Rahel

PRELUDE
… eine Liebe, eine schicksalsschwere Begegnung, ein Vergehen
sogar, unermesslich & maßlos, ein Glück so unsagbar &
ungekannt … .
Die Niederschrift & Edition dieser Geschichte ist Geständnis &
Beichte zugleich, Freude & Leid über bereits Vergangenes noch
einmal.
Ist ein Bekenntnis vor aller Öffentlichkeit, schuldig zu sein, ja, in
einem alten religiösen Sinn gesündigt zu haben, wenn ein Wort
wie Sünde heute noch verständlich ist, doch auch in einer
modernen Bedeutung, wo die Sitten locker & einfach geworden
sind, man sich längst von allem, was Einschränkung mit sich
bringt, befreit hat wie von altem Gerümpel, es so weit gekommen
ist, dass beinah niemand mehr weiß, was dieser Begriff überhaupt
meint, man sich verliebt & trennt, verheiratet & scheiden lässt,
kokettiert & betrügt, aufhört und von vorne anfängt; selbst dort
mutet eine Geschichte wie diese, außerordentlich & skandalös an,
denn in Wahrheit sind wir nicht wie wir glauben zu sein, in
Wahrheit sind die meisten bieder & spießig, tragen Ängste &
Ängstlichkeiten in sich, von denen sie keinem etwas sagen,
welche sie allen verheimlichen, die sie nüchtern nicht zugeben
würden, und wer weiß, wenn mir nicht all dies widerfahren wäre,
vielleicht würde auch ich kein Verständnis dafür aufbringen.
Erzogen in katholischen Klöstern war es mir nicht ohne weiteres
möglich, mich über meine Erziehung hinwegzusetzen, sie quasi
unter den Tisch fallen zu lassen, mich gleichgültig von dieser,
mich immer begleitenden, manchmal auf mir lastenden Prägung,
zu distanzieren.
Ich habe mich einst gewundert, wie man trotz des recht léger
gewordenen Benehmens zwischen den Geschlechtern in diesem
alten & modernen Europa, das für seine Freiheit Kriege führte,
Revolutionen anzettelte & vollendete, Blut vergoss, vollmundige
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Manifeste schrieb, in Kerkern für die Gleichheit schmachtete,
Menschenleben hingab, wie man da im ersten wie im letzten und
im ganz Persönlichen so altmodisch, ja, beinah frömmelnd sein
kann und wie sehr das geringste mitunter befremdet. Doch
Gegensätze & Widersprüche, Wahrheiten & Unwahrheiten sind
vereinbar, ja, dringend vonnöten, sie gehören zusammen wie Pech
& Schwefel, wie Tag & Nacht, wie Schatten & Licht, auch wenn
sie scheinbar verschieden sind.
Doch möchte ich nicht schreiben über meine persönlichen
Erfahrungen in dieser Geschichte mit anderen Menschen, nicht
über ihr Staunen & Wundern, nicht über Neid & Gehässigkeit,
nicht über das Abwenden alter Freunde, über Verleumdung &
schlechte Nachrede, sondern einzig über die Liebe und ihre
Exklusivität.
In Wirklichkeit will niemand über Grenzen gehen, bewährtes
Denken aufgeben, in Wirklichkeit ist nichts überwunden, sogar
uralte, ungeschriebene Gesetze kommen mehr als gelegen, vor
allem, wenn sie gegen andere verwendet werden.
In diesem engen & gleichzeitig weiten Kreis, unter den Augen der
Öffentlichkeit, in dieser Widersprüchlichkeit, zwischen Zweifel &
Verzweiflung spielt sich das Leben ab wie ein gutes & wie ein
schlechtes Theaterstück. Dies, wovon ich erzählen werde, wird
nichts anderes sein, als was seit Menschengedenken immer
geschehen ist, nur musste es ein jeder für sich entdecken, es sich
nehmen oder darauf verzichten, und was wäre auch dagegen zu
sagen, wenn es im Innersten wahrhaftig bleibt.
Ich werde mich bekennen zu allem, wie es auch sei, wie es auch
war, ob gut oder schlecht, angreifbar oder unverständlich,
verabscheuenswürdig oder grausam, lieblich oder kitschig, ja
lächerlich sogar, denn ich habe diese Geschichte geschrieben nicht
nur, sondern erlebt & gelebt, über weite & dunkle Strecken
durchgestanden, das Spektakuläre daran genauso wie das völlig
Normale, das überall & immer vorkommt, habe es angenommen,
mich einem ungewöhnlichen & gleichzeitig gewöhnlichen
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Ereignis gestellt, sodass ich darüber nicht reden und nicht
schweigen konnte.
Jeder Versuch, jemandem davon zu erzählen, wurde mit Entsetzen
& Ablehnung bereits ganz zu Anfang beantwortet, sodass ich
schließlich niemanden mehr einweihte, alles verheimlichte und
beinah alleine mit wenigen Ausnahmen diesen langen Weg
gegangen bin. Unsicher am Beginn, doch immer sichereren
Schrittes, je länger ich ging.
So ist dieser Roman auch ein inniger Dank geworden, eine solche
Leidenschaft, und dieses Wort meine ich allen Ernstes, gekannt zu
haben, eine Leidenschaft, die mich zu dem gemacht hat, was ich
auch bin, irgendwann ein erstes Mal geworden war, nämlich
nichts Geringeres als eine Ehebrecherin im klassischen Sinn, in
jeder einzelnen Kultur dieser Welt.
Meine längst verstorbene Lehrerin, eine Nonne, hat einmal
beiläufig, doch wegen meines Charakters, deutlich an mich
gerichtet, den erschütternden Satz geäußert: Leidenschaft schafft
Leiden.
Damals erschrak ich über diese Interpretation, begriff natürlich
nicht, was dieses Wort, dieser Satz in Wahrheit bedeuteten, nun
aber, Jahrzehnte später, weiß ich, dass sie nicht zur Gänze recht
hatte, obwohl ich es lange, lange glaubte, wie alles, was diese
überaus weise Frau gesagt hat, denn die Leidenschaft hält nicht
nur Leiden bereit, sondern auch jene Freuden, für die es sich zu
leiden lohnt, für die wir bereit sind, alles zu ertragen, alles
hinzugeben, Leidenschaft heißt also nicht Leiden allein, sondern
bedeutet auch Glück & Freude.
Leidenschaft heißt Feurigkeit, heißt, bereit sein, zu leiden, nicht
für die Liebe allein, aber auch für die Liebe. Sie bedeutet, alles
mit Eifer & Hingabe zu tun, jeden Handgriff: wie wir ihn tun,
jeden Gedanken: wie wir ihn fassen, jede Erinnerung: wie wir sie
aufheben. Es geht um die Art & Weise, und vor allem darum, das
Scheitern in Kauf zu nehmen, es trotz des Scheiterns vor Augen
zu tun.
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Der andere Satz hingegen, den sie mir ganz allein zum Abschied
in einem weißen versiegelten Kuvert mit meinem Namen darauf
übergab, hat mich durch mein ganzes Leben begleitet & getragen,
ja, ist zu ihrem Vermächtnis in mir geworden, jener Satz, an dem
ich kein Jota geändert wissen möchte, er ist mir beinahe so heilig
geworden, als hätte ihn Moses selbst vom Sinai heruntergebracht
und mir persönlich übergeben:
Greif tief genug, damit du Perlen greifst und nicht im engen Ring
des Alltags schleifst.
Ich war jemand, der nicht die Stärke hatte, etwas so
außergewöhnlich Großes wie diese Liebe, von der ich erzählen
werde, abzulehnen und daher die andere Stärke aufbringen
musste, sie anzunehmen, jemand, der am Ende diese Jahre nahm
& nehmen musste wie ein Himmelsgeschenk, wie ein letztes,
großes & rauschendes Fest auf Erden, sodass ich für mich allein
den Mut auf der einen, und die Geschmeidigkeit auf der anderen
Seite finden musste, Liebgewordenes, Sicheres ad acta zu legen,
um Neues, nie Gekanntes zu gewinnen, denn am Ende glaube ich,
am Ende sind Verzicht & Hingabe, Aufgeben & Annehmen einund dasselbe.
Ich hätte untergehen können, alles verlieren, es war das berühmte
Spiel mit der Glut, der Griff nach den Sternen, die Versuchung der
Götter, es war Vermessenheit & Hochmut, Sünde & Gnade
zugleich.
Wie dem ganzen Leben, dem menschlichen Streben das Scheitern
innewohnt, so ist es auch möglich, dass ich an diesem Roman
scheitere, dennoch & genau darum will ich versuchen, es
niederzuschreiben, versuchen, das Unaussprechliche, das Flüstern
& Schreien, das Weinen & Lachen, das schier Unmögliche in
einer vielleicht möglichen Form anzugehen und zu einem
Abschluss zu führen.
UND WIDME DIESEN TEIL MEINES WERKES MEINEN
BEIDEN MÄNNERN, denen ich für nichts anderes begegnet bin,
als sie zu lieben und von ihnen geliebt zu werden – widme es
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O. & A.
Ottokar & Alexander.
Ist mein Dank an Ottokar für seine Größe, mich dies erleben
gelassen & keinen Besitzanspruch gestellt zu haben an mich als
seine Frau, sondern im innersten Wissen um meine Liebe zu ihm,
mir alles gab, was ich verlangte, wonach es mich verlangte, der
mich nicht gehen hieß, sondern gehen ließ, mir vertraute zu allen
Zeiten, als wären es unsere allerersten, allerliebsten gewesen, der
mich niemals fragte, zu dem ich zurückkehrte, zu ihm und unseren
Kindern nach den Tagen & Nächten mit Alexander Sommerfeld.
Vielleicht gibt es keine weiteren zwei Männer, mit denen dies
möglich gewesen wäre, denn ein Teil jener Leistung, anders kann
es nicht genannt werden, gehört auch Alexander Sommerfeld, den
ich nennen will mit seinem ganzen Namen, welcher so prächtig &
feierlich ist wie er selbst, und der einmal gesagt hat: Wir müssen
alles mit Liebe tun - und nach kurzem Zögern - auch die Liebe.
oder: Was wir können und gekonnt haben, lässt mich hoffen für
eine bessere Zukunft. Etwas pathetisch vielleicht, jedoch so war
er, so ist er noch immer, still & melancholisch, groß im Geben,
geduldig im Warten, voller Verständnis, mehr noch, wie das
Verstehen selbst, was ja nur ein anderes Wort für Liebe ist.
So sind in O. & A. einander zwei Männer begegnet, die das
Unsagbare, das Unaussprechliche, das Skandalöse zugelassen,
gefordert & ermöglicht haben.
Keiner ist also denkbar ohne den anderen in diesen kleinen &
großen Möglichkeiten, welche immer wieder gefunden, ausgelotet
& ausgeschritten werden mussten.
Nach allem, was geschehen ist und wie es geschehen ist, hätte ich
den Verlust von einem der beiden, gleich in welcher Phase, gleich
aus welchem Grund, nicht bewältigt, nicht den Mut aufgebracht,
über Scheidung oder Trennung nachzudenken, geschweige denn
eine Entscheidung zu treffen, weder allein noch gemeinsam.
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In diesen fernen Jahren sprach ich immer wieder meine
Erlebnisse, meine Reisen, mein Glück & meinen Schmerz auf
Tonband, lange vor dieser offiziellen Edition also, vollkommen im
Geheimen, habe auf diese Weise zu einer Zeit, in der ich nicht
darüber schreiben konnte, die Ereignisse für später archiviert, für
den Fall, dass mir noch die Jahre bleiben würden, um diese, selbst
für mich, schier unglaubliche, persönliche Geschichte in Worte zu
fassen, die Gefühle von damals später einmal leichter
nachempfinden oder wiederfinden zu können, mich an das eine
oder andere besser zu erinnern, vor allem aber, um mich selbst
nicht zu verlieren, und weil ich zu mehr damals, als es geschah,
nicht im Stande war.
Auch wenn oder gerade, weil es niemand wusste, nie jemand
diese Bänder hören sollte, auch wenn ich es für mich alleine tat,
so voll wie ich war, so schwer wie mir zuweilen das Herz davon
wurde, so war es doch bereits der allererste Teil, der Versuch einer
Beschreibung, der Beginn dieses, meines vielleicht einzigen
Romans, denn, was ich danach noch schreiben werde, so dachte
ich damals, würde nur ein leiser Nachhall jener
außergewöhnlichen Liebesgeschichte, ja der Liebe als Ganzes, die
mir gegeben war, sein.
Die einmal, nur für mich besprochenen Bänder also dienten mir
als Arbeitsgrundlage für das nun vorliegende Werk, das ich oft &
oft bei mir schwedisch GULD, GOLD genannt habe, könnte
heißen GOLD DER SPÄTEN JAHRE, GOLD DER LETZTEN
JAHRE, wie einst mein erster Gedichtband GOLD DER
FRÜHEN JAHRE hieß, oder auch LIEBESGOLD, ALPHA &
OMEGA, A & O, ALEXANDER & OTTOKAR, die einander in
mir begegnet sind.
Alle diese Titel habe ich tausendfach überlegt, durchdacht,
erwogen, mit ihnen gespielt & geflirtet, viele andere verworfen &
vergessen, doch am Ende, am Ende blieb nicht einmal der geliebte
der allererste, den ich das ganze Buch lang wie einen Tabernakel
vor mir her getragen, dem ich Räucherstäbchen für
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Räucherstäbchen geopfert habe, nämlich EWIGKEIT. Nicht
zuletzt, weil das Wort EWIGKEIT so schwer wiegt, so
unbegreiflich erscheint, so fern, so wahr ist und so unvorstellbar;
dann wurde es ein anderes altes, seltenes Wort, eines, welches der
EWIGKEIT sogar ein wenig nahe kommt, doch gleichzeitig leicht
ist, nicht eisern, nicht bleiern, sondern fedrig, gewichtlos beinah,
ein Wörtchen nur im Vergleich zum Gewicht des Wortes
EWIGKEIT, doch auch eines, welches nah am Herzen liegt, sanft
& still & weich, leise klingend: GLÜCKSELIGKEIT. Doch selbst
davon musste ich mich eines Tages trennen.
Schwer ist es mir gefallen, mich zu verabschieden vom großen,
übergroßen Titel EWIGKEIT, welcher mir Halt gegeben hat in
der nächtlichen Einsamkeit des Schreibens, ohne ihn wäre ich
hängengeblieben, hätte mich verfangen, verheddert, verlaufen, die
Orientierung verloren, denn EWIGKEIT bedeutet in die Sterne zu
schauen, einen Traum zu haben, sich von den Gewöhnlichkeiten
der Tage zu distanzieren, bedeutet die Sicherheit, nicht allein zu
sein, auf das Wesentliche zu achten, nicht kleinlich zu werden,
sondern mild & großzügig, versöhnlich & klar im Kopf wie im
Herzen zu bleiben. Und weil das eine zu schwer, das andere zu
leicht war, musste ich sie beide verwerfen.
DENN ICH DURFTE SEIN IHR KOSTBARER DIWAN, DIE
EWIGE SEHNSUCHT DES MANNES NACH DEN
GOLDENEN NÄCHTEN MIT DER FRAU, der dunkle, rasende
Rausch des Vergessens, der Wahnsinn orgiastischer Momente, das
Gefäß & das Maß für das Unermessliche des Männlichen in der
Welt.
Ob ich eine Bajadere, eine Huri, in einer Weise eine Frau also für
Stunden war oder eine Liebende, wer könnte es wissen, gewiss
war ich immer ein wenig von allem, ich weiß nur, dass ich geliebt
habe & geliebt worden bin, denn die Natur sieht dafür keine
Einteilung, keine Unterschiede vor.
Wenn dies Schuld sein soll, sein muss, ich nehme sie an, aber was
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wir taten & lebten, schien uns jenseits dieser Messbarkeiten, und
was wäre die Tilgung einer solchen Schuld gewesen?, einander
nicht mehr lieben zu dürfen, nicht in Worten, nicht in Briefen,
nicht in Augenblicken, nicht wie Mann & Frau zu sein?
Was für ein Gesetz wäre es, und wo stünde es geschrieben?
Die Liebe ist ohne Gesetz, sie steht nicht vor Gericht, sie darf
nicht auf ein kleinliches, alltägliches Maß gebracht werden; sie
hört auf, Liebe zu sein, wenn sie auf die Verhältnisse &
Bedürfnisse zurecht gestutzt wird, die Liebe sprengt in Wahrheit
jeden Rahmen, die Liebe ist größer als die Vernunft, die Liebe ist
größer als wir selbst.
Gewiss kann sie in dieser absoluten Form nicht allgemein
empfohlen werden, doch im einzelnen können sich dort & da
Menschen in besonderer Weise darauf einlassen.
So bin ich über all meinen nachtschweren Gedanken und
jahrelangen Erwägungen zu der Anschauung gelangt, dass
DIE LIEBE DIE SCHÖPFUNGSKRAFT GOTTES SEIN MUSS,
DAS WIRKLICH GÖTTLICHE IN DER WELT,
DAS EINZIGE – OHNE MASS.
Dies ist der nun letztlich ausgewählte meiner vielen Anfänge, ein
erster Einblick, eine Skizzierung des Ganzen, ein Präludium, ein
Weniges nur von allem und doch bereits alles beinhaltend,
geschrieben mit der ganzen Verzweiflung & Euphorie, die sich in
mir nur ab & zu die Waage hielten, der Hoffnung zugleich im
Schreiben Ruhe zu finden, Lösung & Erlösung (Absolution &
Solution: die Initialen von Alexander Sommerfeld).
Voll & übervoll waren meine handgeschriebenen Notizen über die
Jahre, welche, als ich zu schreiben begann, beinah vorüber waren,
Notizen in gewöhnlichen & ungewöhnlichen Worten, manches
erkannte ich erst jetzt, manches ahnte ich nur, anderes musste ich
erst im Schreiben finden.
Im ersten wie im letzten ist ja alles Biographie, jedes Wort, jeder
Satz sogar, zu etwas anderem sind wir nicht imstande, denn was
bedeutet schon die Sprache, wenn es uns nicht gelingt, was uns
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verbrennt, in Worte zu legen, auf weißes Papier zu schreiben, so
wie wir es müssen, wie wir es können, auf dass das Große wie das
Kleine nicht umsonst gewesen sei und am Ende neben- &
übereinanderstehend das ganze Bild ergibt.
Ich sehe für mich die beinahe heilige Pflicht, für das geschriebene
Wort zu leiden wie Glück zu empfinden, damit es auch wahrhaftig
sei.
Ein Wort ist ein Wort, einerlei welches, nur wir selbst geben ihm
Sinn & Bedeutung, auch kleine, scheinbar unbedeutende
Wörtchen wie: und, aber, oder, wenn, auch; sogar sie bringen das
Blatt zum Wenden, auch wenn sie allein für sich verloren stehen,
können sie doch verbinden oder trennen, Zweifel oder
Verzweiflung bringen, Krieg oder Frieden.
Wörter atmen ein & aus, sind lebendige Wesen, wenn wir sie
lassen. Sie tanzen & springen, singen & klingen, lieben & hassen,
sparen & prassen. Ich habe viele gebraucht, bin dankbar für jedes
einzelne, welches mir eingefallen ist, denn sie haben meinem Text
Feinheit & Rauheit gegeben, ihn aber auch zu einem zarten &
zärtlichen Werk werden lassen, gleich einem seidenen Vorhang,
der leicht im Sommerwind flattert und sich starr in der Kälte des
Winters verhält.
Es kommt auf die großen Spuren & Linien an, genauso wie auf
die grazilen Konturen und leisen Töne. Erst alles zusammen ergibt
das Ganze, so habe ich mich bemüht, das eine wie das andere zu
berücksichtigen.
Jede Geschichte, die wir schreiben, ist im letzten daher unsere
Geschichte, jede Liebesgeschichte die eigene Liebesgeschichte:
die, welche wir hatten, ersehnten, nie erlebt haben, doch unsere
Geschichte jedes Wort, in jedem Fall.
So ist ein Wort alles & nichts, je nachdem, ob wir es lieben oder
für gering erachten, gerade wie bei den Menschen, die groß &
bedeutend werden, wenn wir sie ehren & lieben, doch klein &
unsichtbar, wenn wir es nicht tun.
Was nun beginnt, ist mein erster Roman, die Geschichte eines
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Lebens, die Geschichte einer Liebe. Es wird über viele Menschen
erzählt werden, Menschen, die einander nicht gekannt haben und
Menschen, die einander gekannt haben, über verschiedene Zeiten
& Länder, verschiedene Schicksale, welche zuletzt miteinander
verwoben sind, verbunden & eins geworden, zusammengebracht
& aufgehoben durch mich.
Die kommenden Jahre, die mir hoffentlich gegeben sein werden,
will ich verbringen mit der Aufzeichnung einer Vergangenheit, die
noch andauert, nun, da ich beginne, sie aufzuschreiben.
Meine Freude gilt den weißen Seiten, die vor mir liegen, die ich
mit Leben & Erlebtem randvoll anfüllen darf, mit Flüchtigem &
Konkretem, mit Aufzeichnungen aller Art, manches werde ich
auslöschen, fallen lassen, anderes wieder aufheben & einflechten.
Kleinigkeiten werden plötzlich von Wichtigkeit sein, ursprünglich
für wichtig gehaltene Dinge vielleicht nicht mehr.
Von der Stimmung wird es abhängen, der Verfassung an jenem
Tag, in jener Nacht, von kleinen & allerkleinsten Dingen,
gesammelten Fragmenten, zahllosen Erinnerungen & Vergesslichkeiten sogar.
Am Ende wird vieles Zufall sein, wie es stehenbleibt, dennoch
werde ich über alles so rechtschaffen nachdenken wie möglich,
abwägen & überlegen und schließlich, schließlich wird es gut sein
müssen wie es mir geworden, vielleicht gelungen ist, ja, es wird
sogar gut sein müssen, wenn ich scheitern sollte, denn einmal
wird alles gleich & gleichgültig sein, weder Anfang noch Ende
haben, weder Zukunft noch Vergangenheit. Freude & Leid werden
eins sein, Endlichkeit & Unendlichkeit kein Widerspruch, sondern
ineinanderfließen, sich auflösen & verschwinden in der Tiefe des
Sternenhimmels, jenem letzten zentralen Bezugspunkt, den man
nicht oft genug ins Auge fassen kann, um seine Entscheidungen &
Einschätzungen richtig zu treffen.
Oft schreibt sich etwas von selbst, das Schreiben sozusagen
geschieht einem, man kann es gar nicht unterlassen, während
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anderes derweil verloren geht, nicht mehr aufscheint, einem nicht
behagt, denn wie ich an anderer Stelle einmal schrieb: das
Gedächtnis ist gedankenlos, ob es etwas aufhebt oder nicht &
warum, weiß niemand, es ist eben wie der weite Himmel über uns,
dort & da blinkt ein Licht, leuchtet etwas, entschwindet ein Stern,
taucht ein neuer auf während im selben Moment ein anderer
verglüht.
Möge mir also die Ausgewogenheit zwischen Fülle &
Sparsamkeit, zwischen Pracht & Schlichtheit gelingen & gelungen
sein.
***
I
Der Anfang
Als junge Diplomkrankenschwester hatte ich irgendwann im Jahr
1977 auf der Kinderintensivstation des größten Krankenhauses
des Landes Nachtdienst. Zufall oder Bestimmung? Gewiss beides
nicht, jedenfalls eine Art von Notfall.
Dennoch war etwas vorausgegangen, das man als eine Art Fügung
betrachten könnte, etwas, das so nicht gekommen wäre, hätte ich
nicht wenigstens eine Entscheidung selbst getroffen.
Ich sollte für eine Kollegin einspringen, die ziemlich knapp die
für uns alle äußerst ungenehme Neuigkeit, diese Nacht auf keinen
Fall arbeiten zu können, telefonisch durchgab.
Wie es ab & zu vorkam, hatte aber dieses Mal ein ausländischer
Arzt Dienst im Haus, doch nicht etwa eine dieser namenlosen,
gleichförmigen & ehrgeizigen Figuren in weißer Aufmachung,
sondern ein anspruchsvoller Forscher, ein Spezialist auf dem
Gebiet der Neonatologie (Neugeborenenlehre), der pränatalen
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Diagnostik, der Behandlung Frühgeborener und kranker
Neugeborener.
Er hatte einst, so hieß es, eine neue Beatmungstechnik erfunden,
eine, die im Prinzip keine aufwändigen, hoch entwickelten
Apparate erforderte. Gleichwohl war inzwischen diese Erfindung,
seine Idee also, bereits in die modernsten Maschinen wie auch
wir sie auf der Station hatten, integriert worden.
Als jemand, der jahrelang in den Tropen gearbeitet hatte, war es
ihm wichtig gewesen, eine Methode für die armen Länder zu
entwickeln, die in der Regel nicht über moderne & hypermoderne
Einrichtungen verfügen.
Zwar hat es bereits früh im zwanzigsten Jahrhundert Inkubatoren
oder Brutkästen, wie sie im Volksmund genannt wurden, gegeben,
auch wurde schon relativ früh Sauerstoff verabreicht, doch die
Frühgeborenenmedizin steckte zumindest im Europa der frühen
1970iger Jahre immer noch in den Kinderschuhen.
Es handelte sich dabei um etwas, das wohl in Ansätzen & Ideen in
medizinischen Zeitschriften publiziert & gelesen worden war,
doch selbst jene Ärzte, die sich damit befassten, dafür überhaupt
als Fachgebiet interessierten oder es als solches erkannten, waren
immer noch rar und einstweilen ziemlich auf sich allein gestellt.
Schon das Intubieren, das Einführen eines kleinen
Kunststoffschlauches in die Luftröhre des Säuglings, damit
beatmet werden konnte, brachte so gut wie jeden Arzt um seine
Nerven, in heftiges Schwitzen, wenn er sich überhaupt darüber
traute und nicht gleich um den Anästhesisten schicken ließ, der an
vergleichsweise riesige Geräte & Körpermaße gewöhnt, die
Intubation bei den winzigen Verhältnissen der Frühgeborenen
zwar meist routinierter & mutiger, aber auch nur mit viel Glück
mehr oder weniger rechtzeitig, das heißt, hoffentlich ohne
drohenden Hirnschaden des Kindes, über die Bühne brachte.
Natürlich standen sie bereits auf den Stationen herum, die teuren
Beatmungsmaschinen, welche all das Wissen & Können voraussetzten, das hier & jetzt noch nicht oder kaum vorhanden war,
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denn in Wahrheit fürchteten sich Ärzte & Schwestern vor ihnen,
und sie machten, solange und wann immer es ging, einen großen
Bogen um sie.
In diesem magischen Moment, da beinah alles noch in sich ruhte,
sich nur einige strebsamere, hauseigene Ärzte mehr oder weniger
privat &
hinterrücks informierten, im Vordergrund aber
argwöhnisch schwiegen, sich keinesfalls mit Kollegen berieten, ja
gleichgültig taten, sich nur ab & zu einer Oberschwester
gegenüber kryptisch äußerten, üblicherweise von ihr dafür
bewundern ließen, mit einer Wertschätzung umgeben, mit welcher
sie in Wirklichkeit nirgends rechnen durften, in diesem fast
statischen Moment also, da kam einer, ein Weitgereister auf dem
Gebiet der Medizin, ein richtiger Wissenschaftler, und es sah ganz
danach aus, als wollte er sich für länger einrichten, dies wurde
ihm jedenfalls unterstellt oder besser gesagt, so ging das Gerücht.
Dass er sich in der Kinderheilkunde mit etwas genauer
beschäftigte, hieß es, denn unser Chef, der Professor, habe ihn
eingeladen, aber auch nichts Richtiges gesagt, kaum was verlauten
lassen, sei es, dass dieses etwas auch ihm neu war oder er selber
in wissenschaftlichem Ehrgeiz Kapital aus dieser Einladung
schlagen wollte, oder ob er ihn einfach auf einem illustren
Kongress aufgegabelt hatte, um sich niveauvoll unterhalten zu
lassen. Dieses etwas jedenfalls, wie sich später herausstellte,
womit sich der Neue also beschäftigte, war das Spezialgebiet der
Beatmung von unreifen Neugeborenen.
Unser Professor, dem öfter mal etwas, das ihm geboten wurde, zu
niedrig, zu minder vorkam, war ohnehin nicht dafür bekannt,
Kollegen oder ihm unterstehenden Ärzten gegenüber, besonders
offen oder nachsichtig zu sein. Leicht konnte er das Interesse an
den Alltäglichkeiten des klinischen Betriebes verlieren, lieber
schaute er darüber hinweg, setzte bestenfalls einen gelangweilten
Blick auf, ließ sich nicht auf, für ihn erledigte Diskussionen, ein.
Wie oft hatte er sogar Stationsärzte, ausgebildete Fachärzte, die er
durchwegs für ungebildet hielt, lediglich medizinische Streber in
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ihnen sah, die seiner Meinung nach genauso gut etwas anderes
hätten studieren können, bloßgestellt! Herablassend angeredet wie
jene Assistenzärztin, die angeblich mit ‚summa cum laude’ ihr
Studium beendet hatte, was ständig von gewissen, offenbar von
ihr in diese intimen Geheimnisse eingeweihten & untertänigen
Schwestern flüsternd & ehrfurchtsvoll bei jeder passenden &
unpassenden Gelegenheit, falls es noch jemand nicht wissen
sollte, in einem Ton erzählt wurde, als handelte es sich um ein
unbekanntes Detail aus der Heiligen Schrift der Medizin. Freilich
reichte diese Tatsache, die so huldvoll kolportiert wurde, nur für
das höchste Ansehen in Schwesternkreisen, doch nicht darüber
hinaus, und schon gar nicht beeindruckte sie den Professor.
Wie er eben diese Ärztin eines Tages bei einer seiner Chefvisiten
aus heiterem Himmel, nachdem sie einen viertelstündigen Vortrag
über einen komplizierten Fall gehalten hatte, aufs Äußerste
demütigte. Die ihm auf eine Fangfrage seinerseits, eine ihrer &
anderer Meinung nach überkorrekte Antwort gab, er sie hingegen
mit seinem süffisantesten Lächeln konfrontierte und meinte:
Sehen Sie, hoch verehrte Frau Kollegin, die Anrede in diesem
Augenblick in diesem Zusammenhang schon so etwas wie eine
Frechheit, eine Anmaßung an & für sich, sehen Sie, Frau
Kollegin, wenn ich die Wahl hätte zwischen Ihnen und einer
Koryphäe, für wen glauben Sie, würde ich mich entscheiden?
Als er endlich gegangen war, brach sie weinend zusammen, denn
was der Professor schätzte, waren nicht Frauen wie sie, die mit
ihrer Arbeit voll & ganz ausgefüllt waren, sondern solche mit
Mut, Verstand, Leidenschaft, Leute, die etwas Außergewöhnliches
taten, über weitere Interessen und freie Kapazitäten verfügten,
vielleicht sogar ein Schicksal hatten.
Er wollte nicht nur Korrektheit & Können, was er für
selbstverständlich hielt, sondern bewunderte Kolleginnen von der
Sorte, die, obwohl er ihnen alles abverlangte, die Welt
umsegelten, Ärztinnen, die einen Stall voller Kinder zu Hause
hatten, zwanzig Katzen oder dreizehn Hunde, etwas der
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außergewöhnlichen Art eben und wie quasi nebenbei auf
Herzchirurgie spezialisiert waren, in den Ferien archäologische
Reisen unternahmen oder sich für Paläontologie interessierten,
dringend & plötzlich unter der Woche frei haben mussten, um in
eine Höhle zu steigen, wo es Hinweise auf dieses oder jenes
Erdzeitalter gab, die Kunst sammelten oder selber malten,
Ausstellungen bestückten, diesbezüglich in der Zeitung standen
oder sich mit gewissen Plastiken der Antike auskannten.
Mit anderen Worten, er mochte nicht die durchschnittliche
Vorzugsschülerin, sondern die Kollegin, die aussah wie eine Tussi,
in der Früh eine Handtasche voller Lippenstifte anschleppte,
nachts mit Lockenwicklern den Dienst versah, während der Visite
in ihrem Handspiegel den Lidschatten begutachtete, über ihre
neuen Stöckelschuhe jammerte und immer noch im Stande war,
eine unversehens an sie gerichtete Frage ordentlich zu
beantworten, obwohl sie soeben Chinesisch oder Suaheli
inskribiert hatte und in Aussicht stellte, in Zukunft bitteschön,
nicht mehr so oft Nachtdienst machen zu können, da sie ja bald
Prüfungen habe und irgendein völlig unbekanntes &
unaussprechliches Werk übersetzen müsse.
In dieses vergiftete, neidische, oft genug niederträchtige Milieu
schneite nun einer, dem nichts ferner lag als Personalintrigen,
gegenseitige Beleidigungen, Verschmähungen, Anmaßungen.
Wie Parzival bewegte er sich völlig unbehelligt, ja ahnungslos
zwischen allen, von überall & jedem wehten ihm Freundlichkeit,
Unterwürfigkeit, Wohlwollen, Neugierde entgegen. Sogar, wenn
er nicht einmal zu sehen war, wurde über ihn respektvoll &
geheimnisvoll geredet.
Als hätten sie auf ihn gewartet, fragten sie nur noch ihn,
vertrauten ihm alles an, ein jeder für sich war plötzlich die
höchstpersönliche Höflichkeit & Interessiertheit.
Zwar wusste ich nicht, wo die anderen all diese Dinge
herbekamen, wie sie über derart Unsichtbares Bescheid wissen
konnten, aber das war schon früher so gewesen, was die Spatzen
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vom Dach zwitscherten, blieb mir verborgen, hingegen sah ich,
was andere nicht bemerkten.
Ich begriff & erfuhr die Sachen erst, als alle es längst und noch
viel genauer wussten oder gar bereits ad acta gelegt hatten.
Gesehen war er worden, eingeladen gewesen mit einem Schwarm
von Ärzten bei einem Frühstück auf der Station, einige
Schwesternkolleginnen hatten die Ehre und das Glück zugleich
gehabt, zugegen zu sein, einen Blick auf ihn zu werfen, wieder
andere hatten seine Stimme am Telefon gehört, wussten dafür
sonst nichts, jedenfalls nichts Näheres, und so hatte alles
zwischen Gerüchten & Vermutungen, Behauptungen und mehr
oder weniger schlüssigen Kombinationen, was die Person von
Professor Sommerfeld betraf, angefangen.
Unnahbar & arrogant war er wiederum anderen Schwestern
erschienen, sie lehnten es glattweg ab, mit diesem Arzt Dienst zu
machen, ihm ausgeliefert zu sein, womöglich ungeahnten
Anforderungen gegenüber zu stehen, ihn hinten & vorne zu
bedienen, doch das sagten sie nur unter sich, ihm gegenüber gaben
sie sich geschmeidig, bewundernd, bescheiden, nett wie es netter
nicht denkbar wäre.
Die Frage, ob er, der aus Schweden kam, überhaupt Deutsch
verstand oder gar Englisch oder Französisch verlangte, wunderte
mich später, denn er beherrschte die deutsche Sprache ziemlich
gut.
Seine feine Aussprache von ST & SP amüsierte mich bereits bei
der ersten Begegnung, vor allem aber, was niemand zu bemerken
schien, beeindruckte mich sein schöner, fast königlicher Name:
Alexander Sommerfeld. Dieser flößte mir Vertrauen ein, klang
nach Freude & Glück im hohen Gras, projizierte ein helles,
sonniges Bild an die verkabelten & sterilen Wände der Station,
brachte mit einem Mal wogende Ähren, blaue Kornblumen, roten
Mohn, Heu & Grashüpfer in die angespannte Atmosphäre des
Krankenhausbetriebes.
Wie konnte ich überhaupt damals an so etwas denken? Was ging
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er mich an?
Auch wenn es noch lange nicht so weit war, dass ich ihm privat
begegnen sollte, ja, kein Gedanke daran existieren konnte, gefiel
mir doch der Klang seines Namens, als läge eine Ahnung darin,
eine Erinnerung, eine Sehnsucht. Vielleicht, so dachte ich später,
weil ich auf Feldern & Wiesen aufgewachsen war, damit meine
glücklichsten Kinderjahre verband? Und doch war es für den
Augenblick nur ein schönes Wort gewesen, das zufällig ein
Familienname war, mich plötzlich an etwas Vergangenes denken
ließ, nichts Persönliches also, das ich tatsächlich mit ihm
gemeinsam hatte, denn bisher kannte ich niemanden dieses
Namens, was eigentlich seltsam war.
Zunächst aber ging er nur tagsüber bei den Visiten mit, keine
Rede von einem Dienst ganz allein im Haus oder gar nachts über
zwölf oder vierundzwanzig Stunden.
Ich hatte zufällig jedes Mal frei gehabt, wenn er gekommen war,
sodass ich ihn das erste Mal in der Stresssituation einer
turbulenten Nacht zu sehen bekam.
Im Augenblick aber will ich zurückgehen in die ferne Zeit, über
die er mir erst anderthalb Jahrzehnte später erzählen wird, die er
selbst nur vom Hörensagen kannte und doch in vielen Episoden &
Geschichten, so lebendig heraufbeschwor.
***
II
Woher sie kamen:
Die ganz alten Sommerfelds
Verschiedener hätten die Lebensläufe von uns beiden nicht sein
können, unterschiedlicher nicht unser Werdegang, denn ganze
zwanzig Jahre lagen zwischen uns, entscheidende Jahre, die uns
trennten wie verbanden, aber auch eine Entfernung, die irgendwo
17
zwischen tausend & zweitausend Kilometern lag und vor allem
eine gesellschaftliche Unterschiedlichkeit wie sie größer nicht sein
könnte.
Beginnen wir im Jahr 1935, als Alexander im südschwedischen
Växjö unter dramatischen Umständen zur Welt kam, zu einem
Zeitpunkt, als meine Mutter nicht einmal zwei Jahre alt war.
Später sollte ich mich wundern, dass sie nur zwei Jahre älter war
als mein Geliebter.
In einer Winternacht des Jahres 1995, am Tag seines sechzigsten
Geburtstages wird mir Alexander Sommerfeld in seinem Haus in
Stockholm die folgende Geschichte erzählen:
Sein
Vater
Alexander
war
der
jüngere
Sohn
deutsch-schwedisch-jüdischer Eltern gewesen, nicht das einzige
Kind also, er hatte noch einen Bruder gehabt, der wenig älter war
als er, sich aber als junger Mann von der Familie distanziert und
als Anwalt & Junggeselle in Göteborg gelebt hatte.
Die Mutter, Alexanders Großmutter Hilda, eine geborene
Weizmann aus Hamburg - Bankiers seit alters her - unermesslich
reich, sodass sie, wie es häufig vorkam, in einem zwar toleranten
aber familiär & emotional unterkühltem Elternhaus aufwuchs.
Ihre eigentlichen Erzieher waren die Dienstboten gewesen,
englische & französische Gouvernanten, aber auch Stallburschen
& Droschkenkutscher, Köchinnen, Mamsellen aller Art &
Herkunft. Man verfügte über Personal von großer Zahl wie es
damals in den vornehmen Häusern gang & gäbe war.
Ihre Eltern hielten große Gesellschaften ab, etwas, das im
neunzehnten Jahrhundert in höheren Kreisen durchaus üblich war;
es wurde getanzt, musiziert, studiert, gelesen, gereist. Man
sammelte große & teure Bilder, Statuen sogar, ließ sich malen,
bewegte sich in abgehobenen Zirkeln, erging sich in elitären
Diskussionen über Kunst & Philosophie.
Die Kinder wuchsen wohl luxuriös, doch einsam und abgesondert
von anderen heran, ohne die geringste Ahnung von gewöhnlichen
18
Verhältnissen, Hilda und ihre drei Schwestern, Lea, Liltih & Leila.
Ruben Sommerfeld, Alexanders Großvater väterlicherseits war in
jungen Jahren ein umschwärmter Dandy gewesen, einziger
Spross eines weltbekannten schwedischen Handelshauses, hatte
aufgrund des ungeheuren Reichtums seines Vaters alles Mögliche
studiert, Hauslehrer in Anspruch genommen, Professoren &
Tutoren beschäftigt, die Welt bereist, war in Indien & Japan
gewesen.
Später musste er das elterliche Imperium übernehmen, was ihn
nicht weiter absorbierte, denn dafür gab es Angestellte, Verwalter,
Leute, die das Metier beherrschten, die eingearbeitet und froh
waren, wenn sie Arbeit hatten. Sein Leben änderte sich aufgrund
der Betriebsübernahme nur insofern, als er sich just um dieselbe
Zeit in eine der besten Partien weit & breit, verliebte.
In keine Geringere als die schöne Hilda Weizmann aus jener alten
Hamburger Bankiersfamilie, welche mindestens ebenso berühmt
war wie die Sommerfelds, die im großen Stil Überseegeschäfte
betrieben, wohl auch an gewissen Punkten miteinander zu tun
gehabt hatten, sich also Hilda angelte, sozusagen einen dicken
Walfisch an Land zog, die Meerjungfrau persönlich gefangen
nahm oder wie immer er jenen Vorgang später in seinen
theatralischen, oft seemännischen Ausdrücken beschrieb, wozu
andere Leute einfach ‚Heiraten‘ gesagt hätten.
Trotzdem war es nicht im geringsten eine Vernunftehe, sondern
gleichzeitig seine große Liebe, worauf er sich etwas zugute hielt,
denn nichts schien ihm weniger nötig als nach einer reichen Frau
Ausschau zu halten, womit er sogar recht hatte.
Hilda war ein temperamentvolles, gebildetes Mädchen, extrem
verwöhnt, anspruchsvoll, musikalisch, Mittelpunkt jeder
Dinnerparty, jedes Balls, zusammen mit ihren drei ebenso schönen
wie interessanten Schwestern.
Wo sie aufkreuzten, hielt man den Atem an, war gefesselt von
ihrem Äußeren, ihrem Betragen, ihrer Gewandtheit, ihrem
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Liebreiz.
Hilda war eine besonders begabte Pianistin, und wenn es darauf
ankam, konnte sie einem beliebigen Musikanten die Violine
abnehmen und wie der Teufel selber darauf spielen.
Ihre drei Schwestern heirateten Deutsche, hatten Kinder &
Enkelkinder, die später entweder auswanderten oder deportiert &
ermordet wurden.
Hildas Glück war Ruben Sommerfeld, der ein Auge auf sie
geworfen hatte, sie nach Schweden holte und in seiner überaus
charmanten & außergewöhnlichen Art zur Frau nahm.
Die frühen Jahre ihrer Ehe lebten sie abgehoben von Politik &
Wirklichkeit, gingen auf Reisen, weilten oft Jahre im Ausland,
vergnügten sich in Paris, in Wien, in Budapest, in Sankt
Petersburg, verkehrten in der europäischen Aristokratie &
Bourgeoisie, gingen in den besten Häusern ein & aus.
Als Hilda schwanger wurde, kehrten sie zurück in ihre Heimat,
wurden sesshaft, bauten sich eine Villa, hatten bald
Sommerhäuser an schönen Orten, verfügten über Personal und
jede nur denkbare Annehmlichkeit, jede Einzelheit aus ihrem
Leben klang nach einem Märchen.
Den Knaben, der im Sommer 1890 zur Welt kam, nannten sie
Ariel, seinen Bruder, der 1895 geboren wurde - Alexander.
Beide Söhne schlugen scheinbar vollkommen aus der Art, denn
sie waren stille Kinder, nachdenklich, versonnen, verträumt.
Alexander sollte der Vater des späteren Nobelpreisträgers für
Medizin, Alexander Sommerfeld, werden, während Ariel ein
kurzes tragisches Leben bestimmt war.
Er verliebte sich später in die einzige Tochter einer Witwe, die im
Hause Sommerfeld diente, dort die Wäsche wusch & bügelte.
Niemand kannte sie anders als mit vollen Körben schmutziger
oder vollen Körben sauberer Wäsche den oft vereisten Weg zur
oder von der Villa zurücklegend, rutschend im Winter, eiligen
Schrittes im Sommer.
Mehr als einmal war sie hingefallen, hatte sich Beine & Hände
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gebrochen, war wochenlang danieder gelegen.
Dann schickte sie ihr kleines Mädchen zur Herrschaft, diese um
Verständnis bittend, mit unbeholfenen Briefen, sie später um
Himmels Willen wieder zu nehmen, nicht fallen & ersetzen zu
lassen, ein Hilferuf der besonderen Art, ein leises Ersuchen um
Geld, denn wovon hätte sie mit dem Kind denn leben sollen in
einer Gegend, wo es für arme Leute wie sie, nichts anderes gab als
für die Reichen zu arbeiten oder sich als Bauernmagd zu
verdingen.
Im Hause Sommerfeld zeigte man indes wohlwollendes
Verständnis, verfügte über genug Geld, um derweil ein anderes
Weib zu beschäftigen und gleichzeitig Amalie mit Anhang zu
bezahlen.
Großzügigkeit war in der Regel keine Tugend der Handelsherren
des Nordens, was das Geben von Almosen betraf schon gar nicht;
ihr meist enormer Reichtum hatte oft nicht zuletzt damit zu tun.
Nicht so bei Sommerfelds, vielleicht auch, weil so viel von allem
vorhanden war, dass ein bisschen mehr oder weniger keiner
Menschenseele dieses Hauses aufgefallen wäre.
Ariel & Ilse, die Tochter der Witwe, wurden später ein Pärchen,
das sich heimlich traf. Als er zuerst nach Uppsala, später nach
Stockholm studieren ging, schrieben sie sich lange & innige
Briefe.
Ilse verließ früh die Schule und übernahm langsam dieselben
Arbeiten wie ihre Mutter, wusch bei fremden Leuten die Wäsche,
putzte die Salons, half in den herrschaftlichen Küchen, sprang,
wenn ihre Mutter krank war, bei Sommerfelds ein.
Ihre Affäre mit dem jungen Sommerfeld blieb niemandem
verborgen, dennoch taten die Eltern Ariels so, als wäre & könnte
nichts geschehen.
Das Mädchen durfte bei Abendgesellschaften bedienen, wurde
von der Hausherrin entsprechend eingeführt & erzogen, hatte aber,
wie es sich für Leute niederer Herkunft gehörte, die Augen
gesenkt zu halten.
21
Frau Hilda Sommerfeld-Weizmann wusste ganz genau über die
Zuneigung ihres Sohnes zu Ilse Bescheid, hielt es aber für nichts
Außergewöhnliches, dass Söhne aus guten & betuchten Häusern
sich mit Mädchen aus dem Volk vergnügten.
Ob er dann & wann in Bordelle ging oder lieber unschuldige
Fräulein bevorzugte, war ihr ziemlich einerlei.
Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass es auch anders
sein könnte und ihr Sohn womöglich so naiv oder ehrlich war,
eine ungebildete Landpomeranze ernst zu nehmen, oder gar so
weit gehen könnte, eine spätere Heirat in Betracht zu ziehen.
Sie gab sich sorglos ihren Vergnügungen hin, ging auf Reisen,
kaufte sich Pferde & Hunde, veranstaltete große & kleine
Bankette, musizierte, tanzte, gönnte sich jeden Luxus.
Sie besaß das erste Automobil in der Gegend, das sie bald selber
steuerte.
Das Bild wie Hilda mit einem Wagen voller Freundinnen
herumkurvte, war bekannt in ganz Smaland & Gotaland, zwischen
Södermanland & Schonen. Chauffeure gehörten nicht zu den
Bediensteten, die sie brauchte, auch wenn ihr selbstverständlich
einer zur Verfügung stand.
Später wurde sie dreister, fuhr sogar hinauf in den Norden an die
schwedisch-finnische Grenze, war nicht selten ganz allein
unterwegs.
Sie liebte das Autofahren genau wie das Reiten, das Klavierspiel,
ihre Gesellschaften, genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, Herrin
zu sein über Familie & Personal, über Hunde & Pferde.
Ruben trug sie auf Händen, denn nie leistete sie sich auch nur
einen Seitenblick auf andere Männer, ihre zahlreichen
Bewunderer. Sie ließ sich von ihnen beim Tanz führen,
oberflächlich unterhalten, mit Komplimenten versehen, ja
anbeten, doch keiner wäre ihr einen Fehltritt wert gewesen.
Nachdem sie Ruben zwei Söhne geboren hatte, verlor sie jedes
Interesse an Sex, was übrigens gar nicht so selten vorkam, ging
vollkommen in ihren familiären & gesellschaftlichen Pflichten &
22
Freuden auf.
Sie wurde nicht wie andere von Jahr zu Jahr runzliger, vergrämter,
kränklicher, langsamer, sondern blühte auf, war quicklebendig wie
ein junges Reh, noch als sie längst über die fünfzig hinausging.
Später sollte Alexanders Vater oft von seiner Mutter erzählen, die
trotz allem viel zu früh gestorben war, ums Leben gekommen bei
einem spektakulären Autounfall irgendwo zwischen Sundsvall &
Grnsköldsvik.
Damals, als es noch kaum nennenswerte Straßen gab, war sie in
den Sund gestürzt, im Bottnischen Meerbusen der Ostsee mit
ihrem Wagen versunken.
Das war im Jahr 1933 gewesen, als ihre drei Schwestern mit ihren
Familien in Deutschland schon nicht mehr in Sicherheit lebten,
der Nationalsozialismus die Zeit seiner Morgendämmerung hinter
sich gelassen und Adolf Hitler bereits die Macht übernommen
hatte.
Als
Ariel
Sommerfeld
1918
sein
Studium
der
Rechts-wissenschaften abgeschlossen hatte, kehrte er, wie einst
versprochen, zurück nach Haus, um sich weiterhin, wenn auch
noch immer heimlich, mit dem Wäschermädchen zu treffen.
Während der Zeit seiner Abwesenheit hatte sie mit ihrer Mutter,
später auch allein, für die Sommerfelds gearbeitet.
Auch wenn er in den Ferien immer wieder daheim gewesen war,
ihr, wie früher den Hof gemacht hatte, so hätte sie doch nicht
gedacht, dass er sein Versprechen wahr machen würde und
ernstlich erwäge, sie zu ehelichen.
Zwar hatte er bestimmt in Stockholm, in Uppsala und teilweise im
Ausland Erfahrungen, auch auf dem Gebiet der Sexualität,
gesammelt, doch sah er darin wohl keinen Zusammenhang mit
Ilse.
Er wartete wie früher im Garten auf sie, damit er sie abfing, wenn
sie sein Elternhaus verließ, oft spät am Abend, nachdem die Gäste
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fort waren, die Herrschaft zu Bett gegangen war oder sich vor
dem Kamin niedergelassen hatte, um sich noch kurz oder
unendlich lang bei Wein & Zigarren über den vergangenen Abend
zu unterhalten.
Gerne behielten sie Ilse noch bei sich, damit sie sich um das Feuer
kümmerte, die Gläser nachschenkte, um dieses & jenes geschickt
werden konnte.
Du kannst morgen daheim bleiben, Ilse, pflegte etwa die Hausfrau
zu sagen, geh’ und brüh’ uns noch einen Tee auf und decke den
Frühstückstisch in der Orangerie!
