04/ 2016 JULI pro natura magazin Städtische Grünräume sind ein Gewinn für Natur und Mensch 4 Für dieses Thema hat der Fotograf Christian Flierl in Christian Flierl (2) 2 Grünstädte und ihre Menschen In Städten findet sich oft eine unerwartete der gesamten Schweiz Leute in urbanen Grünräumen Artenvielfalt. Pro Natura begibt sich in dieser Ausgabe fotografiert; auch beim Titelbild, das im Aarauer Telli- auf eine Tour de Suisse durch urbane Grünräume. quartier entstanden ist. . 14 Menschen stellen uns einen Freiraum vor, zu dem sie eine besondere Beziehung haben, und zeigen so die Wichtigkeit von Natur in der Stadt auf. wurden, zuletzt aber frei von Fremdgenen sind? In Amt für Jagd und Fischerei Graubünden der Gentechnik eröffnet sich eine neue Grauzone. pro natura magazin Mitgliederzeitschrift von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz 24 22 Getty Images / Adam Gault Die Grauzone der Gentechnik Was tun mit Pflanzen, die gentechnisch gezüchtet Wilderei ohne Konsequenzen Wilderer von Grossraubtieren werden selten gefasst und müssen selbst dann mit geringen Strafen rechnen. Personen, die zu diesen illegalen Taten aufrufen, mit gar keiner Strafe. von der Zewo als gemeinnützig anerkannt. Impressum: Pro Natura Magazin 4/2016. Das Pro Natura Magazin erscheint fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN 1422-6235 Redaktion: Raphael Weber (raw), Chefredaktor; Florence Kupferschmid-Enderlin (fk), Redaktion französische Ausgabe; Judith Zoller, pro natura aktiv Layout: Simone Torelli, Raphael Weber. Mitarbeit an dieser Ausgabe: Mirjam Ballmer, Daniel Bütler, Jan Gürke, Andrea Haslinger (ah), Susanne Huber (sh), Rico Kessler, Urs Leugger, Sabine Mari, Susanna Meyer (sm), Kurt Marti, Lorenz Mohler (Übersetzungen), Felix Somm, Pierre-André Varone, Benno Vogel, Rolf Zenklusen. Redaktionsschluss Nr. 5/2016: 30.08.2016 Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Auflage: 117 000 (85 000 deutsch, 32 000 französisch). Gedruckt auf FSC-Recyclingpapier. Anschrift: Pro Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel. 061 317 91 91 (9–12 und 14–17 Uhr), Fax 061 317 92 66, E-Mail: [email protected]; www.pronatura.ch; P K‑40-331-0 Inserate: CEBECO GmbH, Webereistr. 66, 8134 Adliswil, Tel. 044 709 19 20, Fax 044 709 19 25, [email protected] Inserateschluss 5/2016: 09.09.2016 Friends of the Earth International. Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutzunion IUCN und Schweizer Mitglied von www.pronatura.ch inhalt 3 editorial 4thema 4 K eine Widersprüche: Bauliche Verdichtung und urbane Biodiversität schliessen sich nicht aus. 8 S ehnsucht: Natur vor der Haustüre entspreche einem immer grösseren Bedürfnis, sagt Basels Stadtgärtner. 14köpfe 16in kürze 18 brennpunkt Was Vokuhila-Frisuren mit Altgrasinseln verbindet Über wandelnde Schönheitsideale konnte man sich an der soeben zu Ende gegangenen Fussball-Europameisterschaft ein hervorragendes Bild machen. Die zahlreichen Hipster unter den Fussballprofis stellten ihre Bärte, Tattoos und kahlgeschorenen Schläfen genüsslich zur Schau, als ob Fussball nur ihre zweitwichtigste Betätigung wäre. Während des Turniers wurden auch immer wieder Bilder früherer Mannschaften gezeigt. Diese gaben uns amüsanten Aufschluss über frühere Trends wie S chnäuze, Koteletten, Vokuhila-Frisuren (vorne kurz, hinten lang) und extrakurze Fussballershorts. 18 W asserkraftlobby: Ist in Bundesbern bestens vernetzt 22 Chemielobby: Will neue Gentechverfahren vom Gentechnikgesetz ausnehmen. Landwirtschaft wurden vor Jahrzehnten störende Elemente wie 24 Wilderer: Werden selten gefasst und selbst dann milde angegangen. Auch Pro Natura ist in ihrer Arbeit von wandelnden Schön- heitsidealen betroffen. Mit der Intensivierung der S chweizer Hecken, Obstbäume und Auen im grossen Stil ausradiert. Nicht nur, weil dies den Einsatz grosser Maschinen vereinfachte, sondern auch weil ausgeräumte Landschaften als ordentlich und 26 Umweltbewusste Unternehmer: Stehen hinter der Volksinitiative «Grüne Wirtschaft». gut unterhalten galten. Auch in unseren Siedlungsräumen zeigte 27 Bundesrat: Bekennt sich zum Aktionsplan Biodiversität. Maxime der gepflegten Gartengestaltung. Wer es wagte, Blumen- 24news sich dieser Trend exemplarisch: Sterile englische Rasen galten als wiesen wachsen zu lassen, stand im Quartier bald im Verruf, seinen Garten nicht im Griff zu haben. 