Alltags
im dicht besiedelten Raum. Orte, wo wohl nicht gerade Fuchs
und Hase einander gute Nacht sagen, die aber (­ Stadt-)Natur fördern und Naturerlebnis ermöglichen.
Pro Natura setzt sich gemeinsam mit weiteren Akteuren da-
für ein, dass wertvolle Grünräume in unseren Siedlungen erhalten bleiben und weitere solche Flächen geschaffen werden. So
ist der diesjährige Schoggitaler unseren Gärten und Parks gewidmet. Pro Natura beteiligt sich auch am Gartenjahr 2016 oder
zeigt in Zusammenarbeit mit Immobilienbesitzern konkret auf,
wie Siedlungsräume sowohl für Tiere und Pflanzen als auch für
uns Menschen vielfältig und attraktiv gestaltet werden können.
URS LEUGGER-EGGIMANN, Zentralsekretär Pro Natura
Pro Natura Magazin 4/2016