Und Ilse, vergiss nicht, uns die Decken zu bringen, der Herr friert
sonst!
Bitte sehr, gnädige Frau.
Ariel stieg derweil vor dem Fenster von einem Bein aufs andere,
trat beiläufig in den Salon und bemängelte die Arbeitszeiten von
Bediensteten.
Es ist durchaus nicht einfach erlaubt, schlichtweg ungesetzlich,
Nachtarbeit nach der Tagesarbeit durch ein- und dieselbe Person
verrichten zu lassen!
Natürlich mein Junge, wie recht du wieder hast, du bist ja
schließlich Rechtsgelehrter, es ist dein Beruf und dein Pläsier, sich
damit zu beschäftigen, wir, dein alter Vater & ich, sind, Gott weiß
es, deswegen ja so stolz auf dich – nicht nur deswegen, nein,
überhaupt und als ganzes!
Mamaaaaaaa, lass’ Ilse endlich gehen, sie ist müde, schon den
ganzen Tag auf den Füßen!
Ilse, bist du müde, weil du den ganzen Tag auf den Füßen bist?
24
Nein, gnädige Frau, ganz bestimmt nicht!
Hilda, lass’ sie gehen, wir können uns schließlich selbst
einschenken!, lenkte ihr Mann ein, bedenke doch, was Ariel
gesagt hat, er hat recht, er ist gescheit und in das Mädchen
verliebt, lass sie noch ein wenig bussieren, darum wird’s wohl
gehen, wir waren ja auch einmal jung, meine Liebe!
Ah, willst du mich belehren & beschuldigen in einem?
Nein, wie käme ich dazu, .......... die sozialistischen Ideen, über die
jetzt überall geredet wird, spuken ihm halt im Kopf herum!
Nun gut, geh heim, Ilse, und du, Ariel, bleibst da!
Hilda, er ist fast dreißig!
Na, und, deswegen kann er genau so dumm sein wie ein junger
Spund!
Ariel folgt Ilse in die Küche, hilft ihr noch den Tee servieren,
verabschiedet sich von seinen Eltern und verlässt mit ihr das
Haus.
Weil es nicht weit nach Mittsommer ist, lieben sie sich im Gras
des Obstgartens, wie schon früher.
Ariel, ich habe Angst!
Du hast immer Angst, mein Mädchen, warum?
Dass ich schwanger werde, was sonst?
Na und, was ist so schlimm daran, so heiraten wir endlich und
aus, meine Mutter kann sich dann nicht mehr anstellen und
aufregen, wir werden ein eigenes Haus haben und eigene Kinder,
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die dasselbe tun werden wie wir, wenn sie alt genug dafür sind!
Und wovon sollen wir leben, dass ich bei deinen Eltern putze und
bediene?
Ich werde in Göteborg eine Anwaltskanzlei aufbauen und dich zu
mir holen........... !
So ging es den ganzen kurzen schwedischen Sommer, im Herbst
kehrte Ariel nach Göteborg zurück, um seine Praxis in Sachen
Recht fortzusetzen.
Im ausgehenden Winter dann erhielt er einen rätselhaften Brief
von Ilses Mutter. Sofort fuhr er nach Hause.
Mit seinem jüngeren Bruder Alexander besuchte er die alte Frau,
die an der Gicht litt und die meiste Zeit daniederlag.
Obwohl das Häuschen nicht weit vom Anwesen der Sommerfelds
entfernt lag, war Alexander noch nie dort gewesen. Eine
bescheidene Behausung zwar, doch geschmackvoll & sauber. Die
Brüder fühlten sich wie in einem Märchen, als sie die Hütte
betraten, denn nichts anderes war es für sie.
Ein Bett, eine Bettbank, gestampfter Boden, ein Tisch, zwei
Stühle, Eiseskälte.
Ilses Mutter saß mit erloschenem Blick beim Fenster und traute
ihren Augen nicht, weil gleich zwei Sommerfelds bei der Tür
hereinkamen.
Ilse lebte nicht mehr, war begraben worden nach der Jahreswende.
Sie hatte einen Brief zurückgelassen an Ariel, in dem sie ihm ihre
Schwangerschaft mitteilte.
Jetzt nahm er ihn zitternd entgegen, las & las, ohne etwas zu
verstehen.
Mein allerliebster Ariel!
Wenn Du diese Zeilen lesen wirst, werde ich nicht mehr am Leben
26
sein. Ich sehe keinen anderen Ausweg. Deine Mutter hat mir zu
verstehen gegeben, dass wir beide nicht heiraten können und ein
Kind gewiss nicht der Grund dafür sein kann, Deine Zukunft zu
zerstören. Nun ist es doch so gekommen, wie ich immer gefürchtet
habe, Du bist eben aus einem feinen Haus und ich nur eine Magd.
Ich weiß, dass Du anders bist, aber Du gehörst zu Deiner Familie.
Das Kind nehme ich mit, es soll nicht so aufwachsen wie ich. Wir
werden immer über Dich wachen und bei Dir sein. Denk an mich,
wenn Du glücklich bist. Leb wohl, in ewiger Liebe, Deine Ilse.
In ihrer Verzweiflung hatte sie es seiner Mutter erzählt, die ihr
sogleich klar gemacht hatte, dass sie aus ihren Augen und ihrer
Familie zu verschwinden habe, weil es ein Mädchen wie sie nicht
für einen ihrer Söhne geben werde. Sie solle es nicht persönlich
nehmen, denn es sei ein rein gesellschaftliches Problem, das auch
eine Frau Sommerfeld nicht lösen könne.
Diesen Brief nun überreichte Amalie Ariel, eine Szene, die
Alexander später seinem Sohn Alexander nicht nur einmal
erzählen sollte.
Auch Ariel überlebte das Jahr nicht, er erschoss sich kurz darauf.
Es lag nun ein schwerer Schatten auch über dem Hause
Sommerfeld, das erste Leid überhaupt.
Wie ernst Ariel es gemeint hatte, bewies er mit seinem Tod, auch
für ihn gab es keinen anderen Ausweg mehr. Er hatte sie begehrt,
nicht auf ihr Flehen, ihre Angst Rücksicht genommen, ihren Leib
wieder & wieder begehrt, in Übermut & Lust genossen, keine
Vorstellung davon besessen, was er anrichtete.
Er hatte keine Dünkel, wollte nur dieses Mädchen haben, das er
liebte, das ihn liebte und nicht eins, das er aus wirtschaftlichen
oder gesellschaftlichen Gründen nehmen & heiraten sollte.
Alexander erinnerte sich, als kleiner Junge mit seinem Vater,
Ariels Bruder, einmal bei einer sehr betagten Frau gewesen zu
sein, welcher sein Vater ein dickes Kuvert mit Geldscheinen
27
überreicht hatte.
Später erfuhr er, dass sein Vater regelmäßig einen größeren Betrag
an eben jene Frau schickte.
Alexander war beeindruckt von der Alten, die ihnen Kekse & Tee
servierte, ihm über den Kopf strich, nach seinem Befinden fragte.
Beide Fotos, eins von Ilse, eins von Ariel standen bei ihr auf der
Kredenz, sie waren mit grünen Blättern umkränzt.
Sie wären ein schönes Paar gewesen, meine Ilse und Euer Ariel,
aber es hat nicht sein dürfen, es war ihnen und mir diese Freude
nicht gegönnt.
Ilse ist ins Wasser gegangen, sie hat ja oft am Bach die Wäsche
gewaschen, und eines Tages ist sie nicht mehr heimgekommen.
Viel später haben fremde Menschen ihre Leiche gebracht. Nicht
einmal ich habe sie wieder erkannt. Nur die Kleider waren ihre,
die blonden Haare, die genau so schön waren wie Ariels schwarze
Locken.
Dein Bruder war ein guter Junge, genau wie du, auch euer Vater
selig war ein feiner Herr, nur die Madam war anders, ein
verwöhntes reiches Mädchen, das nichts wusste von einfachen
Menschen und dass auch sie Gefühle haben.
Und wie geht es dir, Alexander, du hast einen Sohn wie ich sehe,
wer ist seine Mutter?
Meine Frau Rahel lebt nicht mehr, sie ist bei Alexanders Geburt
gestorben. Sie wollte, dass er meinen Namen trägt, falls es ein
Junge wird.
Oh, du armes Kind. Wer kümmert sich um dich, wenn dein Vater
unterwegs ist? Bestimmt hast du eine gute Kinderfrau und alles,
was du brauchst.
Nein, er lebt bei einer Pflegefamilie. Ich möchte, dass er bei
gewöhnlichen Menschen, verstehen Sie mich bitte nicht falsch,
aufwächst, nicht wie mein Bruder und ich. Er soll so etwas wie
28
eine Mutter haben, nicht in Heimen leben oder Internaten.
Und gefällt es Dir in Deiner Pflegefamilie?
Ja, schon, nein, nicht immer.
Hast du Heimweh nach deinem Papa?
Ja. Oft.
Alexander hatte das Gefühl, dieser Frau alles sagen zu dürfen, ja
über seine Fragen & Antworten auch seinem Vater etwas mitteilen
zu können.
War sie eine besondere Frau?, wandte sie sich an Alexander den
Älteren.
Oh ja, das war sie, die Tochter eines Rabbiners aus Smaland.
Das muss allerdings jemand ganz Besonderer sein, und wie hast
du sie gefunden?
Ich habe sie eines Tages gesehen, wie sie die Stufen zur
Universität hinauflief, sie sah anders aus als alle anderen, sie war
bescheiden gekleidet, fast wie ein Dienstmädchen.
Beide lachten. Auch der kleine Alexander lachte, seine Mutter ein
Dienstmädchen, das gefiel ihm, dabei hatte sie Deutsch &
Hebräisch studiert, später ihre Doktorarbeit über Goethe
geschrieben.
Und hast du sie leicht bekommen?
Nein, der Rabbiner wollte sie mir nicht geben, es gelang uns nur
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durch eine List, die sie selbst erfunden hat, denn er sagte: ich
gebe mein gescheites Rahele doch keinem ungebildeten
Pelzhändler!
Du bist doch kein ungebildeter Pelzhändler, ein Pelzhändler
vielleicht, aber du hast doch auch studiert, Wirtschaft, wenn ich es
recht verstanden habe.
Natürlich war ich ungebildet gegen sie und erst gegen ihn! Ich
verstehe vielleicht etwas von Pelzen, von Geld, von
Termingeschäften, von Spekulation, aber Rahel konnte die alten
Sprachen, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Deutsch, kannte
sich aus im Judentum, in der Philosophie. Ich kam mir daneben
vor wie der letzte Trottel.
Und sie soll ausgesehen haben wie unsereins, wie ein
Dienstmädchen?
Genauso war’s! Aber nach & nach habe ich sie mir hergerichtet,
sie neu gekleidet. Immer wenn ich aus dem Norden zurück nach
Stockholm kam, führten wir ein flottes Leben, gingen in feine
Restaurants, tanzen, spazieren, auf Reisen sogar, und bald sah sie
aus wie eine richtige Dame, wie eine Sommerfeld!
Ach, Alexander, Du erinnerst mich so sehr an Ariel, der auch aus
meiner Tochter einen ganz andren Menschen gemacht hat, sie auf
Händen trug, sie vieles lehrte, was unsereins nie zu hören oder zu
sehen bekommt. Er kannte keine Unterschiede zwischen den
Leuten, er behandelte alle gut, war immer freundlich.
Er hat bei mir, als ihr noch Kinder ward, einmal sogar Spiegeleier
gegessen, aus unserer uralten einzigen Eisenpfanne, einmal ist er
sogar hier über Nacht geblieben, seine Mutter hatte Gesellschaft
bei sich, ihr war es nicht aufgefallen, dass Ariel nicht daheim war,
verließ sich auf die Kindermädchen, die aber nicht alle gleich
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streng waren.
Auf jeden Fall hat Ariel sie alle herumgekriegt. Wenn wir, Ilse &
ich, ihn baten, von zu Hause zu erzählen, sagte er nur, ach, das ist
viel zu langweilig, bei reichen Leuten ist es nichts außer das! So
ein Schlingel!
Als sie fort gingen und Ilses Mutter weinte, sagte Alexanders
Vater: Wir sind beide traurig, denn wie Ihnen Ariel Ihre Tochter
genommen hat, hat Ihre Tochter mir meinen Bruder genommen.
Hätten sie einander nie getroffen, hätten wir sie nicht verloren!
So was darfst du nicht sagen! Es hat alles so sein müssen. Als sie
noch lebten, waren sie glücklich. Hätten sie einander nicht
getroffen, hätte es diese seltene Liebe zwischen einem reichen
jungen Herrn und einer Magd nie gegeben.
Seither weiß ich, dass es die Liebe wirklich gibt und nicht nur im
Theater, im Märchen.
Ich wusste, es würde eines Tages traurig enden, aber ich konnte
sie nicht abhalten, wollte es auch nicht. Es war eine unschuldige
reine Kinderliebe. Sie haben zusammen gehört, schon, als sie
noch ganz klein waren. Ariel hat sich nicht um die von seinem
Stand gekümmert, kam immer gerne, vielleicht am liebsten zu uns.
Er hat sogar oft was zu essen mitgehabt. Er war ein Kind, das
alles begriffen hat.
Sein glasklarer Verstand und sein gutes Herz haben unsere
Bescheidenheit mit eurem Überfluss in Zusammenhang gebracht.
Von dieser Idee ist er ja nicht mehr abgekommen.
Er soll sich in Stockholm um die Arbeitergesetzgebung gekümmert
haben.
Und dieser außergewöhnliche Mensch hat meine einzige Tochter
geliebt, und nicht nur sie ist dafür gestorben, sondern auch er.
Ja, Alexander, diese Geschichte, dieses Märchen ist die ganze
Freude meines Lebens, meines Alters, und irgendwo bin ich sogar
glücklich darin.
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Aber du bist genau so gut wie dein Bruder, du sorgst dich um
mich, du schickst mir Geld, kommst auf Besuch, bringst gar
deinen kleinen Jungen mit!
Sie sind der einzige Mensch, der noch lebt von denen, die Ariel
gekannt haben, so, wie er war, der einzige Mensch aus jener Zeit,
als sie noch alle da waren, meine Eltern, unsere Dienerschaft, alle
und alles, was es nicht mehr gibt …., so schnell ist alles
vergangen, glauben Sie mir, ich komme zurück zu Ihnen auch
meinetwegen, tue es auch für mich.
Gott sei Dank hast du so einen lieben kleinen Sohn. Aus ihm wird
bestimmt etwas Großes werden. Pass gut auf ihn auf, und du
Alexander, pass gut auf deinen Papa auf!
Ich habe Rahel verloren, und am Ende wird Alexander mich
verlieren, die Liebe ist ja eine Reihe von Verlusten, die Angst vor
der Zeit, die alles, auch die größten und schönsten Augenblicke,
vergehen macht, sogar dies, was uns nur für einen kleinen
Moment gehört.
Früher habe ich oft meine Mutter gefragt: Wann werde ich
erwachsen sein? Was ist das, Erwachsen zu sein?
Wissen Sie, was sie mir einmal geantwortet hat? Erwachsen bist
du, wenn Du weißt, dass das Schönste hinter Dir liegt, dass nichts
wieder kommt, nichts ein zweites Mal passiert, dass man
vorsichtig und aufmerksam sein muss mit allem, mit den
Menschen, den Dingen, den Ereignissen, Erwachsen zu sein,
bedeutet, zu verstehen, dass nichts von Dauer ist.
Der Bub wunderte sich über die Worte seines Vaters, der zwar
meistens ernster Stimmung war, aber doch keinen deprimierten
Eindruck auf ihn machte.
Als Alexander bereits selbst in Stockholm studierte, überwies er
manchmal im Auftrag seines Vaters, das Geld an Ilses Mutter.
32
***
III
Nachtdienst
&
Wie ich ihn kennenlernte
Ich erklärte mich also bereit, nachdem sich niemand meiner
Kolleginnen zutraute, mit diesem schwedischen Arzt Dienst zu
machen, in dieser und den darauf folgenden Nächten
einzuspringen, und das, obwohl es geheißen hatte, er würde, weil
er kein oder kaum Deutsch beherrsche, nachts nicht eingesetzt
werden.
Als ich die Station betrat, war alles wie immer. Dienstübergabe,
eiliges Aufbrechen der Abendschwestern, letzte Anweisungen
wurden gegeben, nichts Außergewöhnliches.
Dann wurde es still, die regelmäßigen Anschläge der
Beatmungsmaschinen waren auf der gesamten Station zu hören,
das beruhigende Ticken der Herztöne, auf den Monitoren gut
sichtbar die leuchtenden Amplituden.
Die gedämpfte Beleuchtung, die Kinder schliefen größtenteils
oder waren mit ihrer Atmung beschäftigt.
Blaues Licht im Operationssaal gegenüber, auch dort kein Betrieb,
der Tag war zu Ende gegangen, die fort gehenden Schwestern &
Ärzte ließen die Verantwortung zurück, legten sie ab, gingen
erleichterten Schrittes nach Hause.
Ich habe dieses Abschiednehmen, das mich als Nachtschwester
zurückließ, immer als das Schwerste empfunden, und doch nicht
nur, denn es hieß auch, dass man zwar nun für alles zuständig,
aber auch frei von aller Kontrolle war.
Es lagen zwölf Stunden vor mir, die alles bringen, mich
vollkommen fordern konnten, in Ratlosigkeit & Sorge stürzen, in
Nervosität & Verzweiflung, denn vielleicht gibt es keine zweiten
33
zwei Berufe, die in wenigen Stunden so viel Veränderung &
Verantwortung bereit halten wie die des Arztes und der
Krankenschwester.
Gute Nacht!
Schönen Nachtdienst!
Einen ruhigen Dienst!
Keine Aufnahme, keine Ausfahrt!
Danke, auch euch alles Gute und einen schönen, einen
geruhsamen Abend!
Bis morgen früh!
Ja, bis morgen!
Doch dieser, jeder Morgen lag vom Vorabend sehr weit weg,
unvorstellbar fern beinah in diesem Augenblick, und der Moment,
die soeben übernommene Verantwortung wieder ablegen &
übergeben zu dürfen, schien jetzt unmöglich.
Als nach der letzten Kollegin die schwere Tür mit der Aufschrift
NEONATOLOGISCHE INTENSIVSTATION
zugefallen war, blieb ich mit einer ganz jungen Schwester und
einer Stationsgehilfin zurück.
Diese beiden versorgten die weniger problematischen Kinder und
gingen mir, wenn es nötig war, in allem zur Hand, sterilisierten
die Instrumente, desinfizierten die Geräte, trugen die Windelkübel
aus, wickelten die Säuglinge, die bereits in kleinen Betten ohne
Sauerstoff lagen, fütterten & beobachteten sie, während ich im
Intensivraum mit bis zu sechs beatmeten oder intensiver
Betreuung bedürftiger Kinder in Inkubatoren, ganz alleine war.
Zu Beginn jener Nacht aber war es auch bei mir ruhig, was sich
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jedoch jede Minute ändern konnte.
Und wirklich, bereits gegen Mitternacht läutete das Telefon, eine
Aufnahme wurde angekündigt, nicht eine, die mit der Rettung
irgendwo aus dem Land geholt, sondern von der Frauenklinik des
Hauses herübergebracht werden sollte:
Wir haben hier ein ziemlich kleines Frühgeborenes, Kaiserschnitt,
schlechte Atemfrequenz, circa siebenhundert Gramm, der Dienst
habende Neonatologe ist bereits verständigt!
Die für eine Aufnahme auf einer Intensivstation üblichen
hektischen Angaben eben.
Für mich bedeutete dies, ohne die anderen winzigen Patienten aus
den Augen zu verlieren, eine neue Reanimation, das heißt eine
Wiederbelebung vorzubereiten:
Infusionsperfusoren (Geräte zum automatischen Infundieren von
Flüssigkeiten in die Blutbahn), Infusionsnadeln, Spritzen
herrichten,
Medikamente
aus
Ampullen
aufziehen,
Nabelvenenkatheter, Nabelarterienkatheter, Intubationsbesteck
auflegen, Beleuchtung einstellen, Reanimationstisch decken, die
künstliche Beamtung vorbereiten, die Beatmungsmaschine
einsatzbereit machen, Absaugvorrichtung überprüfen, die
Schläuche in den Brutkasten legen, Sauerstoffzufuhr abklären.
Bereitlegen aller möglichen Konnektoren (Verbindungs- und
Zwischenstücke), Feuchtigkeit & Temperatur des Inkubators
überprüfen, Alkohol, Tupfer, Nabelklemme, Wattestäbchen,
sämtliches Notfallsbesteck, Handschuhe, möglichst alles
gleichzeitig, weiters EKG-Apparat, Monitor für Atem- &
Herzfrequenz einschalten, Temperatursonde, Transoxode für die
permanente transkutane Blutsauerstoffmessung kalibrieren, die
Benachrichtigung des Dienst habenden Turnusarztes zur
Blutabnahme sowie der Röntgenassistentin zum Durchleuchten
der Lunge. Alles genau vorgeschrieben, militärisch organisiert,
ohne Verzögerung, wie im Schlaf, tausendmal geprobt,
tausendmal gemacht und doch jedes Mal eine Premiere, denn nie
ist etwas gleich, immer gibt es Überraschungen, keine einzige
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Wiederbelebung verläuft wie die andere, alles kann geschehen,
und obwohl man es unzählige Male getan hat, gibt es Fehler,
Unvorhergesehenes.
Als ich all dieses veranlasst hatte, stand der Transportinkubator
bereits vor der Stationstür, mitgekommen war der Gynäkologe,
der den Kaiserschnitt gesetzt und die Erstversorgung des Kindes
durchgeführt hatte.
Die Atmung des kleinen Patienten - insuffizient, ebenso der Puls,
also das Herz, tiefe Einziehungen am Jugulum (Drosselgrübchen),
am Sternum (Brustbein), zwischen den Rippen, maximales
Arbeiten
der
Atemhilfsmuskulatur,
länger
werdende
Atemstillstandsphasen, schließlich Schnappatmung, dies der
Status quo.
Nach diesem ersten Blick auf die Situation wähle ich sofort die
Nummer des Neonatologen, der aber schon in der Tür steht.
Der neue Arzt wäscht sich am Waschbecken die Hände, während
er den kurzen gestressten Bericht des nervösen Gynäkologen über
den Zustand des Neugeborenen anhört, sich mit einer Verbeugung
bedankt und den Kollegen verabschiedet, welcher erleichtert mit
dem leeren Inkubator und der Hebamme den Lift besteigt.
Ich hatte das Frühgeborene nach der raschen Übernahme sofort in
einen vorgewärmten Stationsinkubator gelegt, abgesaugt, mit dem
Beutel und zusätzlichem Sauerstoff beatmet. Ganz langsam
beginnt sich das Kind unter der Bebeutelung etwas zu
konsolidieren, atmet angestrengt aber wieder selbst. Natürlich
wird es nicht lange durchhalten können.
In solchen Augenblicken sollte man möglichst alles in einer
einzigen Sekunde tun, so weiß ich heute nicht mehr, in welcher
Reihenfolge genau ich damals die nächsten Schritte setzte.
Gott sei Dank beginnt beim Kind unter meiner ersten Versorgung
eine gewisse Stabilisierung der vitalen Funktionen, jedoch nur
unregelmäßig und bereits wieder nachlassend.
Ohne künstliche Hilfe besteht keine Überlebenschance, nicht
einmal für den Rest dieser Nacht. Ich habe gerade die Temperatur
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gemessen und lege soeben die EKG-Elektroden an, als Doktor
Sommerfeld den Raum betritt, leicht in meine Richtung nickt und
mit bereits desinfizierten Händen von der anderen Seite des
Inkubators das Kind zur Untersuchung übernimmt.
Er intubiert sofort, was zu meinem Erstaunen unglaublich schnell
vor sich geht, kein Geschrei, keine Unsicherheit wie sonst,
sondern eine ruhige Handlung seitens des schwedischen Arztes,
der so gut wie keine Assistenz von mir fordert, nur fragt nach der
Temperatur, die Zacken auf dem Monitor mit seinen eigenen
Messungen überprüft, den Brustkorb des Babys abhorcht, den
Respirator einstellt, die Transoxode abliest, den Turnusarzt, der
mit der Nadel zur Blutabnahme bereit steht, einbremst und die
Entnahme auf später verschiebt, wenn das Kind sich erholt hat,
ebenso die Röntgenaufnahme.
Ich war äußerst unsicher gewesen, hatte ja angenommen & gehört,
der ausländische Arzt sei arrogant wie viele andere vor ihm,
dachte, dass er mich kaum oder gar nicht zur Kenntnis nehmen
würde, dennoch alles Mögliche verlangen könnte, es zu
Verständigungsschwierigkeiten käme und so weiter und so fort.
Nichts davon aber geschah, nicht einmal beim ersten Mal.
Trotz der erforderlichen Geschwindigkeit der lebensrettenden &
lebenserhaltenden Maßnahmen lief alles ruhig & freundlich ab.
Wie immer war man sich sehr nahe gekommen, denn der winzige
Körper eines Frühgeborenen, auch die Flächen, auf denen
gearbeitet wird, lassen kaum Abstand zu.
Nach einer intensiven halben Stunde sah ich ihn zum ersten Mal
wirklich & deutlich an, in einem Augenblick, als wir beide bereits
aufatmen konnten, das Schlimmste vorüber war, die Gefahr
gebannt & überwunden.
Ich danke Ihnen, Schwester!, sagte er in makellosem, aber sehr
langsamen Deutsch. Und es war mir, als sähe er etwas völlig
Befremdliches, ja Erschreckendes, denn seine Augen blieben auf
mir liegen, durchdrangen mich förmlich, sodass ich den Blick
senkte & abwandte und wahrscheinlich rot anlief, denn ich spürte
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eine plötzliche Hitze in meinem Gesicht.
Wie ist Ihr Name, Schwester?
Maria.
Hej, Maria. Ich heiße Alexander Sommerfeld.
Obwohl ich bereits wusste, wer er war, erschrak ich jetzt. Er, von
dem sie alle geredet hatten wie von einem Gott, stand leibhaftig
vor mir, mehr noch, er nahm Notiz von mir, stellte sich vor, fragte
nach meinem Namen sogar. Wie oft kam das schon vor? Anderen
Ärzten, den meisten, war es egal, wer ihnen assistierte, und selbst,
wenn sie das Schildchen, welches wir trugen, gelesen hätten,
hätten sie den Namen auf der Stelle vergessen.
Wie es oft geschah, konnte ich nichts von dem erkennen, was so
aufwändig wie verschieden erzählt worden war. Ich hatte einen
schwierigen Menschen erwartet, und gekommen war ein netter
Kerl, wenngleich ich damals nicht einmal in meinem Innersten
gewagt hätte, ihn so zu titulieren.
Die Verhältnisse zwischen Ärzten & Schwestern waren ohnehin
oft gespannt, gespreizt, diffizil, überladen, belastet, unklar.
Immer gab es eine Stationsschwester, eine Oberin, die das Sagen
hatte, sich in den Vordergrund spielte, im Hintergrund taktierte,
sich für etwas Besonderes hielt, sich überall dazwischen stellte, in
alles einmischte, darauf bedacht, eine junge Kollegin während der
Visite oder auch vor einem einzelnen Arzt zu belehren, nicht
selten zu blamieren, in den Schatten zu stellen, zu korrigieren,
anzufahren.
Es war sogar einerlei, ob sie anwesend war oder nicht, es
schwebte dauernd das Damoklesschwert der Vorgesetzten über
allen & allem, so auch über mir. Es war also nicht nur so gut wie
unmöglich zwischen Ärzten & Schwestern einen irgendwie
normalen Ton zu finden, sondern auch unter den Schwestern
selbst, wobei Aussehen & Alter eine große Rolle spielten.
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Dabei war es nicht einmal so, dass sie, die Kontrollschwestern
also, hierarchisch unbedingt weiter oben stehen mussten, denn es
gab auch welche, die sich einfach Kraft ihres Alters, ihrer
Anmaßung über die anderen erhoben, wie ein Komet ständig über
einem leuchteten, auf einen zuflogen, einen bedrohten. Mit
etlichen war es unmöglich zu arbeiten, es ihnen recht zu machen,
einen Menschen hinter der Fassade zu finden.
Obwohl keine Vorgesetzten im normalen dienstlichen Sinn führten
sie sich dennoch so auf.
Und, was in aller Welt, kann eine junge Schwester dagegen
unternehmen? Niemand würde einen persönlichen Kampf mit so
einer aufnehmen, es herrschte daher eine Art kalter Krieg und
vergiftete das ohnehin schwierige Klima.
In der Ausnahmesituation eines Krankenhausbetriebes, im
besonderen einer Intensivstation, gibt es ausreichend andere und
weit größere Probleme zu bewältigen, dennoch müssen sie
einzelnen Personen nicht gereicht haben.
Jeden Morgen, jeden Abend, wenn ich die breite Milchglastür zur
Station durchschritt, kam mir derselbe Gedanke: hoffentlich
passiert nichts, hoffentlich verlasse ich die Schwelle in etwa so,
wie ich sie betreten habe, mit einer, wenigstens gewissen
Unversehrtheit von Leib & Seele und vor allem, ohne selbst
gefehlt zu haben.
Man konnte, durfte aber keinen Fehler machen, es ging ja nicht
einfach um eine falsche Rechnung, quasi einen Irrtum auf Papier,
um Verlust von Geld, eine schlechte Note, nicht um irgendeinen
Schaden im Geschäftlichen, sondern betraf das Leben der
Menschen, die einem anvertraut waren, selbst.
Fehler in der Wirtschaft, in der Schule, auf der Universität sogar
sind & bleiben, bei aller Tragik für den einzelnen, korrigierbare
Vergehen, dies aber gilt nicht für die Arbeit am Krankenbett. Sie
ist daher überhaupt mit keiner anderen vergleichbar.
Niemand außerhalb des Krankenhauses kann die Verantwortung
einer Krankenschwester, vor allem während der Nachtdienste, wo
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sie allein auf sich gestellt ist, ermessen.
Am Morgen danach nämlich sieht alles ganz anders aus.
Die Vorkommnisse werden später von Ausgeschlafenen in aller
Ruhe bei hellem Tageslicht und im Nachhinein beurteilt.
Nur wer die Einsamkeit nächtlicher Entscheidungen & Tätigkeiten
kennengelernt hat, kann dies verstehen, niemand sonst. Bereits die
Schwesternschülerinnen werden in dieser Lage allein gelassen und
frühzeitig mit ihr bekannt gemacht, ohne je eine Hilfestellung zu
bekommen. Schlechtes Gewissen & Angst sind die ständigen
Begleiter von Anfang an.
Eine Schwester verfügt über viel weniger medizinisches
Fachwissen als ein Arzt, ihr Spezialgebiet ist ja die Pflege, wovon
wiederum der Arzt nichts versteht, dennoch muss sie oft die
gleichen, weit über ihre Ausbildung hinausreichenden Aufgaben
übernehmen. Es können Dinge vorkommen, von denen sie in ihrer
Konsequenz nichts weiß, ihr aber dennoch im Zweifelsfall
angelastet werden.
Die Praxis der Krankenhaus-Medizin beruht überhaupt auf diesem
unausgesprochenen Übereinkommen, vergleichbar mit der
Dämmerung, dem Verfließen der Konturen zwischen Tag &
Nacht, zwischen Helligkeit & Dunkelheit. Wie in der katholischen
Kirche etwa, tut man, als könne man alles ganz genau bestimmen
und regeln, als gäbe es nur richtig & falsch, ja oder nein, eine
einzige Entscheidung.
Doch wie es in der Unklarheit der Dämmerung doch irgendwo
eine Uhrzeit gibt, kann auch in einem solchen Geschehen ein
Zeitpunkt, ein Handgriff, ein Wort benannt, konstruiert oder
rekonstruiert werden, Dinge, die in jenem nächtlichen & einsamen
Augenblick nicht sichtbar waren.
Was wurde einem nicht alles darüber erzählt wie es angeblich in
anderen Ländern um so vieles besser war, in der Schweiz, in
Skandinavien, in England, in Südafrika, in Saudiarabien!
In kleinen Ländern wie Österreich ist das Ausland die beste
Adresse, zählt nur, was anderswo, quasi draußen in der Welt
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geschieht, dort ist es gut, dort müsste man sein oder gewesen sein.
Dagegen war eine einheimische österreichische Schwester nichts,
auch dann nicht, wenn sie alles gut machte, als könnte
irgendjemand mehr als dies oder irgendjemand noch mehr
verlangen.
Hätte man aber auf einen einzigen Auslandsaufenthalt hinweisen,
seine Biographie damit aufputzen, verzieren, behübschen können,
wäre der Respekt, um den es eigentlich immer gehen sollte, sofort
vorhanden gewesen, ja, ins Unermessliche gewachsen.
Einfacher aber war die Rede von angeblich überragenden
ausländischen Schwestern und deren ebenso überragenden
Ausbildungen, deren angebliche Weltläufigkeit, gerade so, als
wäre unsere Schwesternschule nichts wert und all das
Unzureichende unsere eigene Schuld, als ginge es nicht immer um
den Patienten, den Menschen und mit welcher Haltung und
welchem Ethos man ihm gegenübertritt. Es war nicht unsere Idee,
dass wir bereits ans Krankenbett gestellt wurden, als wir noch
nicht alles gelernt hatten, es war nicht unsere Schuld, wenn zu
wenig Personal vorhanden war, weil es angeblich nicht bezahlt
werden konnte.
Für dieses Defizit mussten die Schwesternschülerinnen und
jungen Diplomschwestern aufkommen, dafür waren wir da, denn
hier ging es plötzlich und Gott sei Dank nicht mehr um die
wahren
Probleme
wie
Zeitmangel,
Überforderung,
Unter-besetzung, sondern um viel existentiellere und vor allem
persönliche Fragen. Für die Fehler des Systems wurden wir zur
Verantwortung gezogen, mit schlechten Beurteilungen abgefertigt,
beschimpft, verächtlich behandelt. Während der Tages- &
Ausbildungszeiten durften wir nur die niedrigen Arbeiten
verrichten, sodass, als wir das Wissen und die Erfahrung
gebraucht hätten, eigentlich nur versagen konnten. Warum es
dennoch nicht geschah?, weil einem die Angst Flügel verleiht,
phantasievoll werden lässt, mutig & vorsichtig in einem. Der
kämpferische Erzengel, der uns zur Seite gestanden haben muss,
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war unser einziger Verbündeter in dieser scheinbar unlösbaren
Lage.
Die Oberin, die Stationsschwestern & Kontrolleurinnen, die
selbsternannten Vorbeterinnen und allwissenden Kolleginnen
waren die Instanzen, die uns übergeordnet waren, welche uns
drangsalierten vom ersten bis zum letzten Tag. Es ging längst
nicht mehr darum, den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen, ihn
zu pflegen, sondern wie man mit den Drachen & Hexen der
Schwesternschaft auskam.
Alles, was man wusste, früher in der Schule gelernt, gelesen hatte,
die Philosophie, die Romane, die Gedichte, die eigene
Vergangenheit sogar, das Leiden, durch das man gegangen war,
alles zusammen galt nichts vor den Oberschwestern &
Stationsschwestern, die am Morgen ausgeschlafen und völlig
sicher durch dieselbe Tür traten und einen mit einem einzigen
Blick, einer einzigen unerwarteten Frage be- & verurteilten, und
dennoch gab einem diese eigene Geschichte, das gewissenhafte
Studium, die langen Nächte des Lernens und gegenseitigen
Prüfens, die scheinbar eigene Bedeutungslosigkeit sogar, die
Unzulänglichkeit, das bloße Sein den einzigen Halt in dieser
gefährlichen
unlauteren
Welt
der
Herablassung
&
Unbarmherzigkeit. Es geschah nämlich nicht, wie es uns als
Schülerinnen am Anfang versprochen worden war: man würde
sich um uns kümmern mit allem, was im Schwesternheim zu
Gebote stand, uns nicht allein lassen, immer ein offenes Ohr, eine
offene Tür haben, all die schönen, damals noch beruhigenden
Worte sollten uns noch bitter aufstoßen und uns darüber belehren,
dass so gut wie niemand Verantwortung übernahm für uns, wir in
Wahrheit niemandem vertrauen konnten und wir selbst
niemandem anvertraut waren.
Jede einzelne Schwester stand darum in zahllosen Nächten immer
wieder unendlich einsam da, musste sich auf all ihr Wissen, die
am Anfang noch geringe Erfahrung, ihren Instinkt besinnen,
eingedenk dessen, dass ihr niemand helfen würde, wenn es schief
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ginge, es aber auch nichts Besonderes war, wenn denn alles
klappte. Diese & ähnliche Gedanken waren immer präsent in mir,
oft drohte ich, daran irre zu werden. Und doch war es nicht einmal
so, dass sich nach dem Diplom die Situation gleich geändert hätte.
Jetzt war man zwar eine junge, „fertige“ Krankenschwester, der
Traum unserer schweren Lehrjahre in Erfüllung gegangen, doch
was hieß das schon, und wen interessierte es in der Hierarchie
einer Station, wo die Weichen längst gestellt und ungeahnte
Kämpfe um jede Position ausgefochten waren, ad acta gelegt oder
jeden Tag von neuem begonnen wurden? Was konnte jemand, der
da hinzukam, für eine Rolle spielen? Man musste froh sein, wenn
man wenigstens geduldet wurde, irgendetwas machen durfte, das
ganz schmal über der Tätigkeit einer Stationsgehilfin lag.
In Wahrheit aber wurde man in dieser Phase genau beobachtet,
wie sehr oder leicht man sich einfügte, aufmüpfte, ob mit einem
womöglich zu rechnen war, man eine Gefahr darstellte für die
Ordnung, ob man neue Vorgangsweisen erforderlich machte oder
als harmlos & ungefährlich eingestuft werden durfte, großes
Aufatmen oder eine ungemütliche Änderung der Strategie
hervorrief.
Mein Freund, mit dem ich damals seit zwei Jahren ging, wusste
ein Lied davon zu singen, er kannte sich bestens aus auf der
Station, obwohl er nie dort gewesen war, wusste Bescheid wie
nicht einmal die angehenden Ärzte.
Wo wäre ich geblieben, wie hätte ich es geschafft, ohne ihm nach
diesen Diensten alles erzählen zu können, was vorgefallen war?
Ich war randvoll von den vergangenen Ereignissen, wenn ich die
Station verließ, konnte nicht einschlafen, ja, so voll war ich, dass
ich nachts aufschreckte, meinte, etwas vergessen zu haben, mich
rechtfertigte, mit mir selber redete, in die Küche lief, dort allen
Ernstes den Alarm ausschaltete und mich erleichtert ins Bett legte
und weiterschlief.
Doch es war nicht einmal nur so, dass die Arbeit allein einem zu
schaffen machte, sondern auch die Ärzte, von denen genug in
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ihrer studierten Überheblichkeit eine Krankenschwester oder gar
eine Schwesternschülerin für weiter nichts als doof erachteten,
zum Subjekt von Spott & Belustigung auserkoren & erniedrigten.
Nachts, wenn alle Katzen schwarz sind, so dachten sie wohl,
könnten auch sie unsichtbar und also unflätig werden.
Assistenzarzt & Turnusarzt unterhielten sich dann halb & halb
lateinisch, richtig konnten sie es eh nicht, verwendeten aber die
anwesende & assistierende Schwester, die sie für ungebildet und
also gehörlos für das Lateinische hielten, als Zielscheibe & Objekt
ihrer Belustigung.
Die Weiblichkeit der Schwester an sich diente ihnen als Anregung,
die nämlich brauchten sie schon, darum ging es schließlich, denn
es stand ihnen der Sinn nach Sex und ordinären Witzen.
Wo anders konnten oder durften sie sich noch dergestalt äußern,
zum Ausdruck bringen, wie sie wirklich waren? Wo anders gab es
für sie einen Ort, wo sie sich nicht gut & quasi lupenrein
benehmen mussten, denn sie waren durchaus nicht die gebildeten
Humanisten, die sie gerne gewesen wären und die sie doch oft
genug spielen mussten, denn ihre außermedizinischen Kenntnisse
reichten gerade einmal für einen oberflächlichen Party Small Talk.
In den Nächten, die unsereins mit ihnen erlebte, ging es anders zu,
sie stanken aus dem Mund nach Alkohol, nach Zahnfäule, stießen
auf wie die Säuglinge, sie furzten und lachten noch darüber.
Eine gewisse Erträglichkeit war gegeben, wenn einer alleine kam,
doch wehe, sie waren zu zweit! Da hätte man genauso gut ins
nahe gelegene Bräustübl gehen und sich von betrunkenen
Rekruten anmachen lassen können.
Da wie dort ging es darum, die Sau raus zu lassen, sich
abzureagieren, irgendwo in aller Welt den aufgestauten Frust los
zu werden.
Die Ärzte hielten sich etwas zugute auf ihre sogenannte Bildung,
deren Gipfel für die meisten darin bestand, nachdem sie mit Ach
& Krach die Matura geschafft hatten, irgendwie das
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Medizinstudium hinter sich zu bringen.
Dann aber aus & fertig mit allem! Nie wieder etwas lernen! Um
Himmels Willen keine Plage mehr, nur noch Geld verdienen,
Auto, Villa, Segeljacht, Golfklub, Weiber, Sex.
Als Doktor konnte man leicht Eindruck schinden überall, auch
wenn man die größte Niete war und sich an so gut wie nichts von
der Uni erinnerte.
Einen interessierten, intelligenten medizinischen Laien hätte man
leichter zur Visite mitnehmen können und auch besser mitnehmen
sollen als diese Turnusärzte.
Ja, sogar, als ich Doktor Sommerfeld das erste Mal sah, mit ihm
arbeitete, waren diese oder ähnliche Gedanken in mir.
Umso erstaunlicher, dass er, der mir so arrogant geschildert
worden war, nichts davon ausstrahlte.
Der herbei gerufene Turnusarzt erkannte die Situation, wusste sich
auf einmal zu benehmen, wurde aber mangels dienstlicher
Verwendbarkeit durch den schwedischen Arzt, wieder ins Bett
geschickt. Um deutlich zu machen, wie anders dieser Fremde sich
benahm, mit welcher Selbstverständlichkeit er höflich war, ruhig,
respektvoll, musste ich diesen ausführlichen Einblick in die
normale alltägliche Krankenhauswelt, wie sie sonst existierte,
vorausschicken oder einfügen, sonst wäre seine Besonderheit und
der damit verbundene Komfort wohl nicht verständlich zu machen
gewesen.
Doktor Sommerfeld & ich hatten eine gute halbe Stunde intensiv
& konzentriert gearbeitet, die Handgriffe ergänzten sich nahtlos,
die Blicke genügten, es mussten kaum Worte fallen. Bereits nach
wenigen Minuten schien es, als hätten wir schon oft
zusammengearbeitet.
Dieser ausländische Arzt war vollkommen anders, von ihm ging
eine große Ruhe aus, Kompetenz, Distanz, die gleichzeitig Nähe
und Nähe, die gleichzeitig Distanz war.
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Als wir fürs erste fertig waren, ging er zum Waschbecken, wusch
sich die Hände, drehte sich langsam zu mir, und ich sah, dass
seine Augen glasig waren, er trocknete sich ab, während er seinen
Blick auf mir ruhen ließ, ja es schien, als könnte er im Augenblick
nirgendwo anders hinschauen.
Wir waren beide in Verlegenheit; ich, so dachte ich damals, mehr
als er, doch die Tatsache, dass er überhaupt von mir Notiz nahm
über die soeben abgeschlossene Tätigkeit hinaus, wunderte mich
zutiefst. Es vergingen lange Minuten, ich gab mir den Anschein
von Beschäftigung, spürte aber immer seine Augen in den meinen,
die ich längst niedergeschlagen hatte.
Dann kam er noch einmal zum Inkubator herüber und sprach
jenen unverständlichen Satz, über den ich viele Jahre lang
nachgrübeln musste, weil er sich wie ein Rätsel anhörte.
Schwester Maria, wenn ich jünger wäre,.................. würde ich Sie
fragen, ob, ob, .......... Sie sich vorstellen könnten, mit mir zu
............ zu leben.
Ich muss mit offenem Mund zugehört haben, völlig außer Stande,
etwas zu begreifen, denn ich war darauf gefasst gewesen, eine
ärztliche Anordnung zu erhalten, doch nicht einen Satz wie diesen.
Er verließ ohne eine weitere Erklärung den Intensivraum, die
Station, was mich beinah aus der Fassung brachte, ließ mich
stehen, allein, allein mit dem Kind, der ganzen Situation, den
Worten, die ich nicht verstand, verwirrt und mit klopfendem
Herzen.
Später rief ich mir ab & zu sein Gesicht zurück, es gelang nicht
immer, dann wieder sah ich ihn ganz deutlich und doch in einem
Art Tagtraum, nie in einem wirklichen: seine blonden Haare, seine
Augen, die ich mir blau & tief wie das Meer vorzustellen begann.
Die Stille, welche er im Leben wie im Traum trotz seiner
Lebendigkeit & Wendigkeit ausstrahlte, dauerte über das
Erwachen hinaus an. Diese Stille sollte sein stärkstes Merkmal für
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mich werden, neben seiner Geduld und seinem langen Warten auf
mich, welches für ihn bereits begonnen hatte.
Die Stille, die beinah sichtbare, ja hörbare Stille, die ich später
wieder & wieder suchen würde, auf die ich mich freuen und die
einen großen Teil unseres Glücks, das vor uns lag, ausmachen
sollte.
Der Rest jener Nacht verlief ruhig, das Kind stabilisierte sich, ich
sollte nur noch um vier Uhr morgens einen Astrup abnehmen, eine
Blutgasbestimmung also, bei welcher der exakte Sauerstoff- &
Kohlendioxydgehalt des Blutes überprüft wurde.
Es musste auf Grund dieses Ergebnisses nichts an der
Respiratoreinstellung oder der Sauerstoffzufuhr verändert werden,
er hatte alles perfekt berechnet & vorausgesehen gehabt.
In den folgenden Nächten waren andere Ärzte im Dienst, Doktor
Sommerfeld nicht mehr.
Sie präsentierten sich indes wie immer: verschlafen, grantig,
patzig, herablassend, größtenteils arrogant & überheblich, umso
mehr je unzureichender & unsicherer sie waren.
Als ich nach den verbleibenden Nächten und den vier
darauffolgenden freien Tagen wieder in den gewöhnlichen Dienst
zurückkehrte, hörte ich, dass Doktor Sommerfeld, den ich nur ein
einziges Mal gesehen hatte, bereits nicht mehr in Salzburg weilte.
Er war nach Stockholm zurückgekehrt, wie ich viele Jahre später
erfahren sollte, es lag noch ein langer Weg vor ihm, er machte
seine Beatmungsmethode in aller Welt bekannt, stellte sie vor,
überall in Europa und vorallem in den U. S. A. .
Eine im Nachhinein einfach klingende Lösung für ein großes
Problem trat seinen Siegeszug an.
Die Lungenoberfläche der zu früh Geborenen ist bei der Geburt
unreif, nicht genug entfaltet, sodass sich beim ersten Atemzug die
Lungenbläschen nicht ausreichend mit Luft voll pumpen können,
sondern zusammenklatschen & zusammenkleben. Sie müssen
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unbedingt wieder geöffnet und mit Luft gefüllt werden, damit es
zum lebenswichtigen Gasaustausch kommen kann.
Sommerfeld hatte den größten Teil seiner bisherigen Arbeit als
Kinderarzt der Erforschung dieses Vorgangs gewidmet und
schließlich ein Gerät entwickelt, welches das Einfallen der
Lungenbläschen verhindern und sie bis zur vollständigen
Ausreifung der Lunge offen halten sollte.
Seine ersten Erfahrungen hatte er bereits als junger Arzt in
Zentralafrika gesammelt, sich dort viele über die Jahre endlose
Gedanken & Aufzeichnungen gemacht.
Doch das lag jetzt in weiter Ferne, denn in Afrika war nicht nur
seine Idee entwickelt, sondern vor allem seine Sensibilität und
sein Verständnis für die Medizin der Eingeborenen, die ihn als
Menschen in ihrer Einfachheit & Weisheit tief beeindruckten,
geweckt worden, er hatte Kenntnisse erlangt, die ihm bis dahin
völlig fremd gewesen waren, drang, je länger er sich damit
beschäftigte, immer weiter ein in ein fremdes Wissen, das ihn oft
& oft durch seine Vollkommenheit & Feinheit verblüffen sollte.
Nicht so Silvia, seine junge Ehefrau, die zwar anfangs für die
Entwicklungshilfe Feuer & Flamme gewesen war, doch am Ende
nicht fand, was sie erwartet hatte, vor Heimweh schier zugrunde
ging, durch ihre persönliche Erkenntnis der Aussichtslosigkeit so
gut wie jeder Arbeit, als ganzes keine Freude mehr hatte, sich
nicht zurechtfand in einer so exotischen Welt voller Schmutz,
Entbehrung & Leid, wo die Menschen in ihren Augen nicht
einmal das Nötigste besaßen, nur den Mangel kannten, zu
Almosenempfängern & Bettlern gegenüber den ausländischen
weißen Helfern gestempelt wurden, sodass es ihr nicht mehr
möglich war, etwas anderes als das tagtägliche Elend zu sehen, die
Armut als Ursache für die nicht enden wollende Tragik Afrikas.
Jeden Tag, jede Nacht strömten die Kranken herbei, verstümmelte,
abgemagerte Menschen, greinende Kinder voller Beulen &
Ungeziefer, Sterbende, Schwangere, Verletzte. Die Schlangen
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rissen nicht ab, wurden im Gegenteil länger & breiter, eine
endlose, in Europa unvorstellbare Trostlosigkeit wurde hier zur
Normalität.
Alexander aber war immer mehr in seinem Element, entdeckte
seine Schwäche & Stärke für aussichtlose Situationen, war Tag &
Nacht im Hospital, versuchte sich tapfer mit den Patienten zu
verständigen,
und
trotz
verschiedenster,
oft
schier
unüberwindlicher Schwierigkeiten gewann er Schlacht um
Schlacht, wie er es später nannte, denn er fühlte sich zum ersten
Mal frei, frei zu denken, zu arbeiten, durfte alle Entscheidungen
selber treffen, seine Erfahrungen sammeln, hatte endlich so gut
wie keinen Vorgesetzten mehr, entwickelte seine, bis dahin
schlummernde, medizinische Kreativität, liebte seine jetzige
Tätigkeit fast zärtlich, so zärtlich wie Silvia, sein Erstes Mädchen,
wie er sie oft bezeichnete, während die Medizin sein anderes und
Zweites Mädchen wurde.
Sie war jetzt schwanger, seine Frau, sein ein & alles, sein Erstes
Mädchen also, doch es wurde immer schwieriger mit ihr, denn sie
setzte ihn mit ihrem Zustand unter Druck, wollte plötzlich nichts
lieber, als eine richtige, eine ruhige Ehe mit ihm führen, zurück
nach Schweden, wo sie, das wusste sie jetzt, nicht einfach zu
Hause, sondern ganz & gar daheim war. Eine traditionelle Familie
gründen, eine eigene Wohnung haben, weitere Kinder, Hausfrau &
Mutter sein.