28 Immenberg: Nach 20-jähriger Arbeit ein Juwel unter Pro Naturas Naturschutzgebieten. Während sich über die Vorteilhaftigkeit der Trends in der 30 Bonfol: Pro Natura wehrt sich gegen eine industrielle Geflügelmasthalle in unversehrter Landschaft. heit sagen, dass sich die Grünraumideale aus ökologischer Sicht Mode- und Fussballbranche streiten lässt, kann man mit Gewisszum Besseren gewandelt haben. Elemente wie Teiche, Hecken, 31 L avaux: Für die letzten Smaragdeidechsen gibts ein neues Naturschutzgebiet. Obstbäume, Asthaufen, Blumenwiesen und Altgrasinseln sind 32 PhaenoNet: Ein wissenschaftliches Projekt für Naturfreunde aller Art. geworden. Durch diese Trendwende ist auch in urbanen Umge- 33beobachtet 34leserbriefe 36service feste Bestandteile bei der Planung von öffentlichen Grünräumen bungen eine beachtliche Artenvielfalt entstanden. Aus Anlass des Gartenjahrs 2016 begeben wir uns in die- sem Pro Natura Magazin deshalb auf einen Städtetrip durch die Schweiz und zeigen unterschiedliche Beispiele moderner urbaner Biodiversität. Und wir zeigen, dass nicht nur die Natur von solchen Oasen profitiert, sondern auch wir Menschen. So präsentieren uns in diesem Magazin 14 Personen aus der gesamten Schweiz städtische Grünräume unterschiedlichster Art, auf deren 39 pro natura aktiv Entstehung sie oft wichtigen Einfluss hatten. Wir wünschen Ih- 46 shop anderen Art. 48die letzte RAPHAEL WEBER, Chefredaktor Pro Natura Magazin nen viel Spass bei den Erkundungen mit diesen Trendsettern der 4 thema Dicht, grün und lebenswert: Die Städte der Zukunft In unseren Städten besteht eine oft unerwartete Artenvielfalt. Diese gerät aber mit der baulichen Verdichtung unter Druck. Viele Projekte in der gesamten Schweiz zeigen aber, wie auch auf begrenztem Raum Mensch und Natur florieren können. Bis in die 1970er-Jahre galten «Stadt» und «Natur» als Wider- spruch. Die Stadt symbolisierte Wohnen, Arbeiten, Verkehr, Beiz fe und Sportplätze bilden die offensichtlichen Grün- und Frei Private Gärten, öffentliche Grünanlagen, Parks, Friedhö- und Kultur. Draussen vor den Toren der Stadt schien die Natur zu flächen der Städte. Doch für Flora und Fauna können auch liegen, in den Wäldern, auf den Feldern und Wiesen, in den Flüs- Mauerritzen und Schutthaufen, Böschungen und gepflasterte sen und Seen. Der Gedanke lag fern, dass der Siedlungsraum des Plätze, Bachufer und Randbereiche von Industrie- und Bahn Menschen gleichzeitig Lebensraum vieler Tier- und Pflanzenarten arealen wichtige Lebensräume darstellen. Die Vielfalt der Struk- sein könnte. Zum Erstaunen vieler zeigten wissenschaftliche Un- turen und deren teils lange Beständigkeit bieten die Grundlage tersuchungen ab den 1980er-Jahren das Gegenteil: Städte beher- für viele anpassungsfähige Arten, mehr oder weniger versteckt bergen charakteristische Lebensgemeinschaften von Tieren und mitten in menschlichen Siedlungen zu leben. Pflanzen. In Vergleichen mit monotonen Landwirtschaftsflächen weisen städtische Lebensräume oft höhere Artenzahlen aus. staunt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass innerhalb unserer >> Der gute Zustand der Biodiversität im Siedlungsraum er- Natur in der Stadt, ohne jede Chemie Genf: Grüne Lage mitten in der Stadt «Mit mehr als 9000 verschiedenen Pflanzenarten bie tet der Botanische Garten in Genf, der gegenwärtig auf bio umgestellt wird, eine enorme Artenvielfalt auf einer sehr kleinen Fläche. 40 Prozent aller Pflanzenarten der Schweiz findet man hier. Unlängst wurden bei einem In ventar 100 verschiedene Wildbienenarten nachgewiesen und der Botanische Garten als «Hort der Biodiversität» bezeichnet. Der Standort zwischen Seeufer und Häuser zeilen ist ein Standort für gezüchtete oder spontan wach sende Wildblumen, aber auch für viele Tiere. Gegenwär tig können wir hier gerade den Nestbau des Buntspechts in einer Eiche beobachten. Für die Stadtbevölkerung ist der Botanische Garten eine grüne Lunge mitten in den Häuser schluchten. Zahllose Besucher strömen täglich hierher, auf der Suche nach der Natur in der Stadt. Auf die Schönheit und Vielfalt der lebenden Sammlung dür fen die Genferinnen und Genfer zu Recht stolz sein.» fk Nicolas Freyre, leitender Gärtner im Botanischen Garten Genf Pro Natura Magazin 4/2016 thema 5 Pro Natura will städtische Freiräume aufwerten Der Siedlungsraum ist nicht nur das Zuhause des Menschen. Er bietet auch vielen Tier- und Pflanzenarten einen wichtigen Lebensraum. Besonders bei siedlungstypischen Arten besteht noch ein grosses Förderungspotenzial. Pro Natura möchte deshalb anhand konkreter Projekte aufzeigen, wie Siedlungsräume nicht nur für spezifische Tier- und Pflanzenarten, sondern auch für den Menschen wieder vielfältiger und attraktiver gestaltet werden können. Dazu suchen wir die Zusammenarbeit mit Baugenossenschaften und Immobilienbesitzern. Ziel ist es, möglichst grosse Aussenräume nach einem gemeinsam erarbeiteten Konzept so zu gestalten und aufzuwerten, dass auch siedlungstypische Arten davon profitieren. Die Projekte sollten folgende Kriterien erfüllen: Das Areal befindet sich in einer Stadt, Christian Flierl (2) die Grösse des Aussenraums Schmetterlinge, Bienen und Frösche ein paar Schritte neben der Migros Lausanne : Ein Kleinod im Herzen des städtischen Trubels «Jeder Ausflug mit meinen Grosseltern in diesen Garten war für mich als kleines Mädchen eine Ent deckungsreise. Ich liebte es, die Pflanzen wachsen zu sehen, die Kraft der Bäume zu spüren, den Vö geln zu lauschen und meine Hände in die Erde zu tauchen. Heute ist hier alles wilder und dichter. Ich beobachte gern, wie die Pflanzen miteinander zurechtkommen, und lasse der Natur hier freien Lauf; wir können so viel von ihr lernen. Der Gemüsegarten ist stattlich geworden und reicht fast schon zur Selbstversorgung und für die Nachbarn. Die Bienen fühlen sich hier wohl in den Bienenstöcken hinten im Garten, Mölche und Frösche tummeln sich im Teich, und an den Hochstammobstbäumen wachsen feine Früchte. Meine Enkel geniessen dieses grüne Kleinod, das nur ein paar Schritte von ihrer Schule entfernt liegt. Ich zeige ihnen die wichtigsten Handgriffe, damit sie sich dereinst um diesen magischen Ort kümmern können.» fk Isabelle Veillon, Gärtnerin im Ruhestand Pro Natura Magazin 4/2016 beträgt mindestens tausend Quadratmeter und bestehende Naturwerte wie alte einheimische Bäume, Wildhecken, Ruderalflächen oder extensive Wiesen sind im Umkreis von hundert Metern vorhanden. ah Interessierte Personen dürfen sich gerne bei der Projektleiterin melden: Andrea Haslinger, Tel. 061 317 91 49, [email protected]. Für Einfamilienhausbesitzer mit kleinerem Garten hat Pro Natura mehrere Faltblätter veröffentlicht, die Tipps für die naturnahe Gartengestaltung geben: www.pronatura.ch/publikationen > Pro Natura Faltblätter Zudem finden Sie mehrere Ratgeber in unserem Shop: www.pronatura.ch/ der-shop 6 Ein Ort der Begegnung und Erholung «Ein Park mitten in einer Stadt erfüllt viele wich tige Aufgaben für Mensch und Natur. Die Stadt ist auf dem Buckel der Natur entstanden und hat Le bensräume fragmentiert. Deshalb hat ein Stadt park eine wichtige Funktion für Fauna und Flora. Bei den Pflanzen ist die Artenvielfalt übrigens grösser als in den Randregionen der Stadt. Der Bo tanische Garten, die alten Bäume, die Teiche, die Trockenwiesen, der Hügel von Montriond und die Waldflächen sind Zufluchtsort für Kleintiere und Lebensraum für zahlreiche Arten. Im Park geht man gern spazieren, alleine oder mit der Familie, trifft sich mit Freunden, kann ausspannen und auf tanken. Und es geht nicht nur mir so: Der Parc de Milan ist wie ein Ameisenhaufen, es wimmelt hier immer von Menschen; man kommt, um zu lesen, Fussball zu spielen oder zu picknicken. Er gehört zum Leben in Lausanne.» fk Pascale Aubert, zuständig für Grünflächen im Stadtgebiet und ein Fan des Parc de Milan Städte gemäss Arealstatistik des Bundesamts für Statistik (BFS) der Bundesrat erkannt, er schreibt in seinem Bericht «Umwelt 60 Prozent der Fläche durch Gebäude, Verkehrsflächen und an- Schweiz 2015»: «Eine Aufwertung der Landschaften der Agglo- dere Infrastrukturanlagen versiegelt sind und nur 6 Prozent aus merationen soll dazu beitragen, dass die Lebensqualität der Be- Grün- und Erholungsanlagen bestehen. völkerung erhöht und die Biodiversität erhalten und gefördert werden». Eine gute Koordination der gestalterischen Ansprüche, Steigender Druck auf Freiflächen der sozialen Aufgaben und der Biodiversitätsanforderungen ist Dieser Wert wird sich kaum zugunsten der Grünflächen ver- entscheidend für die sorgfältige Verdichtung an geeigneten Orten. ändern, weil ein Trend zur Verdichtung der bestehenden Sied- lungsräume im Gang ist – dass also innerhalb der Städte und Schlüsselfragen gestellt werden: Wo ist der Spielraum für eine Agglomerationen zusätzlicher Wohnraum entsteht. Dies ist eine Verdichtung am grössten? Welche Funktionen von Grünräumen grundsätzlich erfreuliche Tendenz, findet auch Pro Natura. Denn stehen im Vordergrund? Was für eine Form der Urbanität soll damit kann die rasante Überbauung von wertvollem Kulturland sich entwickeln? Der Einbezug der lokalen Bevölkerung ist ent- gebremst werden. scheidend für die Akzeptanz und den Erfolg des Projekts. Die So müssen zu Beginn jedes Planungsprozesses einige Doch dieser Trend stellt