Die ewigen einfachen, großen & kleinen Dinge tun, die Kinder in
den Kindergarten, die Schule bringen, mit ihnen spielen, ihnen
Gutenachtgeschichten erzählen, sie aufwachsen sehen, gut
erziehen, Kuchen backen, Geburtstage feiern, Weihnachten,
abends mit Alexander gemeinsam essen, auf ihn warten mit allen
häuslichen Neuigkeiten, spazieren gehen, Eislaufen, im Sommer
aufs Land fahren, ihren eigenen und auch Alexanders
alleinstehenden Vater besuchen.
Doch es sollte, das erkannte sie mehr & mehr selber, nicht sein.
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Silvia sah kein Ende der afrikanischen Gegenwart, sah, dass
Alexander sich wohl fühlte auf dem schwarzen Kontinent, mit
dem primitiven Leben leicht fertig wurde, sich auf länger
einrichten wollte, nicht im Traum daran dachte, eines Kindes
wegen seinen Weg zu ändern.
Er wollte beides, nein, alles haben, sie, das Kind, seine Arbeit und
zwar genau diese hier und keine andere. Er hatte keine Eile, hatte
gerade erst angefangen zu leben, dachte, sie würden früh genug
nach Schweden zurückkehren, womöglich viel zu bald nur noch
nostalgisch an diese frühen Jahre denken dürfen. Viel zu früh alt
werden, viel zu wenig von der Welt gesehen und als ganzes erlebt
& erreicht haben.
Die Zeit verging doch so schnell, alles änderte sich, die
Anforderungen wuchsen von Tag zu Tag, Anforderungen, denen
er sich stellen musste & wollte.
Hier konnte er sein Studium endlich anwenden, sein Wissen, seine
Vermutungen bestätigen, seine Forschungen angehen, von denen
er anfangs selbst nicht wusste, dass es welche waren und wohin
sie ihn führen würden.
Wenn sie erst zurück sein würden, müsste er auf die alte Weise
funktionieren, sich seiner ganzen Verantwortung in der
schwedischen Familie wie Gesellschaft stellen, ein guter Ehemann
werden, ein besonderer Vater, sich in einem Krankenhaus
hochdienen, eines Tages eine Praxis eröffnen, ein Haus bauen,
Geld verdienen, alles, worauf er bereits jetzt zuging, und doch
gewährte ihm seine Arbeit im afrikanischen Busch einen
Aufschub, brachte ihm täglich neue Einsichten & Erkenntnisse.
Nie dürfte er als so junger Arzt eine derartige Verantwortung zu
Hause tragen, müsste sich ducken und still sein, den Professoren,
den Primarii, allen möglichen Vorgesetzten den Vortritt in allem
einräumen, in Worten & Werken gewissermaßen, ihnen allein
überlassen, wie sie auf jemanden wie ihn reagieren, was sie ihm
zugestehen würden, könnte ihnen höchstens zuarbeiten,
womöglich jahrelang, ohne damit seinen eigenen Namen
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schreiben zu dürfen, ihnen seine Forschungen zur Verfügung
stellen, für sie quasi Frondienste leisten, Untersuchungen
durchführen, einfach so und zusätzlich zur alltäglichen ärztlichen
Arbeit.
Sie aber würden sich dann wahrscheinlich mit seinen brav
abgelieferten Ergebnissen auf Kongressen, in Zeitschriften,
vielleicht sogar Büchern präsentieren, während ihm nichts anderes
übrig blieb, als sich dort & da zu bewerben, es heimlich
andernorts zu versuchen.
Solche Szenarien schwebten ihm jetzt in Afrika vor, wo er nichts
von dem spürte, weder Neid noch Druck noch Gängelei von oben.
Doch das war nur die eine, die berufliche Seite, denn wer konnte
wissen, was dies alles für sein Privatleben in Schweden bedeuten,
wie viel Zeit ihm bleiben würde, um ein guter oder auch nur
annehmbarer oder erträglicher Ehemann & Vater zu sein.
Er würde nicht völlig überlastet & genervt bei Silvia und dem
Kind erscheinen dürfen, sollte ihr, wie es ihm auch ging, zuhören,
Arbeit abnehmen, mit ihr ausgehen, sie nicht vernachlässigen,
glücklich machen.
Zudem hatte er keine wirkliche Vorstellung von einer Familie, war
er doch vollkommen anders aufgewachsen, hatte nie gewöhnliche
Verhältnisse erlebt, so wenig wie Silvia.
Beide hatten im Grunde keine Ahnung, wie sie es angehen sollten.
Alexander war zwar zuversichtlich, immer voller Hoffnung &
Freude, wollte alles so gut wie möglich machen, das müsste, so
meinte er, genügen.
Im Augenblick hatten sie mitten in der Zentralafrikanischen
Republik innerhalb der schwedischen Entwicklungshilfe die
kostbare Möglichkeit, ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches
Leben zu führen, beisammen zu sein, als Arzt & Schwester, als
Mann & Frau, sogar eine Familie zu gründen, wenn auch nicht zu
den bewährten, altbekannten europäischen Bedingungen. Dies
gerade war ja für Alexander das Schöne, das Besondere, das
Spannende, gewährte ihm noch eine Weile Zeit & Raum, mehr
51
noch, ihm erschien die Unvollkommenheit, der er überall
gegenüberstand, als der natürliche Zustand. So und nicht anders,
meinte er, hatte das Leben einst & immer angefangen, es begann
doch nicht mit dem fertigen Einfamilienhäuschen, dem Auto in
der Garage, der Universität, dem Doktortitel, um irgendwann in
einem zusätzlichen Sommerhaus und bei geplanten Ferienreisen
zu enden oder dort, wo man ausgesuchte & honorige Kollegen mit
Gattinnen zu freundschaftlichen Abenden einlädt. Freilich sahen
so die Bilder von Glück & Erfolg im allgemeinen aus, doch hier
& jetzt galt es andere, größere Aufgaben zu lösen, und nichts
schwebte ihm weniger vor, als den Vorstellungen einer satten &
anspruchsvollen Gesellschaft im fernen reichen Europa zu
genügen.
Doch Silvias Zustand stellte sich als äußerst labil heraus,
besonders, seit sie schwanger war. Launisch, ungeduldig,
sprunghaft, nervös begann sie jeden Tag, fiel abends erschöpft ins
Bett.
Sie bewohnten, wie alle anderen, eine eigene kleine, einräumige
Hütte in der Dschungelstation des Hospitals, das selbst etwa
hundert Meilen entfernt lag. Es war ihr erstes und wie sich
herausstellen sollte, einziges gemeinsames Haus, das sie je haben
würden.
Eines Abends kam Alexander wieder nicht pünktlich zurück in die
Hütte, Silvia hatte bereits das Abendessen zubereitet und wartete
weit über die Zeit hinaus. Wie oft hatte er sich das schon geleistet!
Was fiel ihm überhaupt ein!
Seit sie schwanger war, rechnete sie ihm alles vor, in seiner
Anwesenheit genauso wie in seiner Abwesenheit, sie wurde
kleinlich & rachsüchtig, sammelte Vorwürfe über Vorwürfe,
stapelte Beschwerden übereinander, fand tausend Gründe für
Zwist & Streit.
Sie befand sich jetzt in der etwa fünfunddreißigsten
Schwangerschaftswoche, ihr Bauch wölbte sich weit vor, sie war
dick & aufgedunsen, bei schlechter Laune, müde, gereizt, und je
52
weiter die Zeit vorrückte, Viertelstunde um Viertelstunde verging,
umso mehr grollte sie Alexander, beschimpfte ihn innerlich, häufte
Argument auf Argument, gewann Vorsprung um Vorsprung, stellte
sich vor, wie verdutzt er reagieren würde auf ihre Vorhaltungen,
die sie jetzt ohne die geringste Ahnung seinerseits, präzise &
zielgenau formulierte. Sie setzte auf den Überraschungsangriff,
seine Erschöpfung, mit der er gewöhnlich ankam, was ihm jede
Möglichkeit nahm, sich zu verteidigen. Der Sieg war, was sein
Privatleben anging, immer auf ihrer Seite. Er selbst lieferte die
beste Munition dazu. Schach matt. Aus, fertig.
Heute würde sie ihn kriegen, Mühle zu. Am Ende wollte sie ihn
wie eine Wilde empfangen, ihm alles vorwerfen, ihn mit seiner
Säumigkeit & Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind, ihrem
Zustand konfrontieren.
Alexander war in der Ambulanz aufgehalten worden, die
Menschen, die von weit her in die Station kamen, wurden nicht
weniger. Geduldig standen sie in der Reihe, die indes anstatt
kürzer wieder länger zu werden schien.
Konnten Patienten am selben Tag nicht mehr behandelt werden,
mussten Vorkehrungen für ihre Übernachtung getroffen werden.
An jenem Abend aber wäre er fast pünktlich bei Silvia gewesen,
hätte sich nicht noch im letzten Moment eine hochschwangere
Frau ganz allein & plötzlich, als er schon gehen wollte, vor ihm in
die Tür gestellt. Wahrscheinlich war sie schon länger da gewesen,
hatte sich nur nicht, wie es oft vorkam, hereingetraut, solange
noch die ganze Belegschaft und andere Patienten anwesend
waren.
Alexander sollte diesmal als letzter abschließen, das hieß auch, für
den nächsten Morgen die Vorbereitungen ärztlicherseits treffen,
geplante Operationen durchgehen und der Wichtigkeit nach
reihen, Wundversorgungen, Kontrollen, Untersuchungen den
Kollegen zuteilen, Eingriffe vorausahnen, Zeit vorsehen & Zeit
einsparen, dafür war er kurz die, für morgen wartenden Patienten
53
in den einfachen Gästehütten durchgegangen, denn er musste mit
möglichst allen Eventualitäten rechnen und auch diese bedenken.
Als er endlich fertig war und gerade gehen wollte, tauchte wie aus
dem Nichts diese Frau auf.
Sie stand in der Tür mit gesenktem Kopf, die Arme hingen rechts
& links herunter, ihr Bauch wölbte sich beträchtlich vor, sie war
barfuß, trug ein buntes, knielanges Kleid, das sich vorne dreieckig
anhob.
Er sah sofort, dass sie etwa in der gleichen
Schwanger-schaftswoche wie Silvia sein musste, auch Silvias
Kleid hatte etwa dieselbe Form, in letzter Zeit hatte er sich öfters
darüber lustig gemacht, und genau das war es, was ihn besonders
anrührte, ja, fast zum Lachen brachte, sodass er zögerte, sie auf
morgen zu vertrösten.
Was mochte sie hinter sich haben, bis sie hierher gekommen war!
Er hatte längst aufgehört, sich mit Worten zu verständigen, es war
aussichtslos, sich im afrikanischen Sprachengewirr auszukennen,
man musste einfach alles selber wissen, gut beobachten, lernen,
ohne Reden & Fragen das Richtige zu erkennen, zu erraten, zu
erahnen.
Sentimental & gerührt, wie er in seiner Lage war, denn obwohl er
immer arbeitete, dachte er doch an nichts anderes als an Silvia und
sein Kind, sentimental & gerührt also ging er auf sie zu, sah die
bittende Verzweiflung in ihrem Gesicht, ihre Verlegenheit und
wusste sofort, dies hier ließ sich nicht aufschieben.
Er schaute hinaus in den Wartebereich, sah dort aber niemanden,
ja, sie war tatsächlich allein gekommen. Das bedeutete allerhand
in dieser Gegend, um diese Zeit.
Sie zuckte verlegen mit den Augenlidern, versuchte seinen
Blicken nicht zu begegnen und ihn doch festzuhalten, hatte die
Hände nun fest auf ihren Bauch gelegt.
Er konnte nicht anders, als sie beim Arm zu nehmen, sie
anzuweisen, sich auf den gynäkologischen Stuhl zu setzen, ihr
54
dabei helfen, was nicht mehr ganz einfach war. Doch hatten die
afrikanischen Frauen, wie Alexander immer wieder beobachtete,
ein großes Zutrauen zu weißen Männern, besonders wenn sie
Ärzte waren.
Was er, nachdem sie Platz genommen und den Rock
hochgeschoben hatte, zu sehen bekam, sollte er nie mehr im
Leben vergessen.
Schon das äußere Genitale war übersät mit Würmern, voll
tausender lebendiger, sich schlängelnder winziger Tiere,
stellenweise Knäuel & Knoten bildend.
Er war ratlos, entsetzt, angeekelt, dafür gab es keine
Beschreibung, keine Ausbildung, keinen Namen. Er zwang sich,
hinzuschauen, sich ein Bild zu machen, den Geruch zu
überwinden, ohne sich zu übergeben, sich nichts anmerken zu
lassen.
Das einzige, was er zu denken im Stande war - niemand in
Schweden war je in so einer Situation gewesen.
Er saß mindestens so verzweifelt zwischen ihren Beinen wie seine
Patientin mit gespreizten Schenkeln vor und über ihm auf dem
Untersuchungsstuhl.
Es fiel ihm derweil nichts weiter ein, als ihr ein Notbett zu richten,
schwedisch auf sie einzureden, nämlich dass er noch heute Nacht
mit dem Jeep in die Stadt, ins Haupthospital fahren würde, um
sich Rat zu holen, ein Buch zu finden, einen Menschen, der ihm &
ihr helfen konnte.
Notdürftig entfernte er die ekelhaften Tiere zuerst mit einem
Gazetuch, stieß sie in einen Mistkübel, doch wie in einem
Alptraum bildeten sie sich auf der Stelle nach, krochen überall
herum, wehrten sich gegen die Störung, bewegten sich plötzlich
aus ihrer angenehmen Ruhe aufgeschreckt, schnell & aggressiv.
Sie kamen aus dem Anus wie aus der Vagina, und es war nicht
auszumachen, ob sie sich verkrochen oder hervorquollen.
Sie plumpsten, einmal aufgescheucht, in Kugeln zu Boden,
wurden aber nicht weniger. Was für Qualen musste diese Frau
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durchgestanden haben, dachte er wieder & wieder, und noch war
kein Ende absehbar.
Im Augenblick war nicht daran zu denken, sie anal oder vaginal
zu untersuchen. Also kam er auf die Idee, eine
Desinfektionslösung zuzubereiten, wie man sie postpartal für die
Spülungen bei Wöchnerinnen anwendete, um sich einen
Überblick zu verschaffen.
Er spülte sie sorgfältig ab, zog sich Handschuhe an, fuhr mit den
Fingern in die Scheide, drückte die andere Hand auf den Bauch,
holte einen Patzen Würmer aus ihr heraus.
Ganz allein, ohne jede Assistenz machte er eine gründliche
Scheidenspülung. Anschließend kümmerte er sich in derselben
Weise um den Darm.
Ob vom warmen Wasser, der Müdigkeit, der Erleichterung,
jedenfalls schlief die Patientin ein, war nicht mehr wach zu
kriegen, sodass Alexander ihr das schmutzige, verwurmte Kleid
auszog, sie vom Untersuchungsstuhl herunterhob, auf eine
Pritsche am Gang legte, mit einem Leintuch zudeckte.
Im Ambulanzraum ersäufte er das Ungeziefer in Unmengen von
Salmiak, wie er sich später zu erinnern meinte, rief laut nach einer
Schwester, die beim Säubern helfen sollte, wusch sich wie ein
Wahnsinniger, um ja nichts bei sich zu behalten, zog sich
vollkommen um.
Endlich konnte er zur Hütte laufen, um Silvia zu informieren.
Ich muss noch einmal weg, es geht nicht anders!
Aber sie war nicht in der Lage, ihn zu verstehen, begriff nicht,
was er sagen wollte, wieder ging ein Abend dahin, eine mühsam
zubereitete Mahlzeit war kalt geworden, eine Umarmung, nach
der sie sich den ganzen Tag gesehnt hatte, ziemlich das letzte, was
sie jetzt von Alexander erwarten durfte.
Silvia verlor auf der Stelle die Beherrschung, schrie ihn an, tobte,
warf ihm das Besteck, die Holzschüssel, die Blechteller, das Essen
hinterher, den ganzen Topf samt Inhalt. Es fing wieder von vorne
an das Gejammer, die alte Geschichte mit ihrem Vater, dem
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Landarzt, seiner Hingabe für andere, der Undank, die
Gleichgültigkeit seiner Kollegen, der Patienten, wie sie meinte,
überhaupt der Welt als ganzes. Sie war darüber bereits als Kind
menschenfeindlich, misstrauisch & argwöhnisch geworden.
Mit den Händen über dem Kopf lief er hinaus, setzte sich in den
Wagen und fuhr allein in die Nacht, so schnell wie möglich, heute
noch, dachte er, die hundert Meilen hin, die hundert zurück, um
für die Frau in der Ambulanz nachhaltige Hilfe zu finden.
Es kamen ja die Würmer nicht nur aus dem Darm, wo sie in
unüberschaubarer Menge zu leben schienen, sich bestimmt schon
im Augenblick wieder hurtig vermehrten & ernährten, sondern
hatten bereits die Vagina, den Geburtsweg des Babys erreicht.
Silvia, stell dir vor, das Kind, das sie trägt, ist ungefähr so alt wie
unseres!, hatte er ihr in aller Eile hingeworfen, sie damit zu
beruhigen versucht, seine Stimme gesenkt, fast geflüstert, in der
vagen Hoffnung, dieser Satz würde sie anrühren, umstimmen, für
kollegiales Verständnis gegenüber einer anderen Schwangeren bei
ihr sorgen, doch weit gefehlt, es hätte gar nichts geben können,
was sie mehr gereizt hätte.
Im Wagen, noch nach Meilen, sieht er vor sich die Bilder der Wut,
der Enttäuschung, hört die Sätze, die Silvia ihm nachgerufen hat,
hinterher geschrien wie einen Fluch beinah.
Als ob sie noch immer da wäre, hört er wieder & wieder ihre
Stimme, noch jetzt, als er längst unterwegs ist. Vor ihm nichts als
die Scheinwerfer in der schwarzen Nacht auf der pfeilgeraden,
aber holprigen & schlaglöchrigen Straße durch den Dschungel, er
sieht nichts, hört nichts, außer dem Motor und ihrem hysterischen
Gekreische, das sich in seinem Ohr festgesetzt zu haben scheint.
Silvias schreiende weinende Stimme verfolgt ihn den ganzen Weg,
immer diese unerträglichen Vorwürfe! Wie lange musste er das
schon durchmachen, immer wieder aushalten, sich beherrschen,
und wie oft wird er noch seinen Beruf, nein, seine Auffassung
davon, gegen sie verteidigen müssen?
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Dass es sich nicht & nicht vereinbaren ließ, was sich doch
vereinbaren lassen sollte! Immer wieder gab es Streit deswegen,
in letzter Zeit häuften sich die Differenzen, obwohl es schon
früher in Stockholm begonnen hatte.
Sie nahm ihn in die Pflicht, brachte ihn mit ihrem Zustand in
Bedrängnis, bändigte ihn mit der Schwangerschaft schon jetzt,
verfolgte ihn argwöhnisch, eifersüchtig. Was wird erst sein, wenn
das Kind geboren ist?
Ach, es gibt in diesem Beruf immer etwas, das einem ein
schlechtes Gewissen macht, was andere Menschen niemals im
Leben kennen, nur wir, das war schon bei meinem Vater so, immer
hatten die anderen Leute Leiden, die den eigenen vorgingen,
gegen die man keine Chance hatte! Warum bin ich auch so dumm,
einen Arzt zu heiraten, was habe ich eigentlich erwartet!?
Und morgen früh geht alles weiter und hat kein Ende jemals.
Immer steht irgendjemand draußen, ruft einer an, den man nicht
abweisen darf, der einem alles wegnimmt mit seiner momentanen
Krankheit, den Vater, die Mutter und jetzt auch meinen Mann, hört
das denn nie auf! Sie alle glauben, ihr Problem sei das einzige auf
der Welt, das wichtigste, sind gefangen in ihrem Selbstmitleid,
ihrer Panik.
Warum können wir nicht einfach ein einziges Mal wie normale
Paare in Ruhe zusammen sein .........., wie alle anderen auf dieser
Erde, uns lieben und küssen und freuen, nur du und ich? Unsere
Zeit nützen, einmal auch alles vergessen, liegenlassen die ganze
Arbeit, die ständigen Gedanken daran, alles, was ohnehin nie zu
Ende geht.
Sie schluchzte, schnappte nach Luft, war vor Weinen kaum zu
verstehen. Wie oft hatte es diese Dialoge zwischen ihnen schon
gegeben! Er hörte nicht mehr wirklich, was sie sagte, wusste es
längst, dachte einstweilen an etwas anderes.
Als meine Mutter so krank war, fand sich niemand, der ihr und
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uns helfen konnte, aber Papa hat immer allen geholfen..........!
Silvia, ich weiß, ich bin selber Arzt, es ist eben so, und wenn du
willst, dass ich bald zurück bin, dann lass mich jetzt fahren, ich
darf es nicht auf morgen verschieben, ich könnte nicht schlafen,
sie hat ein Baby im Bauch, es ist so alt wie unseres, das verstehst
du doch auch!
Fahre doch morgen. Bitte bleib’ da, ich habe so lange gewartet!
Es hat Zeit bis morgen, sie wird nicht sterben heute Nacht! Was
willst du denn jetzt noch erreichen? Es ist niemand mehr da.
Fahre doch, um Himmels Willen, morgen in der Früh, ich bitte
dich!
Manchmal verzweifelte er an diesen Situationen, an ihrem
Charakter, denn immer wieder würde er als Arzt, der er nun
einmal war, in diese Lage geraten. Müsste er sich entscheiden
zwischen Familie & Beruf, zwischen Nachgeben & Streit,
zwischen Krieg & Frieden?
Doch, wenn es wieder dazu kam, hatte er keine Zeit, darüber
nachzudenken, und wenn es vorüber war, auch nicht.
So brach es ständig von Neuem über ihn herein, was er doch so
oft erlebt und nicht bewältigt hatte!
Die Zeit verging, die Auseinandersetzungen deswegen wurden
ernster, obwohl er Silvia noch genau so liebte wie am Anfang, ja
tausendmal mehr, aber das glaubte sie ihm nicht, doch er hatte
auch nicht die Kraft, es ihr zu erklären, denn oft schlief er einfach
ein oder sagte am Ende eines Tages wie diesem, zu allem ja &
Amen.
Ohne das Ende dieses Ausbruchs abzuwarten, war er
hinausgelaufen, davongebraust wie in einem durchschnittlichen
Film.
Als er in den späten Nachtstunden zurückkommt, hat er die
erforderliche Information in Form eines Buches, denn dort hatte
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er tatsächlich niemanden Relevanten mehr angetroffen.
Den Rest der Nacht studiert er Seite für Seite, am Morgen hat er
die Lösung und kann, wie sich später herausstellt, die Frau richtig
& erfolgreich behandeln.
Dieser Vorfall ist nicht der einzige dieser Art, in letzter Zeit
kommt es immer häufiger vor, dass sie nicht einfach über private
Belanglosigkeiten aneinandergeraten, sondern Silvia Alexanders
Arbeit fast unmöglich macht.
Alexander lässt sich immer wieder in der Ambulanz zurückhalten,
aufhalten, von allem & jedem in die Enge treiben, denn obwohl
seine Kollegen keine schwangere Frau in der Hütte haben, gehen
sie, wenn es dunkel wird, wenn die Zeit um ist, gönnen sich Ruhe
& Entspannung, erscheinen ohne Erklärungen erst wieder am
nächsten Morgen.
Nicht so Alexander, der mit seinem schweifenden Blick noch
zahllose zu erledigende Dinge sieht, nicht einfach fort kann, die
flehenden Blicke der Patienten nicht erträgt, der Wartenden, das
Geschrei der Säuglinge, das Angestupstwerden von hinten, die
hoffnungsvollen Augen, die verzweifelten Gesten & Gesichter der
Kranken.
Es ist, als wüssten die Eingeborenen, dass sie von ihm und quasi
nur von ihm etwas zu erwarten haben, nur er sich in Bedrängnis
bringen lässt, nicht imstande ist, wegzuschauen, woandershin zu
gehen, taub & blind zu sein gegenüber ihren Problemen.
Und es ist genau wie sie vermuten, nicht nur in ihren
Vorstellungen, ihrem Gespür, sondern auch in Wirklichkeit: er hält
die Schmerzen & Qualen der anderen nicht aus. Es ist, als wären
es seine eigenen, denn irgendwann hat er sich, mehr noch seinem
Vater, versprochen, versprechen müssen, nie im Leben
wegzusehen, wegzuhören, immer sein Bestes zu geben, das
Menschenmögliche zu tun, das, was man tun kann und daher auch
tun muss.
Er versucht, alles gut zu machen, für seinen Vater, für seine
Mutter, die es nie für ihn gegeben hat, die er nur aus den
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Erzählungen des Vaters kennt und aus denen seiner lieben, jetzt so
fernen Tante Marie.
Deine Mutter wäre stolz auf dich!
Handle immer so, dass deine Mutter stolz auf dich wäre!
Wenn deine Mutter das wüsste!
Wenn deine Mutter das erlebt hätte!
Später dann: Da muss ich erst noch lieber deine Mutter fragen!
Das werde ich heute Nacht deiner Mutter erzählen!
In guten wie in schlechten Tagen wachte sie über ihn, sein Vater
wollte es so, ihm war es Bedürfnis, Trost & Freude, sodass
Alexander von seiner Mutter das Bild einer Göttin mitbekommen
hatte, schön, gut, unfehlbar, rein.
Obwohl Rahel Sommerfeld längst tot war, ihr eigenes Leben
gegen das seine getauscht hatte, war sie mehr mit & bei ihm, als
die Mütter anderer Kinder mit den ihren waren, weit mehr, als
hätte er tatsächlich eine Mutter gehabt.
Für die anderen war die Mutter eine Person, die zu sehen war, sie
morgens weckte, sie tadelte, schimpfte, ohrfeigte, erzog.
Nicht für Alexander, für den sie die Madonna war, die oberste
Instanz darstellte, das Auge Gottes, das Absolute, dem er zu
genügen hatte, keine Gestalt aus Fleisch & Blut, nichts zum
Angreifen, unnahbar, nicht jemand, der atmete, lebte, kochte,
putzte, Fehler machte, das Essen anbrennen ließ.
Nie konnte er sich unter seiner Mutter eine ganz gewöhnliche
Frau vorstellen mit Laufmaschen in den Strümpfen, die sich
darüber maßlos aufregen konnte, einen Streit, aus welchen
Gründen auch immer, verursachte, mit ihrem Mann zu Bett ging,
die Beherrschung verlor. Die losheulte wie ein kleines Mädchen,
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geküsst & geherzt werden wollte, im nächsten Moment zum
Zahnarzt ging, mit anderen tratschte, mal was Dummes sagte oder
ein weiteres Kind zur Welt brachte, keine Frau, die die Schlüssel
verlegte, einen Sonntagsbraten auf den Tisch stellte, die Wäsche
aufhing, ein Mittagsschläfchen hielt, über den Haushalt klagte
oder auch nur irgendetwas ganz Normales tat, und hier ist die
Stelle, wo viele Jahre zurückgeblendet werden muss, ganz an den
Anfang, der immer schön & leicht ist, entgegen dem Sprichwort,
aller Anfang sei schwer, denn in Wahrheit ist nichts leichter als
der Anfang, der auf leisen Sohlen kommt, weich, fast wie im
Traum; kaum erst bemerkt, hat er Besitz von einem ergriffen,
einen mit sich fort getragen, mitgenommen, denn jeder Anfang ist
voller Zuversicht & Vertrauen, voller Hoffnung & Glückseligkeit,
eine herzliche Einladung. Dem Augenblick des Anfangs wohnt die
ganze Sehnsucht inne, der Anfang ist ein Versprechen, welches
ohne Zögern gegeben wird, der Anfang ist das Zuckerstückchen,
das alle Vorsicht vergessen lässt, so als hätte man seit
Menschengedenken auf nichts anderes gewartet, und so als wüsste
man nicht, dass er bereits das Ende in sich trägt.
***
IV
Alexanders Eltern & wie alles begann
oder
Wie sein Vater es nannte:
„Das Buch Rahel“
Alexander besaß also keine Vorstellung von den
Gewöhnlichkeiten einer Frau & Mutter, denn sein Vater hatte sie
ihm kein einziges Mal verständlich oder für ein Kind anschaulich
präsentiert, für ihn war Rahel, mein Rachele, schon wie er ihren
Namen aussprach: Rachele, ja auch niemand anders als eine
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Außerirdische, die er nachts noch dreißig Jahre nach ihrem Tod
konsultierte, als läge sie wach an seiner Seite. Mit der er redete
wie mit einer Lebenden, die er um Rat fragte, ihr alles erzählte,
und dies sollte er bis zum Ende seines Lebens so halten.
Alexanders Vater akzeptierte es nie, ohne sie leben zu müssen,
hielt ihr Bild, das er sich erschaffen hatte, hoch und in Ehren wie
eine Ikone, verkroch sich in seiner Erinnerung, der großen Zeit,
wie er es nannte, als er dieses, anfangs etwas seltsame & ernste
Mädchen getroffen und sein Leben sich mit einem Schlag
geändert hatte.
Er hatte sie damals beiläufig die Stufen der Universität in
Stockholm hinauflaufen sehen, wunderte sich noch darüber, dass
unter den vielen männlichen Studenten ein solches Mädchen war.
Etwas hatte sie verloren, was sie nicht richtig bemerkt zu haben
schien, sodass er es für sie suchte & aufhob, ihr brachte, hinterher
trug und ein erstes Mal, ein allererstes Mal in ihre Augen blickte,
die ihn verwundert, wenn nicht gar misstrauisch anschauten, sich
aber beim Anblick ihres Handschuhs, der ihr hinuntergefallen war,
sichtbar aufhellten.
Sie war jung & hübsch, doch ihr Gewand hätte Alexanders Vater
beinah zum Losprusten gebracht, so altmodisch kam sie daher.
Nie hatte er bei sich zu Hause, nicht einmal bei den Dienstboten,
so etwas Schäbiges, Abgetragenes, sorgfältig Vergrößertes,
Verlängertes, verstohlen Geflicktes wahrgenommen wie an
diesem, doch zweifellos recht klug aussehenden Mädchen, das
irgendwo vom Lande stammen musste. Denn eine Aufmachung
wie diese wäre so gut wie überall auffällig gewesen, doch schien
sie selbst es nicht zu bemerken. Sie musste doch irgendwann die
Damen & Fräuleins dieser Stadt gesehen haben, dachte Alexander
Sommerfeld damals, und doch muss sie sich nichts dabei gedacht
haben, wie es aussah, oder sie stand einfach über diesen Dingen,
was schon auf einen ziemlich außergewöhnlichen Charakter
schließen ließ.
Es war in den ausgehenden Zwanzigerjahren gewesen, und sie
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studierte im zweiten Semester Deutsch, im ersten Judaistik, das
sollte sie ihm, auf sein Drängen & Fragen hin, endlich bei einer
Tasse Kaffee in einem bekannten Stockholmer Lokal verraten.
Nicht dass sie auf die erste oder zweite Verabredung hin bereits
erschienen wäre, aber dies war nur ihrer überaus strengen
Erziehung zuzuschreiben, denn sie stammte aus einem
Rabbinerhaus, einem Rabbinerhaus!, aus nichts Seltsamerem als
einem Rabbinerhaus, und als sie ihm das sagte, da schlug er sich
mit der Handfläche gegen den Kopf, dass es im ganzen Saal zu
hören war und sich etliche Hüte zu ihnen drehten.
Was war denn das bitte für ein Fang?, gab’s denn so etwas
überhaupt in Schweden? Doch wie es schien, war es so, es gab
eben alles.
Zwar hatte er als Knabe einige Jahre eine Judenschul’ besucht,
genau wie sein Bruder, aber das kam einer recht lockeren
Freizeitbeschäftigung gleich, nicht weil der Rabbiner, der sie
unterrichtete, es nicht ernst genommen hätte, sondern weil seine
Eltern sich kaum dafür interessierten, den Hebräischunterricht an
ihren Söhnen quasi vornehmen ließen, als wäre es ihre
erzieherische Pflicht, nichts weiter als noch eine Fremdsprache,
ein bisschen altes Zeug, das nicht schaden konnte, wenn nicht gar
eine Art medizinische Behandlung, wofür sie nicht mehr tun
brauchten, als die jährliche Gebühr zu entrichten, der jüdischen
Gemeinde die eine oder andere Spende übergeben, um im übrigen
den Rabbi einen guten, armen Mann sein zu lassen, der sich
nolens volens mit allerlei Kindern dieser Volksgruppe
herumplagen musste, ihnen ein wenig alte Geschichte &
Geschichten beibrachte, warum nicht.
Im großen & ganzen nahm man in aufgeklärten Häusern davon
kaum Notiz, es war halt Tradition, eine leise Erinnerung an eine
längst vergangene, eine biblische Zeit, und die meisten reichen
Herrschaften jüdischer Herkunft hatten sich längst davon
distanziert und diese fernen Dinge so gut wie ganz vergessen.
Sie gaben feine Gesellschaften & Feste und hätten nichts weniger
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gern in ihrer Villa gesehen als einen, womöglich noch
schmuddeligen Hebräer, der versuchte, ihnen allein durch seine
Anwesenheit ins Gewissen zu pfuschen oder sich gar anschickte,
an eine ferne kaftanerne Vergangenheit zu erinnern.
Ohnehin überließen sie die Erziehung der Kinder lieber
Hauslehrern & Gouvernanten, bezahlten sie anständig dafür, denn,
um sich selbst damit zu befassen, waren sie viel zu sehr mit sich
beschäftigt, und schließlich war es einfach nicht üblich, das betraf
doch auch andere Bereiche. Beflissen wie gelangweilt streiften die
Damen ab & zu dieses Thema, wer gerade seinen Buben in die
Judenschul‘ gegeben hat, wer es vorhat oder sich nichts daraus
macht. Man war aufgeschlossen, gebildet, assimiliert, zeigte sich
nicht gerne mit seinesgleichen, wenn sie nicht genau zu einem
passten. Die biblischen Geschichten lagen weit zurück, sie
interessierten heutzutage niemanden mehr, man musste endlich zu
den anderen gehören.
Von seinen Großeltern wusste später Alexander einige spannende
Dinge, die ihm sein Vater erzählt hatte, trug eine fast
märchenhafte Vorstellung, vor allem von seiner Großmutter bei
sich.
Auch wenn sie, als sie noch eine junge Dame gewesen war, über
jede Menge Bewunderer & Verehrer verfügte, so lebte sie später
doch treu & innig nur für ihren eigenen Mann, der sich allerdings
öfters und zu verschiedenen Leuten, über ihr, bald nach der
Eheschließung eingetretenes Desinteresse an Sex beklagte.
Doch ihr Esprit, ihre Musikalität, ihre geistige & körperliche
Lebendigkeit, ihre vollkommene Schönheit entschädigten ihn für
fast alles, und obwohl sie dies wusste und ihm sogar anbot &
nahelegte für gewisse Dinge & Stunden, zu anderen Frauen zu
gehen, mit ihnen zu schlafen, hätte er es doch nie übers Herz
gebracht, es wirklich zu tun. Er war ihr immer, wenn auch
manchmal schweren Herzens, treu gewesen, sogar über den Tod
hinaus.
Das Elternhaus von Alexanders Vater war also ein vollkommen
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anderes als das seiner Mutter, die aus einem strengen
Rabbinerhaushalt kam, wo nichts zählte als die biblische Bildung,
die Philosophie, das Wesentliche, wo es nicht ankam auf das
Essen, das auf den Tisch gestellt wurde, was schon gar nicht durch
Dienstboten geschah, sondern durch die bescheidene, demütige
Hand der Mutter & Rabbinerfrau, seiner anderen Großmutter. Sie
hatte sich zwar, nach dem Kindbetttod ihrer Tochter, des Kleinen
in seinen ersten drei Lebensjahren angenommen, doch Alexander
erinnerte sich nicht an sie.
Er hatte nur eine leise Ahnung von dieser Zeit im Rabbinerhaus,
kannte sie wohl mehr aus Erzählungen und einzelnen Fotos als
aus der eigenen Erinnerung, und doch muss diese erste Kinderzeit
in ihm etwas Besonderes hinterlassen haben, denn er war ein
stiller & nachdenklicher Knabe geworden, ein glückliches &
nachdenkliches Kind zugleich.
Sechzig Jahre später sollte er selber sogar zu einer Art Rabbiner
werden und in Wien, nicht, wie man vermuten könnte,
Vorlesungen vor Medizinstudenten halten, sondern Ethik an der
Philosophie lehren, nicht auf seinen Nobelpreis würde er einmal
am stolzesten sein, sondern darauf, als Arzt an einer
Philosophischen Fakultät unterrichten zu dürfen.
Damals aber, wohin wir jetzt zurückgehen, gab es ihn nicht
einmal, und es war auch überhaupt nicht leicht, ihn sozusagen ins
Leben zu holen, denn als sein Vater sich in seine Mutter verliebte,
begann für diesen in einer Weise eine zwar glückliche, aber
schwierige & mühsame Zeit, ein Versteck- & Verwirrspiel, ein
Hin & Her, etwas, das der Sohn später ziemlich respektlos als das
Getue bezeichnen sollte. Es wurden Jahre daraus, die von nichts
anderem bestimmt zu sein schienen, als den Gepflogenheiten
eines zwar hoch gebildeten aber in äußerlichen Dingen recht
rückständigen Rabbinerhauses irgendwo in Südschweden.
Einem Haus, das Alexander einmal mit einem Schiff in schwerer
See vergleichen sollte.
Das Haus Goldmann schaute auf eine unendlich lange Geschichte
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der Verfolgung zurück, kam nicht heraus aus den Schrecken der
Vergangenheit und den Sorgen der Gegenwart. In der Erinnerung
und gewissenhaften Beschäftigung mit den Ereignissen, die hinter
ihnen lagen und mit der quasi gewerbsmäßig ausgeübten Religion
sorgte dieser Haushalt selber dafür, dass nichts vergessen wurde
und die Geschichte immer wieder von Neuem auferstand. Es war
nicht einmal eine persönliche Angelegenheit nur, sondern immer
gleich die eines ganzen Volkes, das hing zusammen mit den alten
Überlieferungen, die in dicken Büchern & Rollen standen oder
längst auswendig & selbständig in den Köpfen existierten.
Die Vorfahren der Goldmanns waren nämlich ursprünglich
deutsche, später russische Juden gewesen, durch ganz Europa von
hier nach dort gezogen, vom Westen in den Osten, um abermals
vertrieben zu werden, hatten Pogrome überstanden, Verfolgungen
& Bedrängnisse jeder Art beinah kennengelernt, Armut &
Entbehrung erfahren, viele, viele Male. So hatten sie es ihm
erzählt, so hatte er es gelesen, so war es also gewesen seit jener
alten & frühen Zeit, als die Juden Jerusalem verlassen hatten, es
mitnahmen in die Emigration und trugen wie einen goldenen
Kelch durch Freud & Leid, durch Raum & Zeit & Ewigkeit.
Dies alles hatte die Goldmanns freilich mehr an das Judentum
gebunden als etwa die reichen Sommerfelds, die ihre Wurzeln im
glanzvollen sephardischen Judentum des spanisch-arabischen
Südens wähnten und in den Erzählungen & Geschichten des
Ostjudentums eher eine Bedrohung denn eine Bereicherung, ja
bestenfalls eine Kuriosität gesehen hätten.
Die Habenichtse aus dem Osten waren ihnen so fremd wie es
ihnen etwa Schwarzafrikaner oder Chinesen gewesen wären.
Die Goldmanns waren also, so hieß es, immer arm gewesen,
gebildet, aber eindeutig arm, bekannt für die reine Gescheitheit,
die unter den Juden jeder Epoche so geschätzt wie verachtet war,
denn auch hier gab es die einen und die anderen, die
Intellektuellen, die Religiösen und jene Intelligenzler, die ihren
Verstand für ihr Fortkommen, die Assimilation, den Erwerb von
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Eigentum & Sicherheit lieber verwendeten als für eine unsichere
geistige & geistliche Erkenntnis. Für sie war der alte jüdische
Glaube kaum mehr von Bedeutung, sie konvertierten sogar zum
Christentum, wenn es Vorteile brachte oder Nachteile verhinderte,
gaben sich nur hebräisch, wo es von größerem Nutzen war. Für sie
war die Thora nicht Gott & Vaterland in einem, sie trugen keinen
Tempel mehr in ihren Herzen, keinen siebenarmigen Leuchter,
keine Laubhütten oder ungesalzenen Brote, nicht mehr das ferne
Jerusalem mit Säulen & Palmen, den Zedern Salomons, sondern
tanzten lieber auf abendländischen Bällen, waren vielsprachig &
weltgewandt, beherrschten das Hebräische längst nicht mehr.
Die alten Feste wurden bestenfalls äußerlich gefeiert, gaben
Anlass für Empfänge in aufgeklärten & gemischten Kreisen mit
nostalgischem Gepräge. Der Orient war nur noch Dekoration,
exotisch & fern, etwas, das vorüber war, untergegangen wie das
Reich der Pharaonen.
In Rahel & Alexander (Alexanders Vater hieß auch Alexander), in
Rahel & Alexander also trafen sich zwei Menschen nicht nur,
sondern zwei jüdische Welten, die oberflächliche reiche und die
tiefsinnige arme.
Rahel war stolz auf ihre Herkunft, sich ihrer Verantwortung wohl
bewusst, doch Alexander, dem es keine Schwierigkeiten bereitete,
Geld zu verdienen, der mittlerweile erfolgreich im Pelzgeschäft
tätig war, der nichts wusste von der Schwere anderer Existenzen,
stand diesem Mädel zwar über beide Ohren verliebt, aber doch
recht ratlos gegenüber. Ihre Herkunft machte ihm einiges
Kopfzerbrechen, denn auf einen solchen Fall war er, wie sich
herausstellte, nicht gefasst gewesen.
Es fiel ihm auch derweil nichts anderes ein, als sie ordentlich zu
kleiden, zu verkleiden, wie sie es nannte, damit er sich mit ihr
zeigen konnte, sie auf diese Weise in seine Nähe zu holen, die Art
von Angel auszuwerfen, die seiner Meinung nach funktionieren
müsste.
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Und es war tatsächlich leichter gewesen, als er befürchtet hatte.
Sie war, Gott sei Dank, empfänglich für die weltlichen Dinge,
kam aus ihrer armseligen Bude, die sie in Stockholm beziehen
hatte müssen, gern in seine schicke Wohnung, wo ein
Dienstmädchen putzte, eine Köchin kochte, alles fein &
überflüssig aussah.
So teuer wie hier alles zu sein schien, so locker ließ es sich darin
bewegen. Nie im Leben hatte sie solche Verhältnisse gesehen,
aber das sollte sich mit Alexander ändern. Zum ersten Mal sah sie
Luxus, erkannte, was dieses Wort bedeutete.
Mit einem Knicks wurde sie an der Tür bereits von den
Bediensteten empfangen, man wartete auf ihre Wünsche, schien
sogar erleichtert, wenn sie welche äußerte.
Man lief sofort los, auch, wenn sie nur ein Himbeersoda oder ein
Glas Wasser verlangte.
Rahel probierte aus, was sie alles durfte, und sie gelangte nie an
irgendeine Grenze, an keine Verblüffung, sondern hatte immer das
Gefühl, lächerliche Wünsche zu beantragen.
Eigentlich wusste sie gar nicht, was man in solchen Kreisen
bestellte, wie man sich quasi als eine Dame des Hauses aufführte,
erkannte sogar wie wenig sie im Stande war, eine Herrin zu sein.
Alexander hatte ihr in seiner Abwesenheit Verfügungsgewalt über
sein Haus, sein Personal übertragen, und sie genoss diese
Atmosphäre.
Nicht dass sie hochmütig gewesen wäre, es waren ihr solche
Verhältnisse einfach unbekannt, unglaublich & unbegreiflich, was
Geld alles vermochte.
Sie schlief, wenn er im Norden oder im Ausland weilte, in seinem
großen weichen, blütenweiß bezogenem Bett, bewegte sich
zwischen seinen antiquarischen Möbeln, betrachtete sich in den
riesigen Spiegeln, die es überall gab, machte es sich bequem, wo
& wie es ihr gefiel.
Er selber hatte es ihr ja erlaubt, sie darum gebeten, anwesend zu
sein, nach dem Rechten zu sehen. Es gab Luster, Kerzenleuchter,
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Kamine, eine Küche, die allein so groß war, wie zu Hause bei
ihren Eltern die ganze Wohnung. Jede Ecke, jeder Quadratmeter
war gestaltet, nirgends schien etwas dem Zufall überlassen zu
sein, die Vorhänge, die Teppiche, die Sofas & Sessel, alles war
von besonderem Geschmack und musste einmal unendlich viel
gekostet haben.
Sie hörte nach & nach auf, ihren Eltern pedantische Briefe über
den Fortgang ihres Studiums in Stockholm zu schreiben, traf sich
lieber abends oder wann immer es ging, mit Sommerfeld, von dem
sie kein Wort erwähnte, trachtete das Lernen möglichst auf
tagsüber oder die Zeiten seiner Abwesenheit zu verlegen.
Sogar, wenn er länger unterwegs war, um seinen Geschäften
nachzugehen, ging sie in seinem noblen Stadthaus, welches
freilich nur er als klein empfinden konnte, und das er sonst mit
seinen Bediensteten allein bewohnte, ein & aus.
Sie liebte es bald, sich verwöhnen zu lassen, mit ihm in vornehme
Lokale zu gehen, er brachte ihr das Tanzen bei, das lässige,
lockere Verhalten der besseren Gesellschaft.
Wenn sie an ihm diese Art des leichten Lebens schätzte, das nur
mit Geld & Reichtum möglich war, so liebte er an ihr das glatte
Gegenteil, die Tiefe, die Geistigkeit, die Unbestechlichkeit, wie er
meinte, obwohl er sie längst bestochen & bestechlich gemacht
hatte.
Aber das alles war ja kein Vergleich zu dem, was er kannte, es
hielt sich in seinen Augen im Rahmen des Einfacheren &
Normalen. Daher ergänzten sie sich ideal.
Nicht dass sie ihn in den nächsten oder übernächsten
Sommerferien ihren Eltern vorgestellt hätte, wie er es in seiner
Unwissenheit & Unkenntnis der verqueren Verhältnisse eines
Rabbinerhauses vorschlug & erwartete, doch so weit konnte sie
nicht gehen, darüber war er einerseits froh, andererseits
beunruhigt. Und doch hatte er sie längst verändert, denn auch sie
sah jetzt ihr Elternhaus mit anderen Augen. Nun spielte sie
Verstecken mit Vater & Mutter, vertuschte das meiste, gab ihnen
70
keine Einblicke mehr, verfügte jetzt über ein Privatleben, bekam
zwar Gewissensbisse davon, konnte sie aber doch nicht mit der
Wahrheit konfrontieren.
Bald ließ es sich nicht mehr vermeiden, dass sie mit Alexander ins
Bett ging, sie selbst keine andere Möglichkeit sah, auch, wenn sie
aus Furcht vor einer Schwangerschaft Blut schwitzte und Szenen
lieferte, obwohl nicht nur er sie, sondern auch sie ihn verführte,
ihn brauchte & begehrte. Zum ersten Mal erlebte sie, was es
bedeutete mit einem Mann zusammen zu sein, wieder & wieder
Verlangen nach seinem Körper zu spüren, begann das große
schwere, fast bedrohliche Wort Begierde zu verstehen, schließlich
war sie nichts mehr als hoffnungslos verliebt & vernarrt, aus
Liebe ohne Verstand beinah.
Ein Glück, dass sie nicht jedes Mal schwanger wurde, wie sie
anfangs befürchtet hatte, doch ihre Angst davor wurde sie nicht
los. Sie überschattete ihre glückseligsten Stunden mit Alexander.
Da mochte er sie noch so sehr beruhigen, am Ende jeder
gemeinsamen Nacht flossen immer öfter Tränen der Reue, und es
kam zu unerfreulichen Auseinandersetzungen.
Doch die Vorstellung, vor ihren Vater, den Rabbiner, hintreten zu
müssen und ihm eine solche Ungeheuerlichkeit wie eine
Schwangerschaft zu gestehen, war wohl die beste & verlässlichste
Empfängnisverhütung.
Für Alexanders Vater Alexander, war dieses Problem zwar eine
große Belastung, aber im Grunde glaubte er in einer Art naiver
Zuversicht, einer gewissen Verwirrtheit oder Berauschtheit, im
Notfall irgendeine Lösung zu finden.
Allein, es kam anders. Rahel, als sie es endlich ansprach,
aussprach, eröffnen musste, konnte ihrem Vater nicht plausibel
machen, warum sie sich ausgerechnet in einen Sommerfeld
verlieben hatte müssen.
Einen Sommerfeld!? Hast du einen Vogel, Rahele, hast du
verloren dein Verstand, oder was!?
Denkst du im Ernst, ich würde meine Tochter einem ungebildeten
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Pelzhändler geben zur Frau! Im Leben nie! Nur über meine
eigene Leiche! Über mein Tod!
Bei besonderen Schicksalsschlägen & Aufregungen verfiel er
gerne ins Jiddische. Wäre Rahel nicht so besorgt gewesen, hätte
sie lachen müssen. Der Rabbiner ließ sich dann sogar zu Aussagen
hinreißen, die er selbst in besseren Momenten und bei klarerem
Verstand nicht für möglich & denkbar gehalten, ja aufs schärfste
verurteilt hätte. Er lebte in seiner Religion, nach ihren Gesetzen,
wo alles seine Ordnung hatte und an seinem Platze stand. Wenn
sich daran etwas änderte oder Dinge aus einer, ihm fremden
Wirklichkeit, in seine Welt herüber drangen, wusste er sich keinen
Rat, und es war nicht mit ihm zu reden. Wenn er sich etwas in den
Kopf gesetzt hatte, gab es keine Macht, die es ihm wieder
ausreden konnte. Rahels Versuche, ihm Alexander irgendwie
vorzustellen, von ihm zu erzählen, und wäre es noch so beiläufig,
war so gut wie unmöglich. Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass
seine Tochter sich ein eigenes Liebesleben leisten, sich vor der
Hochzeit in einen Mann vergucken könnte, den er nicht
ausgesucht hatte oder für gut genug hielt, bei ihm um Rahels
Hand anzuhalten. Lieber wollte er nichts Genaues wissen, als
seine Meinung, seine innerste Haltung gegenüber der Heiligkeit
der Ehe zu ändern. Es war ihm nicht vorstellbar, dass Rahel sich,
quasi von heute auf morgen, selber einen Mann suchte, mit
demselbigen noch in aller Schamlosigkeit herumturtelte wie die
Gojim, sich womöglich verführen ließ und am Ende, am Ende,
welche Schande!, sitzen blieb. Ihm, einem Rabbi!, durfte so etwas
nicht passieren. Wie sonst sollte er noch anderen raten können,
über sie urteilen, sie unterweisen, wenn sein eigenes Haus in so
gravierenden Dingen nicht optimal bestellt war? Immerzu gingen
ihm diese Gedanken durch den Kopf als ahnte er, dass man ihn
hinterging, als fürchtete er, er könnte im Fall von Rahels Ansinnen
den kürzeren ziehen. So brüsk er jedes Wort in dieser Hinsicht
zurückwies, so sehr beschäftigte es ihn.