grosse Herausforderungen an die Grenzen zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Planung dar. Denn mit der Verdichtung nach innen steigt nicht Freiflächen sollen durchlässiger werden, um zu Orten der Be- nur der Druck, Freiflächen zu überbauen, sondern auch der gegnung und des Austauschs zu werden. Nutzungsdruck der Grünräume nimmt zu. Der Bund Schweizer Landschaftsarchitekten und Landschaftsarchitektinnen (BSLA) Vielfältige Massnahmen für die Artenvielfalt formuliert die Herausforderung treffend: «Je höher die bauli- Dach- und Fassadenbegrünungen stellen in verdichteten Stadt che Dichte, desto höher die Ansprüche an die Qualität der Frei bereichen besonders wichtige Elemente dar, um auf wenig Raum räume in Bezug auf Gestaltung, Nutzungsvielfalt und Erreich- viel Natur unterzubringen. Zur Förderung der Biodiversität im barkeit». Pro Natura würde hier noch anfügen: «... sowie in Be- Strassenraum sollten konsequent nur noch einheimische Bäume zug auf die Biodiversität». und Sträucher gepflanzt werden. In weniger intensiv genutzten Garten- und Parkbereichen bieten artenreiche Blumenwiesen viel Parallel zur Siedlungsverdichtung braucht es daher eine «ökologische Verdichtung», die der flächenmässigen Einschrän- grössere Potenziale für Naturerlebnisse als englischer Rasen. In vie- kung eine qualitative Aufwertung entgegensetzt. Dies hat auch len Gärten gibt es Ecken, die sich für Ast- oder Steinhaufen eignen. Pro Natura Magazin 4/2016 Christian Flierl (3) Lausanne: Ein Stadtpark mit Mehrfachfunktion thema Ein Modell für urbane Ökologie Villars-sur-Glâne, Fribourg: Ein Schulhof als Paradies für die Biodiversität « Seit 40 Jahren bin ich leidenschaftlicher Natur- und Vogelliebhaber und möchte späte ren Generationen eine hochwertige Pflanzen- und Tierwelt hinterlassen. Deshalb habe ich um unsere Schule herum an rund 30 Stellen Massnahmen ergriffen, um die Biodiversität zu fördern: Nistkasten aus Recycling-Material, Lesesteinhaufen für Eidechsen, grosse Baum stämme aus Eichen- und Tannenholz als Insektenhotel und an Bäumen befestigte Astbündel für Wildbienen. Mit solchen einfachen, aber wirkungsvollen Massnahmen können Schüler und Bürger der Gemeinde dafür sensibilisiert werden, wie wichtig die Natur im städtischen Umfeld ist. Welche Freude, wieder Blaumeise, Trauerschnäpper und Gartenbaumläufer in den Gärten um die Schule zu entdecken! Die Schüler ziehen teilweise selber Gemüse und Kräuter und erhalten so einen direkten Bezug zur Natur – eine wichtige Erfahrung für ihr späteres Leben.» fk Roger Despont, Abwart der Primarschule Rochettes Grössere Vielfalt als in Monokulturen Bern: Bienenzucht auf einer Wiese der heilpädagogischen Schule Weissenheim «Ich behaupte, dass meine Bienen in der Stadt eine grössere Vielfalt an Blüten honig sammeln, als wenn sie auf dem Land neben Monokulturen wären. Die Bienen finden ihre Nahrung in einem Umkreis von 400 Metern im Quartier Weissenstein mit vielen Grünflächen, Blumen und Obstbäumen. Diese Obstkulturen brauchen Bienen in der Nähe, denn an kühlen Frühlingstagen fliegen die Tiere nicht weit. Der Einfluss des Imkers liegt bei 10 Prozent, den Rest erledigt die Natur. Das finde ich faszinierend – vor allem, weil alles auf so kleinem Raum passiert. Seit dem Film ‹More than honey› erlebt die Imkerei einen Boom. Die Zahl der Stadtimker nimmt zu; die Gesamtzahl der Bienenvölker aber leider nicht. Die Imkerei ist ein hoch interessantes, aber zeitintensives Hobby.» zen Beat Wenger, Stadtimker Renaturierte Flussufer laden auch in Stadtzentren zum Ver- Im Rahmen des Gartenjahrs 2016 organisiert Pro Natura in Zu- weilen. Teiche und Tümpel werten Parks zu Naturerlebnis sammenarbeit mit Stadtgärtnereien und Grünämtern eine Exkursi- räumen auf und sind bei geeigneter Anlage gleichzeitig Lebens- onsreihe zum Thema «Mehr Natur in der Stadt» in neun Schwei- raum für eine Vielzahl an Pflanzen und Tieren. Wege und Plätze zer Städten. Ergänzend dazu fand im Frühjahr 2016 ein Kurs zu mit durchlässigem, bewuchsfähigem Belag lassen Niederschlags- Dach- und Fassadenbegrünung und artenreichen Blumenwiesen wasser versickern und stellen ohne zusätzlichen Flächenbedarf im Garten statt. An Setzlingsmärkten werden regionale Pflanzen Nischen für Bewuchs und Kleintiere dar. Ein Mosaik aus vielen für den Garten angeboten. In Schulklassen und Jugendgruppen kleinen Ruderalflächen, Baumscheiben und Strassenböschungen fördert Pro Natura die Sensibilisierung für das natürliche Lebens fördert die Biotopvernetzung in der Stadt. umfeld. Und nicht zu vergessen: Pro Natura Schutzgebiete liegen nicht immer weit draussen, sondern häufig auch ganz nah vor Pro Natura engagiert sich auf verschiedenen Ebenen für mehr Stadtnatur. Sie bietet gemeinsam mit der Organisation Praktischer Umweltschutz (Pusch) Kurse für Gemeindearbeiter und -behör- der Haustüre in Städten und an Siedlungsrändern. den an, um für eine naturnahe Bewirtschaftung kommunaler JAN GÜRKE ist Koordinator der Pro Natura Kampagne «Flower Power – für farbenfrohe Blumenwiesen». Grünflächen zu sensibilisieren und Fachwissen aufzubauen. www.gartenjahr2016.ch Pro Natura Magazin 4/2016 7 8 thema «Wir spüren eine grosse Sehnsucht nach Grünräumen» Nach einem Jahr schon 73 Tierarten Bern-Bümpliz: Biodiversitätsprojekt in der Siedlung Fröschmatt «Der Innenhof der Fröschmatt wurde von einem Rasen mit Einzelbäumen in eine naturnahe Landschaft mit Obstbäumen, Sträuchern, Kieswegen, Ruderalflächen, Wildwiesen, Hügeln und Asthaufen verwandelt. Erdbee ren und Küchenkräuter wurden gepflanzt, aber auch sel tene Wildrosen. Wichtig war der Einbezug der Mieter der 45 Wohnungen. Die Gestaltung wurde in Workshops defi niert. Für Pflege und Einhaltung der Nutzungsregeln ist eine Gartengruppe zuständig. Unser Ziel, das Naturerlebnis zu fördern und Lebens räume für gefährdete Arten zu schaffen, haben wir schneller erreicht als erwartet: Bereits nach einem Jahr wurden 73 Tierarten gezählt. Das Projekt ist ein grosser Gewinn – für die Natur wie für die Menschen. Die Bewoh ner nutzen den Innenhof häufiger als früher; es gibt we niger Mieterwechsel als in anderen Siedlungen.» Der Wunsch nach attraktiven Grünräumen nimmt laut Emanuel Trueb markant zu. Deshalb empfiehlt der Leiter der Stadtgärtnerei Basel, neue Grünräume zu erschliessen und die vorhandenen Flächen gut zu pflegen. Pro Natura: Herr Trueb, als Leiter der Stadtgärtnerei Basel besteht Ihre Rolle darin, den Grünraum zu verteidigen. Wie schwierig ist das? Emanuel Trueb: Es wird zunehmend schwieriger. Ein Grund dafür ist der enorme Druck auf Grünflächen, der ständige Wettbewerb unter Städten und Gemeinden, um Steuerzahler und damit die Einwohnerzahl und Arbeitsplätze zu erhöhen. Und natür- Sabine Tschäppeler, Leiterin Fachstelle Natur und Ökologie bei Stadtgrün Bern lich geht es privaten Investoren darum, für den investierten Franken eine möglichst gute Rendite zu erzielen. In Basel gibt es aber auch Grosskonzerne, die erkennen, dass sie hochqualifizierten Fachleuten nicht nur einen hochwertigen Job, sondern auch ein hochwertiges Arbeitsumfeld anbieten müssen. So hat Novartis auf dem neuen Campus beachtliche Grün- und Parkanlagen ausgeschieden. Das Gleiche gilt auch für die öffentliche Hand: Eine attraktive Stadt mit zufriedenen Menschen braucht eine attraktive, grüne Umgebung. In den Städten gibt es mehr Möglichkeiten für die Artenvielfalt als in einer ausgeräumten Agrarlandschaft. Sehr oft gerät man dabei in Konflikt mit der Verdichtung. Das stimmt. Wenn aber die Verdichtung dazu beiträgt, dass stadtnahe Räume frei bleiben und weniger Zersiedlung stattfindet, haben wir eben auch sehr viel erreicht. In der Stadt geht es vor allem darum, vorhandene Grünräume langfristig zu sichern oder im Rahmen der Umnutzung von Industrie-, Bahn- und Hafenarealen neue Grünräume anzulegen. Gute Beispiele dafür sind etwa die Basler Erlenmatt oder Zürich West. Das dortige Gebiet rund um den Prime Tower wurde so verdichtet, dass neue Freiräume für Mensch und Natur entstanden sind. Gibt es noch andere Möglichkeiten für neue Grünräume? Wir könnten neue Grünstrukturen auf Dächern und Fassaden schaffen. An Fassaden gibt es interessante Projekte: In Mailand werden Häuser zu vertikalen Gärten umfunktioniert. Weil so viel Technik dahintersteckt, stösst man aber schnell an Grenzen. Einfacher ist es auf den Dächern: Dort können wir besondere Grünräume anlegen, die auch in der Natur vorkommen. >> Pro Natura Magazin 4/2016 Christian Flierl (3) 9 250 Gemüsesorten hinter dem Messeturm Basel: Biodynamischer Gemeinschaftsgarten Landhof «Nach dem Wirtschaftsstudium wollte ich nä her zur Natur und zum natürlich produzierten Essen. Im Verein Urban Agriculture Netz Basel konnte ich sofort mitarbeiten, mitdenken – und mitessen. Eines der 50 Projekte ist der Ge meinschaftsgarten Landhof: Die Ruhe, Schön heit und Natürlichkeit auf diesen 1100 Qua dratmetern hinter dem Messeturm faszinieren mich. Der Garten wird geplant, Fruchtfolgen werden eingehalten und Saatgut vermehrt – alles im Sinne der Permakultur. Hier wachsen 250 verschiedene Sorten – von Kräutern und essbaren Stauden sowie