Rahel fuhr also am Ende jedes Sommers wieder zurück nach
72
Stockholm, so auch diesmal, freute sich darauf längst mehr, als
aufs Heimfahren ins Elternhaus, denn schon fühlte sie sich
Alexander zugehörig, sah mit ihm ihre Zukunft.
Bereits am Bahnhof beim Einsteigen & Verabschieden von Vater
& Mutter, von ihrer Schwester Marie, konnte sie es kaum mehr
erwarten, in Alexanders Arme zu laufen, zu fliegen! Sie durfte
sich sicher sein, er würde schon Stunden auf sie warten, mehr oder
weniger geduldig auf dem Perron hin- & herlaufen.
Sie wusste längst, dass sie ihre Familie für ihn verlassen würde,
dass es immer so gewesen war, ihr Vater musste es eigentlich
wissen, aber er tat es nicht. Hatte wohl vergessen, wie es ist, zu
lieben, verliebt zu sein, vor Sehnsucht zu vergehen, auf Wolken zu
schweben, eine rosarote Brille aufzuhaben. Vielleicht war das
Leben ihrer Eltern auch nie so leicht gewesen wie ihres jetzt,
vielleicht hatten sie es zu schwer gehabt, vielleicht war alles zu
sehr voller Ernst gewesen von Anfang an. Sie war nicht imstande,
sich ihre eigenen Eltern als junges Paar vorzustellen. Sie mussten
sich doch auch getroffen haben unabhängig von beider
Verwandtschaft. Wie hatte es damals überhaupt angefangen? Erst
jetzt begann sie, darüber nachzudenken, erst jetzt, da es ihr selber
so erging. Ob ihre Eltern sich vielleicht nie hatten heimlich treffen
können, sich küssen, allein miteinander reden, ehe sie einander
versprochen wurden? Es war nie etwas Konkretes darüber bekannt
geworden, man berührte solche Dinge nicht, schon gar nicht war
es angebracht, nach dem Liebesleben der Eltern zu fragen. Es lag
im Dunkeln, in der Schwebe, irgendwo weit in der Vergangenheit,
es hatte keine Bedeutung mehr, war in Pflicht & Sorge
übergegangen, in Alltäglichkeit & Gewohnheit, war eben eine Ehe
geworden wie alle anderen, ein Institut, ein Amt, ein steinernes
Gebäude.
Irgendwann im letzten Sommer war ihr die Idee gekommen, hatte
in ihr Gestalt angenommen, eine Jahrtausendidee, eine Idee mit
Hörnern wie einst bei Moses, denn anders würde sie ihren Vater
nie dazu bringen, Alexander Sommerfeld heiraten zu dürfen.
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Etwas musste her, das war ihr bald klar gewesen, denn wenn ihr
nichts einfiel, was ihren Vater zwar völlig aus der Bahn warf, aber
gleichzeitig zwang, zuzustimmen, musste sie Alexander aufgeben.
Schlimmer noch, sie musste ihren Vater übertölpeln, hintergehen
ihren eigenen, strengen, ernsten und doch so lieben und eigentlich
harmlosen Vater, den sie gewöhnlich um den Finger wickelte, jetzt
aber, da es um die Wahrung seiner Grundsätze ging, fast wie eine
Mauer vor sich spürte. Sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Kraft,
die sie dazu bringen würde, gegen diese Wand zu laufen, ihre
Liebe gegen seine zu stellen, mit ihm einen Kampf zu führen von
geradezu biblischen Ausmaßen. Es würden ihre und seine
innersten Grundsätze berührt, alle Grundsätze, die es gab als
ganzes, sie würden vielleicht nicht mehr miteinander gut sein
können, sie würden in einen Abgrund stürzen, sie konnten daran
zugrunde gehen, vor allem ihr Vater.
Auf diese Auseinandersetzung durfte sie es nicht ankommen
lassen, es musste etwas anderes her, etwas, das zum selben Ziel
führte, aber weniger aufwändig und weniger schmerzhaft war.
Sie quälte sich, hatte tausend schlaflose Nächte, müde Tage voller
Abwesenheit & Zerstreutheit hinter sich. Sie traute sich nicht &
nicht, mit ihrem Vater zu reden, ihm zu schreiben, überlegte &
überlegte, denn, was nützte ihr alles Wissen & Können, ihre vielen
Sprachen, die sie beherrschte, das Deutsche, das Hebräische, das
Griechische, das Lateinische, der Doktortitel, wenn sie es nicht
schaffte, mit Alexander zu leben und wofür sollte dann überhaupt
alles gewesen sein?
Mit diesen Gedanken & Erwägungen hatte sie ihren Kopf den
Sommer über angefüllt & zermartert. Vor & wegen ihrer
Verliebtheit wurde alles, was ihr Leben bisher bestimmt hatte, fast
bedeutungslos.
Sie liebte Alexander, wie es aussah, unbändig, übermütig, genauso
wie ihre Eltern, womöglich mehr als sie. Musste das so sein?
Durfte es das geben?
Ihre kleine, allerliebste Schwester Marie!, die immer auf sie, die
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große Schwester, wartete! Das Vorbild, das sie für sie war! Marie,
die tausend stumme Fragen an sie stellte, auf sie schaute, sich an
ihr orientierte, vor Sehnsucht & Liebe nach ihr verging!
Es musste eine Lösung geben, die es Rahel erlaubte, ihre Familie
nicht zu verlieren, vor allem nicht Marie, das süße, unschuldige
Mädchen, und gleichzeitig diesen Mann, diesen herzallerliebsten
Alexander, zu kriegen.
Als sie im Herbst 1928 nach Stockholm zurückkehrte, hatte sie
also einen Plan gefasst.
Nicht sofort war sie in der Lage, ihn Alexander zu unterbreiten,
erst nach ein, zwei Wochen und nachdem die ersten Vorlesungen
hinter ihr lagen.
Anfangs war sie Feuer & Flamme über ihre eigene Idee gewesen,
doch bald kamen ihr Zweifel, Angst vor der eigenen Courage,
Gewissensbisse noch & noch, rasende Unruhe.
Meine Ruh’ ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer &
nimmermehr. Wie sehr verstand sie in diesen Tagen & Wochen
das arme Gretchen aus Goethes FAUST, den sie als Studentin der
deutschen Sprache & Literatur in- & auswendig kannte.
Alexander beäugte sie schon misstrauisch, fragte zwar nicht
sogleich nach den Ergebnissen ihrer Verhandlungen mit den
Eltern, doch lange konnte seine Geduld nicht mehr strapaziert
werden, schließlich hatte er ein Recht darauf zu wissen, wie es
stand. Er tat doch mehr als genug, fügte sich, verhielt sich
anständig, großzügig, vornehm, durfte sich nicht in ihrem
Elternhaus blicken lassen, hielt sich daran und grollte dennoch
nicht über die Maßen, ließ sich seine Verletzung nicht anmerken.
Zuerst einmal musste sie ihm wieder erklären, dass sie zu Hause
nichts erreicht hatte, den, scheinbar mit vollkommen anderen
Dingen beschäftigten Vater, nicht mit ihren Angelegenheiten
ernsthaft hatte konfrontieren können, der außerdem & sowieso
über ihn, Alexander Sommerfeld & Seinesgleichen nämlich, genau
Bescheid wusste, ihn nach wie vor einen ungebildeten reichen
75
Schnösel, einen dummen Pelzhändler nannte, den seine Rahel
niemals heiraten dürfe, und sollte sie sich etwas dieser Art in den
Kopf setzen, dafür würde er sorgen, so wahr er ein Gelehrter, ein
Rabbiner und überhaupt ihr leibhaftiger Vater sei!, sollte sie sich
also etwas dieser Art in den Kopf setzen, würde er persönlich
dafür sorgen, noch ganz andere Register ziehen, was, blieb jedoch
im Unklaren. So oder so ähnlich waren seine Bemerkungen
gewesen beim leisesten Satz über Alexander Sommerfeld.
Doch erhielt sie unversehens von ihrer lieben & demütigen
Mutter, die ihrem Mann diente wie es für die Frau eines Rabbiners
Gesetz war, Unterstützung, was sie nie zu träumen gewagt hätte.
Ihr Vater hütete ein Geheimnis! Eins, bei dem er vielleicht zu
packen wäre! Ein Fleck in seiner Biographie, nicht für
gewöhnliche Leute, nicht für Rahel, aber für sich, den Gestrengen
selbst, doch er ahnte nicht, dass sie es jetzt, nach diesem Sommer,
wusste, ja, seine eigene Frau Ingrid ! sein Innerstes und damit ihn
verraten hatte.
Rahels Vater Salomon Goldmann, der Rabbinersohn aus einem
alten Gelehrtengeschlecht hatte in Wahrheit ein Christenmädchen
geheiratet.
Wann, bitteschön, war so etwas Ungeheuerliches in der
Geschichte der Diaspora jemals vorgekommen?, hörte sie ihre
Mutter sagen. Etwas, das es niemals und unter keinen Umständen
und kein einziges Mal hätte geben dürfen.
Salomon selbst hatte es ihr so erklärt.
Vielleicht gab es aber solch ein Vorkommnis in Wirklichkeit öfter,
als man meinen mochte, zugeben konnte, und doch stellte es
gleichzeitig das geheimste Geheimnis überhaupt dar, besonders
für jenen, der sich deswegen schuldig fühlte, mitunter ein Leben
lang darüber nicht hinweg kam, ja, es konnte für einen, der sich
dagegen vergangen hatte, zum Damoklesschwert werden, zur ihn
völlig einnehmenden Sorge, denn es ist das Wesen der Angst, dass
sie, je mehr man sie versteckt, größer & ungeheurer wird, ja,
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eigenständige & riesige Dimensionen annimmt.
Wenn es passiert war, dort & da, so hatte es keiner an die große
Glocke gehängt, versucht, es zu verbergen und wohl immerzu
gefürchtet, durch die eigene Familie, eine Unbedachtsamkeit,
einen Zufall, aufgedeckt zu werden.
In Alpträumen war ihrem Vater so etwas wie das Gericht in der
Öffentlichkeit der Synagoge vor Augen gestanden, immer &
immer wieder, so hatte es Ingrid, seine in Wahrheit christliche
Frau, ihrer Tochter Rahel erzählt, unter dem Siegel der strengsten
Verschwiegenheit natürlich.
Die Rettung, wie Salomon wähnte, lag womöglich in der relativen
Unruhe, der allgemeinen & persönlichen Ängstlichkeit unter den
Juden fast aller Zeiten, sodass sie mit sich selbst und ihrem
Überleben & Durchkommen mehr beschäftigt waren als dem
Ausspionieren eines Rabbiners oder gegenseitiger Beobachtung.
Quasi erleichternd hinzugekommen war das Auftreten des
Chassidismus, einer volkstümlichen Richtung des Judentums in
Osteuropa, im untergegangenen Zarenreich bereits.
Diese Chassidim, wie die Anhänger des Chassidismus hießen,
richteten ihr Augenmerk besonders auf die Wunderrabbis, die
Legenden, die es um sie gab, die Heilungen, von denen die Rede
war. Das Warten auf einen neuen Messias rückte wieder in den
Vordergrund, beschäftigte die Juden weit mehr als die strenge
Auslegung des Gesetzes oder die Gelehrsamkeit einer elitären
Oberschicht von angesehenen Rabbinern, die sich in der Regel
nicht um die einfachen Nöte des Volkes kümmerten, sondern sich
lieber in komplizierte theologische Fragen vergruben.
Es hatten sich sogar wundergläubige Gruppen von Anhängern der
verschiedenen Rabbiner gebildet, sodass man lieber hier & dort
damit befasst war, herauszufinden, wer zu welcher Richtung
gehörte, warum einer diesen, ein anderer jenen chassidischen
Rabbiner bevorzugte.
Man pilgerte zu jenen Wunderrabbinern, zog mit
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Wander-predigern, sehnte sich nach dem Heiligen Land, einer
Rückkehr zu den Wurzeln & Anfängen, dem Ende aller
Verfolgung, tröstete sich auf vielfältige Weise.
Zudem war das Leben im Osten für die Juden so schwer
geworden, dass viele nichts anderes mehr vor Augen hatten, als
die Auswanderung nach Westeuropa, besser noch in die Neue Welt
Amerika.
Der Zar hatte einst Kosakenheere geordert, welche in seinem
Auftrag über die jüdischen Siedlungen herfielen, Söldner, die für
bares Geld zu so gut wie jedem Verbrechen bereit waren, akut &
effizient aufgestellte Einheiten, welche ihr Kriegshandwerk
verstanden, professionell plünderten, raubten, vertrieben, töteten
und so dem Herrscher, dessen Untertanen und sich selbst einen
Dienst erwiesen, keine Skrupel kannten, so grausam wie nützlich
waren für ein schier unüberschaubar weites Reich wie Russland.
Ihnen war es egal, wofür man sie brauchte, sie waren die Elite, die
andere Seite der Medaille, Männer fürs Grobe halt, Hauptsache,
sie wurden bezahlt. Immer gab es Kriege zu führen, es war
schließlich uralte Kosakenarbeit, ihr Handwerk, dafür wurden sie
geduldet, gefürchtet, geachtet, gebraucht, gerufen, gehasst. Man
konnte sich auf sie verlassen, sie hatten Erfahrung & Verdienste
vorzuweisen. Wie andere Goldschmiede waren oder
Weizen-bauern, Gutsbesitzer oder Beamte, zogen sie in den Krieg.
Wie jeder Stand waren auch die Krieger ein Rädchen im großen
russischen Reich, unentbehrlich, unersetzlich, erhielten von Zeit
zu Zeit ihre Aufträge, ihre Einkünfte, eine eilige Depesche,
überreicht von einem nächtlichen Boten, einem geschwinden,
geheimen Reiter, der nach Erfüllung seiner Mission in der
Dunkelheit verschwand, so überraschend wie er gekommen war,
so schnell verhallten die Hufe seines Pferdes in der weiten Steppe
Russlands.
Es war für die Juden kaum mehr möglich gewesen, Geschäfte zu
betreiben, eine Ausbildung zu bekommen, zu überleben.
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Sie waren aus den großen Städten Russlands ausgeschlossen, die
Handelsplätze mit Einheimischen besetzt, alles lief auf eine
persönliche Genehmigung des Zaren hinaus, dessen Zuträger &
Ohrenbläser sich eine geringe Fürsprache bereits hoch bezahlen
ließen und nicht schlecht davon existierten.
Dazu kam die Angst vor den Nächten, nicht einmal die Ghettos
waren sicher, es gab für die Russen mosaischen Glaubens keinen
Zugang zu Recht & Bildung, sodass die meisten unter ihnen arm
& ungebildet, abergläubisch und leicht zu erschrecken waren.
Nicht umsonst liefen sie unter der Bezeichnung: Luftmenschen,
weil sie das Kunststück zustande brachten, sozusagen von der
Luft zu leben, sich tagtäglich auf den Plätzen Ost-Europas
versammelten und jeden, einfach jeden Dienst annahmen, um am
Abend ein paar Klimperkopeken nach Hause zu tragen.
Nicht selten fanden sie gar nichts, versuchten es am nächsten Tag
wieder, am übernächsten, und oft genug war der Auftraggeber
nach getaner Arbeit spurlos verschwunden.
So hatten sie nicht nur Luftarbeit verrichtet, sondern auch einen
Luftlohn erhalten.
Sie gingen leer aus, verfügten nicht über die geringste Sicherheit,
wurden ausgenutzt & betrogen, wo es ging.
Freilich kursierten über Juden auch andere Geschichten. Es gab
nicht wenige, die selbst Schuld auf sich geladen hatten, wofür nun
ihre mittellosen unschuldigen Brüder bei jeder Gelegenheit büßen
mussten.
Das Geschäft des Geldverleihens war eine der wenigen
verbliebenen Möglichkeiten gewesen, eine schwere & leidige
Angelegenheit, wie sich vor allem für die Armen unter ihnen
herausstellte, die freilich nicht das Geringste damit zu tun hatten,
dennoch Tag für Tag den Preis dafür bezahlten, für die
Wucherzinsen ihrer Volks- & Glaubensbrüder büßen mussten.
Das alte elitäre & gelehrte Judentum besaß keine Antworten auf
solche Fragen, hatte sich zu weit vom Leben entfernt, residierte
quasi in unbekannter Ferne, unerreichbar & unbegreiflich für den
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einfachen Menschen in seiner alltäglichen Not.
Auf dieser Basis war der Chassidismus entstanden, er machte das
Judentum endlich wieder zu einer Volksreligion, einer spirituellen
aber auch verständlichen, höchst notwendigen, heiß ersehnten
Bewegung, und dieser Art waren die Erinnerungen von Rabbi
Salomon Goldmann, dies war die Welt, aus der er stammte, die
Welt seiner Väter & Großväter, soweit man zurückdenken konnte.
Hinter ihnen lagen Verfolgungen aller Art, doch hier in Schweden
hatten sie Aufnahme & Sicherheit gefunden, eine Heimat, für die
sie bereit waren, alles zu geben, alles zu erdulden.
Aus solchen Verhältnissen kamen die Vorfahren von Rahel, und
dies waren nur die Dinge, derer man sich in irgendeiner Form
noch erinnerte, denn weit früher waren sie bereits aus
Süddeutschland vertrieben worden, für Ungeheuerlichkeiten
verantwortlich gemacht, die ihnen keine Wahl ließen, als bei
Nacht & Nebel zu fliehen.
Mit nichts, als, was sie am Leib trugen ohne Ziel und Ahnung,
wohin die Flucht sie führen würde, zogen sie in den Osten, durch
riesige, schier endlose Wälder, unbekannte Landstriche, über Berg
& Tal, durch Hitze & Stürme, Schnee & Eis, ehe sie sich an
fremden abgeschiedenen, kaum existierenden Orten niederließen.
Was sie aber nicht mehr aufgaben, war der einmal angenommene
deutsche Name Goldmann, der an den einstigen Reichtum
erinnerte, über ihnen leuchtete wie ein Versprechen, die Tür der
Hoffnung einen kleinen Spalt offen ließ, dorthin, wo sie einst in
Wohlstand gelebt, als Verwalter & Buchhalter angefangen,
schließlich als Gutsbesitzer & Bankiers geendet hatten. Doch
diese Geschichten lagen so weit in der Vergangenheit, dass sie den
Legenden von der Rückkehr nach Jerusalem nahe kamen, in jenes
ferne heilige Land, in dem einst Milch & Honig geflossen sein
sollen.
Doch, wie es immer gewesen war in der Diaspora, auf einmal
verbreiteten sich Gerüchte, wonach es hieß, Juden sollen betrogen,
gewuchert, gemordet haben, einen Fürsten in den Bankrott
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getrieben, christliche Kinder geschändet & geopfert, Hostien aus
den Tabernakeln gestohlen.
Niemand wusste etwas Genaues, doch sie mussten verjagt werden
auf jeden Fall, das Übel an der Wurzel ausgerissen, schon hatten
sie viel zu lange zugeschaut die Christen, waren zu gutmütig &
nachsichtig gewesen mit den Mosaischen.
Die Aristokratie, welche nicht selten bei Juden hoch verschuldet
war, hatte größtes Interesse, die Verbindlichkeiten, die bestanden
zu vergessen, zu leugnen, ließ die nächtlichen Übergriffe
geschehen, den Pöbel gewähren, war weder willens noch in der
Lage, der Unruhen Herr zu werden.
Endlich kam man wieder an Besitzungen, obwohl man gerade
noch für die Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse von
den Juden hohe Summen & Sicherheiten gefordert & kassiert
hatte.
Zuerst waren es immer nur Behauptungen, Vermutungen, Fragen,
dann Beschuldigungen, später Verurteilungen. Die, von den Juden
finanzierten Kriege, die Aufbesserung der fürstlichen
Privatschatullen, die Errichtung ihrer Schlösser, die
Schulden-erlässe und die Erinnerung daran waren wieder einmal
zu Schall & Rauch geworden.
Was Rahels Vorfahren auch nicht zurückgelassen hatten, war ihre
Sprache, das liebliche Jiddisch, gewesen, das alte Deutsch,
wenngleich das Russische hinzukam, nicht so geliebt & vertraut,
aber umso nötiger für die veränderten Gegebenheiten, die neuen
Zeiten, die wieder angebrochen waren.
Seither hatte sich ein Teil der Familie abgewendet vom Geld, sich
auf das Wesentliche besonnen, den Blick auf die Herkunft und
also die Zukunft gerichtet.
Rahel war voll von diesen Geschichten, die zum Grundwissen, ja
zur Grundstimmung in ihrem Elternhaus gehörten. Was immer zur
Sprache kam, worum immer es ging, es wurden diese Dinge
erzählt, aufgezählt, so gut wie alles zu ihnen ins Verhältnis
gesetzt, ja, von ihnen ausgegangen, so als wären sie aktuell
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beinah.
Von klein auf hatte sie alles mitbekommen von der Schuld &
Unschuld ihres Volkes an den Ereignissen der Vergangenheit, sie
wusste Bescheid über Heimatlosigkeit, Flucht, Vertreibung,
Abschiednehmen, alles über die Unsicherheit, aber auch von
Rettung & Sühne, dem Traum von Freiheit & Glück.
Von Wanderschaft war die Rede, von Auserwähltheit, von Buße
und ungetilgter Schuld, von der Heimkehr nach Jerusalem, dem
fernen Palästina, von Sehnsucht & Wehklagen, von Freude im
Leid, dem Leid in der Freude, nicht immer leicht verständlich für
Kinder, doch Kinder in ihren Kreisen wuchsen nicht sorglos
heran, nicht ohne die Last der Eltern & Großeltern, die Last derer,
die sie nicht einmal kannten, sie war ihnen in die Wiege gelegt,
diese Bürde, das schwere Buch oben drauf, sodass kaum Luft zum
Atmen blieb. Alles war dem Schicksal des jüdischen Volkes
unterzuordnen, jedes Opfer zu bringen, denn hatte nicht einst
Abraham sogar seinen einzigen Sohn opfern wollen, aus keinem
anderen Grund, als dem, weil Gott Selbst den lebendigen Isaak als
Liebesbeweis von ihm verlangt hatte. Was konnte also noch
Bestand haben oder Erbarmen finden vor solch‘ einer Forderung,
solch‘ einer Geschichte! Wer könnte dem etwas entgegenhalten?
Was es auch war, es wurde klein & nichtig davor. Es hatte keine
Bedeutung mehr, war Tüttelkram, wie Salomon zu sagen pflegte,
Tüttelkram & Wehleidigkeit ohne Grund & Boden.
Sie sollten nicht mehr wohlhabend werden, was sie vielleicht dem
Namen nach einmal gewesen sein mochten, doch auch dies war
längst nicht mehr vorstellbar, so wenig wie alles andere, denn es
hieß, sie hätten ihren Stern verloren.
Reichtum bringt Unglück über Unglück, Neid & Verfolgung,
Armut & Elend, besser man hat nichts zu verlieren, ist mit Gott
und der Welt im reinen, so hieß es nun im Hause Goldmann, jenen
Goldmanns also, die sich für den rabbinischen, den geistlichen
Weg entschieden hatten.
Alexander aber, Rahels Geliebter, kannte nichts dergleichen, in
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seinem Elternhaus war über solcherlei Judentum nicht gesprochen
worden, arme Leute lebten anderswo, man kannte keinen einzigen
davon. Die Bediensteten waren keine Juden, sondern Leute aus
der Umgebung, der Nachbarschaft. Sie spielten keine Rolle im
Hause Sommerfeld die Juden, von denen Rahel wusste. Der
Reichtum, die Wohlhabenheit, die Assimilation, die gemeinsamen
Interessen waren das Bindeglied, die Eintrittskarte in die höheren
Kreise einer weltgewandten, beinah areligiösen Gesellschaft. Es
interessierte dort keinen, ob jemand Jude war oder Russe,
althergebrachter Gojim oder reformierter Lutheraner.
Alexanders Wurzeln lagen zwar in Spanien, in Marokko sogar, so
viel war bekannt, man war durchaus stolz auf diese Herkunft, man
verfügte über eine gewisse Exotik, immerhin genossen die
Sepharden einen besonderen Ruf, sie sprachen Spanisch &
Spaniolisch, pflegten gewisse Traditionen.
Die Juden, die er kannte, waren standesgemäß, besitzend,
gebildet, auf jeden Fall wohlhabend, die meisten brauchten nicht
einmal zu arbeiten oder taten es zum reinen Zeitvertreib, aus
Spaß, und vielen machte es außerordentlichen Spaß, ihren
Reichtum zu vermehren, es bereitete ihnen keinerlei Mühe, war
als gingen sie ins Casino, sie setzten hier & dort etwas ein,
verloren, gewannen, ob beim Pferderennen, bei dieser oder jener
Transaktion, bei dieser oder jener Spekulation.
Sie ließen ihre Söhne & Töchter studieren, waren selbst Ärzte,
Psychiater, Anwälte, Reeder, Handelsherren im großen Stil.
Freie Leute, von denen welche rein gar nichts tun mussten, keiner
Arbeit nachgehen, keinen Lebensunterhalt verdienen, und so
beschäftigten sie sich gerne mit Kunst, Literatur, Theater, ja übten
ihre Lieblingsbeschäftigungen manchmal sogar beruflich aus,
waren Kritiker & Rezensenten in den Hauptstädten Europas,
Amerikas oder besaßen Galerien, sammelten Kunstwerke, gingen
auf Reisen, gaben Bücher heraus.
Wieder andere verfügten über Universitätslehrstühle, unterstützten
die Forschung oder lebten wie Dandys in den Tag hinein.
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Dies war Alexanders Vorstellung von den Juden, bevor er Rahel
kennenlernte.
Er, der Welthandel studiert hatte, liebte besonders die Natur, das
Herumziehen in der Landschaft, das einfache Leben.
Daher handelte er mit Pelzen, reiste in den Norden Skandinaviens,
beherrschte die seltsamsten Sprachen, die er sich selber
beibrachte, blieb lange fort, nicht nur, um die guten & besten
Pelze zu finden, für die andernorts illusorische Preise bezahlt
wurden, von Stockholm bis Sankt Petersburg, von Christianstad,
wie Oslo damals noch hieß, bis London, Rom, Madrid, Paris,
sogar Südamerika, sondern auch, um frei und mit sich allein zu
sein.
Nicht dass er nicht begabt gewesen wäre, das musikalische Talent,
das er von der Mutter geerbt hatte, trug er in Form einer winzigen
Ziehharmonika bei sich, unterhielt damit sich und die Samojeden,
die Nomaden des Nordens, welche er für ihre besondere
Lebensform und ihren feinen Charakter zutiefst respektierte.
Sie zogen Jahr um Jahr mit ihren Herden von Ort zu Ort, er
sammelte & archivierte ihre Lieder & Legenden, fotografierte sie
in ihren bunten Kleidern, bei alltäglichen Tätigkeiten, auf ihren
Festlichkeiten, lernte ihre Sprache, Dialekte sogar, lebte von Zeit
zu Zeit mit ihnen unter einem Dach.
Mit seinem Erscheinen brachte er ihnen Wohlstand, nahm ihre
Felle entgegen, die zu hochwertigen Pelzen verarbeitet, die feinen
Damen der Gesellschaft kleideten & verzierten, deren Männer
damit die ganz persönliche Kostbarkeit, den Wert ihrer Frauen
zum Ausdruck brachten, ihren eigenen Status verdeutlichten, dafür
Vermögen zu zahlen bereit waren.
Dies bildete die Grundlage seines selbst erworbenen Reichtums,
den er bereits in jungen Jahren fast mühelos, zu seinem Erbe dazu,
verdiente.
Nach & nach lernte Rahel durch Alexander eine, ihr durch &
durch fremde Welt kennen, hörte ihm nächtelang zu, wenn er ihr
erzählen musste von so gut wie allem: seiner Mutter, seinem
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Vater, seinem einzigen Bruder, der freiwillig aus dem Leben
gegangen war, von dessen Liebeskummer und von ganz früher, als
sie beide, er & sein Bruder, noch Kinder gewesen waren.
Wie Frau Sommerfeld, Alexanders Mutter, gewesen war, ihre Art,
ihre Leidenschaften, ihre Talente, wie sie sich kleidete, alles
wollte Rahel wissen, ließ sich ihre Gewänder, ihre Frisur, ihren
Schmuck bis ins Detail beschreiben.
Nie hätte sie sich so einen Lebensstil vorstellen können, niemals
träumen lassen, dass es so etwas gab, nie hatte sie von etwas
Ähnlichem gehört.
Zum ersten Mal beschäftigte sie sich mit anderen Verhältnissen,
begann zu verstehen, was es hieß oder hießen musste, keine
Existenzsorgen zu haben, und dieser Mann, dieser Alexander
Sommerfeld, in den sie verliebt war wie eine junge Stute, der,
welch‘ ein Wunder, auch sie anbetete, er stammte aus jener
Schicht von Leuten, für welche ihr Vater nur Verachtung übrig
hatte.
Ihr aber gefielen diese Geschichten, sie sehnte sich nach etwas so
Schönem, Leichtem, sie würde dafür gewiss nicht das
Wesentliche, wie der Rabbi es nannte, vergessen. Sollte sie
tatsächlich eines Tages Alexanders Frau werden, würde sie
bestimmt nicht auf ihre eigene Familie vergessen, könnte endlich
etwas für sie tun, ihnen zu einem besseren Leben verhelfen.
Alexander aber hatte in Rahel zum ersten Mal jemanden getroffen,
den das überhaupt interessierte, schier begann er selbst daran
Gefallen zu finden, betrachtete bald auch seine Vergangenheit und
die, seiner inzwischen verstorbenen Familie, mit Staunen &
Interesse.
Für Rahel war dies alles neu, für ihn aber wurde sie die Quelle
seiner Inspiration, er hörte von ihr, welch‘ einfache, bescheidene
& arme Juden es gab, von Leuten, die sich über jeden Schritt,
jedes Wort Rechenschaft gaben, in Ghettos lebten & darbten, aber
auch mit großer Tapferkeit sich und die ihren über Wasser hielten.
Hörte von mittellosen Gemeinden, die alles Geld
85
zusammen-legten, um sich einen Rabbiner leisten zu können, der
ihnen von ihrem Gott predigte, sie in allem unterwies, ihnen den
rechten Weg zeigte, von Menschen, die für ihre Überzeugung
durchs Feuer gingen, den jüdischen Traum in der fernen Diaspora
aufrecht erhielten.
Rahel hatte nie die kleinste Gabe umsonst bekommen, immer
betteln müssen, eigentlich gar nichts verlangen dürfen. Für sie
waren Schokolade, Fisch, Fleisch kaum denkbar gewesen, ja eine
solche Forderung wäre als ein Frevel ohnegleichen gesehen
worden.
Ihr Vater, der Rabbiner, prüfte sie bei den gemeinsamen
Mahlzeiten Griechisch & Latein, brachte ihnen in den langen
Wintern das Hebräische bei, dessen fehlerfreie Beherrschung er
von seinen beiden Töchtern verlangte.
Ihre Mutter war eine unterwürfige Frau, wie es sich für die
Gefährtin eines Rabbiners geziemte. Sie widersprach ihm nie,
außer einem einzigen Mal, nämlich, als sie sich wünschte, ihre
erste Tochter möge Rahel heißen.
Da eine Reihe von Fehlgeburten hinter ihr lag und auch ein
glaubensstrenger Rabbiner ein Mensch war, erlaubte er es ihr am
Ende trotz seiner Bedenken, obwohl er vielleicht etwas
vorausahnte, das sich viele Jahre später bestätigen würde.
Es sollte keines seiner Kinder, die Gott ihm vielleicht schenken
würde, diesen tödlichen Namen tragen, denn die biblische Rahel Jakobs große Liebe, Mutter von Joseph & Benjamin, war bei der
Geburt von Benjamin gestorben, Rahel, um die er sieben & sieben
Jahre hatte dienen müssen, denn zuerst war ihm ja am
Hochzeitstag ihre ältere Schwester als tief verschleierte Braut,
untergeschoben worden.
Jene Rahel aber, das liebreizende Mädchen, in das Jakob sich
beim ersten Anblick, als es am Brunnen so anmutig Wasser
schöpfte, verliebt hatte, war um weitere sieben Jahre in die Ferne
gerückt.
Ein kleines Detail, das Alexander aus den Erzählungen seiner
86
Rahel behalten sollte und woran er an seinem & ihrem
Hochzeitstag mit einer scherzhaften Bemerkung erinnern würde.
Ganz anders dagegen Alexanders Mutter, die Autos fuhr, Pferde
besaß, fremde, aber lebendige & anwendbare Sprachen sprach,
nicht etwa Hebräisch oder Altgriechisch, Sprachen, die sie sich
nicht einmal mühsam aneignen musste, sondern zum Hause
Weizmann
gehörten wie das Kaffeeservice oder das
Silberbesteck.
Nichts in ihrem Leben schien ihr je schwer gewesen zu sein, sie
lebte, ohne es zu wissen im Himmel schon auf Erden, war stolz &
tolerant mit sich und anderen, launisch & lieblich, oberflächlich
gleichermaßen wie gebildet, streng & sentimental. Nichts &
niemand stellte sie je in Frage, alles, was sie tat, war in Ordnung,
denn sie bestimmte es selbst, besaß von Geburt an die Freiheit tun
& lassen zu können, was sie wollte.
Umso mehr müsste sie sich wundern über ihren Sohn, dem so ein
weltfremdes Mädel aus einem koscheren Rabbinerhaushalt gefiel,
und der sich trotz seiner Herkunft so seltsam einfach gab. Gerade
wie damals die Geschichte mit seinem Bruder und dem
Dienstmädchen. Was dies betraf, schien sie mit ihren Söhnen kein
Glück zu haben, sie meinte es nicht böse, sie konnte nur nicht
damit umgehen, aber vielleicht hätte sie es beim zweiten Mal
akzeptiert, es hätte ihr schließlich egal sein können, was ging es
sie an, sie würde keinen zweiten Jungen verlieren für eine Sache,
die sie nicht ernst genommen hatte oder nicht ernst genug, sie
würde es ihm hingehen gelassen haben. Eine religiöse
Schwiegertochter, warum nicht, vielleicht war es gerade dies, was
ihnen fehlte in ihrem Überfluss.
Alexander dachte oft an seine Mutter, denn er vermisste sie
schmerzlich, hatte sie geliebt wie niemandem sonst, kannte sie nur
als schöne junge Frau, würde sie nie wieder sehen, und doch
begleitete sie ihn überall hin, das wusste er. Gewiss würde sie
Rahel genauso außergewöhnlich finden wie er, sie würde
87
bestimmt nichts einzuwenden haben und ihm sein Glück gönnen
und es fördern.
Alexander war unendlich beeindruckt von Rahels anderem
Wissen, ihrer strengen Erziehung, ihrer natürlichen Schönheit,
ihrer Gescheitheit, die eine ganz andere war als die seiner Mutter,
seiner Tanten, der Freundinnen seiner Mutter, der Leute, mit
denen man bei ihm zu Hause verkehrt hatte.
Rahel war von besonderer Tiefe & Schärfe, was ihm mehr
imponierte als das weltgewandte selbstverständliche luxuriöse &
überflüssige Wissen der Reichen.
Rahel besitzt kaum Geld für ihren Studienaufenthalt in
Stockholm, sodass Alexander sich wundert, wie ihre Eltern
denken können, dass sie damit durchkommen könnte.
Er erkennt sofort ihre Not, ihre Scham, darüber zu reden, schickt
ihr bald Geld in Briefkuverts, geht mit ihr Kleider kaufen, Schuhe,
lädt sie zum Essen ein in Restaurants, holt sie mit dem Wagen von
der Universität ab, fährt mit ihr am Wochenende aufs Land, in die
Schären.
Sie übernachten in Hotels, nehmen sich Zimmer, wo sie
miteinander schlafen, eine Ungeheuerlichkeit noch Ende der
Zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, zu Anfang der
Dreißigerjahre, für eine Rabbinertochter nicht nur.
Rahel sieht erstmals, wie mit Geld allein alles zu haben ist,
niemand stellt mehr eine einzige Frage, ihre Angst vor so gut wie
allem, löst sich nach & nach in Luft auf.
Alexander macht sich über ihre vielfältigen Ängste dauernd lustig,
erschreckt sie mit plötzlichen Attacken & Scherzen. Je besser er
sie kennenlernt, umso mehr kann er sie necken.
Fast jedes Mal gelingt es ihm, sie zu schockieren und sich über
ihre anschließende Entspannung, ihren Sturz vom absoluten
Schreck in die totale Erleichterung zu freuen.
So lockert & löst er allmählich ihr, bis dahin so strenges Leben
auf in Zuversicht, lässt sie ihre verklemmte Erziehung &
Anschauung in seinen Armen vergessen, die Furcht vor Prüfungen
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genauso wie die vor ihrem Vater, davor, dass ihnen jemand auf der
Straße, in einem Kaffeehaus, einem Restaurant, einem Hotel
begegnen könnte, der die Neuigkeit nach Hause trägt in Rahels
Elternhaus.
Einmal war es aber doch zu einer brenzligen Situation gekommen,
denn sie wurden von einem anderen Tisch aus beobachtet, und
Rahel erkannte einen Lehrer aus ihrer Heimatstadt, der mit
einigen anderen Leuten just hier in Stockholm zu Abend speiste.
Alexander ging beherzt hinüber, stellte diskret die Bezahlung der
Zeche des gesamten Tisches in Aussicht, wenn man nichts
gesehen hätte. Rahel schwitzte & zitterte derweil, sie war
außerstande, sich vorzustellen, dass er auch diese Angelegenheit
meistern würde.
Vielleicht war es absurd zu glauben, in einer Stadt wie Stockholm
nicht mit einem Mann gesehen werden zu dürfen, vielleicht hätte
niemand etwas erfahren, der Lehrer nichts dem Vater erzählt, ja,
sie nicht einmal bemerkt oder bemerken wollen, allein Rahel war
außer sich vor Angst, verraten zu werden, klammerte sich
kreidebleich an das Tischtuch, verlor die Nerven.
Doch, wenn Alexander bezahlte, die Scheine auf die Budel
blätterte, diesem & jenem etwas zusteckte, war alles erledigt.
Sie erlebte, wie der andere auf der Stelle begriff, was zu tun war
und worüber er zu schweigen hatte.
Er war für Rahel der feinste junge Herr von Stockholm, bestimmt
von ganz Schweden, der übrigen Welt sogar. In Wahrheit kam sie
nicht mehr zum Nachdenken, verfing sich in seinen Netzen, erlag
täglich & nächtlich seinem Charme und der Leichtigkeit des
Lebens an seiner Seite.
Er war gut zu ihr, nie etwas anderes als das, kein Dandy, sondern
ein Gentleman, jemand, der nichts wollte, als mit ihr leben,
irgendwann mit ihr seine Familie haben, ein Haus, Gespräche am
Kamin, die Ruhe nach dem Tag, Geborgenheit nach seinen Reisen
in den Norden.
Sie sollte seine einzige Frau sein, seine ganze Heimat, dereinst auf
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ihn warten mit den Kindern in der Küche, im Garten, den Sorgen
& Freuden einer Familie, wenn er heimkam. Er sehnte sich nach
einem Heim, einer Rahel mit Schürze, doch dies wusste sie nicht.
Er wollte viele Kinder haben mit ihr, sich auf deren Geburt freuen,
darauf, dass sie dicker & dicker wurde, sie verwöhnen, von ihnen
erzählen oben im Norden, wo er die Menschen immer darum
beneidete und ein solches Leben, wie sie es führten, für sich
erträumte.
Denn so einfach sie auch lebten, sie hatten diese Dinge ganz.
Reduziert auf das Wesentliche, Mann & Frau, Buben & Mädchen,
Lachen & Weinen, Eltern & Großeltern, alles durcheinander und
doch geordnet, alte Geschichten weiter getragen durch ein schier
unendliches Gedächtnis, eine Melodie namens Familie seit
Menschengedenken.
Was gab es Größeres, Schöneres, Imposanteres? Das wirkliche
wie das ideale Leben bestand für Alexander aus diesem Lied auf
Erden, wo man sich das Glück im Diesseits wie im Jenseits
verdiente oder verwirkte.
Lange hatte er nicht die richtige Frau dafür gefunden, denn zum
einen war er schüchtern, zum anderen konnte er sich beim besten
Willen nicht vorstellen, so wenig wie einst sein Bruder, ein
Mädchen zum Heiraten in den Kreisen seiner Herkunft zu finden.
Zwar waren ihm bei Gesellschaftsabenden, auf Bällen &
Empfängen seiner Eltern Fräuleins vorgestellt worden, das eine
oder andere sogar mit Nachdruck, doch immer hatte er das
Interesse anderer im Hintergrund gespürt. Junge Damen, die
gezwungen waren, zu sein wie es verlangt wurde, damit sie eine
gute Partie abgaben und eine noch bessere fanden.
Nicht dass sie ihm nicht gefallen oder leid getan hätten, doch er
spürte keine Leidenschaft, keinen Drang, keine innere Freude, mit
ihnen zu verkehren. Sie strahlten nichts aus, waren wohlerzogen,
gut gepflegt, schön gekleidet, mit Französisch & Klavierspielen
aufgewachsen, hatten mitunter Stammbäume wie gute Pferde, und
doch fand er keinen Zugang zu jener Welt, in die er doch selbst
90
gehörte.
Niemand hätte seine Neigungen & Ängste, seine Sehnsucht, seine
Trauer verstanden, nicht einmal, wenn er aufrichtig versucht hätte,
sie zu erklären. Es existierte seine Welt ja gewissermaßen noch
nicht, er war erst auf der Suche nach ihr, wollte fort aus der
scheinbaren Sicherheit einer reichen Familie, um etwas Neues zu
finden, das er noch gar nicht kannte. Er mochte keinen fertigen
Entwurf übernehmen, keinen bewährten Plan, keine Theaterrolle.
Es kam ihm so vor, als spielten alle um ihn herum nur, als wüssten
sie wie man sich geben musste, als hätten sie es irgendwo gelernt.
Kaum ein Mädchen unterschied sich vom anderen, sie trugen die
gleichen Schuhe, die gleichen Hüte, die gleichen Frisuren,
kannten dieselben Tänze, das gezierte Benehmen, die längst
überlegten Antworten, die klangen, als hätten sie einen Sprachkurs
besucht. Die Themen waren vorgegeben, auch er wusste, hatte
tausendmal gehört, was man ein Mädchen fragen konnte, wie man
sie zum Tanz aufforderte und was sie darauf entgegnete und vor
allem, wie sie es tat.
Es herrschte keine Spannung, es gab kaum Überraschungen, nur
Harmonie, Gleichklang, Entrüstung, Verlegenheit bei der kleinsten
Ungewöhnlichkeit, schon ein unüblicher Ausdruck, eine
Ungeschicklichkeit, ein Missverständnis führte zu Aufsehen &
Gekicher, Getuschel und mitunter zu den seltsamsten
Vermutungen & Gerüchten. Weil so wenig klar & eindeutig war,
wurde hinter allem ein Geheimnis vermutet, ob man seine
Partnerin zu locker oder zu eng beim Tanz führte, wie oft man mit
wem gesprochen oder gescherzt hatte, wobei jeder Witz, den man
sich erlaubte, die fatalsten Folgen haben konnte. Es war ein
Seilakt jedes Mal zwischen absoluter Langeweile und dem
allgemeinen Warten auf ein Geschehnis, das leicht zum Skandal
werden konnte.
Alexander war dieser Veranstaltungen & Gepflogenheiten so
müde gewesen, dass er nicht zuletzt ihretwegen sein Elternhaus
verlassen hatte, ohne gegen jemanden persönlich etwas zu haben,
91
am allerwenigsten gegen seine Eltern oder die Freunde des Hauses
an sich. Es war die ganze manierliche, gebildete Gesellschaft, die
ihm zu schaffen machte.
Er wusste von Frauen, die ihre Kinder nicht selbst versorgten oder
gar stillten, für ihren Mann keinen Finger rührten, dafür war
schließlich das Personal da.
Frauen, die, Gott weiß was, den ganzen Tag taten, denn sie
kümmerten sich oft kaum um ihre Säuglinge, die sie gerade
geboren hatten, waren genug mit sich und ihrem Zustand
beschäftigt, unterhielten sich stattdessen untereinander über die
neueste Mode, die nächste Sommerfrische, die Ballsaison, die
Figur, überließen die Mühsal der Mutterliebe & Muttersorge
Kinderschwestern & Ammen.
Sie erachteten ihre Schwangerschaften & Geburten als die
ultimative Leistung ihrer Person, thronten wie Königinnen in
ihren Salons, misslaunig & gelangweilt, litten an Depressionen &
Hysterien.
Die Bediensteten standen bereit, so gut wie jede Arbeit zu
übernehmen, jede Flause der Gnädigen zu ertragen, ihre
Frustration, ihren Ärger, die wohl nichts als tiefe Traurigkeit war,
denn nicht selten ging der Gemahl fremd, vergnügte sich während
der Schwangerschaften, nach den Geburten, und wann immer er
nicht zu seinem Recht kam, mit anderen Frauen, sodass die Liebe
bald abhanden kam und man sich jetzt meistens über die Untreue
des Gatten beklagte, seine Kälte, überhaupt die ganze Last, zu der
das Leben geworden war.
Die Neugeborenen ließen sie gewöhnlich von Ammen säugen, oft
genug arme Frauen, Bäuerinnen, Nachbarinnen, deren eigene
Kinder in jeder Hinsicht zu kurz kamen, Kinder, die später mit
ihren Milchgeschwistern nicht spielen durften, ihre eigene Mutter
aber teilen mussten für das bisschen Geld, das sie dafür nach
Hause brachte.
Die Kinder aus den reichen Haushalten waren ebenso fordernd
wie ihre Eltern. Die Aufmerksamkeit, welche ihnen verwehrt
92
wurde, holten sie sich rücksichtslos bei den Ammen &
Kinderfrauen.
Davon wollte Alexander nichts mehr wissen, auch für ihn und
seinen Bruder war es so gewesen, obwohl seine Mutter freundlich
zu allen & fröhlich gewesen war, großzügig bei der Bezahlung,
obwohl seine eigenen Eltern sich wirklich geliebt hatten, so sehr
sogar, dass die eigenen Kinder sie oft in ihrer Verliebtheit &
Turtelei störten.
Eingedenk dieser Erfahrungen wollte Alexander von Anfang an,
unabhängig von zu Hause sein Leben aufbauen mit seinem
eigenen Können & Dafürhalten.
Seine Mutter war gegen die anderen eine recht gute Ehegattin
und sogar einfühlsame Mutter gewesen, zwar nicht für
tatsächliche Arbeit vorgesehen oder erzogen, doch respektierte sie
zeitlebens ihren Mann als Herrn nicht nur, sondern als ihren
alleinigen Geliebten & Gebieter, wie sie sich pathetisch
ausdrückte, hinterging ihn nie & wurde nie von ihm betrogen.
Sie liebten einander, so wie sie waren, bestanden aus demselben
Holz, genossen einander, vor allem in den frühen Jahren, doch
auch nach der Sesshaftwerdung gab es nie eine ernste
Unstimmigkeit oder Streit zwischen ihnen.
Ihre Söhne liebten sie sogar über die Maßen, nie wurden sie
geschimpft oder gar verprügelt, sie achteten auf einen äußerst
gepflegten Umgang im Hause Sommerfeld.
Wie die Angestellten sich den Kindern gegenüber nett zu
benehmen, sie mit feinen Methoden zu unterweisen hatten, so
verlangte die Mutter bereits von den Knaben, und später, als sie
heranwuchsen, als junge Herren, ein ebenso makelloses, höfliches
Verhalten ihnen gegenüber.
Doch seither sind Jahre vergangen, die Eltern leben nicht mehr,
Alexander ist endgültig nach Stockholm gezogen und hat von dort
aus sein zunächst kleines Pelzhandelsimperium aufgebaut.
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Irgendwo im Hintergrund gab es ein Erbe, das er nie antasten,
sondern unbesehen seinen Erben übergeben wollte, denn, was das
Geschäftliche betraf, war er zu hundert Prozent der Sohn seiner
Väter. Für ihn zählte im Grunde nur selbst erworbener Wohlstand.
Es bereitete ihm indes keine Probleme, Geschäftsstrukturen
aufzubauen, doch, was ihm fehlte, war jemand, für den es sich
lohnte, all das auf sich zu nehmen und überhaupt Geld zu
verdienen, denn für sich selbst war er bescheiden, zwar
wirtschaftlich gebildet, in den oberen Gesellschaftsschichten
beheimatet, über beste Verbindungen & Umgangsformen, sogar
gutes Aussehen verfügend, und doch sehnte er sich nach mehr als
Unterhaltung & Genüssen, nach Kunst, Frauen, Affären. Ihm war
nach einer Philosophie, einer Religion, wie selbst einfache
Menschen, so meinte er, sie hatten.
Seit sein Bruder in den Tod gegangen war, hatte sich alles in und
um ihm verändert, vieles seinen Sinn verloren, war er traurig &
einsam geworden, ohne Eltern stand er da, auch sie waren nicht
darüber hinweggekommen. Zum ersten Mal hatten sie versucht,
ohne einander mit etwas fertig zu werden, sodass die Mutter
diesen fast gewöhnlichen Autounfalltod gesucht zu haben schien
wie eine Erlösung aus der Qual des Schmerzes, für den sie keine
Linderung fand, während der Vater das Trinken anfing, sich
Abend für Abend vor dem Kamin in die Bewusstlosigkeit trank,
obwohl er Alkohol verabscheute, kein Viertel Wein, kein bisschen
Whisky vertrug. Dennoch hatte er keine andere Lösung, keine
bessere Idee, sodass die Nachricht vom Verschwinden seiner Frau,
ihrem höchstwahrscheinlichen Tod auch ihn zu Fall brachte, sein
Herz versagen ließ. Der noch herbeigerufene Arzt konnte ihm
nicht mehr helfen, er fand einen verfallenen, verkrampften Körper
vor, der nicht mehr weiterleben konnte und nicht mehr
weiterleben wollte.
So veränderte sich gleichermaßen nach & nach wie auch ganz
plötzlich nicht nur Alexanders persönliche Welt, sondern die Welt
wie es aussah, als ganzes. Es gab politische Meldungen, die man
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früher nicht gehört hatte, alles schien im Umbruch zu sein, sich zu
verändern, sodass niemand mehr wusste, woran er war, wie die
Nachrichten zu beurteilen seien, ob an den Gerüchten etwas dran
war, die aus dem Ausland drangen oder ob man sich in Sicherheit
wiegen durfte, wenigstens, was die Landesgrenzen anbetraf.