Beeren bis zu Kultur gemüse, Wildpflanzen und Feigenbäumchen; darunter viele alte Sorten, denn wir arbeiten mit Pro Specie Rara. Jeder kann Gemüse mit nehmen, jeder arbeitet so viel er kann.» Tatjana Nebel, Vorstandsmitglied Urban Agriculture Basel Seltene Arten in der Industriebrache Basel: Gezielter Naturschutz bei der Umnutzung des Hafenareals «Die Gleisanlagen im Basler Hafengebiet Klybeck-Kleinhüningen beherbergen eine wertvolle Flora und Fauna. Es gibt 14 Pflanzen, die auf der Roten Liste stehen, und eine Heuschreckenpopulation mit gefährdeten Arten. Bei der Zwischen nutzung am Klybeckquai ist es gelungen, diese ökologischen Werte zu erhalten. Anstatt die Gleise zu entfernen, wurden diese in die Neugestaltung integriert und blieben zum Teil unberührt; der wertvolle Uferbereich bleibt erhalten. Dank be pflanzten Industriecontainern und Gärten auf Industriebrachen ist neues Grün entstanden. Bei den Ausbauprojekten für die Hafen- und Güterlogistik wie auch bei der weiteren Transformation von ehemaligen Hafenarealen werden wir Grüninseln den nötigen Raum geben. Stadtentwicklung bedeutet Aushandeln im Dialog; dabei werden Win-Win-Lösungen erzielt.» Thomas Waltert, Leiter Transformation Basel Nord, Planungsamt, Bau- und Verkehrsdepartement Basel-Stadt Pro Natura Magazin 4/2016 10 thema Für Gründächer sehen Sie ein grosses Potenzial? Ja, das Potenzial ist riesig, es steht aber oft in Konkurrenz mit der Fotovoltaik. Eine Einschränkung ist auch die Höhe: Die Wind- und Wetterverhältnisse lassen auf Hochhäusern keine Gründächer zu. Wie weit pflegen Sie die Grünanlagen? Wie weit überlassen Sie diese der Natur? Unsere Konzepte sind sehr breit angelegt. Zuerst einmal legen wir Gebiete fest, die einer Nutzung durch Menschen entzogen werden – etwa Böschungen und steile Ufer. Zweitens können wir Einfluss nehmen auf die Zusammensetzung der Böden. Erst dann kommt die Pflege. Gewisse Arten fördern wir gezielt, zum Beispiel die Zauneidechse auf Bahnarealen oder den Garten rotschwanz in Freizeitgärten. Wir richten den Lebensraum genau auf dieses Tier aus, was oft zur Folge hat, dass er für andere Tie- Auen direkt neben den Wohnblöcken re und Pflanzen auch interessant ist. Der Mensch wird so gelenkt, dass er wertvolle Naturräume nicht zerstört, zum Beispiel indem Aarau: Ökologisch wertvolles Auengebiet im Telli-Quartier Wege durch Wiesen vorgegeben werden. Aber auch innerhalb «Der Auenschutzpark Aargau beginnt mit einer Aue mitten in der Stadt Aarau, direkt neben den Wohn blöcken des Telli-Quartiers. Es ist faszinierend, wie hier das Zusammenspiel von Natur und Zivilisa tion funktioniert. Dafür braucht es einerseits eine Besucher lenkung mit befestigten Wegen, anderer seits Flächen, die völlig der Natur überlassen wer den. In Auen, die nur 0,3 Prozent der Landesfläche bedecken, kommen 40 Prozent aller einheimischen Pflanzen vor; 80 Prozent aller Tierarten nutzen die Auen als Lebensraum. Das zeigt, wie wichtig solche Grüninseln für die Artenvielfalt sind. Während unse ren Führungen im Auenschutzpark Aargau entdecken viele Leute die Natur mit einem ‹Aha-Erlebnis›, wo bei vor allem der Biber und der Eisvogel beliebt sind.» der Grünflächen gibt es Konkurrenz – etwa durch schädliche invasive Pflanzen. Umso wichtiger ist eine professionelle Pflege. Wie wichtig ist die Vernetzung der Grünräume? Sehr wichtig. Wir legen fest, welche Naturwerte wir haben, wie durchgängig und vernetzungsfähig diese sind und wie die Vernetzung verbessert werden könnte. Dafür haben wir ein Biotop verbundkonzept erstellt, wie das in den meisten Städten in Mitteleuropa im Rahmen der Raumplanung gemacht wird. Die Öffentlichkeit und die Politik nehmen das aber kaum wahr. Wie gross ist die Sehnsucht der Menschen nach mehr Grünraum? Gerade bei der städtischen Bevölkerung spüren wir eine grosse Kathrin Ruprecht, Biologin beim Aargauer Naturmuseum Naturama Sehnsucht nach Grün, vor allem nach Gärten. Viele Leute fangen an zu realisieren, dass sie in ihrem Leben nicht nur keine Zeit mehr haben, sondern auch kein Gartenland besitzen. Und dass sie zu wenig Bescheid wissen über natürliche Prozesse – dass sie also immer mehr entrückt sind von Dingen, die sie glücklich machen und ihnen eine Perspektive geben würden. Es hat etwas mit dem Verstossensein aus dem Paradies zu tun. Die Menschen wollen Grün in der Stadt. In Basel zeigt sich diese Haltung auch bei Abstimmungen: Wiederholt hat das Volk an der Urne die Überbauung von grossen grünen Gebieten verhindert. Welche Arten von Grünflächen sind für eine Stadt am wichtigsten? Für