Sein äußerliches Leben unterschied sich in nichts von dem
anderer erfolgreicher Leute, er galt nach wie vor als begehrter,
aber schwieriger und bereits etwas älterer Junggeselle, was seiner
Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat.
Doch, was er nicht mehr zu hoffen wagte, geschah eines Tages –
er verliebte sich in dieses Mädchen, das Rahel hieß und nichts
Geringeres, nichts Seltsameres als die Tochter eines Rabbiners
war.
Plötzlich gab es nur noch sie, Zeit für sie, Gedanken für sie, man
konnte vieles einfacher & anders erledigen, sich Laufburschen &
Angestellte bezahlen, nicht mehr alles selber machen, Rahel stand
jetzt im Vordergrund, er musste mit allen Mitteln um sie werben,
sie einfangen, für sich gewinnen.
Doch, was er nicht wusste, sie war ihm längst erlegen, in ihn
verliebt wie ein junges, scheues Reh, ihm verfallen, weit mehr als
er ahnte.
Und als sie in jenem Herbst nach Stockholm zurückkehrte, hatte
sie eine unerhörte Idee im Gepäck, für sich & Alexander eine
Lösung gefunden, die er nicht auszudenken gewagt hätte.
Eine Idee, die sie ihm unterbreitete, als er vollkommen erschlagen
& ihr ergeben war, nämlich eines Sonntags am spätern Abend
nach einem Ausflug in die Schären.
Wieder war sie nicht in ihre Studentinnenbude, ihre gestrenge
Untermiete zurückgekehrt, sondern ihm gefolgt, wie ein
herkömmliches Flittchen beinah, das wusste sie längst selbst, weil
sie gerade so eines war im Moment, womöglich für immer sogar,
ahnte bereits, dass im Grunde keine noch so sittlich verheiratete
Frau, wenn sie ihren Mann wirklich liebte, je etwas anderes sein
95
konnte. War ihm also gefolgt in sein vornehmes Stadthaus, hatte
sich ein weiteres Mal gerne von ihm verführen lassen, ihn wieder
& wieder selbst verführt, ihm damit für alles gedankt - das
wundervolle Wochenende zum Beispiel, das ihn in ihren Augen so
unglaublich viel Geld gekostet hatte, so viel, wie sie, ja, wie ihre
Eltern, in einem ganzen Monat zum bloßen Leben nicht zur
Verfügung hatten.
Alexander, ich kann dir nur danken, indem ich Dir das einzige
gebe, was ich habe, meinen Körper, meine Liebe, verstehst du!
Du weißt inzwischen, was das für mich bedeutet, dass ich dafür
meine Familie belügen & verlassen muss, aber ich habe und will
nichts anderes mehr, das musst du mir glauben.
Und weil ich mir in aller Zukunft kein Leben ohne dich vorstellen
kann, habe ich mir folgendes ausgedacht:
Sie schluckte & schnaufte, fing mehrmals und verschieden von
vorne an, bis sie in verblüffender Offenheit & Einfachheit
folgendes hervorbrachte:
Wenn ich von dir schwanger werde, kann mein Vater nichts mehr
gegen eine Heirat mit dir unternehmen.
Ich werde ihm das Herz brechen, in tödlich enttäuschen, aber es
ist die einzige Möglichkeit.
Lass uns ab jetzt immer miteinander schlafen, damit ich ein Kind
von dir bekomme und mein alter Vater & Gelehrter auch nichts
Besseres wissen wird, als mich mit dir zu verheiraten, mich Dir zu
geben, ja, darin die einzige Rettung sehen wird.
So bleibt ihm nur ein Ausweg, um das Gesicht und die Ehrbarkeit
nicht ganz zu verlieren, und dieser Ausweg ist unsere Lösung,
unser Glück.
Rahel, hast du den Verstand verloren!?, so Alexander, der nach
der Anstrengung bereits beim Einschlafen ist und seinen Ohren
nicht traut und meint, geträumt oder sich verhört zu haben.
Doch sie wiederholt es, wie sie es sich immer & immer wieder
vorgesagt hatte, ja, da war es wieder, er träumte nicht, er schlief
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nicht, denn er hörte den Satz noch einmal: Lass uns ab jetzt immer
miteinander schlafen, damit ich ein Kind von Dir bekomme und
mein alter Vater auch nichts Besseres wissen wird, als mich mit
dir verheiraten zu müssen!
Alexander fällt schier ohnmächtig vom Bett auf den Boden, als sie
auf dieser Ungeheuerlichkeit beharrt, die sie ihm, noch trunken
von der Liebe und alles Ernstes präsentiert.
Aber sie beide sind in diesem Moment ohnehin nicht mehr ganz
bei Trost.
Alexander, weil er nach dem Geschehen müde & schwer
daniederliegt, nachdem er sie nach einem langen Wochenende
endlich flachlegen konnte und Rahel, weil sie ähnlich erschöpft
ist, was es ihr allerdings ermöglicht, endlich den lange
verschwiegenen Vorschlag im dafür richtigen Augenblick, wie sie
findet, vorzutragen. Im vollen Besitz ihres Verstandes hätte sie es
nicht über die Lippen gebracht, aber jetzt in dieser
Ausnahmesituation des Sieges und der Niederlage zugleich,
gelingt es ihr endlich, es ihm zu sagen.
Doch Alexander trifft es völlig unvorbereitet, kein Wunder, dass er
weder hört noch versteht.
Mit ihrem letzten Satz im Ohr schläft er zufrieden ein, während
sie noch redet & weiterredet, an ihren eigenen Worten nicht satt
werden kann, sich berauscht an ihnen, wie sie sich alles vorstellt,
was sie für ein Leben haben werden, Alexander, du & ich, hörst
du?
Sie zeichnet, als könne sie nie mehr aufhören, ein, wie sie ihm
später gesteht, minutiöses Bild ihrer beider Zukunft.
Als sie bemerkt, dass er schnarcht, rüttelt sie ihn wach,
überschüttet ihn mit Tränen & Vorwürfen ob seiner
Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Wahrsagerei, die sie glasklar vor
sich sieht, so genau, als läge alles bereits hinter ihr.
Ja, Rahel! Lass mich schlafen. Sei still. Leg dich wieder hin.
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Schlaf jetzt. Das geht nicht, das ist unmöglich, aber nett, dass du
es versucht hast.
Sie ringt ihm ein Versprechen ab, an das er sich weder am
nächsten Morgen noch am nächsten Abend richtig erinnert, leise
an den Inhalt zwar, nicht aber daran, dass er ihr diesen
Schwachsinn zugesagt hatte.
Denn er selbst lebt in einer Haidenangst vor diesem Rabbiner, der
ihm nicht geheuer ist, sogar ab & zu im Traum erscheint, mit
erhobenem Zeigefinger, schwarzem Hut & fliegenden
Mantelschößen.
Ohnehin hoffte Alexander dauernd, dass dieses Mädchen nicht auf
einmal daherkommt und behauptet, schwanger zu sein! Du lieber
Himmel, bloß das nicht! Wie konnte & könnte er realisieren, dass
sie es gerade darauf anlegte!
Was hatte er sich nicht schlau gemacht über den weiblichen
Zyklus, der ihm ein Mysterium war wie die Kabbala, schwierig
genug, darüber überhaupt irgendwelche Informationen zu
erhalten.
Was hatte es ihn nicht Geld in Form von Abendessen &
Einladungen gekostet, um diese peinlichen Fragereien tätigen zu
können, hinter diese Dinge wenigstens annähernd zu kommen.
Ein, zwei Pastoren, einen Popen & Priester anderer Konfessionen,
einen Arzt, einen Apotheker sogar hatte er angesprochen
deswegen, ach, es war erniedrigend gewesen, die Art wie sie ihn
belehrten, aufklärten, abblitzen ließen, sich lustig machten, sich
entrüsteten, zu süffisanten Antworten anhuben, richtig schlüpfrig
wurden, um am Ende meistens gar nichts zu sagen.
Nichtsdestotrotz aber sich für ihr Schweigen, ihre sinnlosen
Ratschläge, für ihre nichtsnutzigen Aussagen Pelze schenken
ließen.
Dennoch hatte er sich das wenige, was er aus ihnen herausbekam,
akribisch aufgeschrieben, nachgerechnet, Tabellen angelegt,
weiter nach Büchern gesucht, doch selbst bei medizinischen
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Darstellungen war es schwer, einen brauchbaren roten oder
wenigstens rosa Faden zu finden, denn entweder stand gar nichts
darüber da, oder die Beschreibungen waren über weite Strecken
unverständlich.
Keine wirklich brauchbaren Beispiele, nur dürre Zeichnungen und
endlose Beschreibungen, auf- & zu klappbare Schablonen, die in
Gedärme führten, Nerven & Blutgefäße offen legten, in alle
möglichen Organe Einblick gewährten, nicht aber einen Ort
zeigten, der Alexander weiter geholfen hätte.
Dennoch war er viel fortgeschrittener als früher, wo er so gut wie
gar nichts darüber gewusst hatte.
Nicht dass es ein Problem an sich dargestellt hätte, doch mit Rahel
und ihrem unheimlichen Hintergrund wäre es wohl für jeden
unlösbar gewesen. Die Sexualität ohne Trauschein machte ihn
schier verrückt, und doch war es längst zu spät.
Er hätte ja nichts lieber mit ihr gehabt als Kinder, sie geheiratet,
sofort & auf der Stelle, wenn nicht ihre komplizierte Herkunft,
diese, ihm völlig fremde Welt, aus der sie kam, gewesen wäre.
Er hatte keine Ahnung, wie er jemals aus diesem Desaster
herauskommen sollte, was, wenn sie ihr Studium einmal beendet
haben wird, er wusste ja nicht einmal, wie das Ende des Tages, der
laufenden Woche aussehen würde. Wie sollte er überhaupt noch
etwas planen? Jeden Augenblick konnte diese Beziehung
zusammenbrechen, eine völlig unverständliche Wendung nehmen.
Wie, wenn er sie nicht bekam und was, wenn er sie heiratete?
Fragezeichen über Fragezeichen.
Doch sie ließ nicht locker, bestand auf der wenigstens
probeweisen Durchführung ihres skandalösen Plans.
Probeweise?! Wie stellst du dir das vor? Probeweise? Spinnst du
komplett? Sollen wir probeweise ein Kind fabrizieren, oder was?
Ja, genau, fangen wir zuerst mit einem an!
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Konnte ein so gescheites Mädchen derartig den Verstand verlieren
oder band sie ihm einen Bären auf?
Am Anfang achtete Alexander, wie eigentlich schon immer, auf
die vierzehn Tage, ließ sich genau über den Zeitpunkt des
jeweiligen ersten Datums ihrer Regel berichten, verhandelte mit
ihr darüber, als wären sie Jahre miteinander verheiratet, als
müssten sie sich vor einem Rechtsanwalt dafür verantworten.
Doch das schien ihm bei aller Peinlichkeit immer noch besser, als
sich ohne weiteres auf ihr Vorhaben einzulassen.
Dann erinnerte er sich, dass sie anfangs etliche Male gar nicht
darauf geachtet hatten und nichts passiert war.
Bald aber konnten sie wieder nicht an sich halten, nichts geschah,
sodass sie nach & nach die Vorsichtsmaßnahmen erneut fallen
ließen.
Und doch muss Rahel selbst so angespannt & ängstlich gewesen
sein, dass sie entweder insgeheim aufpasste wie eine
Haftelmacherin oder mit ihrer Furcht vor einer Schwangerschaft
und ihren ungeheuren Folgen, dem Stress mit dem Studium, ja,
dem ganzen verbotenen & entnervenden Leben, das sie in
Stockholm führte, den Zyklus unter Kontrolle hielt.
Alexander begann zu scherzen: nicht einmal eins meiner
Millionen & Milliarden Spermien wagt sich an ein einziges deiner
Eierchen heran. Niemand will schließlich schuld sein an dem
Tohuwabohu mit der Rabbinertochter!
Denn wie einst der biblische Jakob sieben Jahre um Rahel dienen
musste, sollten jetzt wieder sieben Jahre vergehen, sieben Jahre, in
denen zwar Alexander nicht wirklich um sie diente, doch auf
gewisse Weise das Seine ausstand.
Die ständige Angst, entdeckt zu werden, stellte ein eigenes
Kapitel dar, die Unmöglichkeit, anders zu handeln, ein weiteres.
Für jedes Paar wäre dies zu jener Zeit ein Skandal gewesen, es
war schlicht undenkbar, sich außerhalb oder vor der Ehe
miteinander ins Bett zu legen, nicht nur wegen der
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Rabbinertochterschaft von Rahel, sondern überhaupt, und hätte
Alexander nicht ein eigenes kleines Stadthaus bewohnt, nicht so
viel Geld & Möglichkeiten gehabt, nie hätte sich so ein
Verhältnis aufrecht & geheim halten lassen. Alles, was mit Mann
& Frau, mit Liebe & Sexualität zu tun hatte, wurde versteckt,
unterbunden, an den Rand gedrängt, verschwiegen.
Rahel nämlich war schließlich aus ihrem Fräulein-Zimmer zu
Alexander gezogen, wohnte nun dauerhaft bei ihm, sogar, wenn er
nicht in der Stadt, sondern unterwegs im Norden oder irgendwo
im Ausland war und seinen verzweigten Geschäften nachging.
Sie brauchte sich nicht mehr in einem quasi öffentlichen &
entwürdigenden Untermieterverhältnis kontrollieren & bespitzeln
zu lassen, sondern trug den Schlüssel für ein ganzes Haus bei sich,
ging jetzt erhobenen Hauptes dort ein & aus.
Oft kam er Monate nicht zurück, fuhr mit dem Schiff nach
Nordamerika, nach Südamerika. Überall hatte er Kunden,
Verbindungen, Geschäftspartner, Freunde.
Je nach Aufenthaltsort telegrafierte er, telefonierte mit ihr, sie
besaß in seiner Abwesenheit die Vollmacht über seine Konten,
überprüfte gewisse Eingänge & Anweisungen, sie war bereits sein
Büro.
Unnötig, weiterhin eine Ganztagssekretärin anzustellen, die flinke
Rahel, leicht von Begriff, tat alles, wie Alexander es ihr gezeigt
hatte, kontrollierte die ihr vorgelegten Listen & Tabellen, füllte sie
aus, und bald fielen ihr nicht mehr die Augen aufs Papier über die
Höhe der Summen, um die es mitunter ging.
Seine Idee, sie für diese Arbeit zu bezahlen, wirkte beflügelnd,
brachte sie dazu, neue Vorschläge einzubringen, Mappen
anzulegen, Adresslisten zu schreiben, ein Archiv aufzubauen, und
am Ende staunte Alexander über die Organisation dieser kleinen
Person, welche in seiner Abwesenheit agierte, als hätte sie
Wirtschaft studiert, während sie doch gleichzeitig fremde
Sprachen lernte, völlig andere Prüfungen ablegte, die rein gar
nichts mit der Welt des Kapitals und der Vermögensverwaltung zu
101
tun hatten.
Im Schutz der Großstadt war eben alles möglich, denn hätte auch
nur irgendwer in der Kleinstadt, aus der sie stammte, erfahren, in
was für Verhältnissen neuerdings Rabbiner- oder Pfarrerstöchter
lebten, es wäre nicht auszudenken gewesen, auch gab es dafür
wohl kaum einen Präzedenzfall.
Rahel studierte trotzdem fleißig, wusste, was sie ihren Eltern
schuldig war, obwohl sie längst nicht mehr von deren
bescheidenen Zuwendungen lebte, wie hätte sie überhaupt jemals
davon leben können sollen?
Aber, sie machte ihnen keinen Vorwurf, sie verstanden es nicht
besser, meinten vielleicht, sie könnte so einfach leben wie ein
Huhn. Das Studium von Rahel war quasi der Überfluss, den sie
sich für ihre Kinder leisteten, schließlich sparten sie sich das
Wenige, das sie nach Stockholm schickten, vom Mund ab.
Vor nicht wenigen Leuten hatten sie dies zu rechtfertigen, die
nicht verstanden, wie eine so arme Familie ihre Tochter studieren
lassen konnte, wo sie doch selbst vom Wohlwollen und den
Spenden der Gemeinde lebte.
Wenn es ein Sohn gewesen wäre, kein Problem, doch für eine
Tochter lässt sich beizeiten ein Mann finden, und seit wann
bitteschön müssen denn Fräuleins studieren!
Nicht einmal die Gojim, die Christen, taten so einen Unsinn, denn
auch dort hatten sich die Frauen, die jungen Mädchen
unterzuordnen, wurden verkuppelt & verheiratet, wie es sich
gehörte. So war es seit Menschengedenken in allen Gegenden &
Zeiten gewesen.
Was für eine Arroganz dieses Rabbiners, der in Ermangelung
eines Sohnes, seine Tochter an die Universität schickte. Was
studierte sie überhaupt? Deutsch & Hebräisch? Ist das nicht
Männersache? Verwegen & vermessen schaute es aus, wenigstens
für die einfachen Menschen. Fast niemand kapierte es. Keiner
verstand auch, wie sie es schafften, diese Goldmanns, mit dem
einfachen Gehalt eines Rabbiners, das bestimmt an der
102
Untergrenze aller Einkommen lag, noch dazu ein Mädchen, in die
Hauptstadt zu entsenden.
Anstatt ihr die Regeln der Gesellschaft, aus der sie stammte,
beizubringen, sie in Frauenfragen zu unterrichten wie andere es
taten und über sich ergehen lassen mussten, ließen sie das
Mädchen zur Gelehrten ausbilden.
Das erschütterte doch die Säulen der Religion nicht nur, sondern
des Staates als ganzes!
Rahels Vater war nun im Rechtfertigungsnotstand jeden Tag
seines Lebens beinah, auch wenn er nicht direkt angesprochen
wurde, doch merkte er den Zweifel, den man ihm entgegenbrachte
an allen Ecken & Enden, wie man ihm begegnete, ihn anschaute,
seine Worten zu hinterfragen begann. Dabei waren seine
bescheidenen Geldanweisungen nach Stockholm längst bekannt
und nicht einmal ein Taschengeld für Rahel.
Früher waren seine Reden Gold gewesen wie es sich für seinen
Namen gehörte, wie es einem Geistlichen anstand, jetzt kamen
immer weniger seiner Predigten wegen. Es schmerzte ihn, er
wusste zwar warum, doch er grämte sich, denn er glaubte an seine
Tochter, sein Rahele, das ihn nicht enttäuschen würde. Viele Leute
waren eben arm und verstanden es nicht, man durfte ihnen darum
nicht böse sein, das sollte doch ein Rabbiner einsehen können.
Doch im Innersten dachte er selber so, im Innersten war es nicht
recht gewesen, er hatte gerade jene, welche ihm an den Lippen
hingen, denen er Beispiel & Halt gewesen war, enttäuscht.
Er fieberte dem Tag entgegen, da er mit seiner Frau & Marie,
seiner zweiten Tochter, nach Stockholm reisen würde, um die
Promotion Rahels zu feiern, in den ehrwürdigen Hallen der
Universität den Lohn abzuholen für einen Lebensabschnitt
besonderer Mühsal & Entbehrung für sie alle. Krone für Krone,
Öre für Öre wurden extra noch für diese Fahrt beiseite gelegt,
säuberlich verwahrt & beschriftet.
Sie waren in all den Jahren des Studiums nicht in der Lage, Rahel
in der Stadt zu besuchen, es reichte nicht, sie lebten von
103
Kartoffeln & Brot, trugen die alten, geflickten Kleider, gönnten
sich nichts.
Ingrid stopfte, nähte, besserte aus, verwertete jeden Rest in der
Schneiderei wie in der Küche, hatte längst keine Magd mehr, tat
alles allein.
Doch ihre Liebe war groß genug, sie liebte den inzwischen
schrullig & eigenbrötlerisch gewordenen Mann trotzdem, mehr
denn je sogar, obwohl es immer schwieriger mit ihm wurde, das
erkannte sie sehr wohl.
Ingrid, die aus einem strengen Pastorenhaushalt stammte, deren
eigene Mutter nichts anderes als die Dienerin ihres Gatten und der
Gemeinde gewesen war, schien die richtige Frau für diesen
Rabbiner zu sein, denn sie konnte mit Mangel umgehen, auf
Persönliches verzichten, die Knappheit in allen Belangen mit
Phantasie & übermäßigem Fleiß bewältigen.
Wie hätte sie es nicht aushalten müssen? Wo hätte sie hingehen
können? Wo denn sonst war der Platz einer Frau, wenn nicht
hinter dem Rücken ihres Mannes, an seiner Seite, Tag & Nacht,
solange sie lebte?
Sie konnte sich doch ebenso wenig wie ihr Mann vorstellen, was
Rahel in Stockholm wirklich trieb.
Dass ihre Tochter, die sie selbst geboren & erzogen hatte wie
Religion & Sitte es geboten, dieses, ihr Mädchen, mit einem
Mann in wilder Ehe lebte, über dessen Geld verfügte, inzwischen
stolz & erfahren war in allen Dingen, sich in finanzieller
Sicherheit befand, die sogar körperliche Liebe eines Mannes
genoss, ja forderte, lag außerhalb des Denkbaren.
Sie konnte sich doch ebenso wenig andere Verhältnisse als die
eignen vorstellen, hatte keine Ahnung von Leuten wie den
Sommerfelds, für die Reichtum und persönliche Freiheit zu den
Selbstverständlichkeiten gehörten, die keine Minute ihres Lebens
mit Demut & Dienen vertaten, nicht einmal einen einzigen
Gedanken an etwas anderes als ihr Pläsier verschwendeten.
104
Schließlich log Rahel zu Hause, sie würde etwas dazuverdienen
können, sich dort & da nützlich machen, man müsse ihr nichts
mehr schicken, denn sie wusste ganz genau, worum es für ihre
Eltern ging.
Sie stellten die Anweisungen ihrer geringen Beträge schweren
Herzens und schlechten Gewissens ein, denn wegen ihrer Armut
sah Rahel sich gezwungen zu arbeiten, um ihnen nicht länger auf
der Tasche zu liegen, das arme, verantwortungsvolle Kind, sie
legten dennoch für ihre Aussteuer beiseite, sparten sich jetzt
Rahels andere Zukunft vom Munde ab.
Woher hätten sie alle miteinander das Wissen haben sollen, in
welchem Überfluss ihre Tochter in der Hauptstadt lebte!
Sich von einem Sommerfeld, einem ungebildeten Pelzhändler,
dafür bezahlen ließ, mit ihr jederzeit schlafen zu können, wie
dieses Mädchen sie nach Strich & Faden hinterging & betrog.
Den Rabbiner und seine herzensgute Frau hätte der Schlag
getroffen auf der Stelle, hätte jemand die Unverfrorenheit
besessen, ihnen die Wahrheit zu sagen!
Es war inzwischen sogar so, dass Rahel für Marie Geld nach
Hause schickte, hübsche Kleider & Hüte, Schuhe, Strümpfe,
Bücher kaufte, denn die Kleine tat ihr von Herzen leid, und hätte
sie nicht befürchten müssen, ihre Eltern könnten irgendeinen
Verdacht schöpfen, sie hätte ihr noch weit mehr und viel
kostbarere Sachen zukommen lassen.
Auch ihrer Mutter schickte sie Geld, versteckt in Briefen, in denen
sie vorgab, inzwischen Sekretärin auf der Universität zu sein, in
verschiedenen Geschäften die Buchhaltung zu führen, aber doch
auch das eine oder andere für Herrn Sommerfeld in seiner
Abwesenheit erledigen zu können, wofür sie ihre Bezahlung und
gewisse Remunerationen erhielt.
Da ihre Eltern nichts von Geld verstanden, wunderten sie sich
zwar, woher Rahel dieses Talent nahm, doch das meiste
verheimlichte Ingrid ohnehin vor ihrem Mann, der darüber, so
befürchtete sie, in Rage geraten könnte. Nicht auszudenken,
105
würde sie ihm auch nur andeuten, wie viel Rahel ihr inzwischen
schickte, ja dass sie davon schon einen Teil des Haushalts
finanzierte!
Im Jänner des Jahres 1934 schloss Rahel nach insgesamt acht
Jahren ihr Studium der Germanistik mit der Doktorarbeit über
Johann Wolfgang von Goethe ab. Goethe, Dichter oder Philosoph,
Deutscher oder Kosmopolit? Und das des Hebräischen mit einem
Diplom, in dem sie die neuralgischen Schnittstellen zwischen den
frühen aramäischen und den hebräischen und den späteren
hebräischen und den griechischen Texten untersuchte.
Ihre Eltern konnten ihr, wie es der Brauch war, keine Belohnung
zum Abschluss ihrer Studienzeit zukommen lassen, wohl aber
Alexander, der ihr ein Geschenk machte, das für sie & ihn,
letztlich zum alles entscheidenden Schicksal werden sollte.
So ging sie nach ihrer Promotion auf ihre erste & letzte
Auslandsreise mit Alexander, eine Reise, gegen die ihr Vater
scharf protestierte.
Ihr könnt nicht nach Deutschland reisen!
Warum nicht!
Dort ist Adolf Hitler an der Macht!
Ja, und! Ich spreche Deutsch, ich kenne mich aus in der deutschen
Kultur, habe Goethe studiert, ihren größten Geist!
Rahel antwortete ihrem Vater frech & schnippisch, sie fühlte sich
stark & erwachsen, war jetzt jemand, jemand mit einem
Doktortitel, als Frau!
Weil es dort gegen die Juden geht!
Was soll das heißen, gegen die Juden geht?
106
Dass du Schweden nicht verlassen darfst! Hier sind wir in
Sicherheit, wer weiß, wie lange noch!
Vater, ich bitte dich, sei doch nicht so überängstlich!
Kind, nur, weil du studiert hast, glaubst du nun alles zu wissen!
Nein, bestimmt nicht, aber ich möchte ein einziges Mal eine große
Reise machen, Hitler tut uns nichts, glaub’ mir, er mag nur Leute
nicht, die mit der deutschen Kultur nichts anfangen können!
Rahel, hast du vergessen, dass wir Juden sind? Durch & durch!
Dass wir verfolgt werden seit fast zweitausend Jahren, seit wir
Jerusalem verlassen haben, dass wir überall und nirgends zu
Hause sind, hast du das vergessen?
Doch Rahel & Alexander fuhren nicht nach Deutschland, wie sie
es dem Vater erklärt hatten, um Rahels Deutschkenntnisse zu
vervollkommnen, sondern durch es hindurch weiter nach Italien.
Auf den Spuren Goethes in den Süden.
Es wurde, wie sich herausstellen sollte, die Reise ihres Lebens, ihr
ganzes Glück & Unglück, eine Fahrt von solcher Bedeutung, dass,
hätte sie jemand gewarnt, sie ihm nicht geglaubt hätten.
In Wahrheit aber gab es nichts Natürlicheres als das, denn wie
junge, durchgehende Pferde wären sie taub & blind gewesen für
jede Art von vernünftigem Rat.
So stiegen im noch stürmisch-winterlichen Stockholm zwei
Menschen in einen Fernzug, hielten sich an den Händen in der
Gewissheit, zusammen zu gehören, dabei hatten sie einander
bereits verloren.
Welche Barmherzigkeit liegt doch darin, über die Zukunft im
Unklaren gelassen zu sein, dieser sanften Irreführung aufzusitzen,
dem Glauben, der Hoffnung, um die wenigen Tage, manchmal nur
107
Stunden, vielleicht Monate des Glücks auf Erden ohne Sorge
leben zu können, denn in jedem einzelnen Augenblick ist sowohl
die Endlichkeit als auch die Unendlichkeit enthalten, sodass
Augenblick & Ewigkeit im ersten & letzten wohl ein- & dasselbe,
mehr noch, einander gleichwertig sind.
***
V
Die Reise von Rahel & Alexander
+
Die Trauer des Rabbiners
Im Februar des Jahres 1934, ein Jahr nach Hitlers
Machtergreifung in Berlin, ging also ein unverheiratetes
schwedisches Paar auf seine erste, einzige & letzte gemeinsame
Reise.
Sie hatten sich vorgenommen, über Deutschland nach Italien zu
reisen, keinesfalls auszusteigen oder irgendwo Zwischenstation zu
machen, nicht bevor sie die Alpen überquert hatten. Beide sehnten
sich wie alle Nordländer nach der Wärme des Südens, trugen eine
beinah fertige Vorstellung der berühmten antiken Bauwerke in
sich, Bilder von romantischen Landschaften, verträumten
Buchten, zypressenbestandenen Friedhöfen, einsamen Inseln mit
Hirten & Schafen, Bilder aus den vergangenen Jahrhunderten,
Bilder, wie man sie eben aus Büchern oder von einzelnen
Gemälden kannte. In Wahrheit aber verreisten sie auch &
vorallem, um miteinander endlich, endlich und vollkommen allein
zu sein, ohne die ständige Furcht, entdeckt, gesehen, verraten zu
werden.
Ach, einmal nur die großen Museen besuchen, Italien sehen, das
Ende von Rahels Mädchenzeit, ihre Freiheit feiern, die heimliche
Zeit der letzten Jahre hinter sich lassen, von der Zukunft träumen,
nein, sie entwerfen, einander genießen an einem anderen Ort, in
108
ein neues, diesmal wirklich gemeinsames Leben überzutreten,
diesen letzten Schritt vorbereiten, bevor, ja, bevor der Ernst des
Erwachsenseins für Rahel beginnen wird, bevor, wer weiß, was
geschieht. Wie oft hatten sie es durchgesprochen, wieder & wieder
von vorne angefangen, waren mittendrin eingeschlafen während
im Kamin das Feuer knisterte & verlosch, sie zu frieren begannen,
die Decken enger um sich legten und der Süden in die Ferne
rückte.
Ausgedacht in langen, dunklen Winterstunden, in der starren Kälte
des Nordens, wo die Sehnsucht nach dem Süden ihren Ursprung
hat, besonders für Rahel, die Goethes Italienreise beinah
auswendig konnte, und wie oft hatte sie Alexander jenes Gedicht
vorgesagt, das von Orangen & Zitronen handelt, sodass sie es bald
gemeinsam im Original aufsagten:
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht‘ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
Strophe für Strophe wie ein Gebet gaben sie es wieder, mal laut,
mal flüsternd, wenn draußen die Schneeflocken fielen, sich die
Stille über alles gelegt hatte, wenn es stürmte, alles gefroren war,
die Fenster im glitzernden Weiß der dichten Eisblumen leuchteten.
Strophe für Strophe, obwohl sie ihr Land doch liebten wie es war,
sogar den Winter ab & zu, besonders aber den schwedischen
Sommer, der so einzig, so lieblich war, viel kostbarer als der im
Süden, wo es in der Vorstellung Skandinaviens immer schönes
Wetter gab.
Sie ahnten die tiefe Bedeutsamkeit dieser Reise, wollten einander
gewiss sein, einander inne werden, ein Ereignis schaffen, das groß
109
genug war, um sie durch ihr Leben zu tragen mit allem, was an
Schönem & Schwerem vor ihnen lag.
Die junge Frau, die einen Doktortitel in der Tasche trug wie
andere eine goldene Taschenuhr, war jetzt nichts anderes mehr als
ein verliebtes Gör, das seinem Geliebtem aus der Hand fraß, an
seinem Arm hing, ihn mit verdrehten Augen ansah und an nichts
mehr dachte, an nichts anderes mehr denken musste, ja konnte, als
mit ihm zu tanzen, zu spielen, zu schlafen, ihn zu herzen und zu
küssen bei Tag & bei Nacht.
Rahel, das jüdische Mädchen, das über Goethe geschrieben, ihn
von ungewohnten Seiten beleuchtet hatte, die deutsche Sprache
ebenso gut beherrschte wie die hebräische, doch ohne Alexander,
ihren illegalen Geliebten, arm und nichts weiter als eine Art
graues Fräulein war.
Er aber, Alexander Sommerfeld, stolz auf sein Mädchen,
aufgebläht wie ein Frosch in der Brunft, ermöglichte sich & ihr
diese Reise, welche sie endlich fortführen sollte vom strengen
Norden, der in beiderlei Hinsicht, der jüdischen wie der
christlichen, ein solches Vorgehen nie & nimmer gutgeheißen
hätte.
In aller Heimlichkeit und in aller Herrlichkeit, die sie vor sich
wähnten, bestiegen sie den Nachtzug, der sie in den Süden
brachte.
Zwar hatte Rahel ihren Vater schriftlich benachrichtigt, dass sie
dann & dann reisen würde, der hatte sich, da er das Datum der
Abreise las, quasi augenblicklich auf den Weg nach Stockholm
begeben, um sie zu verabschieden, mehr, um sie zurückzuhalten,
davon abzubringen, ins, für Juden gefährliche Deutschland zu
reisen, wie sie es ja ihren besorgten Eltern mitgeteilt hatte.
Alexander dürfte die List der Vorverlegung des Abreisetermins
ausgeheckt haben, sodass der Rabbiner, so früh er auch kam, zu
spät am Bahnsteig stand.
Die beiden waren bereits außer Landes, als Rabbi Goldmann mit
nassen Augen, am ganzen Körper zitternd, vom ersten
110
Bahnbeamten des Morgens erfuhr, dass der Zug nach
Deutschland, nach Deutschland! bereits vor Stunden abgefahren
war.
Rahel machte sich fürchterliche Gewissensbisse darüber, sie
ahnte, nein, wusste, dass ihr guter alter Vater, ihr lieber, lieber
Vater, der sein Möglichstes für sie tat, nun diese Demütigung von
ihr empfangen musste, während sie schon weit fort war, vor ihm
geflohen mit ihrem Geliebten, mit dem sie bereits unzählige Male
geschlafen hatte, ohne mit ihm verheiratet zu sein.
Und tatsächlich stand der alte Herr Goldmann fassungslos und
völlig verloren am Bahnsteig, nachdem er von einem arglosen
Angestellten die lapidare Auskunft über die Abfahrt des Fernzuges
erhalten hatte.
Seine Tochter Rahel hatte es gewagt, ohne Rücksicht auf ihren
Vater, in ein judenfeindliches Land zu reisen.
Auch war von keinem Zeitpunkt, zu dem sie zurückkehren würde,
die Rede gewesen.
Herr Goldmann wurde in diesen Momenten, diesen Stunden, in
seinen & anderen Augen ein gebrochener, ein betrogener Mann.
Sein Rahele, für das er sein Herzblut gegeben hätte, war nicht
mehr da, und wenn sie ihm auch weis gemacht hatte, nur ihre
Deutschkenntnisse vervollkommnen zu wollen, nichts weiter, so
wusste er mit einem Schlag doch, dass mehr dahinter steckte.
Es hatte sich alles geändert, wie er meinte, von einer Minute auf
die andere, doch der Weg, der gegangen werden musste, hatte
längst begonnen gehabt, war schon unendlich & unvorstellbar
lange beschlossen gewesen, doch erst jetzt wurde er für ihn
sichtbar.
Gewiss, er war in den letzten Jahren, wie übrigens alle Jahre
davor, von seinen Pflichten & Sorgen aufgezehrt worden, den
Anforderungen & Erwartungen, die er in sich gesetzt fühlte; seine
Familie, seine Frau, seine Studien, schließlich sein Verhältnis zu
Gott Selbst, alles lastete auf ihm, auf seinem Herzen, er sorgte
sich über die Maßen, und doch trug die Bürden des Alltags Ingrid
111
allein.
Es war ihm zu viel geworden wie er jetzt sah, er hatte es nicht
geschafft, seine Kinder nicht aus den Augen zu verlieren.
Bestimmt hatte es etwas mit diesem Sommerfeld zu tun, der ihr
alle möglichen Flöhe ins Ohr setzte, sie verwöhnte & verdarb mit
seinem Geld, dem Luxus, den er ihr bieten konnte, womit er sie
für sich einnahm, ja ihr den Kopf verdrehte.
Rahel, in aller Bescheidenheit aufgewachsen, nicht frei von der
Sehnsucht nach besseren Dingen, wie sie wohl heutzutage in den
Großstädten modern waren, sah zum ersten Mal ganz andere
Menschen & Verhältnisse, ja, so muss es gewesen sein, was hätte
er da noch tun können, was besser machen, er, ein Rabbiner, ein
Mann des Buches, des Sinnierens, ein Mann aus der Provinz, es
war ihm Rahel entglitten, während er andere beraten hatte,
verheiratet, geschieden, bestraft.
Er hatte nicht bedacht, dass das Studium an einer großen
allgemeinen Universität Gefahren in sich barg, ihr dort vielleicht
Kinder aus reichen Häusern begegnen würden, die
selbstbewusster waren als Rahel, das Leben ganz anders sahen.
Rahel war hübsch, also hatten er und seine Frau immer darauf
geachtet, es sie möglichst nicht wahrnehmen zu lassen, damit sie
nicht anfinge, ihre Schönheit einzusetzen & oberflächlich zu
werden.
Doch sie hatte wohl ihre alternden Eltern, noch dazu ein armes
Rabbinerehepaar, so empfand sogar er in dieser Stunde auf dem
leeren kalten Bahnsteig, nicht mehr nötig.
Sie schwebte in anderen Sphären mit einem Mann, von dem sie
nicht mehr lassen würde, da durfte man sicher sein.
Wenn sie auch nur ein Weniges in dieser Hinsicht von ihm geerbt
hatte, reichte es aus, um davon erfolgreichen Gebrauch zu
machen.
Auch er hatte einst alle Gesetze überschritten, sich eine
Pastorentochter eingebildet, war drauf & dran gewesen, sein
Elternhaus in Unfrieden zu verlassen, mit ihr durchzubrennen,
112
sich als einfacher Lehrer durchzuschlagen, er wäre bereit
gewesen, jede Arbeit zu tun, wenn sie ihm nur die Pastorentochter
sicherte, ja es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre noch zu den
Gojim übergetreten.
Auf keinen Fall hätte er von ihr abgelassen, lieber das
Rabbineramt aufgegeben, als dieses Mädchen, das ihm Tag &
Nacht nicht mehr aus den Gedanken ging.
Gott sei Dank war sein Vater rechtzeitig gestorben und musste so
nicht mehr erleben, was ihn ohnehin das Leben gekostet hätte.
Ein Skandal wäre es geworden, hätte ihn irgendjemand verraten,
aber den Christen war es egal und die anderen wussten es nicht,
wären nie von selbst auf eine solche Idee gekommen.
Doch war er nur noch auf der Hut gewesen, oft & oft des Nachts
wach gelegen, sich schlafend stellend, er hatte dafür gebüßt, weiß
Gott, und ein zweites Mal hätte er es nicht getan, das dachte er
viel später darüber. Dieser innere Druck brachte manches grobe
Wort gegenüber seiner doch so lieben Frau Ingrid, über seine
Lippen, denn über die Ohren verliebt zu sein in jungen Jahren ist
etwas ganz anderes, als ein Leben mit Schuldgefühlen zu
verbringen. Je älter er wurde, umso mehr schien es ihn zu
beschäftigen, es war einfach nicht so, dass es jemals aufgehört
hätte, immer wieder kamen düstere Gedanken über ihn, immer
wieder betrachtete er Ingrid, als wäre es ihre Schuld, warf ihr
insgeheim vor, eben doch eine von den Gojim zu sein, er schämte
sich selber zutiefst für diese Anschauung, doch sie gewann Macht
über ihn wieder & wieder, je öfter und länger er darüber sinnierte,
denn er war ein melancholischer Mensch, ein Denker & Grübler,
wollte gesetzestreu leben, Buchstaben für Buchstaben erfüllen.
Bei den Juden wird das Jüdischsein durch die Mutter vererbt, und
er, der Rabbiner unterbrach durch die Heirat mit einer Christin
diese Linie, sodass seine Kinder zwar Rabbinerkinder waren,
gleichzeitig aber nicht einmal richtige Juden.
Als er auf Freiersfüßen wandelte, hatte es ihn nicht gestört, doch
später reute es ihn, später wurde alles anders, später kam die Ehe,
113
die Vorbild sein musste für andere und doch zuinnerst einen
Makel aufwies, von dem nur er & Ingrid wussten. Sie hatte sich
nichts zuschulden kommen lassen, niemand wusste dies besser als
er, keine geborene Jüdin hätte ihm eine liebevollere Frau sein
können, keine, aber daran lag es nicht, denn es ist wohl schon
immer so gewesen: wenn eine die Rechte ist, ist alles egal, doch
wo nicht, ist alles vergeblich.
Ingrid in ihrer Klugheit wusste, worum es ihm ging, doch auch für
sie war die Ehe unauflöslich, letztlich ihre Pflicht auf Erden, und
sie trug dieses Los, von dem sie gehoffte hatte, es würde erträglich
sein, es würde sie nicht zu weit voneinander entfernen, es würde
sie immer noch die Liebenden von einst bleiben lassen.
Wie oft hatte sie geweint, allein, vor ihm sogar, war niedergekniet,
hatte den Saum seines Mantels geküsst, ihn gebeten, nicht so hart
gegen sich und damit gegen sie zu sein! Um der Kinder willen,
der geborenen wie der ungeborenen, um ihrer Liebe willen, die so
groß war wie jede andere Liebe und die, weiß Gott, diesen Namen
verdiente!
Es war in der Gemeinde öfters zu konfessionellen oder ähnlich
komplizierten Fragen gekommen, über die er als Priester, als
Richter zu entscheiden hatte, und er tat es äußerst streng wie um
sein eigenes Vergehen zu vertuschen. Auch dies stieß ihm jetzt
säuerlich auf.
Ja, Gott straft mich.
Ja, Er verfolgt mich.
Gott, der Herr, vergisst nichts, niemals.
Jetzt rächt Er sich.
Seine und meine Stunde ist gekommen.
Er will, dass ich vor Ihm im Staub liege.
Er dachte zurück wie er um Ingrid geworben, sie heimlich
getroffen hatte. Wie froh er war, weil sie so sanft & fügsam war,
nicht so hart & streng wie er, erzogen. Wie sie ihn beruhigte, ja
114
sogar verstand, dass sie vielleicht nie zusammen bleiben dürften.
Doch ihre Mutter, die eine verständnisvolle Pastorengattin war,
hatte ihnen geholfen, sie nicht verraten.
Sogar seine Schwiegermutter war emanzipierter als seine eigene
Mutter gewesen, die zeitlebens schwer unter der Fuchtel ihres
Mannes stand, nicht mucksen & fragen durfte, nicht zögern,
jemals.
Es war eine rituelle, tragische Ehe gewesen, in der alles nach
Recht & Gesetz laufen musste, wo Gefühle & Stimmungen nicht
ohne weiteres existierten, die Ehefrau mit den komplizierten &
fordernden Regeln eines rabbinischen Haushaltes eingedeckt &
zugeschüttet war, wo jeder Handgriff, jedes Wort beinah
vorgeschrieben waren, man schnell Gefahr lief, etwas Unrechtes
zu tun.
Nebenbei hatte seine arme Mutter einen kleinen Laden betrieben,
damit sie wenigstens irgendwie überlebten, denn der Rabbi
kümmerte sich nur um die Gottesgebote und deren Einhaltung,
saß Tag & Nacht über der Thora, wippte & murmelte, betete,
fastete, sprach Recht, traute Paare, zelebrierte akribisch alle
jüdischen Feste, legte sich zu seiner Frau ins Bett, wo wieder
Gottes Gebot zu erfüllen war. Alles, einfach alles, war
eingebunden in ein streng reglementiertes und gleichzeitig
öffentliches Leben.
Und seine Frau, wenn sie alles ertrug, sich ihrem Gatten & Herrn
unterwarf, durfte schließlich dereinst im Himmel sein Betschemel
sein, wenn es etwas Schöneres für ein Weib geben konnte, lag es
außerhalb seiner, ja eines jeden Rabbiners Vorstellung.
Seit Menschengedenken, wie es so schön hieß, waren sie
Rabbiner gewesen, die Goldmanns, freilich nicht gerechnet die
allerfrüheste und am weitesten entfernte Zeit, nie hatten sie es
anders gehalten, soviel man wusste, und wie es aussah, sollte es in
alle Ewigkeit so bleiben.
Dagegen war er, Rahels Vater, ein weltoffener, beinah toleranter
Mensch, so sah er sich, womit er nicht einmal unrecht hatte, denn
115
gemessen an seinen rabbinischen Vorfahren war er der reinste
Playboy, der nicht einmal genug religiösen Verstand besaß,
wenigstens eine Jüdin zu heiraten.
Als wären Gefühle zwischen Mann & Frau in aller Vergangenheit
je von Bedeutung gewesen! Bei ihm aber schon. Er fühlte sich
modern, und trotzdem trug er die Tradition seiner Mütter & Väter
weiter, jedenfalls hatte er das gedacht. Es fiel ihm später nicht
mehr ein, dass er sogar die Rabbinerschaft für Ingrid hatte
aufgeben wollen, fast eitel damit gespielt hatte, sich als Lehrer für
Alte Sprachen zu verdingen, sich mit seiner Braut auf jede
erdenklich kümmerliche Art durchzuschlagen. Große verliebte
Theorien damals, doch dann, als es soweit war, ging er den
bequemeren, ihm genehmeren Weg.
Jetzt stand er auf dem eiskalten, zugigen Perron und sinnierte &
sinnierte, die Erinnerungen stürzten auf ihn ein, in seinem Kopf
fand ein Gewitter statt, herrschte neben Klarheit völlige
Unklarheit, denn er selbst, das wusste er wenigstens mit
Gewissheit, hatte es bereits zu weit getrieben, so war es nur
logisch gewesen, dass die nächste Generation noch laxer sein
würde. Wie hatte er Rahel bloß zum Studieren schicken können?
Tatsächlich war er nicht im Geringsten normal!
Zuerst sich in ihre Mutter verlieben!, welche einst das
liebreizendste Mädchen der ganzen Gegend war, an das sich
niemand herantraute, weil sie des Pastors Tochter war, Ingrid, die
bestimmt wieder einmal längst mehr wusste als er, ihn hinters
Licht geführt hatte, Rahel unterstützte wie einst sie durch ihre
Mutter unterstützt worden war, ihn auf dieselbe Weise quasi ins
Leere laufen ließ, im Dunkeln sitzen, hilflos auf dem Bahnsteig
stehen. Das Weibervolk, es war nicht zu bändigen, und er besaß
drei Stück davon.
Wer weiß, was aus Marie wird, wenn es so weitergeht, auf jeden
Fall würde es ihm kein zweites oder drittes Mal passieren, auf sie
will er ganz anders aufpassen, die geht ihm nicht studieren nach
Stockholm oder Uppsala oder wohin auch immer, zu was muss ein
116
Mädchen überhaupt studieren, so weit kommt’s noch, man sieht
ja, wohin das führt!
Ins Ausland gefahren! So, so! Nach Deutschland gar! Wo sie
neuerdings wieder die Juden verfolgen, denn nichts anderes fällt
ihnen ein, dieser Hitler ist der reinste Antisemit, wie es aussieht.
Wozu hat sie überhaupt und ausgerechnet Deutsch studieren
müssen? Wie konnte er je so blind gewesen sein? Ja, weil sein
Kopf voller wichtiger & nützlicher Gedanken war, von denen
niemand eine Ahnung besaß, er eine immense Verantwortung in
der Gemeinde trug, als Rabbiner in einer ganz anderen Welt lebte
und Ingrid ihn nicht wirklich unterstützte, ja, hintergangen und
nicht entlastet hatte.
Ach, er war wirklich unwissend & taub gewesen, viel zu vernarrt
in dieses, sein kluges Mädchen, das es ihm nicht dankt, sondern
ihn mit einem Mann, diesem, diesem Sommerfeld, diesem
Händler, diesem Dandy, diesem Flaneur…, betrügt.
Er war bereits zu alt gewesen, um Kinder zu erziehen, und Ingrid
viel zu gut, zu nachgiebig, beide hatten sie das Mädel nicht an den
Haaren gezogen oder den Ohren, zu wenig beten geheißen, war
eben doch eine Christin von Geburt, seine Ingrid, die es mit den
religiösen Gesetzen nicht so genau nahm, ihre sentimentalen
Muttergefühle ins Kraut schießen ließ, ohne zu bedenken, auf
welch‘ gefährliches Terrain sie sich begab. Ach, nichts war jemals
wie es sein hätte sollen!
Er hatte Ingrid vertraut, ihr alles überantwortet, dabei aber
vergessen, dass sie aus einer anderen Tradition stammte.
Ach, er hatte wohl zu viel in seinem Leben falsch gemacht, Gott
der Gerechte, strafte ihn jetzt, ließ ihn selber sehen, was daraus
wird, wenn ein Mensch sich das Unmögliche einbildet und der
Allmächtige es ihm gewährt.
Als wäre er allein in der Synagoge, als hätte ihn ein
Schicksalsschlag wie Hiob getroffen, fällt er voller Selbstmitleid
auf die Knie, beginnt zu schluchzen, zu jammern, zu hadern.
Jemand zupft den Rabbiner am Ärmel. Es ist der Stationsvorstand.
117
Erlauben Sie gnädiger Herr, es kommt heute kein Zug mehr, der
nächste fährt morgen in der Früh, möchten Sie sich nicht eine
Bleibe suchen oder wenigstens in den Warteraum gehen?
Der Mann hat recht. Es ist eine barmherzige Frage, eigentlich gar
keine Frage, doch Rabbi Goldmann ist dankbar dafür, das
Mitgefühl eines Fremden tut ihm gut.
Es gibt gute Menschen, denkt er, auch außerhalb des Judentums.
Eine Erfahrung, die er immer wieder machen musste, aus der er
jedes Mal lernte, weniger stolz zu sein.
Dieser Christ, dieser Goj hilft ihm auf, trägt ihm gar sein
Köfferchen nach, sein armseliges Gepäck, ohne ihn zu verurteilen,
führt ihn in den geheizten Wartesaal, wo niemand ist, nur eine
einsame Birne unter einem viel zu dunklen Schirm brennt.
In der Ecke, sagt er, sind einige Polster & Decken, darf ich Ihnen
etwas davon bringen?
Der Rabbiner ist beschämt, das bemerkt der andere und meint:
Sie müssen sich nicht sorgen, es übernachten beinah jede Nacht
hier Menschen, honorige Personen, Leute, die den Zug versäumt
haben oder auswandern, auch Obdachlose, glauben Sie mir, ich
habe schon viele Reisende gesehen, und jeder war dankbar für die
Wärme, die Bänke, die man zusammenschieben kann, sehen Sie,
so!
Derweil er sprach, richtete ihm der Bahnvorsteher mit wenigen
geübten Handgriffen ein Nachtlager her, ging hinaus, kam mit
einer Kanne voll heißem Tee, einem Wecken Brot und einem
Stück Käse zurück.
Der Rabbiner wehrte sich innerlich wie äußerlich gegen die
Hilfsbereitschaft des Mannes, es war ihm furchtbar peinlich, denn
ohne seine Frau war er hilflos in praktischen Angelegenheiten.
Sein Gehirn arbeitete wie verrückt, suchte eine Antwort auf die
118
Einfachheit & Selbstverständlichkeit, mit der ihn der Fremde
annahm, ja, ihm zu Diensten war.
Aber sehen Sie denn nicht, ich bin ein Jude, ein Rabbiner sogar!
Das sehe ich wohl, wissen Sie, hier gehen alle möglichen
Menschen ein & aus, fast alle sind Reisende, arme & reiche,
gebildete & ungebildete, Schweden, Ausländer, und wie ich sehe,
auch Juden.
Mir macht das nichts aus, ich bin schon über dreißig Jahre hier,
wer bin ich schließlich, dass ich jemandem nicht helfe mit den
bescheidenen Mitteln, die unsereinem, einem Christenmenschen &
Bahnwärter, zur Verfügung stehen.
Meine liebe Frau gibt mir immer etwas mehr mit, damit ich
aushelfen kann. Sie ist die Tochter eines Pastors aus dem Norden,
müssen Sie wissen, und ich hatte großes Glück, sie zu bekommen.
Sie heißt Ingrid, sie ist mein ein & alles. Ohne sie wäre ich nichts,
ein Mann braucht eine Frau wie sie, dann ist er nicht verloren,
sodass er weiß, was er zu tun & zu lassen hat und wohin er
gehört.
Ich bin ein einfacher Mensch, bestimmt nicht übermäßig gescheit,
aber eines weiß ich ganz genau, niemand ist glücklicher als ich,
auch nicht, wenn er noch so viel weiß.
Haben Sie Kinder?, fragte der Rabbiner.
Ja, zwei Töchter. Sie sind schon erwachsen. Eine ist mit einem
Musiker verheiratet, hier in Stockholm, er unterrichtet am
königlichen Gymnasium, stellen Sie sich das vor!
Die Kleinere ist Krankenschwester und wird auch bald heiraten.
Meine Frau bereitet gerade alles vor. Außerdem bekommen wir
bald das erste Enkelkind.
Ingrid ist außer sich, nie hatte sie mehr zu tun als jetzt, nicht
einmal, als sie noch selber unsere Kinder bekam.
Er lachte über seinen eigenen Witz.
119
Das einzige, was wir haben, ist die Liebe. Wir müssen sorgsam mit
ihr umgehen, damit wir ihrer würdig werden und dem Herrgott
Dankbarkeit erweisen.
Solche Worte hörte er von einem zufälligen Bahnwärter, einem
Christen, der Rabbiner geriet ins Staunen, wunderte sich über so
viel Weisheit, die klare Darstellung.
Hatte er nicht allzu sehr in seiner Versponnenheit gelebt, seinen
Gedanken, seiner Ingrid und Rahel unrecht getan, auch dem
Mann, mit dem sie nun wahrscheinlich davon gereist war?
Wie streng war er immer mit seiner Familie gewesen, mit Ingrid
vor allem, die doch alles für ihn verlassen und auf sich genommen
hatte, was bestimmt nicht leicht für sie gewesen war, die alles erst
lernen musste, was er selbstverständlich von ihr verlangte, die
Mädchen vor ihm schützte und auf ihre Weise versuchte, ihnen
wenigstens eine bescheidene, vor ihm beinah verborgene Kindheit
zu geben.
Aus all den Jahren, ja Jahrzehnten konnte er sich nur auf seine
Zwiegespräche mit Seinem Gott besinnen, den er tatsächlich als
etwas wie seinen persönlichen Besitz oder Vorgesetzten
betrachtete. Die Probleme & Fragen der theologischen Welt
erörterte er in aller Einsamkeit, ließ niemanden zu sich vor, so als
hätte er im Sprechzimmer gerade hohen Besuch, duldete keine
Störung mit unwichtigen Alltäglichkeiten & Weibersachen, kein
Kindergeschrei.
Vielleicht hätte ihn Ingrid öfters mal gebraucht, hatte aber nicht
gewagt, bei ihm anzuklopfen, während er selbst über ihr Leben &
Leiden ohne groß nachzudenken, entschieden hatte.
Auf seine Weise liebte er sie innig, das musste sie doch gewusst
haben.
Doch nie kümmerte er sich darum, wie es ihr wirklich ging, sie
war in seinem rabbinischen Gebäude eine Figur, derer er sich
bediente, um seine Pflichten zu erfüllen, seinen Spaß als Mann zu
haben, mit ihr Kinder zu zeugen, die für ihn, wenigstens, als sie
120
noch klein waren, keine besondere Bedeutung hatten, zumal es
sich in seinem Fall um Mädchen handelte.
Wie oft hatte er sich nichts anderes gefragt nach all den Fehl- &
Totgeburten, als dies: ob Gott ihn persönlich strafen wolle, und
natürlich immer denselben einfältigen Grund gefunden, ja, er hatte
sich gegen Ihn vergangen, der ein gestrenger, ein unbarmherziger
Gott sein konnte, auch gegen die Söhne Israels, so steht es
geschrieben.
Dieser Bahnhofswärter lehrt ihn also in wenigen Worten, was eine
Familie ist, dass sie Glück bedeutet und nicht nur Pflicht & Last,
und als wäre das nicht genug, hieß seine Frau auch noch Ingrid,
stammte ebenso aus einem Pastorenhaus, und sie hatten zwei
Töchter. Wie er. Wie er & Ingrid. Hätte nicht viel gefehlt und sie
hätten auch noch Rahel & Marie geheißen! Danach wollte er
lieber nicht fragen.
Und so wie der Mann daherredete, war wohl auch an ihm ein
Geistlicher verloren gegangen, auf jeden Fall hielt dieser, doch
wahrscheinlich relativ ungebildete, wenn auch lebensweise Mann,
ihm, dem hochgebildeten Rabbiner einen Spiegel vor!
So weit ist es gekommen. In was für einer Zeit lebte man!
Was für ein Gleichklang, was für eine Übereinstimmung, direkt
unheimlich kam ihm das vor. Beinah, als hätte Gott Selbst ihn
heute herbestellt, um ihm eine Lehre zu erteilen.
Am Ende wusste er nicht mehr, ob der andere das alles überhaupt
gesagt hatte oder gar Gott der Herr mit ihm in Gestalt eines
Dieners redete.
Was für eine Stunde der Demütigung, gerade, als er so angreifbar
ist, gehetzt & verwundet auf diesem Bahnsteig landen muss!
Du sollst deinen Freund nicht besuchen in der Stunde seiner
Erniedrigung, hieß es, doch der andere hatte ihn nicht erniedrigt,
sondern ganz einfach über seine Anschauung gesprochen, ihm von
seinem Glück erzählt, welches dieser, im Gegensatz zu ihm, zu
schätzen wusste.
Er selbst fühlte sich ertappt & belehrt, dies war die Erniedrigung.
121
Als hätte er es schon immer gewusst und nur nicht gesehen, nicht
wahrhaben wollen, was doch so einfach, so natürlich war!
Aber er selbst kam aus diesen harten Verhältnissen, hatte nichts
als Verantwortung & Angst gekannt, die endlosen Geschichten
von Verfolgung & Vertreibung, von Verlust & Sorge.
Zum ersten Mal erzählte er einem Fremden, einem Christen, seine
Lebensgeschichte und dass Rahel, seine Tochter, sein Rahele, ihn,
nun wahrscheinlich mit einem Mann verlassen hatte.
Es tat ihm gut zu reden, das erkannte der andere, und am Ende
dieser seltsamen Nacht wusste er, dass er unrecht gehabt hatte,
Rahel auf keine andere Weise von ihm losgekommen wäre, er sie
nie & nimmer hätte gehen lassen, sie sich nur genommen hatte,
was ihr zustand, dass eine Frau einem Mann zu folgen hat, wie es
in der Bibel steht, in der Thora, dass darin nichts Schlechtes und
kein Verrat liegt.
Rahel war jetzt ein Fräulein, eine junge Frau, das hatte er
vollkommen übersehen & verdrängt, sie als sein Besitztum, sein
Gottesgeschenk betrachtet, in Wahrheit hatte er Angst davor, sie
zu verlieren, sie hergeben zu müssen, was er doch immer gewusst
hatte oder wissen hätte können.
.... darum müssen die Kinder Vater & Mutter verlassen .....
So lange hatte er sich gegen diese Einsicht, diesen Tag der
Erkenntnis gewehrt, und nun war mit aller Macht
unmissverständlich alles entschieden worden, ohne ihn.
Langsam hörte er auf, Ingrid innerlich zu grollen, sie anzuklagen,
zurechtzuweisen, wusste auf einmal, dass sie sogar weiser war als
er.
***
VI
Ingrid & Marie
Mutter & Tochter
122
Als er in den nächsten Tagen nach Hause kam, war er schon ein
anderer.
Während Ingrid in Furcht & Sorge wartete, den Zorn ihres Gatten
fürchtete, ihn als ganzes zurücksehnte, fortwünschte, hin & her
gerissen war, mit Marie immer & immer wieder die möglichen
Szenarien besprach, mit ihr gemeinsam alle Eventualitäten erwog,
wusste sie doch in Wirklichkeit weder ein noch aus.
Obwohl Marie noch viel zu klein war, begriff sie, dass sie nichts
Falsches sagen durfte, weil es um Rahels Zukunft ging und wohl
auch um die Ehe ihrer Eltern.
Marie war kaum zehn Jahre alt, sah jedoch aus wie höchstens
sieben, ein folgsames Mädchen wie sie es einst bei Rahel gesehen
hatte.
Sie half ihrer Mutter, wo sie konnte, diente ihrem Vater aber mit
derselben Ergebenheit, war äußerst diszipliniert & ernst, glaubte
nun, nach Rahels Weggang, alles allein bewältigen zu müssen,
ihre beiden alten Eltern nicht enttäuschen zu dürfen, denn auch sie
litt unter seiner theologischen Engstirnigkeit, seiner religiösen
Diktatur, die er mitunter ausübte wie ein antiker Tyrann.
Wenn andere Kinder, die so spät in eine Familie hineingeboren
wurden, verzärtelt & verwöhnt waren, galt dies nicht für sie. Sie
ahnte bereits, welche Verantwortung ihr damit zukam.
Wie sie von Rahel wusste, waren ihrer Geburt zahlreiche
Fehlgeburten vorangegangen, es hatte schon einige vor Rahel
gegeben, aber die meisten vor Marie.
Marie war zwar zart & schmächtig, doch wie zum Ausgleich,
stark & klug.
Um fast zwei Monate zu früh zur Welt gekommen, hatte ihre
Mutter sie Tag & Nacht tröpfchenweise gefüttert und auf diese
mühsame Weise durchgebracht. Daher nannte Ingrid sie oft „mein
kleines Mäuslein“, mein Vogerl“, „mein Pippihenderl“.
Niemand gab diesem dürren blassen Baby eine Chance, doch
seine Mutter hätte den Verstand verloren, wäre es gestorben, hing
123
so sehr an diesem letzten, winzigen Mädchen, denn sie würde kein
weiteres mehr bekommen, was das Kind wohl gespürt haben
musste, sodass es verstand und entgegen aller Prognosen, aller
Zweifel, einfach überlebte. Weiteratmete, Tropfen für Tropfen
trank, schluckte, leckte, wieder & wieder die Äuglein auftat,
immer öfter lächelte, und wenn es auch erst mit einem Jahr recht
& schlecht sitzen konnte, so holte es doch später alles in Eile
nach.
Ingrid war bei der Geburt neunundvierzig Jahre alt, der Vater
neunundsechzig. Marie hörte von klein auf die komplizierten
theologischen Dialoge, unverständliche Texte, erkannte aber auch
den Druck, unter welchem das Haus stand, die Spannungen, die es
in der Gemeinde gab, sah wie ihr Vater Recht sprach, die Rituale
vollzog, las & betete, studierte & lehrte, die Mutter korrigierte &
instruierte.
Von Rahel wusste sie eines Tages sogar, dass ihre Mutter keine
Jüdin war, also auch sie beide nicht als jüdisch galten, weil der
Vater ein altes Gesetz gebrochen hatte und dies als gewöhnlicher
Jude nicht nur, sondern als Rabbiner!
Unter diesem dunklen Geheimnis litt der Haushalt, daran trug der
Vater schwer, daran durfte nicht gerührt werden.
Die letzten langen Jahre aber seit Rahel fort war, war sie immer
allein mit allem, konnte sie nichts mehr fragen, sich nicht mehr
abends zu ihr ins Bett kuscheln, mit ihr flüstern & tratschen,
lachen & Spaß haben. Kein nächtliches unter die Bettdecke
Kriechen mehr, keine Gespenstergeschichten, keine Kindereien,
keine Scherze, keine Albernheiten, nur das Warten auf Rahels
Briefe, die Freude über die kleinen Geschenke, die sie ihr
manchmal beilegte, eine Tafel Schokolade, ein Buch, ein
Seidenband für die Haare, eine glitzernde Spange.
Obwohl ihre Mutter sich redlich bemühte, sie als Kind zu
behandeln, war sie doch im Rabbinerhaushalt dermaßen
eingespannt, dass sie meistens selber froh darüber war, wenn
Marie sich allein beschäftigte, in der Schule brav lernte, überall
124
mithalf.
Zum reinen & praktischen Überleben betrieb Ingrid einen kleinen,
selbstverständlich, koscheren Gemischtwarenladen, gerade wie in
alten Zeiten die anderen Rabbinerfrauen, plagte sich mit den
Mazzen, den verschiedenen Vorschriften für die Mahlzeiten zu den
jüdischen Festen, der Trennung von Milchigem & Fleischigem,
den Menüs zu Pessach, beim Laubhüttenfest, zu Rosch Haschana,
zu diesem & jenem, wobei sie von ihrem Mann penibel
kontrolliert wurde. Doch das wirkliche Geschäft machte sie
ohnehin mit etwas, wovon er, Gott sei Dank, einmal nichts
verstand, mit Handarbeitsmaterial, mit Fäden & Zwirnen,
Knöpfen & Borten. Irgendwann war ihr diese Idee gekommen, ein
fahrender Händler brachte sie darauf, und wenn es auch nicht über
die Maßen viel war, so reichte es doch als kleines Zubrot, womit
sie ab & zu der Kleinen etwas zustecken konnte.
Aus reiner Barmherzigkeit kauften sogar die Christen bei ihr ein.
Diese wussten längst, dass sie sonst nicht überleben konnten, jetzt,
wo die ältere Tochter studieren gegangen war. So viele Juden gab
es nun auch wieder nicht in der Gegend. Sie war die Tochter eines
Pastors, das wog für die Christen mehr als alles andere.
Ingrid wusste natürlich, wie sehr sie von ihrer Herkunft
profitierte. Dies alles begriff der Rabbiner nicht.
Von Anfang an, als Rahel nach Stockholm gegangen war, schrieb
Marie ihr Brief um Brief, erzählte darin von daheim, aber auch,
was sie außerhalb des strengen Hauses erlebte, legte gepresste
Blumen & Blätter bei, genau beschriftet wie sie hießen, wo sie sie
gepflückt hatte, die Briefe gaben ihr Gelegenheit, mit Rahel in
Kontakt zu bleiben, sich ein wenig auszusprechen, sich ihr nahe
zu fühlen.
Rahel hatte Verständnis, liebte sie doch ihre kleine Schwester über
alles, wusste, dass sie selbst die einzige Person war, mit der Marie
reden konnte.
Das Zurückbleiben & Zurücklassen der Kleinen hatte Rahel
großes Kopfzerbrechen bereitet, mehr, als unter dem Verlassen des
125
Elternhauses litt sie an ihrem Heimweh nach Marie.
Auch sie war lange mit ihren Eltern allein gewesen, wusste um die
Anforderungen, die an sie, als Kinder, gestellt wurden.
Nie durften sie ohne weiteres mit anderen spielen, alles musste
auf eine bestimmte Art getan werden, hatte seinen Ort und seine
Zeit.
Der Vater wäre für seine Töchter durchs Feuer gegangen, aber er
war im Alltag eine Autorität, die niemals in Frage gestellt werden
durfte und niemals Gefühle zeigte.
Es gab keinen Spaß mit ihm, undenkbar, dass er wie andere Väter
mit den Kindern einen Ausflug oder wenigstens einen
Spaziergang unternommen hätte oder mit ihnen auf einen
Jahrmarkt gegangen wäre.
Ihre, hoffnungslos mit dem Rabbiner und seinem Amt, dem
aufwändigen Haushalt beschäftigte und oft überforderte Mutter,
tat ihr Bestes, um dem Abhilfe zu schaffen, doch bald lernten sie,
dass man warten musste, bis sie eine freie Stunde fand, bis sie aus
der Pflicht entlassen war.
Wenn Ingrid auch alles auf sich nahm, die Regeln & Gesetze
bereits erfüllte, als wäre sie selbst in einem jüdischen Haus
aufgewachsen, Demut & Gehorsam hatte sie ja zur Genüge von
der eigenen Mutter mitbekommen, Tugenden, die auch in einem
Pastorenhaushalt die oberste Priorität darstellten, wenn sie also
tat, was sie konnte, die hebräischen Besonderheiten, die
Vorschriften des Kalenders in- & auswendig kannte, was freilich
längst nicht alles war, was es zu beachten gab, so blieb ihr doch
kaum Zeit für die Kinder.
Sie waren so arm, dass sie sich keine Magd leisten konnten, nur
am Sabbat kam eine Christin, die fürs Einheizen &
Essenaufwärmen nichts verlangte, eine hilfsbereite Frau aus dem
benachbarten Dorf, die ihr ganzes Leben als Magd gedient hatte
und wegen des Gebotes der Nächstenliebe, in Wahrheit wegen
ihres guten Herzens, überall aushalf, wo jemand gebraucht wurde,
auch im Rabbinerhaushalt, in den die Pastorentochter nun einmal
126
eingeheiratet hatte.
Auch andere Christen hatten Erbarmen, vor allem mit den
Rabbinerkindern, luden sie dann & wann sogar ein.
Dort sahen Rahel & Marie wie man auch anders und leichter
leben konnte, obwohl auch diese Leute bestimmt nicht reich
waren.
Schon möglich, dass sie Unkoscheres gegessen, womöglich
Schweinefleisch in Gestalt von Speck & Würsten zu sich
genommen hatten.
Sie bedankten sich mit geflochtenen Blumenkränzen, selbst
gebastelten Sternen, mit aus Papier gefalteten Tieren, stellten
Schneemänner in die Gärten der Nachbarn, halfen beim
Wassertragen & Babysitten, besuchten Kranke & Alte, gaben auf
ihre Art und so wie es ihnen möglich war, die Freundlichkeiten in
Dankbarkeit zurück.
Es gab nichts, was sie selber herschenken hätten können, das
beschämte sie, daher stellten sie sich in den Dienst derer, die gut
zu ihnen waren.
Am Tag, als Rahel das Elternhaus in Richtung Stockholm verließ,
standen auch viele Christen am Bahnsteig und steckten ihr Geld
zu, Briefpapier, Marken, sogar gestrickte Jacken, Strümpfe,
Socken. Hausfrauen mit selbstgebackenen Kuchen waren dabei,
mit Dörrobst & Marmeladen, die Frau des Schusters hielt eine
Schachtel mit nagelneuen Schuhen hinauf ans Zugfenster, und so
saß Rahel am Ende gut ausgestattet, inmitten von Paketen &
Taschen, während der Zug schnaufend & ruckend den Bahnsteig
verließ.
Als sie sich später in ihrer winzigen Bude in Stockholm umsieht,
die Geschenke auszupacken beginnt, der Aufmerksamkeiten
ansichtig wird, weint sie hemmungslos, befreit sich einerseits von
einer Fessel, wie ihr scheint, andererseits muss sie nun allein
bestehen, ihr Studium bewältigen, mit dem Geld auskommen, sich
weiter in Bescheidenheit üben, die sie bereits so über die Maßen
127
gut kennt. Wie viel hat sie doch zurückgelassen, wie sehr mussten
die Leute sie bedauert & bemitleidet haben, denn was war es
anderes als die hohe Tugend des Mitleids von Menschen, die oft
nicht einmal ihrem mosaischen Glauben angehörten.
Sie denkt an Marie, die sie kaum losgelassen, sie wieder & wieder
beschworen hatte, bald zurückzukommen, nicht zu fahren, immer
zu schreiben, alles völlig verzweifelt durcheinander gefordert
hatte.
Und so setzt sie sich hin und schreibt jenen kleinen ersten Brief an
ihre Schwester, den diese ihr ganzes Leben wie einen Diamanten
aufbewahren wird.
In diesem Moment schien die Zukunft unendlich groß & weit vor
ihr & ihnen zu liegen.
In Wahrheit werden es für Rahel nur noch wenige Jahre sein.
Jahrzehnte später, als Marie selbst Geld verdient, wird sie für
dieses unscheinbare Papier ein goldenes Medaillon anfertigen
lassen, es wie ein Gebet um den Hals tragen und nie mehr, auch
wenn sie anderen Schmuck trägt, trennt sie sich von diesem Brief,
hat ihn, sicher verwahrt, wohin sie auch geht, was sie auch tut,
immer bei sich.
Mein liebes Mariechen,
sei nicht traurig, denn ich bin ja nicht aus der Welt, wisse, was
auch geschieht, ich denke immer an dich, bin immer bei Dir, auch
wenn mir einmal etwas zustoßen sollte. Ich will Dir viele Brieflein
schreiben, große und tausend-tausend kleine wie dieses. Pass auf
Vater & Mutter auf, bleib so lieb wie du bist, denn jetzt bist Du
allein für die beiden verantwortlich, auch wenn es manchmal ist,
als hätten sie uns in der Beschäftigung mit sich und ihrer Religion
fast vergessen.
Doch Du musst immer wissen, dass sie uns viel mehr lieben, als
alles, was sie glauben. Ich komme zu den Weihnachtsferien (ein
christliches Fest, aber Jesus Christus war ja auch Jude!) und
bringe Dir ein schönes Geschenk! Sei umarmt in jedem
128
Augenblick heute und dein ganzes Leben. In Liebe, Deine
Schwester Rahel.
Die ersten Monate waren fürchterlich für beide. Sie hatten
Heimweh nacheinander.
Rahel musste sich mächtig konzentrieren, war vollauf in Anspruch
genommen von ihrem Studium nicht nur, sondern von all dem
Neuen, das auf sie einstürzte.
Schließlich war sie schon froh, wenn sie überhaupt einmal in der
Lage war, mit dem Studieren anzufangen, sich in der Bibliothek
halbwegs auszukennen, die Hörsäle zu finden, die
Vorlesungs-zeiten zu wissen, möglichst nichts zu vergessen.
Als eines von zwei studierenden Mädchen hielt sie sich anfangs
an diese Kollegin, die sich recht selbstbewusst mit den Burschen
unterhielt, weder rot anlief noch strikt auf den Boden blickte, ohne
weiteres die schlüpfrigen Bemerkungen ertrug, ja erwiderte und
mit ihrer Schlagfertigkeit die schüchterne Rahel verblüffte.
Diese Freundin war es auch, von der sie zum ersten Mal hörte,
dass Mann & Frau gleichberechtigt sind, ohne wenn & aber, von
Natur aus wie vor dem Gesetz, wie sie es ausdrückte.
Was Rahel zu Hause und in der Gemeinde erfahren hatte, konnte
getrost als glattes Gegenteil bezeichnet werden.
Für sie hatte es Tag & Nacht geheißen, auf den Vater sei
Rücksicht zu nehmen, er sei der Rabbi, der Gelehrte, der
Gottesmann, der Herr im Haus und anderswo, die einzige
Autorität.
Ihre Mutter war ihm eine wirklich ergebene Dienerin, obwohl sie
keine Jüdin war, sondern die Tochter eines Pastors, doch von ihr
hatte sie erfahren, dass es in einem christlichen Haushalt dieser
Art nicht viel anders war.
Auch die Mutter ihrer Mutter, Rahels Großmutter
mütterlicherseits also, hatte nichts anderes getan, als dem Pastor
zu Diensten zu sein, ihm zu folgen, zu helfen, ein Leben lang an
seiner Seite zu stehen, die ihr, von ihm und der Gemeinde
129
zugewiesene Rolle zu spielen, ohne je selbst Ansprüche zu stellen,
eine eigene Meinung zu vertreten oder gar zu widersprechen.
Pastoren & Rabbiner standen in der selbstverständlichen
Entgegennahme der Opfer ihrer Ehefrauen einander in nichts
nach.
Sie meinten, ein Anrecht darauf zu haben, obwohl Ingrid Rahel ab
& zu erklärt hatte, dass es auch für den Vater & Gatten schwer
sein müsse, so viel von seiner Familie zu verlangen, keine Grenze
zwischen Glauben & Privatleben, zwischen Synagoge & Haushalt
zu ziehen, doch Rahel zweifelte an seiner Einsicht, denn die
Mutter sagte es unter Tränen. Auch sah man sie manchmal
verloren dasitzen, mitunter sogar christliche Gebete sprechen.
Sie hatte für den Rabbiner nicht nur ihr Elternhaus verlassen,
sondern auch ihre Religion.
Ob & womit er ihr all dies Unausgesprochene, das nie Erwähnte,
ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Demut vergolten hatte, wusste wohl
niemand.
Wahrscheinlich gehörte sie zu seinem Plan, und er hatte mit ihrem
Eheversprechen ihr Leben als ganzes in Empfang genommen.
Er kam nicht auf die Idee, eine Frau, eine Ehefrau obendrein,
könne selbst Bedürfnisse, gar Wünsche haben, die über ihre
Familie hinausgingen oder parallel dazu existierten.
Gewiss, so dachte Rahel, müsse es am Anfang einmal anders
gewesen sein. Immerhin dürften sie doch aus Liebe geheiratet
haben.
Wie oft schon hatten Rahel & Marie diese Frage diskutiert.
Weißt du, warum Mama heute geweint hat?
Vater war wieder hart, nehme ich an, er gibt ja kein einziges Mal
nach. Er weiß ja alles besser.
Manchmal denke ich, sein ganzer Verstand beschränkt sich auf
das Buch. Er hat keine Ahnung von einer Frau.
130
Rahel vermutete aber noch ein anderes Problem, und so sagte sie
eines Tages zu Marie:
Sie hat ihm schließlich keinen Sohn geboren.
Aber, sie kann doch nichts dafür!
Auf der Stelle bereute es Rahel, diesen Gedanken der Kleinen
gegenüber ausgesprochen zu haben, denn Marie fing darüber zu
weinen an, erinnerte sich, wie ihre Mutter öfters gesagt hatte, das
erste, das dritte, das vierte verloren gegangene Baby sei oder
wäre, ja wäre, wäre ein Knäblein gewesen, und dieses winzige
Wörtchen wäre sprach sie so besonders aus, fast, als lägen darin
Glück & Unglück verborgen. Genau diese Betonung hatte Marie
bisher nicht verstanden gehabt, doch nun, da Rahel auf einen
Buben, einen Bruder, einen Sohn anspielte, ging ihr ein Licht auf.
Ihre Mutter musste leiden, weil sie ihrem Gatten nur zwei
Mädchen geschenkt hatte. Mit tränennassen Augen und ganz
entgeistert, ja, zornig fragte sie also:
Wie kann er so gemein sein?
Er ist nicht gemein, Marie, er ist wie alle Männer. Sie brauchen
uns Frauen zwar, aber die Macht wollen sie niemandem
überlassen.
Welche Macht?
Marie, in Wahrheit geben wir Frauen das Leben weiter, ziehen die
Kinder groß, wir fördern sie, bewahren sie, geben ihnen ein Nest
& Geborgenheit. In Wahrheit sind die Männer Nebensache, fühlen
sich fremd im eigenen Haus, sie können nicht begreifen, wie die
Frauen das machen. In Wahrheit sind wir an der Macht, das ist es
wohl, was sie nicht verkraften. Schau Marie, Mama verdient sogar
mit ihrem winzigen Lädele noch Geld, selbst dafür ist der Rabbi
zu verstockt, zu stolz, zu erhaben, stattdessen, so meint er, sei er
131
mit höheren Dingen & Gedanken beschäftigt.
Sie nannte den Vater tatsächlich jetzt Rabbi, als wollte sie sich
von ihm distanzieren, doch sie meinte die Gelehrten als ganzes,
die schwer daran trugen, dass sie längst wussten, wie klug ihre
Frauen waren, obwohl sie ihnen seit alters her die Bildung
vorenthielten, sie mit Kindern eindeckten, mit Pflichten & Regeln
traktierten, sie, was die großen Dinge betraf, links liegen ließen,
sie belehrten & kontrollierten, ignorierten und doch alles
verlangten, wonach ihnen der Sinn stand. Ihren Sex forderten, ihr
Verlangen stillten, ihre Geilheit besänftigten, ihre Aggressivität
nicht selten im Schlafzimmer auslebten, da sie sich sonst so
besonders gelehrt & allwissend aufführen mussten. Wo hätten sie
ihren Ausgleich denn hergenommen, ihre Weisheit, ihre
Überlegenheit, wenn sie nicht im eigenen Haus ihre Triebe hätten
ausleben können! Die Männer verschlossen die Augen vor den
Leiden ihrer Frauen, den vielen, in Wirklichkeit ungewollten
Schwangerschaften, den ausgetragenen & nicht ausgetragenen,
den elenden Geburten, die oft genug an die Grenze der Würde
gingen, Jahr um Jahr zu überstehen waren, von neuem verlangt
wurden, was den einzigen Grund darin hatte, dass er sich nicht
beherrschen konnte, keine Rücksicht nahm, sondern noch sein
Vorgehen mit Gott dem Herren rechtfertigte & veredelte. Was für
eine männliche Niedertracht.
Rahel war damals über ihre eigenen Worte erschrocken, und kaum
hatte sie erkannt, was sie da geäußert hatte, nahm sie alles zurück,
ja, beschwor Marie, dieses Gespräch zu vergessen, zu tun, als
hätte es niemals stattgefunden.
Jetzt an der Universität, als das andere Mädchen, obwohl aus
keinem jüdischen Haushalt, die Frauenfragen genau so
selbstverständlich sah, musste sie an jenen Dialog zurückdenken.
Und doch war es bei ihr selber nur so dahin gesagt gewesen im
Rahmen einer längeren nächtlichen Unterhaltung wie es oft
132
vorkam, damals im gemeinsamen Bett mit Marie. Worüber hatten
sie nicht alles geredet! Welche Geheimnisse ausgetauscht, große
& kleine, harmlose & andere! Wie von selbst hatte sie es
dahergeplappert, so als kämen diese Sätze von woandersher.
Es war doch nur eine Ahnung gewesen, dass irgendwo &
irgendwie vielleicht auf dieser Ebene das Geheimnis liegen
müsse, eine Art Schuldgefühl der Mutter oder auch eine
Enttäuschung des Vaters, die er sie ab & zu, wenn auch nicht
bewusst, spüren ließ.
Ingrid aber hing an ihren Mädchen, liebte sie geradezu abgöttisch,
wenn sie es auch nicht in dem Maße zeigen durfte wie sie gewollt
hätte. Für sich genommen, war es ihr egal, keine Söhne zu haben,
nur hätte sie es wohl das eine oder andere Mal leichter gehabt
oder ein höheres Ansehen genossen. Jemanden außer Gott, außer
dem eigenen Ehemann zu lieben, war ein unentschuldbarer Frevel,
eine Anmaßung. Ebenso wie die beiden sie so besonders liebten,
mehr als den strengen Vater, der bei jeder Gefühlsregung ein
schlechtes Gewissen bekam und sofort in die Gegenrichtung
steuerte, den sie auf Mutters Geheiß dauernd entschuldigen
mussten, weil er gewiss seinerseits einsam war in seiner
Manneswelt, nicht anders konnte, nicht anders durfte, ihr beinahe
grenzenloses Frauenverständnis und so gut wie alles brauchte &
verbrauchte, genauso liebte & verehrte sie ihre beiden einzigen,
durch so viel Leid & Schmerz errungenen, erkämpften und am
Leben gebliebenen Töchter.
So schwer es oft war, ihn als Vater zu haben, zu verstehen, so sehr
verehrten sie ihn doch im letzten, wie einen Heiligen fast. Sie
versuchten, ihn auf eine Art zu lieben, die er akzeptieren konnte,
ihn zwischen den Zeilen & Büchern zu finden, zu suchen; zu
begreifen, worum es ging. Es blieb ein Unterschied zwar in der
Darbringung von Zuneigung und ihrer Entgegennahme, doch in
Wahrheit waren ihnen beide Eltern gleich lieb & teuer, gehörten
zusammen auf immer & ewig, und sie waren bestimmt der beiden
herzallerliebste Töchter.
133
***
VII
Italien
Sie fuhren durch Deutschland durch, weiter, weiter, immer weiter,
bis es eine Grenzkontrolle gab, wo sie die Sprache nicht mehr
verstanden. Der Name es Südens, der klang wie ein Versprechen,
ein Lied, Italien!
Rahel fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen
frei, niemand kannte sie, zog sie zur Rechenschaft, sie war ein
junges Fräulein wie jedes andere.
Viele Tage & Nächte waren sie unterwegs, bis sie Mailand sahen,
Florenz, Perugia, ferne, klingende Orte seit jeher. Nie hätte sie
geglaubt, dass sie diese Städte einmal sehen würde, noch dazu so
bald in ihrem jungen Leben. Dank dieses Tausendsassas
Sommerfeld aber kam sie herum, ging sie auf Reisen.
Alexander ließ es ihnen an nichts fehlen, hatte die Route gut
durchdacht, kannte sich aus in der Welt, war als junger Mann
schon viel gereist, und es fiel ihm nicht ein, sich & Rahel
irgendetwas zu versagen.
Sie besichtigten die alten Bauten & Kirchen, Museen über
Museen, übernachteten in den besten Herbergen.
Rahel sah ein erstes Mal, wie man anders leben konnte, wie leicht,
wie unbeschwert von Last & Sorge, ja, wie selbstverständlich dies
in den Gegenden außerhalb Schwedens war. Natürlich gab es auch
einfache & ärmliche Verhältnisse, doch die Menschen hier im
Süden waren heiterer als im Norden. Schon die Wärme, das Licht,
die Bekleidung, fast nichts trug die Schwere des skandinavischen
Winters, obwohl auch hier im Augenblick noch die kalte
Jahreszeit herrschte.
So fuhren sie immer weiter nach Süden, überquerten mit einer
134
Fähre die Straße von Messina, gingen auf der Insel Sizilien an
Land, und hier blühten bereits die Mandelbäume, der Himmel war
blau wie das Meer, es roch nach Wärme, in der Luft hingen
fremde, mitunter schwere Düfte.
Rahel wunderte sich immer noch, was Alexanders Reichtum ihr
zu ermöglichen imstande war. Sie schaffte es kaum, diese endlose
Schönheit, welche sich auftat, zu erfassen, zu verarbeiten. So
trafen sie Touristen, die scheinbar selbstverständlich Länder &
Städte konsumierten, das Reisen als Lebensstil pflegten,
Meisterschaft darin erlangt hatten, denen es an nichts fehlte,
diesen Luxus als selbstverständlich erachteten und zufällige
Reisebekanntschaften gerne daran teilhaben ließen.
Amerikanische Ehepaare, Liebespaare aus aller Herren Länder, ja
Homosexuelle vergnügten sich bei opulenten Mahlzeiten auf den
Säulen umstandenen Terrassen, tranken Wein, schmiegten sich bei
romantischer Musik eng aneinander, mieteten Schlösser & Gärten
für Feste oder besaßen selbst Villen, fuhren in offenen Autos,
lebten hier eine gewisse Zeit des Jahres, um später in die USA,
nach England und sonst wohin zurückzukehren, nach Indien,
China, Afrika weiterzureisen oder ihre Besitzungen dort & da
aufzusuchen.
Sie schienen nichts weiter zu tun zu haben, als die Zeit mit Tanzen
& geistreichen Gesprächen zu verbringen, manche waren auch
Künstler, Maler, Schriftsteller, begleiteten ihre Gönner durch die
Welt, erklärten sie ihnen, ach, es gab unzählige Arten zu reisen.
Sie alle führten in Rahels Augen ein freies wundervolles Leben.
Sie sah zum ersten Mal Menschen, die so reich waren, dass sie
nicht arbeiten mussten, keinen Gedanken daran verschwendeten.
Sie waren offen für jedes Gespräch, jedes Abenteuer, tolerant,
unüberlegt, spontan, sprachgewandt, polyglott, gebildet &
ungebildet, es spielte keine Rolle, denn niemand musste sich hier
für etwas verantworten, wie er lebte, wovon er lebte, was er tat
und, was er unterließ.
Freilich gab es unter der Bevölkerung, besonders in Sizilien, viel
135
Armut. Wohin sie kamen, liefen ihnen Kinder mit rotzigen Nasen
nach & entgegen, kauerten Bettler auf dem Boden, streckten ihnen
ihre Hände entgegen, jammerten & lärmten, dass es Rahel schier
das Herz brach.
Es gab auch viele Arme in Schweden – gewiss, doch das Leiden
im kalten Norden war stumm dagegen; hier schrie man es heraus,
legte seine Gliedmaßen & Krücken wie eine Ware auf der Straße
aus, genierte sich nicht, seine Not wirksam anzuprangern, die
Fremden phantasievoll anzugehen, zu fordern, zu schimpfen, zu
fluchen, zu spucken, untereinander zu streiten, zu raufen, einander
zu bestehlen.
Am Anfang war Rahel völlig niedergeschlagen über diesen
Anblick, bekam ein schlechtes Gewissen, dachte an ihre Familie
zu Hause, die keine Ahnung hatte, wo sie war, was sie tat.
Doch Alexander ließ sich nicht entmutigen, blieb ein dynamischer
& verständnisvoller Reisebegleiter. Überall stiegen sie, so gut es
ging, in feinen Hotels ab, in kleinen privaten Quartieren, das
junge schwedische Paar wurde hofiert & bewundert.
Natürlich durften sie nicht in einem gemeinsamen Zimmer
schlafen, sie waren ja nicht verheiratet, und es existierte niemand
im päpstlichen Italien, der nicht nach ihren diesbezüglichen
Dokumenten gefragt hätte.
Besser eigneten sich die großen Hotels, wo man anonymer,
weltläufiger war, wenigstens nicht darauf achtete & horchte, ob
noch jemand das einmal betretene Zimmer wieder verließ oder ein
anderes als das eigene betrat.
Überall, manchmal jede Nacht, schliefen sie miteinander,
Alexander tat alles, um Rahel die sieben Jahren, die hinter ihnen
lagen, vergessen zu machen und das, was sie zunehmend
ängstigte, nämlich, dass sie ihrem Vater verantwortlich war für
ihren Lebenswandel, ihm irgendwann reinen Wein einschenken,
ihm alles gestehen musste.
Sie war fertig mit ihrem Studium, sie sollte sich eine Stelle
suchen, als Lehrerin, als Übersetzerin, ihren Lebensunterhalt
136
verdienen, vielleicht hatte ihr Vater bereits einen Bräutigam für sie
auserkoren, wer weiß, was für Überraschungen sie in Schweden
erwarteten. Unmöglich, jetzt daran zu denken, ohne auf der Stelle
umzukehren.
Im Augenblick jedoch waren sie unterwegs in Sizilien, saßen am
Strand von Taormina, Rahel züchtig bekleidet, mit Hut &
Sonnenschirm.
Alexander stattete sie mit allem aus, was zu einem eleganten
Fräulein des Südens gehörte.
Auch hier sahen sie dort & da Faschisten marschieren, etwas
rufen, im Gleichschritt stampfen, nicht unähnlich dem, was man
aus Deutschland hörte.
Mussolini näherte sich dem Zenit seiner Macht, war Herr über
Italien und seine Kolonien.
Die Zeitungen, welche in den Hotelfoyers auflagen, sprachen eine
deutliche Bildersprache, das Geschriebene verstanden sie nicht.
Alexander schwamm hinaus ins Meer, Rahel sammelte Muscheln
& Schnecken am Strand, sortierte sie abends im Zimmer, packte
sie in alte Wäsche zum Mitheimnehmen.
Später einmal würde Sommerfeld seinem Sohn Alexander ein Glas
mit diesen Kostbarkeiten darin, schenken, übergeben wie Juwelen,
die Steine & Gehäuse, die Rahel, seine Mutter, jetzt auflas, fein
säuberlich wusch, trocknete, nach Form & Größe ordnete, mit
ihrer ganzen Innigkeit, die all ihren Tätigkeiten, und waren sie
noch so einfach, innewohnte.
Dieser stellte sich dann vor, wie seine Mutter diese hübschen
Dinge selbst in der Hand gehabt hatte, ausgesucht für ihn,
aufgehoben für eine Zeit, wenn keine materielle Erinnerung an sie
mehr existieren würde als diese. Diese kleine, liebevolle, ja
verträumte Idee würde für ihr Kind einmal die Ewigkeit, die ganze
irdische Erinnerung an die Mutter bedeuten. Ob sie es geahnt
hatte?
Ihr Sohn Alexander wird Rahel nie kennen lernen, nur auf Bildern
137
sehen, als junge Frau, lächelnd, schüchtern. Doch jetzt im
Frühling des Jahres 1934 dachte niemand an die Trauer, den Tod,
den Krieg, das Ende Europas, das heraufdämmerte.
Es war doch gerade eine Welt versunken, Kaiser & Könige
gestürzt worden, Länder in Schutt & Asche gelegt, Millionen von
Menschen umgekommen.
Wer also hätte gedacht, dass bereits ein noch schlimmeres Unheil
über Europa hing, Krieg & Elend wiederkommen würden, nur
eine kleine Wartezeit eingelegt hatten, eine Art Verschnaufpause,
ein Durchatmen & Überlegen, ja, schon die Ruhe vor dem Sturm
angebrochen war, dass im großen wie im kleinen, im ganz
persönlichen Leben jedes einzelnen, ein weiteres Mal kein Stein
auf dem anderen bleiben würde!
Rahel & Alexander reisten weiter nach Agrigent, nach Selinunt,
stachen sozusagen in See, gingen dort & da an Land, streiften
durch Felder & Ruinen, philosophierten auf den alten Steinen,
küssten sich an allen Orten, fächelten einander Luft & Kühlung
zu, kehrten zurück nach Taormina.
Sie dachten nicht daran, sich zu beeilen, lebten sich im Süden ein,
durchpaukten ihr italienisches Sprachbuch, prüften sich
gegenseitig, man hätte meinen können, sie wollten sich hier für
immer niederlassen.
Schon redete die sprachbegabte Rahel mit den Kindern auf der
Gasse einfache kleine Sätze, die verstanden & bewundert wurden,
kaufte auf dem Markt auf italienisch ein, während Alexander
voller Stolz Fotos knipste, auf denen später zu sehen sein sollte,
wie sein Mädchen sich mit den Einheimischen lachend unterhielt,
beinah wie eine von ihnen war.
Eines dieser Bilder wird Alexander von seinem Vater zu seinem
achtzehnten Geburtstag erhalten, hinter Glas gelegt und
eingerahmt in Gold.
An einem Abend Ende Mai 1934 nehmen Rahel & Alexander auf
den Stufen des Teatro Greco, des alten griechischen Theaters von
138
Taormina, von wo aus man den schönsten Blick auf das Meer und
den Ätna genießt, Platz.
Sie muss sich immer wieder wundern wie gelassen Alexander der
Tatsache, dass sie seit sieben Jahren, obwohl sie dauernd
miteinander geschlafen haben, kein einziges Mal schwanger
geworden ist, gegenüber steht. Noch bis vor kurzem hat sie sich
für unfruchtbar gehalten, er aber denkt nicht daran, sich deswegen
Sorgen zu machen, ihm geht es nur um sie, denn, was braucht er
Kinder, um sie zu heiraten, er scherzt sogar damit, dass er sie
quasi in jedem Zustand, zu nehmen bereit ist.
Sie aber glaubt, ihren Vater nur mit einer Schwangerschaft von der
absoluten Notwendigkeit einer Hochzeit mit diesem „ungebildeten
Pelzhändler“ zu überzeugen und damit seine Einwilligung zu
erzwingen.
Die, viele Jahre später, von Alexander wiedergegebene Szene in
Taormina muss etwa so geklungen haben:
Du Alexander, ich muss Dir was sagen!
Ja, sag’ es.
Es ist etwas passiert.
Was ist passiert, was soll passiert sein?
Ich, ich, ich glaube, ich bekomme ein Kind.
Langes Schweigen. Keine Reaktion.
Hörst du mir zu, Alexander?
Ja, sicher.
Ich habe gesagt, dass ich wahrscheinlich ein Kind bekomme!
Ein Kind?
139
Ja, begreifst du denn nicht?
Du, du, du be-be-bekommst ein Kind? Von mir bekommst du kein
Kind, das wissen wir doch längst!
Doch!, von wem denn sonst?
Aber, du kannst doch gar keine Kinder bekommen!
Wer sagt das?
Ja, ich und du und Svenssons Kuh!
Wieso nicht?
Weil du schon längst eins von mir haben müsstest, wir tun ja fast
nichts anderes, seit du dir diese Schnapsidee mit der
Übertölpelung deines Vaters ausgedacht hast, und außerdem hast
du schon öfters geglaubt, schwanger zu sein, dann hast du doch
immer wieder die Regel bekommen.
Aber jetzt habe ich sie nicht mehr gekriegt, begreifst du denn
nicht? Damit ist alles gelöst!
Was ist gelöst, und, was, wenn er trotzdem nein sagt?
Das wird er nicht, das kann er nicht! Ich könnte dich doch nie
heiraten, wenn es nicht so wäre, das ist unsere einzige Chance!
Alexander, begreifst du denn nicht? Es ist vorbei! Wir haben’s
geschafft!
Ja, vielleicht, vielleicht auch nicht.
Aber wieso denn? Du glaubst es doch auch, ich habe es dir
140
tausendmal erklärt, wir hatten es uns so ausgemacht!
Nein.
Doch, haben wir!
Ich habe immer gesagt, wir können es jederzeit einfach
behaupten.
Und wenn er dann gemerkt hätte, dass ich gar kein Kind
bekomme!?
Dann wäre es zu spät, dann sind wir schon verheiratet.
Das wäre Vorspiegelung falscher Tatsachen.
Ja und? Wenn er so vernagelt ist.
Ich kann meinen alten Vater, meine lieben Eltern nicht einfach
hinters Licht führen, belügen, täuschen, verstehst du das nicht!
So, und was ist mit der Geschichte deiner Mutter, die Christin ist
und mit einem Rabbiner verheiratet? Demselben Rabbiner,
welcher dein Vater ist? So einer kann sich nicht über andere
aufregen und den Fehlerlosen hervorkehren, mich verachten, nur
weil ich dich liebe und nicht seinen Vorstellungen entspreche.
Alexander!
Alexander! äfft er sie nach.
Glaubst du, mich interessiert ein alter Rabbi, der meint, über
seine Tochter befinden zu können, über andere Menschen zu
urteilen, für den bin ich doch nichts als ein, wie hat er mich
141
bezeichnet, ein ungebildeter Pelzhändler?!
Ich kann vielleicht nicht die Thora hersagen, aber ich kann eine
Frau glücklich machen, ich verdiene, obwohl ich nicht müsste,
eine Menge Geld, das uns ein unabhängiges Leben in Würde
ermöglicht.
Meine Frau wird nicht arbeiten müssen, über Angestellte im
Haushalt verfügen, meine Kinder werden alles haben, und sollten
wir keine bekommen, ist mir das egal, ich liebe dich auch so.
Wer weiß, was man sich mit Kindern alles einhandelt! Womöglich
haben wir Tag & Nacht Geschrei, vielleicht sind sie dauernd
krank oder nicht ganz gescheit, das kommt vor.
Ich will mit dir schlafen, weil ich dich liebe, nicht weil ich lauter
Kinder haben möchte.
Wenn wir unbedingt Kinder brauchen, dann werden wir sie auch
haben.
Aber wie, Alexander?
Wir adoptieren uns welche, es gibt genügend arme Kinder in
Waisenhäusern oder hier in Italien, wir können uns holen, so viele
wir wollen.
Du freust dich überhaupt nicht.
Du redest wirr daher, so wirst du kein guter Vater sein.
Ich bin endlich schwanger, verstehst du das denn nicht?
Was bist du?
Alexander, wie es aussieht, bin ich schwanger, siehst du, ich werde
einen Bauch bekommen, so groß!
Sie umschließt mit ihren Händen einen unsichtbaren Ball, eine
riesige Kugel, geht vor ihm auf & ab, hält sich das sich das Kreuz,
stöhnt und ächzt: Siehst du, so!
142
Rahel, jetzt hör’ schon auf, die Leute gucken uns an!
Na, sollen sie doch gaffen, was wissen die schon, was haben sie
für eine Ahnung von unserem Schicksal, von dem, was hinter uns
liegt, was wir vielleicht noch vor uns haben!
Da springt er auf, hebt sie in die Luft, wirft sie sich als ganzes
über die Schulter, schreit auf einmal aus Leibeskräften:
AAAAAAAAAAAAAAAAAA! , dass die Leute sie jetzt wirklich
gewahren, schauen & schauen, während er mit ihr, als trüge er
nichts weiter als einen leeren Erdäpfelsack, die Stufen des
Theaters hinauf- und hinunterläuft, bis sie bittet, fleht, schreit:
Alexander, bitte, stell mich auf die Erde, mir wird ja schlecht!
Er kann es nicht glauben, ist außer sich, obwohl er sich etwas
später, wenn er darüber genauer nachdenken wird, wieder nicht
vorstellen kann, dass diese Masche tatsächlich die Zustimmung
ihres Vaters bewirken kann. Ob es nicht ein unvorhersehbares
Problem gibt, etwas, womit man nicht rechnen konnte?
Genauso wenig wie es ihm einleuchtet, dass dieser komische alte
Rabbi tatsächlich über das Leben seiner Tochter einfach
bestimmen kann.
Immerhin hat er Rahel in diesem Glauben gelassen, ihr die
Illusion, sie hätte diesen Berg als Rabbinertochter zu überwinden,
nicht zerstört.
Frauen, so dachte er, brauchen das wahrscheinlich, sie haben eine
andere Vaterbeziehung als Männer, für die der Schwiegervater, ja
sogar der eigene Vater, eher eine Herausforderung, manchmal ein
Hindernis darstellt, jedenfalls keine Institution ist, der man sich
unbedingt unterordnen musste.
Doch Alexander verstand so vieles nicht, was andere Elternhäuser
& Kinderverhältnisse anbelangte, seine Herkunft war so
grundverschieden von der Rahels.
143
In seiner Familie lebte ja jeder für sich und auf seine Weise ein
vollkommen eigenständiges Dasein, ihre innerfamiliären
Gemeinsamkeiten bestanden in illustrer Gastlichkeit, die kleinen
und eigentlich alle rein handwerklichen oder organisatorischen
Dinge des täglichen Lebens wurden von Bediensteten erledigt.
Nie hätte seine Mutter sich um seine oder ihres Mannes Socken
gekümmert, um das Packen eines Koffers oder die Zubereitung
einer Mahlzeit, nicht einmal eines Frühstücks.