Biodiversität, Stadtklima und Durchlüftung spielen Flusslandschaften und Seen die wichtigste Rolle. Auch stadtnahe Wälder und Parkanlagen leisten einen grossen Beitrag, gefolgt von den Strassenbäumen und unversiegelten Böden. >> Pro Natura Magazin 4/2016 11 Eine Mauer voller Leben Luzern: Die Museggmauer, ein wichtiger Lebensraum für seltene Tier- und Pflanzenarten «Wenn die Fledermäuse um die Türme der Musegg mauer flattern, entsteht eine einzigartige Atmo sphäre – vor allem, wenn noch der Mond scheint. Während der Sanierung der Mauer haben die Hand werker dank ökologischer Begleitung darauf geach tet, Schlitze, Hohlräume und Nischen, die verschie denen Tieren als Quartier dienen, zu erhalten oder neue Unterschlüpfe zu bauen. Dank des angrenzen den Bauernhofs mit Tieren und Obstbäumen sowie der Nähe zur Reuss ist die Museggmauer ein wert volles Jagdbiotop für mindestens sechs in der Stadt lebende Fledermausarten – zum Beispiel die Rauhaut fledermaus. An der Museggmauer leben auch viele Vögel, etwa die bedrohten Turmdohlen und Gänse säger. Dass die Mauer ein Lebensraum für seltene Flechten ist, unterstreicht den Wert dieses ökologi schen Kleinods mitten in der Stadt.» Ruth Ehrenbold, Fledermausschutz-Beauftragte des Kantons Luzern von 1997 bis 2012 Christian Flierl (3) Ungestörte Artenvielfalt auf dem Stadtdach Zürich: Dachbegrünung auf dem Einkaufs- und Bürozentrum Sihlcity «Das Potenzial von Gründächern ist riesig, in Zürich liegen leider noch unzählige Flächen brach. Ein po sitives Beispiel ist das Einkaufszentrum Sihlcity, das mit 2,1 Hektaren begrünter Fläche zu den grössten Gründächern Zürichs gehört. Gerade in Städten sind Gründächer ökologisch sehr wertvoll, weil sich dort praktisch ungestört eine grosse Artenvielfalt ent wickelt. Mit der richtigen Erd- und Samenmischung lässt sich die Vegetation auch steuern. So konnten zum Beispiel bedrohte Orchideenarten angesiedelt oder neue Lebens räume für die gefährdete Blau flügelige Ödlandschrecke angelegt werden. Grün dächer halten Regenwasser zurück, filtern Schmutz partikel aus der Luft und helfen mit, die Temperatur auszugleichen. Begrünungen wirken wie ein Schutz schild für das Dach.» Nathalie Baumann, Stadtökologin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Pro Natura Magazin 4/2016 thema Braucht es also viel mehr Bäume in den Städten? Allein das Pflanzen von Bäumen bewirkt wenig für die Bio diversität. Ohne durchwurzelbaren Boden, der in Ruhe gelassen wird, ohne entsprechende Pflege und ohne Perspektiven für Jahrzehnte gibt es keine Bäume, die schliesslich einen echten Naturwert darstellen. Wo sehen Sie die Gefahren für städtische Grünräume? Die grösste Gefahr ist, dass sich die Gemeinden nicht mehr bewusst sind, wie wichtig der Einsatz von Fachleuten im Umgang mit Grünflächen ist. Sobald die Gemeinden nicht mehr bereit sind, sich Fachleute zu holen und professionelle Arbeit zu leisten, kann die Nachhaltigkeit für das öffentliche Grün nicht mehr gewährleistet werden. Strukturelle Vielfalt am Stadtrand Also sind die Stadtgärtner gute Naturschützer? Die allermeisten Schweizer Gartenämter sind hoch professionelle Naturschützer. Auch deshalb sprechen wir mit Pro Natura absolut auf Augenhöhe. ROLF ZENKLUSEN arbeitet als freischaffender Journalist. Der gelernte Landwirt Emanuel Trueb (55) leitet seit 22 Jahren die Basler Stadtgärtnerei. Von 2013 bis 2015 war er Präsident der Internationalen Föderation für Parks und Freizeitanlagen (Ifpra, heute WUP World Urban Parks). Er ist Gemeinderat in Pratteln (BL). Chur: Trockenrasen, Hecken und Obstbäume im Seidengut «2012 hat die Stadt Chur eine Parzelle gekauft, wo früher Seidenraupen gezüchtet wurden. Die Maul beerbäume, die als Futterbasis dienten, sind ver schwunden. Heute besteht das Seidengut aus Tro ckenrasen, Hecken, Fromentalwiesen, Obstbäumen, Wald und Trockenmauern. Die ökologische Vielfalt ist sehr gross, unter anderem gibt es Lebensräume für den seltenen Deutschen Backenklee und für viele Brutvögel. Unser spezielles Pflegekonzept sorgt für ein Gleichgewicht zwischen der Kulturlandschaft mit Obst bäumen und offenen Wiesenflächen. Das Ge biet ist steil und schlecht zugänglich; der Pflegeauf wand entsprechend hoch. Momentan sanieren wir die 200-jährigen Trockenmauern; später werden Maul beer- und alte Obstbäume wieder angesiedelt und das Areal für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.» Urs Tischhauser, Leiter Stadtgärtnerei Chur Fuchs und Dachs neben den Gräbern Zürich: Naturnah gepflegter Friedhof Sihlfeld «Weil sich Friedhöfe wenig verändern, finden Wildtiere dort einen idealen Rückzugsort. Auf einem Stadtfriedhof mit extensiv gepflegten Flächen kann die Artenvielfalt gleich gross sein wie in einem ländlichen Gebiet. Nicht nur Generalisten wie Füchse, Dachse, Eichhörnchen und Igel leben auf Friedhöfen, sondern auch seltene Arten, etwa Iltisse, Glühwürmchen oder baum höhlenbewohnende Fledermäuse. Ein gutes Beispiel ist der Friedhof Sihlfeld, die grösste Grün anlage Zürichs. Das funktionierende Nebeneinander von intensiv vom Mensch genutzten und zu rückhaltend gepflegten Flächen finde ich faszinierend. Manchmal gibt es kleine Konflikte, wenn etwa ein Fuchs mit Grabkerzen spielt oder ein Blumenbeet aufwühlt. Doch das Verständnis für die Wildtiere auf den Friedhöfen ist sehr gross.» Sandra Gloor, Wildtierbiologin, Arbeitsgemeinschaft SWILD Pro Natura Magazin 4/2016 Christian Flierl (3) 12 13 zur sache Die Lebens- und Erlebnisqualität vor unserer Haustür fördern «Raum für Begegnungen», so lautet der Zusatz des vom Schweizer Heimatschutz organisierten Gartenjahres 2016, an dem sich auch Pro Natura beteiligt. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf städtische Gärten und Parkanlagen. Dies in einer Zeit, in der die Bedeutung städtischer Grünräume ebenso zunimmt wie die berechtigte Forderung nach baulicher Verdichtung, um damit die umliegende Landschaft zu schonen. Geht es um Lebensqualität in den Siedlungen, rückt immer wieder der öffentliche Raum ins Zentrum der Diskussion. Für die Akzeptanz von baulicher Dichte kommt attraktiven öffentlichen (Grün-)Räumen eine zentrale Bedeutung zu. Das Bedürfnis der städtischen Bevölkerung nach Natur wird weiter zunehmen. Deshalb müssen vermehrt Wege gefunden werden, damit ein Ort verschiedenartigen Nutzungsansprüchen wie Freizeit, 350 Pflanzenarten auf dem Stadtwanderweg Natur, Ästhetik oder der Milderung des im Sommer aufgeheiz- Lugano: Der Seewanderweg Sentiero di Gandria «Der Sentiero di Gandria verläuft an exponierter Südlage am Luganersee, wo die Temperaturen fast nie unter Null Grad fallen. Am Weg, der in der Stadt beginnt, haben wir auf zwei Kilometern über 350 Pflanzenarten gefunden. Dort gedei hen etwa seltene Blumen wie der Weisse Diptam oder die Weinraute, aber auch Manna-Eschen und europäische Zürgel bäume. Dazu gesellt sich die üppige Vegetation aus histo rischen Gärten mit tropischen und subtropischen Pflanzen. Nach unseren politischen Interventionen pflegt die Gemeinde das Gebiet neu nach ökologischen Kriterien. Die Verbuschung wird bekämpft; seltene Arten werden punktuell gefördert, schädliche Neophyten entfernt. Damit wird auch die touristi sche Attraktives des Weges gesteigert.» keine Hindernisse sein, sie können sich sogar gegenseitig stär- Nicola Schoenenberger, Botaniker und grüner Stadtrat ten Stadtklimas gerecht werden kann. Unterschiedliche Ansprüche an einen Raum müssen aber ken. Auch Naturschutz und Gestaltung müssen keine Gegensätze sein. Dies durfte ich auch in meinen «Wanderjahren» in der Stadt gärtnerei Basel feststellen. Neue Gestaltungskonzepte schaffen Identität für die Anwohnerinnen und Anwohner und fördern zugleich die Biodiversität. Etwa mit den Grünflächen eines gänzlich neuen Basler Stadtquartiers wie der Erlenmatt auf einem ehemaligen Bahnareal. Oder bei der Entwicklung aus bestehenden Strukturen, wo die Orientierung an der vorhandenen Substanz und an Identität stiftenden Elementen wichtige Prämissen sind. Zuletzt geht es darum, ökologische und ästhetische Quali- tät zu vereinen und so Lebens- und Erlebnisqualität vor unserer Haustür zu schaffen: Raum für Begegnungen – für Begegnungen der Menschen untereinander, aber auch für Menschen mit der Natur. Orte, wo wir uns wohl, wo wir uns «zu Hause» fühlen. Orte der Vertrautheit und des Ausgleichs zur Hektik des Alltags im dicht besiedelten Raum. Orte, wo wohl nicht gerade Fuchs und Hase einander gute Nacht sagen, die aber ( Stadt-)Natur fördern und Naturerlebnis ermöglichen. Pro Natura setzt sich gemeinsam mit weiteren Akteuren da- für ein, dass wertvolle Grünräume in unseren Siedlungen erhalten bleiben und weitere solche Flächen geschaffen werden. So ist der diesjährige Schoggitaler unseren Gärten und Parks gewidmet. Pro Natura beteiligt sich auch am Gartenjahr 2016 oder zeigt in Zusammenarbeit mit Immobilienbesitzern konkret auf, wie Siedlungsräume sowohl für Tiere und Pflanzen als auch für uns Menschen vielfältig und attraktiv gestaltet werden können. URS LEUGGER-EGGIMANN, Zentralsekretär Pro Natura Pro Natura Magazin 4/2016
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