Nicht dass sie nicht die großen Züge im Auge gehabt, mit dem
Vater abstrakte & konkrete Gespräche geführt hätte, doch im
großen & ganzen lebte sie in ihrer eigenen Welt, die allerdings
von beträchtlicher Größe war.
Nie wäre sie auf die Idee gekommen, als Frau eine bestimmte
vorgegebene Rolle zu spielen. Sie tat, wonach es sie verlangte,
was ihr einfiel, mit & ohne System.
Sie konnte genau so organisiert eine Sache angehen wie in den
Tag hinein leben oder ohne ein bestimmtes Ziel in irgendeine
Richtung fahren.
Sie ließ sich gerne überraschen, redete mit wildfremden Leuten
auf den Feldern, hielt auf der Straße an, nahm einen Vagabunden
oder sonst einen armen Kerl mit, lud ihn irgendwo zum Essen ein,
ließ sich seine Lebensgeschichte erzählen, diskutierte &
philosophierte in einer Wirtsstube so selbstverständlich wie in
noblen Salons.
Für sie waren alle Menschen im vollkommensten Sinne gleich, für
Arbeiten zahlte sie anständig, war Dienstherrin zwar, doch keine
Vorgesetzte, keine gnädige Frau, wie sie meinte, nie verweigerte
sie sich einer Unterhaltung. Sie war nicht stolz auf diese Art, die
Würde, welche sie für sich selber nahm, gestand sie jedem zu.
Alexander hatte längst erkannt, dass der Reichtum ihres Eltern-,
seines Großelternhauses, ihr diese Haltung ermöglicht hatte, denn
bereits als Kind & junges Mädchen musste sie sich keinerlei
Zwängen unterordnen.
144
Mit dem Lernen & Studieren hatte sie kein Problem gehabt, im
Gegenteil, sie liebte diese Dinge, erfand sich täglich neue,
erledigte sie allesamt mit Bravour, wie übrigens auch ihre ebenso
schönen & begabten Schwestern.
Anders bei Rahels Eltern, die mit jeder Krone geizen mussten,
obwohl sie sicher oft den Mädchen gerne etwas mehr gegeben
hätten. Doch am Ende entschied immer die Knappheit der Mittel,
die Voraussicht, die Vorsicht, die Sparsamkeit.
Dies betraf sowohl die lebensnotwendigen Entscheidungen wie
auch den gesamten Umgang untereinander.
In diesem Haushalt waren, wie Rahel sagte, die Brotscheiben
abgezählt, die Milch genau bemessen, gewisse Lebensmittel
kamen so gut wie nie auf den Tisch.
Alexander konnte sich nicht vorstellen, mit Butter oder Brot
sparsam umgehen zu müssen oder dass es von Belang war, ob &
wie viel man davon aß. Er kannte keine Gedanken dieser Art.
Bei ihnen stand jeden Morgen von Neuem alles auf dem Tisch,
seine Mutter stand spät auf, wurde extra bedient, hatte schon am
Vorabend ihr eigenes Frühstück bestellt, das sie ohne weiteres
über den Haufen warf, um etwas völlig anderes zu ordern.
Rahels Mutter hingegen stand ganz früh auf, betete, bevor sie ihre
Arbeiten vorschriftsmäßig verrichtete, bediente den Ehemann,
weckte die Kinder, kümmerte sich um ihre Jausenbrote, ihre
Strümpfe & Schuhe, kam selbst dabei immer zuletzt an die Reihe,
und oft blieb nichts mehr für sie übrig.
Von Rahel hörte Alexander die andere, die normale Seite; so
wusste er inzwischen auch, wie viele Menschen ein Leben in
Bescheidenheit führten, froh waren, wenn sie halbwegs über die
Runden kamen oder wenigstens nicht Hunger litten.
Einmal hatte er als Junge in einer Zeitung den eigenartigen Satz
gelesen:
Sie mussten ihren Lebensunterhalt bestreiten, und es war ihm
nicht gelungen, hinter den Sinn dieser Aussage zu kommen.
145
Doch jetzt wusste er es längst, die vergangenen Jahre mit Rahel
hatten ihn gelehrt, diese Dinge mit anderen Augen zu sehen.
Rahel hatte anfangs Probleme gehabt mit seinem Lebensstil, auch
damit, Annehmlichkeiten von ihm anzunehmen, denn im
Innersten überlegte sie immer, wie sie das alles einmal
zurückzahlen sollte.
Sie meinte lange, sich hoffnungslos zu verschulden, wenn sie
seinen Verlockungen nachgab.
Sie hatte sogar Bedenken, ob sie in diesen piekfeinen Restaurants
überhaupt essen dürfe, ob die Speisen wohl koscher seien, doch
darüber konnte Alexander nur herzlich lachen, ja machte sich über
sie lustig, indem er einem verdutzten Kellner auftrug, unbedingt
koscher Gekochtes zu servieren.
Nach & nach überwand sie diese Ängste, begann seine
Großzügigkeit zu genießen, sich danach zu sehnen, und in
gewissen Momenten wusste sie, wie korrupt sie war, wie sehr sie
diesem ungebildeten Pelzhändler, wie sie ihn inzwischen
scherzhaft nannte, aus der Hand fraß.
Sie war schon bald nicht mehr in der Lage, sich ein Leben ohne
ihn und seine Möglichkeiten vorzustellen.
Wenn sie heimfuhr, trug sie extra die alten Kleider von zu Hause,
damit sie sich & ihren Geliebten nicht verriet.
Doch Marie erzählte sie ausgiebig von ihm, Marie, die mit
offenem Mund dasaß, ihrer großen Schwester auf die Lippen
starrte und teilhaben durfte an deren Leben draußen in der Welt.
Ach, wenn sie doch auch einmal so einen tollen Mann finden
könnte oder wenigstens ihre Schwester sie in ihrem Überfluss, der
vor ihr lag, nicht ganz vergaß.
Rahel versprach, immer für sie da zu sein, tat es sogar für
Alexander, der gewiss nichts dagegen hatte, auch für die kleine
Schwester zu sorgen.
Es bedeutete nichts für ihn, so stellte Rahel es dar, Geld
auszugeben, Wünsche zu erfüllen, im Gegenteil, er war glücklich,
überhaupt etwas damit anfangen zu können.
146
Marie war dahin geschmolzen, hatte gestöhnt & geseufzt, durfte
für die kurze Zeit, die Rahel daheim verbrachte, an ihrem &
Alexanders Leben teilhaben.
Ach, in Wahrheit war sie von ihr verlassen worden, denn was
bedeuteten ihre Erzählungen & Briefe anderes, als dies: Alexander
hier, Alexander dort, Alexander sagt so, Alexander ist auf Reisen,
Alexander, Alexander, Alexander ... .
Ihre Schwester führte ein unkeusches Studenteninnenleben, war
längst ausgerissen von zu Hause, hatte die Gesetze Gottes
missachtet & vergessen, war nicht länger ihre Rahel.
Sie schreckte nicht einmal davor zurück, Marie von den geheimen
Dingen zwischen Mann & Frau zu erzählen.
Und das, obwohl Marie nur danach hatte fragen wollen, ob er sie
schon einmal geküsst habe und wenn ja, wie das sei?
Da kam Rahel zu ihr ins Bett und begann davon zu reden, wie
wunderbar es sei, sich mit einem Mann zu vereinen.
Sie beschrieb seinen Körper, seine Haut, seine Haare, seinen
Mund, seine Augen, seine Kultiviertheit, seine Wildheit, sein
Geschlecht, den Liebesakt als ganzes.
Doch die Kleine wusste anfangs gar nicht, was das war, ein
Geschlechtsakt, ein Zungenkuss, eine Liebkosung.
Wie konnte sich ihre Schwester, die doch wissen musste, dass es
auf den Tod verboten war, ohne verheiratet zu sein, mit einem
Mann die geheimsten Dinge zu tun, wie konnte sich ihre
Schwester so weit vergessen und auch noch darüber reden?
Aber Rahel verriet ihr, dass es alle taten, auch ihre Eltern, die
Nachbarn, die Studenten & Studentinnen in Stockholm, in
Uppsala, überall auf der Welt in jedem Haus, in jedem einzelnen
Bett, ja, dass es nichts anderes gab, woran die Menschen so
ununterbrochen dachten wie daran.
Stimmt das wirklich?
Hast Du es unserer Mama gesagt?
Bist du denn gar nicht traurig?
147
Marie verschlug es die Sprache.
Traurig, warum?
Ja, weil du so ein gutes feines Leben hast und wir nicht! Und weil
du verbotene Dinge tust. Weil du nicht mehr richtig zu uns
gehörst.
Doch, ich denke oft daran; sogar, während wir miteinander
schlafen, bin ich ab & zu bei euch.
Manchmal weine ich danach, weil ich mich zutiefst schuldig fühle.
Schuldig, weil es mir so gut geht, schuldig, weil ich meine Eltern
betrüge, schuldig, weil meine einzige liebste kleine Schwester
Marie bestimmt in diesem Moment an mich denkt und ich, ich
allein, euch & alles hier verrate. Aber es gibt nichts Schöneres,
glaub‘ mir, niemand könnte dem widerstehen, ich liebe Alexander,
und er liebt mich, wir tun nichts Schlechtes, nichts Böses. Es ist
Gottes Wille, dass die Menschen sich lieben. Wir übertreten kein
Verbot. Wir sind nur nicht verheiratet, noch nicht, aber eines
Tages werden wir es sein.
Dann tat es Marie leid, ihrer Schwester Vorwürfe gemacht,
dumme Fragen gestellt zu haben, denn viel lieber sollte sie ihr
diese Liebe gönnen anstatt neidisch zu sein.
Wer weiß schließlich, wie alles enden würde, ob Rahel nicht
womöglich einer großen Enttäuschung entgegengeht, und Marie,
obwohl sie noch so jung ist und nichts vom Leben weiß & wissen
kann, beginnt zu weinen, sich bei Rahel zu entschuldigen.
Vielmehr war sie traurig & beschämt, an sich diese missgünstige
Seite entdeckt zu haben, obwohl sie doch nichts lieber wollte, als
Rahel glücklich zu wissen.
Ach, mein liebes kleines Mariechen, sei nicht traurig, ich werde
dich nie vergessen, du wirst immer alles zuerst erfahren, du wirst
148
bei Alexander & mir aus- & eingehen, ich werde dich niemals für
neidisch halten.
Bist du mir böse, weil ich so schlecht war, dir deine Liebe nicht zu
gönnen?
Du bist doch nicht schlecht Marie, das ist ganz normal, du siehst
dich halt leid, das verstehe ich.
Dann stellte eines Nachts Marie die besondere Frage, jene, die sie
sich so oft & so lange überlegt hatte:
Bitte, bitte Rahel, nimm mich einmal wirklich bei dir auf, ich will
mit dir und Alexander leben, obwohl ich ihn nicht kenne, ich habe
euch lieb, alle zwei, ich....., ich...., ich liebe Alexander auch, ich
passe dafür auf eure Kinder auf, ich koche für euch, ich will alles
schön machen für euch, putzen, kochen, arbeiten, was ihr wollt.
Nur bitte, bitte lass mich nicht allein, versprich mir das!
Rahel, bitte nimm mich mit zu dir!
Aber Kleines, du kennst doch Alexander gar nicht!
Tu ich doch!
Tust du nicht!
Doch, du hast mir so viel von ihm erzählt, und ich störe euch auch
gar nicht, nehme euch alle Arbeiten ab, sodass ihr euch lieben
könnt wie du es mir erzählt hast, und wenn ihr Kinder habt, will
ich alles für sie tun. Es ist doch viel besser, wenn ich mich darum
kümmere und nicht eine fremde Kinderfrau.
Aber Marie, du musst doch ein eigenes Leben haben, du wirst
dich selbst verlieben und Kinder bekommen mit dem Mann, den
149
du lieben wirst. Du bist noch klein, bleibst noch eine Weile bei
Mama & Papa, dann wirst du selbst studieren, dein eigenes
Einkommen haben und in der Lage sein, dein Leben in die Hand
zu nehmen und dich in aller Ruhe umzusehen.
Du bist hübsch, viel schöner als ich, du wirst einen wunderbaren
Partner finden, du brauchst mich gar nicht.
Das will ich aber nicht. Ich will bei dir, bei euch bleiben,
versprich es mir!
Und versprich mir auch, dass, wenn du einmal ein Baby
erwartest, ich es zuerst erfahre!
Gut Marie, das will ich tun, aber davon kann keine Rede sein.
Du hast mir also versprochen, dass ich bei euch sein darf?
Ja, ich verspreche es dir! Solange du willst, gehörst du ganz
konkret zu uns, ich verspreche dir aber auch, dass ich dich gehen
lasse, sobald du jemanden anderen gefunden hast!
Danke, danke, danke! Viele, viele Male und tausende, Millionen
tausend Dankeschöns!!!!!
Und jetzt im tiefen Süden Italiens musste Rahel an die heimlichen
Gespräche mit ihrer Schwester denken, vor allem an dieses letzte,
welches sie von Anfang an auch ein wenig belastet hatte, etwas
ratlos machte, das sie verdrängt hatte, ihr seit damals und vor
allem im Moment Kopfzerbrechen bereitete. Versprich mir, dass,
wenn Du einmal ein Baby bekommst, ich es als erste erfahre! Jetzt
war es auf einmal soweit! Nun war sie wirklich schwanger,
Marie sollte, musste es zuerst erfahren, sie hatte es versprochen,
ihrem Flehen nachgegeben, nicht ablehnen können, aber wie, wie
sollte sie dieses kindische, nein, dieses rührende, dieses
allerliebste Versprechen wirklich halten?
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Rahel erzählte diese Episode Alexander, der immer Rat wusste, so
auch jetzt.
Du schreibst ihr einen Brief!
Ja, aber offiziell bin ich in Deutschland!
Da hast du auch wieder recht!
Nein, Alexander wusste auch nicht alles, vor allem verstand er
noch immer nicht die Probleme dieser moralischen oder
moralisierenden Familie, die für so gut wie alles Regeln &
Richtlinien hatte, immer genau wusste, was richtig & falsch war,
deswegen ständig in irgendwelchen Bedrängnissen steckte.
So schickte Rahel weder Brief noch Telegramm, sondern verhielt
sich, so Alexander, wie ein erwachsener Mensch, der schließlich
tun & lassen kann, was ihm beliebt. Sie könnte es ja, wenn sie
wieder in Schweden sein würden, immer noch Marie als erster
sagen, überlegte sie.
Ihr Gewissen war wieder einmal in Nöten, aber ihn kümmerte das
wenig, wohin käme er schließlich, wenn er auf die Flausen dieser,
in seinen Augen überlebten Gesellschaft von Rabbis &
priesterlichen Anschauungen einginge.
So reisten sie nach Neapel zurück, überquerten bei Messina ein
zweites Mal mit dieser klapprigen Fähre die Meerenge,
schipperten sozusagen zwischen Skylla & Carybtis, aber das taten
sie, wie ihr Alexander erklärte, ohnehin andauernd.
War diese Metapher aus der Antike nicht das, was für sie beide
ganz besonders zutraf?
Sie vergaßen über den Strapazen der Reise wenigstens zeitweise
ihre Sorgen mit dem Norden, das, was sie in Schweden erwartete,
das ganze Zeug mit Rahels Eltern, ihrer eigenen Zukunft, die wohl
mehr denn je im Ungewissen lag.
151
Ach, hätte er doch eine Frau, die erhaben wäre über die alten
Vorschriften einer untergegangenen Zeit!
In Neapel angekommen, vergnügten sie sich, wohnten im besten
Hotel auf der Piazza Garibaldi direkt neben dem Bahnhof, gingen
nachts verliebt & eng umschlungen durch die Straßen, fuhren Tags
darauf hinüber nach Capri, nach Ischia, schliefen sich aus,
erkundeten die Umgebung, vergaßen Gott & die Welt, als hätten
sie nicht nur geahnt, sondern gewusst, dass dies alles zum ersten
& letzten Mal passierte und ihre gemeinsamen Tage gezählt
waren.
Rahel ging es gut, ihre anfängliche Übelkeit hatte sich gelegt, in
Wohlgefallen aufgelöst, schon war sie eine routinierte
Schwangere, die, den von Zeit zu Zeit verunsicherten & besorgten
Alexander über ihren Zustand jederzeit zu beruhigen imstande
war.
Sie fuhren hinaus ins antike Herkulaneum, besichtigten die
Ruinen, bestiegen den Vulkan, den Vesuv!, wie weit schien er
einst entfernt!, eine heiße Angelegenheit, doch Rahel war eine
gebildete Frau, sie konnte Latein & Altgriechisch, liebte, schätzte
& verstand diese Dinge, erläuterte sie Alexander, der darum stolz
auf sie war wie ein krähender Hahn.
Sie trafen andere beflissene Touristen, Engländer, Franzosen,
Altphilologen verschiedener Länder, aus Deutschland, Österreich,
Ungarn, Künstler, Dichter, Maler, lauter Leute, welche die Antike
verehrten, sich in ihr quasi eine eigene Welt erschaffen hatten und
entsprechend beseelt & inspiriert unterwegs waren.
Rahel & Alexander durchstreiften die alten Gebäude, das Haus
der Mysterien, und schließlich fuhren sie nach vielen guten Tagen
& Nächten unter dem Himmel des Südens mit dem Zug nach
Rom.
Rahel bestellte bereits in der Landessprache Spaghetti, Lasagne,
Risotto, trank Wein, bekam nasse Augen von jener Flasche, auf
der zu lesen stand: Lacrimae Christi. Die Tränen Jesu Christi.
152
Eine Traube, ein Wein, der hier an den warmen Hängen des
Vesuvs reifte.
So wie sie schon den weißen Marsala in Taormina getrunken
hatten, jenen Wein, welchen bereits Cäsar auf Sizilien genossen
haben soll, jedenfalls hatte ihnen diese hübsche Geschichte der
Kellner erzählt.
Alexander, der nicht so viel über die Antike wusste wie Rahel,
lauschte still & verzückt ihren Worten, die er oft nicht einmal
hörte, denn er gab sich der träumerischen Stimmung willig hin,
war nur in sie und ihren Anblick verliebt war, während sie ihm
engagiert zu erklären versuchte, was diese & jene Inschrift genau
bedeutete.
Er genoss ihre Gelehrsamkeit und vor allem die Freude, die sie ihr
wie ihm bereitete, merkte sich bei weitem nicht alles, staunte über
ihr immenses Gedächtnis, versank eins ums andere Mal darin, sie
zu betrachten, sich zu wundern wie & woher sie das alles wissen
konnte.
Sie aber dachte, sie hatte nicht alles umsonst gelernt, sich, wie sie
jetzt meinte, nicht geplagt für nichts.
So stiegen sie eines Tages die flachen Stufen zu einer der größten
Kirchen der christlichen Welt hinauf.
Sie gehörte zu den sieben Wallfahrtskirchen, welche die Pilger,
die aus allen Teilen der katholischen Welt nach Rom kamen, zu
besuchen pflegten.
Santa Maria Maggiore! Was für ein Name! Und die Kirche erst!
So voller Menschen: schwarz verschleierte, kniende Frauen vor
den verschiedenen Altären, flackernde Kerzen, zelebrierende
Priester, betende Hände, Segen empfangende Gläubige.
Rahel war beeindruckt von der Pracht dieses Interieurs, dem Gold,
den Statuen, den Säulen, dem gemusterten Boden ganz aus
Marmor. Kein Vergleich mit dem Judentum oder den leeren
Gotteshäusern des Nordens.
Hier hatten die Menschen ihre Gefühle, ihren Glauben, ihre
Sehnsucht, ihre Liebe in Kunstwerken zum Ausdruck gebracht,
153
Hammer & Meißel in die Hand genommen, Farbe & Pinsel. Sie
spürte die Innigkeit, die hier zugegen war in jedem einzelnen
Gegenstand, jeder Person, jedem Stein, jedem noch so kleinen
Ding & Detail. Dies hier ließ niemanden kalt, erzeugte Demut,
aber auch hohe Gedanken.
Große Künstler & Mäzene huldigten hier dem Schöpfer, hatten
Religionsgeschichte, Kunstgeschichte geschrieben, ihrem tiefen
Glauben an Gott Ausdruck verliehen.
Einfache Gläubige spendeten, gaben, was sie konnten, ja, was
gewiss über ihre Verhältnisse ging, um ihrer Bitte, ihrem Gebet
Nachdruck zu geben oder sich für die Erfüllung ihrer Anliegen
erkenntlich zu zeigen.
Rahel ging an so gut wie keiner Kirche vorüber, und überall
verbrachte sie Stunden, sah zum ersten Mal die Herrlichkeit,
welche Menschen zustande brachten, konnte nicht genug sehen
von den meisterhaften Darstellungen von Freude & Schmerz, von
Göttlichkeit & Barmherzigkeit.
Zwar sprachen ihre Eltern in Gleichnissen & Bildern, wussten
abstrakte theologische Probleme von allen Seiten zu beleuchten,
erfüllten beinah knechtisch die Gesetze & Gebote eines strengen
Gottes, aber sie hatten, wie ihr jetzt dämmerte, keine Vorstellung
von dieser Art Gottesliebe, dieser Opulenz, dieser Feierlichkeit &
Pracht, ja Erhebung, die Religion, Religiosität auch bedeuten
konnte.
Dagegen kam ihr alles, was sie bis jetzt gekannt hatte, griesgrämig
& deprimierend vor, nein, sie begriff nicht mehr, warum man an
einen zornigen Gott glauben sollte.
Hier gab es nicht nur Gott Selbst in Gestalt eines gütigen alten
Vaters, und so nannten sie ihn auch, sondern jede Menge Heilige,
Engel, himmlische Bevölkerung ohne Ende, kleine nackte
Kinderfiguren, die Schleifchen trugen, vergoldet waren,
Trompeten & Posaunen spielten.
Gewöhnliche Menschen auf Erden sogar spiegelten sich in den
Bildern, ganze Familien waren dort & da erkennbar. Was für eine
154
fremde und doch so lebendige & menschliche Welt!
Du sollst dir kein Abbild machen von deinem Gott, hieß es, aber
hier liebten die Menschen dieses Abbild, sie wetteiferten, wer die
schönste, größte, goldenste, bunteste, prächtigste Malerei zustande
brachte, die bewegteste Statue schnitzte, in Stein meißelte, und die
Gläubigen dankten es ihnen, knieten davor nieder, küssten die
Hände, die Füße der Heiligen, behängten sie mit Gold & Silber,
Perlenketten, Amuletten, Samt & Seide, ja ganz persönlichen
kostbaren Dingen.
Sogar kleine gehäkelte Babyschuhe hingen an den Fingern einer
Madonna, über ihrem geschnitzten vergoldeten Schleier lagen
kunstvoll geklöppelte Spitzenschals in weiß & schwarz, unzählige
Lichter brannten zu ihren Füßen & Ehren.
Man konnte kleine wächserne Jesusstatuetten sehen mit goldenen
Krönchen auf dem Kopf, dieses Baby hielt Zepter & Erdkugel in
Händen, war in königliche Roben gekleidet oder auch nackt, das
Gesichtchen so lieblich & fein, so rosig & pampstig.
Im diesem Moment wäre die Schwangere am liebsten konvertiert,
ohne mit der Wimper zu zucken, ohne Gewissenbisse & Reue.
Rahel warf Geld in einen der vielen Opferstöcke, erwarb damit
eine Kerze, die sie, wie die anderen Frauen, die christlichen, in die
Halterung stellte, nachdem sie sie an einer der unzähligen, bereits
brennenden, angezündet hatte.
Es brannten an jedem der Seitenaltäre zahllose davon,
zurückgelassen von Menschen, die um etwas flehten, für
jemanden beteten, ihrer Toten gedachten, Dank sagten, mit den
verschiedensten Anliegen gekommen & gegangen waren.
Rahel, die Jüdin, sank auf den Boden, kniete & betete in einer
christlichen Kirche, während Alexander sich alles genau
anschaute, die Leute heimlich betrachtete, und obwohl er nicht
von Rahels Religiosität war, ruhten seine Augen in Bewunderung
auf ihr & ihnen allen.
Sie hatte genau wie die andern einen schwarzen Spitzenschleier
umgelegt, unterschied sich in gar nichts von ihrer Umgebung,
155
niemand beachtete sie, jede einzelne & alle zusammen gaben sich
ihren Anliegen hin, dem Mysterium des Glaubens & Betens, dem
Trost, den sie daraus schöpften, der Hoffnung, die sie
hineinlegten, den Bitten, die sie in den Himmel sandten.
Rahel dankte der Madonna für ihre Schwangerschaft, dafür, dass
Alexander sie, in Sünde genommen hatte.
Dieser versunken in sich, hing derweil seltsamen, ihm bisher
fremden Gedanken nach, dachte am Ende bei sich, es müsse
wohl alles so sein, kommen wie es gekommen war, einen tieferen
Grund haben, seinen Sinn, auch wenn er ihm als Mann fürs erste
und vielleicht sogar im letzten verschlossen blieb… .
Die Fortpflanzung, die Kinder, die Mütter, das Leben,… und alle
Frauen der Erde sind sich darin gleich. Sie beten um
Fruchtbarkeit, um einen Sohn, eine Tochter, werfen sich nieder
vor den Altären für die Schmerzen der Geburt, ihre Schwere &
Süße, so war es vielleicht schon in alter Zeit in aller Welt
gewesen, und so war es jetzt, so musste es sein & bleiben in alle
Ewigkeit.
Diese & ähnliche Überlegungen gingen Alexander durch den
Kopf, während sein Blick herumschweifte und immer wieder zu
Rahel zurückkehrte. Das kleine unscheinbare Fräulein, das dort
auf den Stufen kniete, würde bald seine Frau sein, vielmehr war
sie es längst.
Seine Augen ruhten auf Rahels Rücken, und er sehnte sich
danach, wieder mit ihr vereint zu sein und nicht, wie es im
Augenblick der Fall war, von ihr entfernt, schon diese wenigen
Meter machten ihn verrückt, denn er war nicht mehr fähig, einen
anderen Gedanken zu fassen, als den mit ihr zu schlafen, auch
wenn er sich dafür irgendwie schämte, jetzt, wo sie schwanger
war.
Für ihn war es nicht wichtig, ein Kind zu haben, ach, er spürte
eher eine Last, eine unbestimmte Angst & Sorge, eine plötzliche
große Unbekannte in seinem Dasein, doch er gönnte es ihr. Es war
ihr langer Weg zu ihm gewesen, soviel hatte er begriffen.
156
Es musste offensichtlich so sein, also nahm er es an, ordnete sich
unter - dem weiblichen, dem mütterlichen Prinzip, und damit der
Urfrage auch des Mannes schlechthin, seiner zentralen
Verantwortung & Rolle während der irdischen Existenz.
Wenn das Leben weitergehen sollte, musste es so und nicht anders
kommen, schließlich konnte niemand sich selbst erschaffen.
Im Augenblick fühlte er etwas wie Dankbarkeit seinen toten
Eltern gegenüber, dafür, dass sie ihn in die Welt gesetzt, ihm
dieses herrliche Leben gegeben hatten, und nun war er an der
Reihe. So war es doch geradezu seine Pflicht, einem weiteren
Menschen dieses Glück auf Erden zu verschaffen und gleichzeitig
seiner Familie ihren Fortbestand zu sichern, Bindeglied zu sein
zwischen Vergangenheit & Zukunft, zwischen Gegenwart &
Ewigkeit. Die Ewigkeit! Wie oft dachte er jetzt darüber nach.
Allein des Wortes unergründliche, ja, unendliche Bedeutung, die
beunruhigend, ungemütlich, beängstigend zum einen, doch
friedlich & still zum anderen war, tausend Fragen aufwarf oder
auch nur die eine einzige; der weite Sternenhimmel fiel ihm
immer wieder ein, Leben & Tod, Liebe & Leid, alles in allem im
Großen wie im Kleinen. Ach, was konnte man wissen, was
ergründen, was erreichen? Er vermochte seine Gedanken nicht zu
ordnen, war ein Amateur der Philosophie, ohne System &
Routine.
Mit der Schwangerschaft aber, das sollte er bald erkennen,
entfernte sich Rahel von ihm, erhielt eigene, scheinbar höhere
Aufgaben, sah ihn bald als Nebensache, das Kind war jetzt das
Wichtigste, das Eigentliche, schon fürchtete er, sie zu verlieren.
Aber in jenem allerersten Augenblick auf Sizilien war plötzlich
alles vergessen gewesen, gehörte ihnen die ganze Welt, waren sie
als Rahel & Alexander, als Mann & Frau eingetreten in den
Kreislauf der Ewigkeit.
Sie fühlten & empfanden die schier unendliche Tiefe, eine nicht
gekannte Freude, ein Glück von beinah kosmischem Ausmaß. Da
157
sind beide wirklich & völlig verrückt vor Glück gewesen, vor
Freude, küssten sogar die fremden Leute um sich herum, die
ihrerseits lachten & klatschten & gratulierten, auch wenn sie nicht
wussten, worum es ging.
Sie alle ahnen die Größe dieses Moments, und die Frauen unter
den zufälligen Passanten nehmen Rahel auf ihre Weise in
Augenschein.
Gehen wir heute nicht ins Bett, Alexander! Lass uns diese Nacht
feiern, indem wir sie nicht verschlafen, hörst du, nicht
verschlafen, vielleicht sind wir im Leben nicht mehr so glücklich,
vielleicht ist diese Nacht einmal alles, was wir so ganz für uns, so
ganz & gar gemeinsam hatten.
Alexander, mein lieber Alexander, versprich mir, dass du dies hier
nie vergessen wirst, was auch geschieht, was immer wir noch vor
uns haben.
Und, als ahnte sie alles voraus, spricht sie über die Einmaligkeit,
die Einsamkeit, die Kürze des Lebens, zitiert Goethe:
Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n..............,
Wenn im Unendlichen
fließt...........
dasselbe
sich wiederholend
ewig
Im Schatten sah ich ein Blümlein steh’n, wie Sternlein leuchten,
wie Äuglein schön........
Alles Bilder der Vergänglichkeit, der Trauer, der absoluten
Schönheit, der Liebe, der Demut. Es sprudelt aus ihr heraus, sie
kann kaum mehr aufhören, die deutschen Dichter aufzusagen, zu
schwärmen, zu lachen, zu weinen in einem.
Nicht dass Alexander die Zitate verstehen könnte. Trotz ihrer
hastigen Übersetzung hat er nur eine leise Ahnung, er spricht ja
nicht Deutsch, aber er bewundert sie zutiefst.
Tränen treten ihm in die Augen, etwas, was ihm später, wenn er
von Rahel spricht, immer wieder passieren wird. Das Weinen wird
158
seine sprachlose Antwort auf die berührenden Augenblicke der
Erinnerung, die Größe der Ereignisse sein.
Jahrzehnte später, als er ein alter Mann schon ist, ergeht es ihm
noch so, wenn er von ihr redet, an sie denkt in einer besonderen
Stunde, etwas Schönes oder Schweres erlebt, jedes Mal, wenn er
seinem Sohn gegenübertritt, von ihm spricht, ihn wiedersieht, sich
von ihm verabschiedet.
Er weiß, es gilt nicht als männlich, aber er kann nicht anders.
Seine Tränen sind seine Niederlage, sein Bekenntnis wie sein
Triumph, in Wahrheit das Gestalt gewordene Andenken an jene
frühe, einzige Zeit mit Rahel, denn so kurz wird sie gewesen sein
wie der Flügelschlag eines Vogels beinah, der zufällig vorüber
fliegt. Für die Größe seiner Gefühle, seines Stolzes, seiner Trauer
existieren keine Worte mehr, nur diese Tränen, die gleichermaßen
Freude sind wie Leid.
Er fühlte sich bei weitem nicht so gebildet & sprachgewandt wie
Rahel, aber er konnte sich diese Frau leisten, er durfte sie
anschauen & bewundern, wurde von ihr geliebt sogar, und er
schätzte dies alles mehr als jemand anderer sich vielleicht
vorstellen konnte.
Rahel verschwindet im Gewühl der süditalienischen Märkte, wird
augenblicklich eine von den Einheimischen, redet, gestikuliert,
lacht.
Sogar einen schwarzen Schleier musste Alexander ihr für die
Kirchen kaufen. Sie wollte sein wie die Frauen hier, und niemand
konnte auf den ersten Blick bemerken, dass sie eine ganz andere
war, eigentlich aus dem fernen Norden kam.
Sie ist jetzt ganz mild gestimmt, horcht in sich hinein, streicht sich
mit der Hand schon ab & zu über ihren Bauch, der aber schon gar
nichts von einer Wölbung an sich hat, doch sie fühlt sich
unglaublich schwanger & stark.
In so einer Anwandlung hatte sie Alexander überrumpelt mit der
Mitteilung, in ROM! in ROM!, ja, er hatte richtig gehört, in Rom,
mit Großbuchstaben hatte sie es ausgesprochen, im Zentrum des
159
Katholizismus, in eine Basilika gehen zu wollen, um der Madonna
der Christen zu danken, zu opfern.
Rahel, bist du noch ganz gescheit, wir sind Juden, du bist sowieso
nicht irgendeine Jüdin, die Tochter eines Rabbiners sogar! Und du
willst in eine Kirche gehen, um dort zu beten?
Ja, warum nicht? Maria war Jüdin wie ich, sie hatte einen Sohn,
wenn nicht gar mehrere, sie wird mich verstehen.
Ach, Alexander, nimm‘ es nicht so schwer, ich will mich einfach
bedanken bei einer Göttin, bei Jehowa, bei wem auch immer, es ist
doch einerlei, bei denen im Himmel oben halt oder wo!
Wie wär’s mit mir, bei mir!
Alexander!
Am Ende war es meine Leistung, mein Same, der …, begreifst du
das nicht?
Nein, Alexander, sei nicht frevelhaft, es ist etwas viel Größeres, es
erfordert mehr, als dass zwei kleine, dumme Menschen
miteinander schlafen, glaub’ mir, das sind nicht wir, und in all den
Jahren habe ich oft die Frauen beneidet, die in eine Kirche gehen
können, um dort zu beten.
Im Süden, weißt du, im Süden, sogar schon im Süden von
Deutschland, und natürlich besonders hier in Italien existiert
diese prunkvolle katholische Religion, lebt & regiert der Papst,
das Oberhaupt der Katholiken, und alles geht zurück auf Jesus
Christus, einen Juden.
Sie haben viele Heilige, musst du wissen, und sie verehren vor
allem die Madonna, Miriam, die Mutter ihres Messias’!
Dies hat mir immer im Judentum gefehlt, etwas für die Frauen,
für die schönen wie die schweren Stunden, wie nur wir sie erleben
160
können, die Liebe, die Empfängnis, die Geburt.
Alexander, daher sage ich dir, ich möchte mich verschleiern und
in Rom in eine wichtige große Kirche gehen, um eine Kerze zu
opfern, um zu beten, mich zu bedanken, wie ich es in der Literatur
gelesen habe.
Ja, Rahel. Das ist bestimmt kein Problem, sie wissen ja nicht, wer
du bist, wer wir wirklich sind.
Weißt du, ich möchte unter den einfachen und den vornehmen
Frauen knien, denn darin sind sich alle gleich, nämlich, wie sie
die Madonna verehren, sie um etwas bitten und ihr danken. Ich
möchte sein wie sie, ich sehne mich nach einer Religion, die auch
Raum hat für diese Dinge, nicht nur für die männliche
Gelehrsamkeit, die sich mit nichts anderem beschäftigen will oder
kann als den alten Texten, den Buchstaben des Gesetzes, der
Auslegung, der Exegese.
Wie mein Vater, der unsere arme Mutter mit all dem allein
gelassen hat! Männer geben dem so viel Bedeutung, weil sie sonst
nichts haben.
Ich frage mich, wie sie es geschafft hat mit diesem Rabbiner, der
in einer Weise nur Augen hatte für die Schrift, das Buch, die
Thora, aber gewiss nichts von Frauen verstand, sondern im
Gegenteil immer seine Liebe versteckt, ja verleugnet hat, alles mit
Demut zu tun verlangte, wie sie es also geschafft hat, uns
irgendwie groß zu ziehen, ohne uns allzu sehr spüren zu lassen,
was sie selbst belastete, was sie sich einst aufgeladen hatte,
worunter sie litt, was sie für ihn, für uns alle, auf sich nahm, was
es bedeuten musste, mit einem Mann wie ihm als Frau zu leben
und ihren Kindern eine liebevolle & verständnisvolle Mutter, ja
als ursprüngliche Christin, eine wahrhaft jüdische Mamme zu
sein.
Vieles verstehe ich erst jetzt, und vieles wahrscheinlich gar nicht.
161
Aber, er hat doch deine Mutter, eine Christin, geheiratet, etwas
völlig Ungewöhnliches für einen Rabbiner, wie sehr muss er sie
doch geliebt haben, um dies tun zu können!
Ja, aber er hatte auch immer ein schlechtes Gewissen, suchte
ständig seine Schuld zu sühnen, ließ sie seine Sünde spüren,
zwang sie auf diese Wiese, sie mit ihm zu tragen. Wie schwer muss
es für Mutter gewesen sein, niemals das Wichtigste in seinem
Leben darzustellen, immer nur die Rabbinerfrau zu spielen wie
schon ihre Mutter ihrem Mann, dem Pastor, zu assistieren hatte,
hinter ihm zurückzustehen, nie etwas zu verlangen, am wenigsten
Aufmerksamkeit. Diese Frauen standen nur neben & hinter ihren
Männern, welche ihnen das Gefühl gaben, gering zu sein und
niemals den großen religiösen Gesetzen zu genügen.
Nicht einmal sich seiner Liebe sicher sein zu können, in der
Öffentlichkeit stets Zurückhaltung zu üben, für alles & jeden
Verständnis zu haben, während sie mit ihren Sorgen & Ängsten
alleine zurechtkommen musste.
Sich nie mit sich selbst beschäftigen zu dürfen, nur für die Familie
da zu sein, immer neuen Mut zu schöpfen, den Glauben an den
Sinn dieses Lebens nicht zu verlieren, die vielen glücklosen
Schwangerschaften, die Fehlgeburten, die Geburten zu ertragen…
Sogar ich, obwohl ich noch nichts dergleichen erlebt habe, merke,
wie schwer es sein kann, sogar einen Mann wie dich zu lieben.
Einen ungebildeten Pelzhändler, meinst du? Wie kann das schwer
sein, ich tue doch alles für dich.
Du weißt, dass ich das nur zum Spaß gesagt habe, nicht wirklich
meine, denn jetzt bist du der Vater meines Kindes, nichts anderes
mehr.
Ich werde Dir keine Frau wie meine Mutter es für meinen Vater
war, sein können, aber ich will mein Bestes geben, und eines habe
ich erreicht, du musst mich jetzt heiraten, und so verwegen wäre
162
sie bestimmt nie gewesen. Ich habe um dich gekämpft, ich gebe
dich nicht mehr her. Ich will immer, immer bei dir sein, nie mehr
ohne dich, egal, was geschieht.
Deine Mutter ist eine ganz besondere Frau, demütig wie ihre
eigene Mutter, deine Großmutter, die schon eine Pastorenfrau war,
arbeitsam, still, einfach & gut im Sinne von gütig.
Gewiss hat sie viel von ihrer Familie gelernt und mitbekommen.
Männer sind nicht wie Frauen, Rahel, das musst du immer wissen,
sie sind viel schwächer, simpler gestrickt, sie klammern sich an
Wörter, an Bücher, an ihr Handwerk, an den Besitz, eben, weil sie
nichts von den großen kosmischen Dingen verstehen, die den
Frauen durch die Kinder, die Geburten zugänglich sind.
Daher haben sie ein Imperium aufgebaut, welches aus ihrer Sicht
eine Frau, die sie mit Kindern und Arbeit eingedeckt haben, nicht
betreten können soll. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Der Mann hat nichts, er ist völlig verloren, hat keinen Halt wie
die Frau, fühlt sich überflüssig & leer, jagt seinen Trieben
hinterher. Am Ende hat er kein anderes Problem, als mit Hilfe des
Wissens seine Geilheit zu verstecken, die ihm furchtbar peinlich
ist.
Ich weiß nicht so viel von Religion wie du oder deine Eltern, aber
ich glaube, ich habe das Wesentliche begriffen.
Daher bewundere ich dich, Rahel, werde dich immer bewundern,
ich will dir ein guter Ehemann sein, unseren Kindern, so Gott will,
ein ordentlicher und liebevoller Vater, aber der Kern, das
Innerste, das Allerheiligste unseres, und vor allem meines Lebens,
bleibst du, immer nur du!
So also kam der Tag, an dem sie gemeinsam die Stufen einer der
sieben großen Wallfahrtskirchen Roms, die Stufen von Santa
Maria Maggiore, hinaufstiegen und Rahel an einem der
Marien-Altäre niederkniete und vor der Mutter Gottes eine Kerze
anzündete, innig & lange betete, während Alexander wartete und
163
nicht nur seine zukünftige Frau, sondern auch die anderen
beobachtete.
Ja, seine Rahel war wie diese Frauen hier, ängstlich schon auf ihre
Mutterrolle bedacht, dekorativ verschleiert mit schwarzer Spitze
unter und bei den anderen.
Niemand hier wusste, dass sie eine Jüdin war, und niemand
kontrollierte es, niemand fragte danach, hier durfte jeder seine
Mühsal abladen, um Gnade bitten.
Leichtfüßig, fast fröhlich verließen sie später Santa Maria
Maggiore, jenen Ort, der einmal in Wahrheit & Erinnerung den
Mittelpunkt ihrer großen Reise darstellen sollte.
Es werden sechzig Jahre vergehen, ehe jemand im Gedenken
daran, hierher zurückkehren wird.
***
VIII
Ein erstes Mal Afrika
Abschied & Anfang
Afrika, wird der Sohn Alexanders, der wieder Alexander heißt,
später oft sagen, Afrika hat mir alles gegeben, und Afrika hat mir
alles genommen.
Niemand würde je wieder dieses dunkle, ferne, zauberhafte &
unheilvolle Wort Afrika aussprechen wie er, mit Tränen in den
Augen, Tränen in der Stimme sogar, und doch wird es noch immer
klingen wie eine Verheißung, eine Hoffnung, wird klingen nach
Dankbarkeit & Trauer, Verlust & Einsamkeit, nach Glück &
Unglück in einem.
164
Denn, was in jener Nacht in Zentralafrika wirklich geschah,
erzählte er niemandem, nicht einmal seinem Vater zur Gänze,
schon gar nicht Silvias Vater, dem er schließlich die Nachricht von
ihrem Tod überbringen musste.
Doch nach fast drei Jahrzehnten, und nachdem wir uns zum
dritten Mal begegnet waren, sollte er mir das, was sich auf einem
anderen Kontinent ereignet hatte, in einer darum so besonderen
Nacht erzählen. Was im Folgenden wiedergegeben wird, gehört
zum Gespräch auf einer Parkbank in Wien des Jahres 1993.
Ich lasse einen Teil des Dialogs hier einfließen, nehme etwas
vorweg, was sich für den Leser, die Leserin erst nach & nach
auflösen, erschließen & zusammenfügen wird:
Dies, Maria, war das Schwerste, was ich jemals zu tun hatte.
Nein, das kann sich keiner vorstellen, wie schwer!
Jenem alten Herrn, weit oben in Schweden musste ich es sagen,
ich, Alexander Sommerfeld, dem er seine Tochter damals nicht
geben wollte, weil sie alles war, was ihn noch auf Erden hielt,
ausgerechnet ich musste ihn davon in Kenntnis setzen, dass ich sie
ihm tatsächlich, wie er es einst kommen sah, genommen hatte. In
Afrika gelassen, wo sie durch meine Schuld zu Tode gekommen
und endgültig unser gemeinsames Leben aufgelöst worden war.
Und doch hat es so sein müssen, denn es kann in Wahrheit nicht
meine Schuld gewesen sein, es war ihr, unser, mein Schicksal.
Schicksal, dass wir uns begegnet waren, Schicksal, dass es
kommen musste, wie es kam, denn ich, ich habe sie von Herzen
lieb gehabt, so schwer es war mit ihr, so schwer es war für mich.
Vielleicht aber habe ich auch in all den Jahren eine
Rechtfertigung gesucht, etwas, das mich ertragen ließ, was
geschehen war.
Etwa so erzählte er es mir, ohne besondere Vorwarnung, obwohl
sein Verhalten eine gewisse Ahnung zugelassen hätte. Doch war
ich zu dieser Zeit nicht empfänglich, nicht vorbereitet auf eine so
unvorstellbare Beziehung, wie sie ohne mein Wissen bereits
zwischen uns bestand.
165
Ich war aber jetzt, 1993 auf der Parkbank in Wien, nicht mehr jene
Maria die Kinderkrankenschwester, die ihm Ende der
Siebzigerjahre zufällig assistiert und ihn damals vollkommen aus
der Fassung gebracht hatte.
Nun sollte er aus seiner Sicht erläutern, wie unsere einzige
gemeinsame Krankenhausnacht für ihn verlaufen war.
Er glaubte, als er mich zum ersten Mal sah, seinen Augen nicht zu
trauen.
Was oder wer ihm da wie selbstverständlich gegenübertrat und ihn
über den Stand der Dinge informierte, war Silvia!
Silvia, die er doch in Afrika vor langer Zeit verloren & begraben
hatte, zusammen mit dem Kind, Silvia, die er tot bereits die
finstere Landstraße entlang getragen hatte, bis jener Lastwagen
mit einem hilfsbereiten rabenschwarzen Fahrer am Steuer aus der
Dunkelheit auftauchte und ihn und seine seltsame Last in aller
Selbstverständlichkeit mitnahm.
Alles nämlich hätte er 1977, so lange danach, erwartet, in einer
völlig anderen Zeit, an einem ganz anderen Ort, alles hätte er
erwartet, aber nicht Silvia.
Ich, die tatsächlich vor ihm stand, lauter verschiedene Wörter
sagte, ihm die Instrumente reichte, wusste nichts davon.
Er fing jetzt auf dieser zufälligen Parkbank, auf der wir uns
niedergelassen hatten, an, zuerst stockend, dann immer flüssiger,
seine Erinnerung wiederzugeben:
Ich hörte keinen einzigen Satz, wusste nicht einmal, ob Sie etwas
Deutsches oder Schwedisches gesagt haben.
Wie in Trance versuchte ich zu arbeiten, horchte das Kind ab,
überprüfte den Sauerstoff, stellte keine Fragen, war gar nicht bei
Bewusstsein, so viel ist sicher.
Herr Doktor, ich habe bereits die Transoxode angelegt, soll ich
auch einen Astrup abnehmen?
Einen Astrup?
166
Einen Astrup, ja, ist das recht so?
Ich war überhaupt nicht in der Lage, darauf einzugehen.
Ob das so recht ist, dass ich einen Astrup abnehme?
Die jetzigen Sätze wechselten sich mit den damaligen ab,
ergänzten sich wie selbstverständlich, kamen nicht durcheinander.
Wir wussten erstaunlich gut, was wir gesagt hatten, wenigstens in
den medizinischen Teilen, sogar die Reihenfolge.
Meine Augen waren in den Ihren. Sie steckten sogar fest, glaube
ich. Wie ein Betrunkener versuchte ich Klarheit zu gewinnen,
etwas zu erkennen, zu begreifen, zu sagen.
Ich kannte mich nicht mehr aus, dachte, ich müsste jeden Moment
aufwachen.
Das einzige Wort, an das ich mich erinnerte, war Silvia. Ich muss
es ausgesprochen haben.
Ja, ich glaube, es war ein Name, ja doch.
Silvia?
Wie bitte?
Verzeihen Sie, Schwester, ich bin müde........ Ich, ich glaube, ich
muss mich hinlegen........Entschuldigung.... Ich bin verschlafen.
Verzeihung, es tut mir leid, ich glaube, ich muss mich hinlegen, ja,
ich muss mich hinlegen….,
tatsächlich aber hat mich so etwas wie der Schlag getroffen, ich
muss mich ständig wiederholt haben, immer das gleiche gesagt,
oder?
Zwischen den Sätzen lagen lange Pausen, das stimmt, doch das
167
war nicht seltsam, weil Sie ja gearbeitet haben, flüssig, gekonnt,
konzentriert, und es war nicht Ihre Muttersprache.
Man spürte die Erfahrung, das Ethos, den Respekt vor dem
kleinen Patienten, etwas, was man bei anderen Ärzten kaum zu
Gesicht bekam, schon gar nicht nachts, wenn sie
gezwungenermaßen
aufstehen
mussten
und
missmutig
daherkamen, glaubten, muffeln, grantig sein und sogar schimpfen
zu können.
Ihre Hände waren flink & vorsichtig, schnell & langsam zugleich
wie auch die Worte freundlich doch bestimmt, aber weich.
In dieser Art verlief damals das rekonstruierte Gespräch, vielleicht
aber war es auch anders, vielleicht versuchten wir beide, etwas
durch Worte, Sätze, die wir gesagt haben wollten, wieder zu
finden, eine Erinnerung aufzubauen. Wie könnte es gewesen sein?
Doch seine emotionale Überwältigung bei meinem Anblick
konnte ich in ihrer Tiefe weder jetzt noch damals erkennen.
Es schien einfach außerhalb jeder Möglichkeit & Denkbarkeit,
einem solchen Menschen von einem Augenblick auf den anderen
etwas zu bedeuten, und doch lag angenehme Spannung in der
Luft, damals wie heute, ja es schien sogar ein Hauch davon in mir
zurückgeblieben und nach so vielen Jahren noch spürbar zu sein.
Wir erinnerten uns vielleicht mehr an das Gefühl von einst, als an
die Worte, die wir ausgetauscht hatten.
Natürlich haben wir schon als Schwesternschülerinnen davon
geträumt, uns in einen jungen Arzt zu verlieben, ja, von ihm
geheiratet zu werden, überhaupt von der Liebe auf den ersten
Blick über alle Hindernisse hinweg, doch wussten wir im
Innersten alle nur zu gut, auch wenn sich die eine oder andere
danach verzehrte, dass es diese Dinge nur in Groschenromanen
oder mittelmäßigen Fernsehspielen gab, nicht aber in der
Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die ganz besonders im
Krankendienst anders aussah, uns täglich vor Augen geführt
wurde und auf den harten Boden der Realität zurückbrachte.
168
Es soll Mädchen gegeben haben, die deswegen den
Krankenschwesternberuf wählten, sich in diesen Phantastereien
verirrten, alles daran setzten, einen Arzt ins Bett zu kriegen, um
von ihm schwanger zu werden.
Dabei ist es nicht einmal an den Haaren herbei geholt, überall gab
es Kolleginnen, die in einer solchen Liebe verglühten, sogar
Kinder zur Welt brachten, die ihre geheimsten Träume in sich
trugen, Frauen die daran zugrunde gingen oder sich davon
ernährten.
Etwas davon war sogar tagtäglich bei den Visiten erkennbar, wenn
man sehen konnte, wie manche Schwestern den Ärzten gegenüber
kriecherisch & anbiedernd auftraten, sich von ihren Kolleginnen
abzuheben, sie zu überflügeln versuchten, sie dumm dastehen
ließen, nur um sich selbst in Szene zu setzen, unnötig unterwürfig
& geschmeidig den Medizinern zur Hand gingen, ihnen nach dem
Mund redeten, jede Mühe abnahmen, ihre Gedanken förmlich
lesen konnten, sich durch vorauseilenden Gehorsam oder
besondere Fleißaufgaben hervortaten, um ein Lob, ein Zwinkern,
eine lockere Bemerkung, irgendetwas über das Medizinische
hinausgehende, zu ergattern.
Einigen war es genug und gleichzeitig das Höchste, mit einem
ärztlichen Stationsvorstand, einem Professor gar, auch dies kam
vor, oder auch nur einem einfachen Assistenzarzt ein Kind
gezeugt, mit ihm einen oder mehrere intime Augenblicke erlebt zu
haben und dies zum Höhepunkt ihres Lebens zu erklären.
Mit Mühe zogen sie das Kind alleine groß, quasi in aller
Heimlichkeit, ließen es von Freundinnen und wenigen
Eingeweihten hüten, während sie endlos Nachtdienste
verrichteten, Überstunden machten, recht & schlecht eine
Wohnung ansparten, nur, um das außereheliche Kind eines
Primars zu besitzen, zu verwöhnen, für es sorgen zu dürfen, für
einen Primar, als dessen Geliebte sie sich fühlten, und der
womöglich keine Idee davon hatte, dem es egal war, da er sich
sowieso in anderen Sphären bewegte. Ihr ganzer Stolz war dieses
169
Mysterium, dieses Martyrium, dieses Geheimnis, welches sie zu
etwas besonderem machte, wie sie meinten, abhob vom Alltag,
der Routine des Krankenhauses, den Kolleginnen, die sich mit
weitaus gewöhnlicheren Verhältnissen abfinden mussten. Ihnen
aber genügte das Wissen um die Besonderheit des Kindes, das sie
gerade austrugen, später aufzogen in dem sicheren Glauben, dass
der Vater ein besonderer Mann war, ein Gott in weiß.
Einer, der mit seiner Frau, nein, seinen Frauen, wahrscheinlich
Golf spielte, mit seinesgleichen Tennisbälle hin- & herschoss, auf
Segeltörns ging, eine Villa sein eigen nannte, ein Sommerhaus,
schicke Wagen fuhr und es seinen ehelichen Kindern an nichts
fehlen ließ.
Diese Schwestern durften sich in aller Bescheidenheit anhören,
wie weit die eigentlichen Kinder des Primars es bereits gebracht,
welches Studium sie gewählt hatten, wie es ihnen mit der ersten
Liebe erging, all die schmeichelhaften Fragen, die dem allseits
Verehrten & Bewunderten von seinen Untergebenen während der
Visite mitunter gestellt wurden. So wenigstens ließ sich die Laune
des Chefs ab & zu aufheitern, sein Grant etwas mildern, seine Art
als ganzes oder im einzelnen leichter ertragen, und natürlich
konnten solche Korrekturen an seinem oft ekelhaften &
launischen Betragen nur Stationsschwestern & Oberschwestern
vornehmen. Niemand sonst hätte es wagen dürfen, ihn auf sein
Privatleben anzusprechen.
Es gab sogar Schwestern, die allein von den Träumereien lebten &
aufblühten, denen es reichte, sich solche Illusionen nur
auszudenken, sich ein Liebesleben parallel und im Geheimen zu
erschaffen. Schwestern, die in ihrer Phantasiewelt verloren
gingen, an sie ernsthaft glaubten und am Ende irgendwie &
irgendwo vertrockneten, verhärmt, verbittert oder auch still &
glücklich in aller Verborgenheit.
Alles kam vor in dieser Welt, und es war das eine so gut und egal
wie das andere.
Wir mussten am Ende des Tages schließlich nur froh sein, wenn
170
alles halbwegs gut vorübergegangen war, man keinen Fehler
gemacht, nichts vergessen oder übersehen hatte, der nächste freie
Tag näher rückte und man diese Anstalt, wenn auch nur für kurz,
verlassen konnte.
Es war noch nicht wie heute, wo man ohne weiteres mit einem
Mann ins Gespräch kommen kann, der Umgang insgesamt
lockerer & freier ist, Verhütungsfragen kein unüberwindliches &
unaussprechbares Problem mehr darstellen, ein Dialog darüber
mit so gut wie jeder Person möglich ist. Unsere Jugend aber war
noch geprägt von strenger Erziehung, von verlegenem Schweigen
über die wesentlichen Dinge eines jungen Lebens, denn die
Sexualität vor allem, war dominiert von Verklemmtheit,
schlechtem Gewissen & Angst, galt als schwere Sünde, die zu
beichten war. Demgemäß fand sie verstohlen statt, galt als
schmutzig & abartig, wurde in dunklen Ecken verübt wie ein
Verbrechen. Niemand sprach darüber; nicht einmal das Paar, das
sich einander hingegeben hatte, warum und in welcher Situation
auch immer, niemand hatte Worte dafür oder stand vor der
Öffentlichkeit dazu, man schämte sich, denn da es allgemein
verboten, geächtet war, musste es ohnehin verschwiegen werden.
Ein Problem aber vor allem für das Mädchen, das sich so zum
Flittchen, auch in den eigenen Augen, gemacht hatte.
Die allgemeine & spezielle Stimmung unserer Vorgesetzten, der
Oberinnen, der humorlose ernste Betrieb eines Krankenhauses,
die Konfrontation mit Leiden & Tod Tag für Tag, Nacht für Nacht
führten kaum zu natürlicheren Denkweisen, Vorgängen &
Begegnungen. Man war
schon heillos mit dem Dienst
überfordert, wie nicht erst mit den schier unlösbaren
zwischenmenschlichen Beziehungen & Regeln.
Die Gepflogenheiten, der Umgang, alles trug noch den Stempel
des Klösterlichen, der Demut, denn die Strukturen kamen von den
geistlichen Schwestern, die nicht nur unsere Vorläuferinnen,
sondern oft auch unsere Vorgesetzten waren.
Sie verlangten von uns Schwesternschülerinnen und sogar von
171
den Diplomschwestern die Haltung von Novizinnen, die totale
Verfügbarkeit für den Pflegeberuf. Etwas anderes war ihnen
unvorstellbar. Unbezahlte, unregistrierte Überstunden standen auf
der Tagesordnung, eine leise Frage in diese Richtung wurde
bereits als völlige Unfähigkeit für diesen Beruf gewertet und
schriftlich weitergemeldet. Grund genug, einen ins Visier zu
nehmen, um keine gute Stunde mehr zu erleben, gefuchst &
gemoppt zu werden.
Wie unglaublich daher für mich, noch nach Jahren, mit einem
Medizinprofessor dazusitzen und seinen offensichtlich ganz
privaten Worten zu lauschen.
Wenn unser letztes Treffen schon gegen jede Regel gewesen war,
wie nicht erst dieses! Ich musste jetzt all meine Gedanken zum
Schweigen bringen, irgendwie versuchen, ihm zu folgen,
herauszufinden, was genau der Zweck dieser Sitzung war.
Langsam drangen seine Worte zu mir, langsam wurde ich gewahr,
dass er mir ganz persönlich etwas zu sagen hatte, ja, nur deswegen
hergekommen war, er konnte ja nicht ahnen, woran ich gerade
dachte, nichts von dem, was mir noch immer zu schaffen machte,
obwohl ich es doch äußerlich längst hinter mir gelassen wähnte.
Plötzlich, plötzlich, musst du wissen, plötzlich stand Silvia vor
mir, ich traute meinen Augen nicht, glaubte nun endgültig zu
spinnen, doch es war gleichzeitig so wirklich wie noch nie.
Ich hatte viele Jahre nicht mehr von ihr geträumt, und jetzt
verstand ich nicht gleich, wo ich war.
Du hast genauso ausgesehen wie sie! Du warst im gleichen Alter
wie meine Frau damals, vor so langer Zeit.
Unvermittelt war er zum Du übergegangen.
Eine Reinkarnation vielleicht, so dachte ich. Das soll es geben, im
Fernen Osten, im Buddhismus. Das musste es sein!
Silvia war in dir zu mir zurückgekommen, mir sogar als
Krankenschwester gegenüber getreten, genau wie damals!
In Stockholm in einem Krankenhaus vor so unendlich langer Zeit.
172
Ja, es war natürlich anders gewesen, ganz am Anfang, doch als
sie fertige Schwester war, haben wir genau so
zusammen-gearbeitet. Na ja, nicht ganz genau.
Wir haben uns immer verstanden, auch wenn wir oft, viel zu oft
gestritten haben, es schwer war für sie wie für mich.
Wie gerne hätte ich in all den Jahren nach ihrem Tod, alles
gegeben, um sie noch einmal zu sehen. Meine Frau, meine einzige
Frau! Alles getan sogar, um nur mit ihr zu streiten, sie noch
einmal neben mir zu haben, an ihrer Seite einzuschlafen,
aufzuwachen.
Oft träumte ich von ihr, doch, wenn ich es mir wünschte, träumte
ich nicht. Ich wusste nicht mehr, ob ich es mir wünschen sollte
oder nicht, denn es brachte mich das eine wie das andere
durcheinander, ließ mich Tage & Nächte nicht zur Ruhe kommen,
lenkte mich ab, brachte mich auf abwegige Gedanken, machte mir
zu schaffen die ganze Zeit.
Damals aber in Salzburg war ich fassungslos, denn noch nie seit
ihrem Tod hatte ich sie so realistisch erlebt.
Auch wenn ich mit dir ganz normal gearbeitet habe, ich dachte an
nichts anderes, nichts anderes. Ich war völlig aus der Fassung.
Das hat man aber nicht gemerkt. Ich war erstaunt, wie
reibungslos alles von statten ging, wie ruhig Sie waren trotz der
Aufregung, die immer um eine Neuaufnahme herrschte. Man sah
Ihre Routine genauso wie Ihr selbstverständlich hohes Niveau.
Ich dachte noch, wie professionell und ohne Vergleich im
Gegensatz zu unseren Ärzten!
Wirklich?
Oh ja, Sie haben keine Ahnung, was ich mit denen mitgemacht
habe, wie ekelhaft manche werden konnten, wenn sie ihren Teil
nicht zustande brachten, vor allem nachts, es nicht und nicht
schafften, den Tubus richtig einzuführen, den Nabelvenenkatheter
173
oder auch nur eine Infusion zu legen, die Maschine einzustellen,
es war oft schrecklich, und manchmal klappte gar nichts.
Sie aber, vor dem alle solche Angst gehabt hatten, einschließlich
meine Person (beiderseitiges Lachen), Sie waren so höflich und
freundlich. Eine einzige Erleichterung, eine Erholung.
Sie haben mich mit Respekt behandelt.
Zum ersten Mal habe ich gesehen, wie man auch in der
Schnelligkeit ruhig und überlegt handeln kann, ohne
herumzuschreien, nervös zu fuchteln, dass der Arzt nicht die
Schwester beschuldigt, wenn er selber Fehler macht oder
unsicher ist und fragt, was er tun soll.
Wirklich wahr?
Ja, wirklich wahr. Ich habe Sie sofort bewundert, fast verehrt.
Das habe ich nicht bemerkt.
Wie sollten Sie, wer waren Sie nicht gegen mich! Es muss für Sie
normal sein, bewundert zu werden.
Bestimmt nicht.
Sie sind bescheiden.
Nein, ich bin seither besessen gewesen von der Idee, dich zu
finden, wieder zu finden, dich nicht aus den Augen zu verlieren,
doch zuerst bin ich einmal vor Schreck davongelaufen.
Sie haben dann etwas gesagt, was ich nicht begriffen habe, auch
später nicht, was mich beschäftigt hat die ganze Zeit trotz meines
eigenen, völlig anderen Lebens.
Was habe ich überhaupt gesagt, bevor ich ging?
174
Sie haben gesagt: Wenn ich jünger wäre, würde ich Sie fragen, ob
Sie sich vorstellen könnten, mit mir zu leben.
Ich werde diesen Satz nie vergessen! Ich habe tausendmal über
ihn nachgedacht, ihn mir wieder & wieder in Erinnerung gerufen.
Er war mir Trost & Freude, obwohl ich doch glücklich war, und
doch gibt es immer Momente, in denen man an etwas denken
möchte, das einen entführt und irgendwie hilft über die
Trostlosigkeiten
und
Sorgen
mancher
Ereignisse
hinweg-zukommen. Vielleicht auch, um zu wissen, man hätte nicht
nur diese eine Möglichkeit gehabt.
Auch war ich so froh, dass Sie Deutsch konnten, ich kann’s Ihnen
gar nicht sagen, ich hatte solche Angst, Sie würden mich, wie
befürchtet, fließend Englisch oder Französisch ansprechen, denn
genau deswegen wollte ja niemand diesen Nachtdienst machen.
Einzig wegen Ihnen und wegen der Furcht aller Schwestern vor
Ihnen!
Oh, mein Gott! Meine allerliebste Tante Marie ist zwar
Französischlehrerin gewesen, doch hat sie vergeblich versucht,
mich für diese Sprache zu begeistern. Eher, glaube ich, würde ich
Chinesisch lernen, bin froh, wenn ich bei Vorträgen auf
französischen Ärztekongressen ein paar einleitende Sätze zustande
bringe. Später hat sogar Marie eingesehen, welch‘ ein
aussichtsloser Fall ich bin und mir makellose Sätze
aufgeschrieben, sie mit mir einstudiert, mich auswendig lernen
lassen, noch am Flughafen die wichtigsten Dinge, die ich auf
keinen Fall vergessen durfte, hinterher gerufen! Meine liebe, gute
Tante Marie!
Man hat meistens Angst vor Dingen, die gar nicht existieren.
Sie haben mich ganz nah und tief angeschaut, das war zwar
seltsam, aber gleichzeitig wunderschön! Es brachte mich in die
äußerste Verlegenheit.
175
Ja, weil ich dachte, ich hätte etwas Dummes gesagt, man kann ja
in einer fremden Sprache etwas völlig Falsches zum Ausdruck
bringen, ohne es zu bemerken.
Als du nicht reagiert hast, lief ich davon, um mich auszuweinen,
wollte nicht niederbrechen vor dir. Alptraum und Glück zugleich.
Ich wusste nicht einmal, ob ich noch lebte oder schon im Jenseits
war, ob ich in einem Traum herumspazierte oder in der
Wirklichkeit stand.
Wenn ich im Ausland bin und gerade aufwache, weiß ich zuerst
nie, wo ich bin, ich muss mich erst orientieren. Später zu Hause
dann ist es wieder so, ich glaube, wenn ich aufwache, noch in der
Fremde zu sein. Ich glaube, die Seele muss erst nachkommen, der
Geist weilt noch anderswo.
Sie sind die ganze Nacht nicht mehr gekommen. Sie sind
überhaupt nicht mehr gekommen. Ich habe Sie nicht wieder
gesehen, und es tat mir unendlich leid. Ich hatte das Gefühl, mich
verliebt zu haben, völlig abwegig, aber ich konnte nichts dafür,
und ich war traurig wie nach einer verpassten Gelegenheit.
Ich weiß.
Ich bin kurz darauf, schon am übernächsten Tag, heimgefahren.
Ich musste mich erst erholen, Klarheit finden, Abstand, was weiß
ich.
Seit diesem Augenblick, dieser Nacht, denke ich an nichts anderes
mehr, nichts anderes.
Was hätte ich tun sollen, was wäre das Richtige gewesen, was
habe ich falsch gemacht? Warum konnte ich die Gelegenheit nicht
am Schopf packen und zu dir sagen: Hör zu, du siehst aus wie
meine verstorbene Frau Silvia, ich möchte dich heiraten, ich habe
dich wieder gefunden, irgendetwas dieser Art. Aber ich war nicht
in der Lage dazu.
Als ich wieder in Stockholm war, wollte ich zurückkommen, aber
176
ich habe es nicht geschafft. Andere Dinge waren wichtig, ich
steckte mitten in meiner Karriere, sie lag wie ein gemähtes Feld
vor mir, ich musste es nur betreten, niemand war auf meiner Spur.
Außerdem lenkte es mich ab. Da ich niemanden hatte, konnte ich
mich auf die Forschung konzentrieren, fand meine Befriedigung,
meinen Ausgleich darin, redete es mir ein.
Doch irgendwann und immer wieder kamen die Stunden der
Einsamkeit, der Freizeit, ich war über vierzig, hatte keine Familie,
keine Kinder, denn du musst wissen, als ich meine Frau verloren
habe, ist noch etwas Schreckliches passiert.
Was ist passiert?
Als sie starb, war sie schwanger, hochschwanger, es war ein
Unfall, ich selbst habe sie in den Tod gefahren.
Was!? Das glaube ich nicht.
Doch. Dies ist mein erster Gedanke, wenn ich aufwache und mein
letzter, wenn ich einschlafe, seit damals, seit ich überhaupt zu
Bewusstsein gekommen bin, dieser unfassbare, dieser untragbare
Gedanke hat mich nicht mehr verlassen.
An dieser Schuld trage ich so schwer, wie es sich niemand
vorstellen kann. Sie hat ihre Spuren hinterlassen, Spuren, Maria,
die nicht zu übersehen sind.
Und hier füge ich ein, wie es überhaupt nach all den Jahren zu
einem Wiedersehen mit Sommerfeld kam.
Ich war nämlich nicht mehr Kinderkrankenschwester, hatte mich
seit der Geburt meines zweiten Sohnes aus dem Beruf
zurückgezogen.
Schon einige Jahre zuvor aber hatte ich zu s c h r e i b e n
begonnen.
Zuerst Gedichte, Tagebücher, dann autobiogaphische Texte, später
177
Erzählungen, Geschichten aus der Vergangenheit, die ich erlebt
oder gesehen hatte, Geschichten, die erzählt wurden, Geschichten,
die in mir waren, denn immer schon habe ich Erinnerungen
hochgeschätzt, das Gedächtnis, das sogar Dinge aufhebt, die man
vergessen zu haben glaubt.
Da ich auf einem Bergbauernhof aufgewachsen bin, wusste ich
Dinge, die schon in der Hauptstadt niemand mehr kannte.
In Wahrheit brauchte ich nur meine Tagebücher, meine alten &
neuen Notizen durchzugehen und etwas ernsthafter zu Papier
bringen.
Es kam der Tag, an dem ich meine Manuskripte von jemandem
Wichtigen lesen ließ. Man fand Gefallen an ihnen, so wurde ich
übermütig und reichte eine furchtbar traurige Erzählung für einen
großen Literaturpreis ein. Der Zufall wollte es, dass ich ihn
gewann.
Auf diese Weise kommt man an einen Verlag, sieht auf einmal
seine eigenen Sätze gedruckt vor sich. Kaum zu glauben, aber so
war es.
Ohnehin ist alles viel banaler, als man es sich als Anfänger
vorstellt, der so gut wie zu jedem, der auch nur eine einzige Seite,
und sei es in einer Zeitung, veröffentlicht hat, aufschaut, doch,
was man überall & wirklich braucht, ist das Glück in Gestalt von
jemandem, der einem hilft, vielleicht aus Dankbarkeit darüber,
weil es ihm selbst einmal ähnlich ergangen ist.
Jemand half auch mir, jemand hatte Erbarmen, Verstand &
Geschmack für das, was ich schrieb, und so überhaupt konnte es
so weit kommen, am Ende dies hier niederzuschreiben.
Zu der Zeit, als ich gerade zwei Gedichtbände verlegt und meinen
ersten großen Literaturpreis mit gar nicht so wenig Geld in der
Tasche hatte, ging ich mit meinem, damals wenige Monate alten
Baby zu einem Kinderarzt, mit dem ich früher auf der Station
gearbeitet hatte.
Wir plauderten bald über unsere gemeinsamen, längst
vergangenen Spitalserlebnisse, scherzten über Vorkommnisse, die
178
freilich damals gar nicht zum Lachen gewesen waren, fanden &
fanden kein Ende. Eins ging ins andere über, wir hatten wohl die
Zeit, den Ort sogar vergessen. Diese Ordination war bestimmt
nicht die richtige Stelle, um in Erinnerungen zu schwelgen, wie es
uns gerade einfiel. Die Sprechstundenhilfe sah sich gezwungen,
unwirsch hereinzukommen, um auf das noch immer recht volle
Wartezimmer hinzuweisen. Draußen die quengelnden Kinder, die
nervösen Mütter, und wir wussten uns nichts Besseres als wie
zwei Marktweiber ohne Takt & Gewissen zu tratschen und zu
lachen, dass es durch die Tür zu hören war.
Wir mussten Schluss machen, schweren Herzens, es half nichts.
Plötzlich & abschließend also, wie um einen Termin zu
vereinbaren, an dem wir das überaus unterhaltsame Gespräch
fortsetzen konnten, fragte er mich, ob ich auch zur Abschiedsfeier
unseres ehemaligen & gemeinsamen Primars kommen würde.
Abschiedsfeier? Davon hatte ich keine Ahnung. Es waren sogar
gedruckte Einladungen verschickt worden, denn der Professor, der
in der Schwesternschule auch mein Professor gewesen war, bei
dem ich meine großen Kinderheilkundeprüfungen abgelegt hatte,
jener
Professor
also,
der
meinen
ganzen
Schwestern-schülerinnenrespekt genossen hatte, den ich immer
noch verehrte, ja, mochte wie keinen anderen, dem einst mein
einfältiges Schwesternherz, mein Verstand zu Füßen lagen, dieser
einzigartige, gütige, weit über mir & über allen stehende
Vorgesetzte, sollte nun in Pension gehen, das Krankenhaus
verlassen? Wie unvorstellbar! Es war, als ob das Kinderspital, ja,
die ganze Kinderheilkunde aufhörte zu existieren. Ich weiß nicht,
ob ihn andere genauso sahen, aber mich verband mit ihm eine
ganz besondere Beziehung, denn obwohl ich einst als
Schwesternschülerin vor seinen Augen gravierende Fehler
gemacht hatte, war dies für ihn nie ein Grund gewesen, mich nicht
mit Wohlwollen & Güte zu behandeln. Nie hat er mich vor
anderen getadelt, immer war er mir freundlich gesonnen.
Ob ich nicht kommen wolle, er würde sich bestimmt freuen, alle
179
würden sich freuen, ach bitte, ich solle es mir überlegen, so der
Kinderarzt.
Ich wollte nicht uneingeladen erscheinen, andererseits juckte es
mich, hinzugehen, ihm alles Gute zu wünschen, ihm, mit dem ich
so viel erlebt, bei dem ich so viel gelernt, den ich wirklich ins
Herz geschlossen hatte. Der immer fein & vornehm zu mir
gewesen war, nicht wie die anderen Primare, welche einer
Schwester nicht einmal einen Gruß erwiderten.
Zuerst dachte ich nicht daran, zu diesem Fest zu gehen, doch es
ließ mich nicht los, nicht schlafen, es arbeitete & rumorte in mir,
machte mich hin & her überlegen. Es reute mich, dass ich nun
davon wusste, es nicht mehr aus dem Kopf bekam, obwohl es
mich nichts mehr anging, ich nicht eingeladen war, nur durch
einen Zufall davon Kenntnis erhalten hatte. Dann auf einmal
nahm ich all meinen Mut zusammen, denn die Sehnsucht, mich in
aller Form von ihm zu verabschieden, ihm zu danken für seine
Freundlichkeit, sein Verständnis, überwog letztlich meine
Bedenken, meine Furcht, ihm in aller Öffentlichkeit
gegenüberzutreten, und so beschloss ich, nicht länger feige zu
sein.
Ein Geschenk zu finden, nämlich meine beiden, beinah noch
druckfrisch vorliegenden Gedichtbände, war nicht schwer
gewesen. GOLD DER FRÜHEN JAHRE und NORDLAND &
ORIENT. Zwei Bücher, ein weißes & ein schwarzes, mein erstes
& mein zweites.
Darauf legte ich ein gefaltetes japanisches Origami, welches
wiederum zwei Kinder, einen Buben und ein Mädchen, auf einer
Schaukel darstellte, eine herzallerliebste Szene, ganz aus Papier
und von besonderer Bedeutung wie mir schien, für einen Abschied
nehmenden Kinderarzt. Ich hatte es in einem asiatischen Geschäft
gefunden und sofort gewusst, er würde es verstehen, es wird ihn
zuinnerst freuen und sein weiches Herz berühren.
Als ich in dem Schloss, wo die Feierlichkeit stattfand, eintraf,
180
waren schon so gut wie alle Gäste da, man konnte nicht wissen,
ob es fünfhundert, tausend oder noch mehr waren, auf jeden Fall
eine wogende, schier unüberschaubare Menge.
An einem Winterabend des Jahres 1993 also lag vor mir ein
festlich erleuchteter Märchenpalast voller schön gekleideter
Menschen, denn es nahm ein ganz besonderer Mann, einer, der für
so viele von Bedeutung gewesen war, heute Nacht Abschied,
Abschied von dem, was er gewesen war und morgen bereits
Vergangenheit sein würde. Abschied von einer großen Karriere,
Abschied von seinem Leben als Arzt, als Leiter eines
Kinderkrankenhauses, Abschied von Leuten, die ihm ans Herz
gewachsen waren, von seinen Untergebenen, ihm einst
Anvertrauten, von seiner Rolle als Vorgesetzter, als geschätzter,
manchmal gefürchteter Kollege, als Lehrer, nahm Abschied von
Menschen, die er ausgebildet, begleitet, gefördert & gefordert
hatte und von denen er die meisten nicht wieder sehen würde.
Unvorstellbar kam es mir nun vor, dass ich hergekommen war,
verwegen fast, und doch verband auch mich etwas mit ihm, das
ich nicht hatte übergehen können.
Bei ihm habe ich meine großen Kinderheilkundeprüfungen
abgelegt, dachte ich, unzählige Visiten erlebt, Weihnachtsfeiern &
Geburtstagsfeiern, gute & traurige Stunden. Warum also sollte
ausgerechnet ich nicht gekommen sein? Mit solchen & ähnlichen
Gedanken versuchte ich mir noch einmal Mut zu machen, um
nicht angesichts dieser Darbietung, dieses Aufgebots an Eleganz
& Feierlichkeit, die einem König nicht zu schlecht gewesen wäre,
ja, einem den Atem nehmen konnte, auf dem Absatz wieder
umzudrehen und in der Dunkelheit dieser Nacht zu verschwinden.
Jeder hier, ob Arzt oder Ärztin, Schwester oder Lehrerin teilte mit
ihm eine Erinnerung, eine mehr oder weniger große oder kleine
Geschichte, eine ganz persönliche Gemeinsamkeit, vielleicht
sogar ein Geheimnis.
Ich hätte nicht erwartet, dass es so viele sein würden, dass
praktisch niemand fehlte, nicht aus den oberen, nicht aus den
181
unteren Rängen.
Wenn man einen Vorgesetzten lieben kann, dann wurde er geliebt,
das konnte jeder sehen, und gerade dies war das besondere an
ihm, denn wer kann schon jemanden lieben, der so hoch über ihm
steht wie er es tat? Er hatte offenbar den ritterlichen Weg
zwischen Milde & Strenge gefunden, zwischen Freude & Leid,
zwischen Vermögen & Unvermögen, zwischen Erfolg &
Scheitern, zwischen Anspruch & Wirklichkeit, zwischen Fordern
& Barmherzigkeit. Vielleicht hat sein persönliches Schicksal dazu
beigetragen, alles mit Verständnis zu sehen, immer das Augenmaß
zu wahren, das große, das ganze zu sehen, die Ewigkeit
einzuschließen in seine wichtigen Entscheidungen, auch, wenn
selbst er nicht alles erreicht hatte, was möglich gewesen wäre.
Ich getraute mich kaum hinein, arbeitete ja nicht mehr im
Krankenhaus, gehörte nicht mehr wirklich dazu, obwohl ich so
viele bekannte Gesichter wiedersah.
Man hörte schon von draußen durch die geschlossenen Fenster
Gläserklirren, helles Lachen, Musik, die Geräusche eines Festes
eben.
Die Empfangshalle, ein runder prunkvoller Raum mit geometrisch
gemustertem Steinboden, einer Menge weißer Säulen, noch nie
hatte ich so etwas Erhebendes außerhalb einer Kirche gesehen. Ich
bekam im Moment des Eintrittes in diesen beinahe sakralen
kreisrunden Raum ziemlich weiche Knie, besaß ich doch nicht
einmal eine Einladung, bald würde man mich kontrollieren, es
musste mir demnächst einer dieser schwarz-weiß livrierten Diener
die Türe weisen, mich hinausschicken in den Schnee, und
vielleicht wäre es sogar am besten, dies würde geschehen.
Vielleicht gab es noch etwas, das mich davor bewahrte, einen
solchen Abend tatsächlich anzutreten, durchzustehen, zu
bewältigen, denn ich hatte dies nirgends gelernt, noch nie
gesehen, es überstieg meine Fähigkeiten zur Gänze. Doch nichts
geschah, niemand verhinderte meinen Eintritt, niemand verlangte
einen Ausweis, eine Einladung, niemand nahm mich in
182
Augenschein oder musterte mich.
Dann wurde ich gefesselt von der Atmosphäre, mit der man hier
empfangen wurde. Dass es das gab, in heutiger Zeit, in der
Gegenwart, in der ich lebte! Wohin man schaute, standen schier
unüberschaubar lange Büffettische mit bunten, zum Teil recht
exotischen Speisen darauf, überall behandschuhte Kellner mit
silbernen Tabletts, dazwischen, als wäre alle Lusterbeleuchtung
noch nicht genug, vielarmige Kandelaber mit brennenden Kerzen,
sie dienten wohl keinem anderen Zweck als dem, das Bild
vollkommen überirdisch erscheinen zu lassen.
Bedienstete bieten prickelnde Getränke in schlanken hohen
Gläsern an, roten Wein, weißen Wein, rosaroten Wein. Andere
nehmen einfach nur Mäntel & Jacken, Hüte & Schals entgegen,
gehen jedem zur Hand oder stehen mit schweifenden,
aufmerksamen Blicken herum.
Wie in einem Film, dachte ich, oder beim Wiener Kongress. So
muss es auf den berühmten Winterbällen vergangener
Jahrhunderte in Sankt Petersburg ausgesehen haben. Was mich
aber am meisten beeindruckte, war die Selbstverständlichkeit, mit
der alles von statten ging. Wie im Traum kam niemandem etwas
spanisch vor. Zwar sah ich viele bekannte Gesichter, viele aber
kannte ich nicht. Niemand von den Kellnern nahm mich wahr,
fragte mich etwas, ich musste mich weiterhin nicht ausweisen,
brauchte noch immer keine Karte, keine Erklärung und also keine
Angst zu haben.
Ich nahm meinen Schneid zusammen, und es gelang mir
irgendwie, mit meinen Päckchen mitten durch die Leute zu
kommen, wollte es nur schnell abgeben und mich wieder
davonmachen. Wie wichtig doch Feste sind, sinnierte ich noch,
um sich zu präsentieren, wie schön & entrückt die Leute wirken,
die sonst gar nicht so besonders aussehen, ja, Kleider machen
eben Leute, ein wenig Glanz die Wirklichkeit erträglich.
Um mich herum wogte es, Paare drehten sich im Tanz, Kleider
flogen, vorallem die Frauen waren so hübsch & leicht an diesem
183
Abend, aber auch die Herren in ihren dunklen Anzügen mit
Fliegen & Krawatten kaum wiederzuerkennen. Kein Vergleich zu
den schlampigen & verknitterten Ärztekitteln und wie sie darin
tagtäglich, nachtnächtlich, aussahen.
Gott sei Dank steuerte mich mein Instinkt in die richtige
Richtung, denn am Ende tauchte wirklich ein langer, quer
gestellter Tisch auf, in dessen Mitte wie einst der König von
Thule, der Professor saß.
Doch dies war, wie sich plötzlich herausstellen sollte, längst nicht
alles, denn neben ihm, neben ihm, ich musste betrunken sein,
erkannte ich jemanden, mit dem ich im Leben nicht gerechnet, ja,
den ich vollkommen vergessen hatte!
Meine Hände zitterten noch mehr als zuvor, jeder musste es sehen,
während ich mich immer unsicherer, doch gleichzeitig
entschlossener näherte, ein Zurück gab es ja jetzt nicht mehr; ich
musste voran, es hinter mich bringen und so schnell wie möglich
wieder verschwinden.
Na, ja, von dem vielen guten Essen da wollte ich, wenn‘s ging,
schon was erwischen, aber wie, wie, um Himmels Willen, dies
hier noch überstehen! Meine Geschenke überreichen, meinen
überlegten Text sagen! Schluss aus. So etwa lautete der innere
Befehl, den ich mir gab.
Da spürte ich plötzlich die überaus aufmerksamen Blicke jenes
besonderen Gastes auf meinem Gesicht, meinen Händen, meinen
Sachen, ja, seine Augen brannten auf mir.
Ich muss ganz rot geworden sein, mir wurde heiß, fast schwindlig,
bereute es jetzt bitter, gekommen zu sein.
In dem winzig kleinen Moment, wo meine Augen die seinen
streiften, erkannte ich den gleichen innigen Blick jener weit
zurückliegenden Nacht.
Er hatte ihn eingeladen. Er hatte ihn eingeladen! Er war aus
Schweden hergereist, eine große Ehre für ihn wie auch für unseren
Professor, der mich jetzt ebenso gerührt & überrascht betrachtete
184
wie der andere.
Der Blick des Fremden in diesem Moment auf mir war das
Vorspiel für das Buch, das ich nun schreibe. Bei aller Süße und
allem Glück, das nun vor mir lag, hatte ich doch keine Ahnung
vom Ausmaß der Last, des Schmerzes, der Verzweiflung, die zu
tragen sein würden. Und doch geschieht immer alles in einem
einzigen Augenblick, und eigentlich war es längst geschehen.
Der Professor stand auf, hielt mir seine beiden Hände entgegen,
freute sich sichtbar über meine Anwesenheit, lächelte milde &
gerührt wie er es immer getan hatte. Nie war er böse oder
ungehalten mir gegenüber, auch dann nicht, wenn es verständlich
gewesen wäre. Ich hatte es nie verstanden, und doch war es so,
niemand hatte je Mitleid mit mir gehabt, Nachsicht gezeigt, nur
dieser außergewöhnliche Mann, der mein oberster Vorgesetzter,
mein Professor gewesen war. Immer, seit ich ihm zum ersten Mal
begegnet war, hatte sein Blick mit Wohlwollen auf mir gelegen.
Ich glaube, ich habe gesagt: Alles, alles Liebe, und bitte
entschuldigen Sie, dass ich einfach so gekommen bin, ich habe es
von Dr. Raphaeli erfahren. Ich wollte mich nur verabschieden und
mich für alles bedanken.
Ich bitte Sie, es ist eine große Ehre für mich, dass Sie, liebe
Schwester Maria, gekommen sind, entschuldigen Sie tausendmal,
dass ich auf Sie vergessen habe, aber wir hatten uns aus den
Augen verloren.
Schon die Tatsache, dass er das „wir“ gebrauchte, hob mich zu
ihm hinauf. Er hatte noch immer dieselbe feine Art, einem zu
begegnen, denn aus Wien stammend war er, war seine Generation
noch im Geist des Alten Österreich erzogen worden, wo
Höflichkeit & Freundlichkeit selbstverständlich zur Bildung
gehörten, ja, wichtiger waren als alles, was es gab, wichtiger als
Wissen & Besitz. Am Benehmen erkannte man alles, mochte
185
jemand auch verarmt sein oder alt, vergesslich oder verschmutzt,
er blieb immer ein Herr, versagte niemandem den Respekt, auch
wenn andere es ihm gegenüber taten.
Später blies er, wie ich es vorgezeigt hatte, leicht über das
papiererne Spiel hinweg, sodass die Kinder auf dem federleichten
Gebilde zu schaukeln begannen.
Meine liebe, liebe Schwester Maria, ich danke Ihnen von Herzen!
Was für ein Geschenk!
Und die Bücher erst!
Die sind ja von Ihnen!
Ungläubig starrte er auf die Titel, meinen gedruckten Namen,
ungläubig auch auf mich. Wie konnte es geschehen, dass eine
kleine Kinderkrankenschwester, die längst nicht mehr auf einer
seiner Stationen arbeitete, nun als Schriftstellerin vor ihm stand,
zurückgekommen war, um sich zu verabschieden und ihn so
vorzüglich wie ungewöhnlich beschenkte.
Er war nun einmal genau der Mensch dafür. Er liebte die Kunst,
das Außergewöhnliche, das Phantasievolle, das Besondere, das
sichtbar gemachte Unsichtbare, die alten Sprachen, war feinsinnig
& religiös.
Wenn er in die heilige Messe ging, in die Christmette, die
Auferstehung, kniete er nieder, um in aller gebotenen christlichen
Demut die Kommunion in Empfang zu nehmen, dies hatte zufällig
einmal eine Kollegin beobachtet. Niemand in dem Dorf, wo er
wohnte, hätte sich vorstellen können, was für ein Herr er in
Wirklichkeit war, denn privat gab er sich zurückhaltend, höflich,
vorsichtig, entgegenkommend, unauffällig, auf jeden Fall
bescheiden.
Freilich wusste man, dass er irgendwo in der Stadt Arzt war, man
grüßte ihn respektvoll, wenn er mit dem Wagen vorbeifuhr, mit
dem Hund spazieren ging, seine gelähmte Frau im Rollstuhl vor
sich her schob. Man schätzte ihn, weil er wie alle in die Kirche
ging, nicht war wie andere auswärtige Leute, die zwar in der
Gemeinde Villen besaßen, Sommerhäuser, Almhütten, aber sich
186
sonst nicht blicken ließen, keinen Kontakt pflegten, sich hinter
Mauern & Zäunen unnahbar machten.
Wenn er zur Visite kam, standen wir in Reih’ & Glied, war alles
für ihn vorbereitet. Wir fürchteten seinen Blick, seine Fragen,
jeden seiner Auftritte. Trotz seiner Freundlichkeit war er streng &
äußerst genau.
Mit mir aber war er immer nur nett gewesen. Ich hatte große
Achtung vor ihm, aber keine Angst wie viele andere, denn ich
hatte ihn in vielen Situationen erlebt. Er verlor nie die
Beherrschung, wurde niemals laut, sprach immer ruhig, wies
kaum jemanden vor den anderen zurecht, sondern sagte es einem
allein unter vier Augen oder ließ es später diskret ausrichten.
Wie stolz ich auf Sie bin, wie stolz, wie unendlich stolz!
Meinen innigsten Dank für dies und alles, alles.
Ein herzliches Vergelt’s Gott! Danke! Danke! Tausend Dank!
Nordland & Orient! Gold der frühen Jahre! Was für Worte! Was
für Titel! Möge der Herr es Ihnen vergelten!
Möge der Herr es Ihnen vergelten. Das waren seine Worte.
Die Innigkeit, mit der er es sagte, schien mir fast zu nah, und als
ob das nicht genug wäre, küsste er mir die Hand, vollendet, fast
untertänig, was mich noch mehr in Verlegenheit brachte.
Bitte bedienen Sie sich, vergnügen Sie sich, essen Sie, was immer
Sie wollen, tanzen Sie!
Seien Sie, liebe Schwester Maria, die ich schon so lange kenne &
schätze, mein aller-, allerliebster Gast!
Er nahm meine rechte Hand nicht einfach entgegen, sondern
behielt sie in seinen beiden Händen, ein langer warmer Druck, der
viel mehr beinhaltete, als es den Anschein haben mochte, unsere
persönliche Geschichte, welche wir in aller Distanz miteinander
hatten, mit einschloss und für alle Zeit aufbewahrte, so sehr, dass
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ich nun auch darüber schreiben muss.
Jetzt, in diesem Augenblick war ich froh, gekommen zu sein und
mich nicht gedrückt zu haben.
Haben Sie Kinder?, hörte ich ihn fragen.
Ja, zwei Söhne.
Wie schön. Ich freue mich so. Sie müssen sehr glücklich sein!
Ja. Sehr.
Ich wünsche Ihnen alles Liebe & Gute, vor allem Gesundheit für
die Zeit, die vor Ihnen liegt. Mögen es noch viele schöne &
glückliche Jahre sein!
Dies waren meine Worte.
Bei seinen, an sich schon glänzenden Augen, meinte ich doch,
richtige Tränen gesehen zu haben. Gewiss, es mag einem kitschig
vorkommen, doch nun, wo er bereits gestorben ist, weiß ich, es
war eine berechtigte & verständliche Rührung, und niemandem an
seiner Stelle würde es anders ergehen. Es lagen nicht mehr viele
Jahre vor ihm, obwohl er damals bei bester Gesundheit schien und
er sich, seit ich ihn kannte, jedenfalls äußerlich, nicht verändert
hatte.
Es passte gut zu ihm, und bis auf eine kleine, aus der Distanz
beobachtete Begebenheit, sollte ich ihn nicht wieder sehen.
Es war zwei, drei Jahre danach auf dem Salzburger Grünmarkt ein
ganz gewöhnlicher Wochentag, als er mit einem geflochtenen
Weidenkorb am Arm einkaufen ging, lächelnd, interessiert, er
schien vollkommen glücklich zu sein mit dieser vergleichsweise
einfachen Tätigkeit, und die Leute in ihren Ständen hatten keine
Ahnung, wer vor ihnen stand.
Er ist jetzt nur noch ein alter Herr, ein Pensionist, den wohl seine
Frau um dieses & jenes geschickt hat. Da nimm den Zettel und
geh, bring nichts Falsches, pass auf das Geld auf, wird sie gesagt
haben.
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Nach dem langen schweren Sterben seiner ersten Frau war er, der
gläubige Katholik, nun wieder verheiratet.
Darauf bedacht, das Richtige zu finden, sich Obst & Gemüse
genau anzuschauen, ging er vor den sorgfältig angeordneten
Kisten überlegend hin & her.
Er nahm dies hier so ernst wie früher seine Visiten, seine
Studenten, seine Schwestern & Schwesternschülerinnen, seine
kleinen Patienten, es war ja eine Verantwortung ganz anderer Art
gewesen, eine so übergroße, dass seine jetzige Frau wohl kaum
eine Ahnung davon haben konnte.
Wie, als er noch Universitätsprofessor für Kinderheilkunde
gewesen war, Primarius des Kinderkrankenhauses, so war er nun
gewissenhafter Einkäufer, und genau dies zeichnete ihn für mich
als einen besonderen Menschen aus, denn er erachtete eine solche
Tätigkeit nicht als zu gering, war weder herablassend noch
anmaßend. Er ließ sich nicht titulieren, sondern war zu einem
Ehemann wie alle anderen unvollkommenen Ehemänner
geworden, die ihren Frauen schließlich, und sei es nur mit dem
richtigen Gemüse, als ganze Kerle gegenübertreten wollen, um
vor ihr zu bestehen, sie nicht zu enttäuschen.
Er hatte seine Ämter abgegeben, sie einem jüngeren Kollegen
überlassen, konnte sich mit Befriedigung & Genugtuung
ausruhen, ins Privatleben zurückziehen, durfte endlich
ausschließlich Ehemann, Vater, Großvater sein.
Als ich noch Kinderkrankenschwester war, gelang es mir nicht,
solche Ärzte, die oft wie Götter behandelt wurden und auch so
gesehen werden wollten, als normale Menschen oder Männer mit
gewöhnlichen Bedürfnissen zu sehen.
Wie sich ihr Familien- & Sexualleben gestaltete, lag außerhalb
jeder Vorstellung, ja, schon der Gedanke daran war eine
Anmaßung, etwas, das einen nichts anging und niemals, niemals
für unsereins in Betracht gekommen wäre.
Doch es sollte sich eines Tages alles aufklären, selbst für mich, ja,
eine Art Wirklichkeit werden, welche, als die Stunde dafür
189
gekommen war, nichts Ungewöhnliches mehr an sich hatte,
sondern mich lehrte, wie sehr alle Menschen gleich und von einer
einzigen Sehnsucht bestimmt sind.
Doch zurück in den Winter des Jahres 1993, den Ballsaal mit
seinen Lustern, der Musik, den herrlichen Speisen, den vielen
Gästen, zurück zur Abschiedsfeier, die gerade in vollem Gange ist.
Nachdem ich bei meinen früheren Kolleginnen einen freien Platz
gefunden und mir reserviert hatte, ging ich zu den Tischen mit all
den Speisen hinüber, die da so überaus bunt & ansehnlich
hergerichtet waren.
Man wusste überhaupt nicht, was man zuerst nehmen sollte.
Aus allen Dingen sprach des Professors Weltläufigkeit, sein
Geschmack, seine Großzügigkeit, vor allem aber seine Freude,
Gäste zu verwöhnen, Menschen um sich zu versammeln, sie
fröhlich zu sehen, ihnen mit Köstlichkeiten aller Art aufwarten zu
können.
Er liebte es, in Gelassenheit & Konzentration feinsinnige
Gespräche zu führen, seine humanistische Bildung & Kultur zum
Ausdruck zu bringen.
Doch kaum hatte ich mir von einigen der ausgestellten Teller
etwas genommen, dort & da schnabuliert, viel zu viel aufgeladen,
mir Wein an den Tisch bestellt, mich von der Aufregung halbwegs
erholt, da kam plötzlich dieser schwedische Gast Doktor
Sommerfeld langsam, aber geradewegs auf mich zu.
Zuerst vereinzeltes Staunen, dann allgemeine Verblüffung, sogar
Enttäuschung bei einigen anderen, denn er hatte scheinbar mich
ins Visier genommen, ja, er ging eindeutig zu mir, und als er ganz
nahe war, lächelte er mich an und sagte in makellosem Deutsch:
Bitte, Schwester Maria, wenn Sie mit mir tanzen möchten?
Verlegen schaute ich auf meinen Teller, den ich in diesem
Augenblick weit lieber verschlungen hätte, als ausgerechnet mit
diesem Mann vor aller Augen meine Tanzkünste unter Beweis zu
stellen.
190
Mein Herz klopfte schon wieder wie verrückt, dennoch ließ ich
vorerst alles stehen & liegen, mein Handtäschchen sogar, ging
gehorsam mit, folgte ihm auf die spiegelglatte Tanzfläche.
Erst dort spürte ich seine Hand leicht an meinen Körper, ich gab
meine rechte in seine linke, und wie von selbst begannen wir
unseren ersten Tanz, einen Wiener Walzer.
Es war fast wie damals, in der Nacht auf der Intensivstation, als
ich ihm zum ersten Mal begegnet war.
Auf einmal hörte ich seine Stimme, sie muss etwas wie: Wie
schön Sie sind! gesagt haben, worauf ich mit einem dümmlichen
Nein geantwortet habe, darüber lachte er, und dieses Lachen brach
das ganze Eis, das zwischen uns lag, hob die Entfernung auf, die
Distanz zwischen unseren Körpern.
Er drückte mich fester an sich, und bald wirbelten wir mitten
durch die anderen Paare, es blieb mir gar nichts anderes übrig, als
mich fallen, führen, leiten zu lassen.
Schließlich fanden wir uns vor einer offenen Terrassentür, und so
operettenhaft es mir heute vorkommt, so romantisch schien es mir
damals, er tanzte mit mir hinaus in den Schnee, erhitzt, errötet ja, wir tanzten noch, als die Musik bereits aufgehört hatte.
Bleiben wir hier! sagte er.
Es ist kalt.
Holen wir unsere Mäntel!
Ja.
Er trug einen schweren Mantel, der innen mit Pelz gefüttert war,
lederne Handschuhe. Auch der Kragen war pelzig.
Dagegen nahm sich meine dicke indische Baumwolljacke recht
bescheiden aus, und doch bewunderte er sie. Erstaunlich wie er sie
auf meine Beschreibung hin unter den vielen Kleidern gefunden
191
hatte.
Sie war ein Geschenk meines Mannes, mit ihr verband ich viele
schöne Wintererinnerungen, Schlittenfahrten, Spaziergänge,
Schneegestöber, kalte Vollmondnächte, vor allem aber ein großes
künstlerisches Projekt, das ich ganz wesentlich mitorganisiert
hatte. Diese Jacke war sein Dank an mich für fünf Jahre Arbeit,
ich hatte sie mir als einzigen Lohn gewünscht.
In diese Zeit war auch mein Wunsch nach einem zweiten Kind
gefallen, was aber, wie sich nun herausstellte, nicht mehr ohne
weiteres möglich war.
Unser erster Sohn ging bereits zur Schule, die Zeit verflog, bald
würde ich vierzig sein, doch ein weiteres Baby wurde von Monat
zu Monat unwahrscheinlicher.
Seit Jahren war ich deswegen in spezieller ärztlicher
Hormonbehandlung, so aufwändig wie vergeblich.
Es folgten Eileiterschwangerschaften, ich verbrachte die meiste
Zeit im Krankenhaus, in der Ordination meines Frauenarztes, der
übrigens ein einstiger Klassenkamerad meines Mannes war. Er
bewunderte Ottokar, der schon im Gymnasium mit seinem
leuchtenden Intellekt, seiner Begabung für Malerei und alles
Künstlerische aufgefallen war. Schließlich stellte sich heraus, dass
meine Eileiter verschlossen waren.
Diese Jacke war mehr als eine warme Umarmung Ottokars für
mich, denn es war nicht leicht gewesen, sie mir zu kaufen, doch in
seiner großzügigen hoffnungsvoll wie hoffnungslos romantischen
Art, mit seiner Schwäche für das Prächtige, hatte er sie mir trotz
unserer damals äußerst knappen finanziellen Mittel geschenkt.
Wenn ihm etwas gefiel, sah er mich augenblicklich darin, nahm
es, egal, was es kostete und brachte es strahlend heim, so auch
diese grüne, innen rot gefütterte Jacke mit schwarzen feinen
Blumen & Zweigen darauf. Die Stickerei wie gezeichnete Linien,
so dünn, als hätte er sie selber eingeritzt. Sie musste aus dem
kalten Nordindien stammen, von wo man bereits die Gipfel des
Himalaya sehen kann, auch der chinesische Einfluss war zu
192
erkennen. Ich gab ihr sogar einen Namen: Indochine.
Alexander, damals noch Professor Sommerfeld für mich, zog seine
Handschuhe aus und strich mit bloßen Fingern über die Stickerei,
begutachtete sie im Schein der Laterne. Es wunderte mich, wie er
die Einzigartigkeit dieses Stückes sofort erkannte.
Mein Mann war bildender Künstler, Maler, Augenmensch,
ausgestattet mit dem unbestechlichem Blick, dem Schönen
verfallen, das feine Handwerk über alles schätzend.
Er, der so sparsam war, sich nichts gönnte, mehr noch, einfach
nichts brauchte, einen mit seiner materiellen Bescheidenheit
unbewusst unter Druck setzte, konnte beim Anblick eines Bildes,
eines Stoffes, eines Hutes, augenblicklich seine schwäbische
Herkunft vergessen und alles auf eine Karte setzen. Es erging ihm
wie einem Spieler, einem Sammler, einem Alkoholiker, er konnte
nicht anders, und mit schlafwandlerischer Sicherheit griff er
niemals daneben.
Weil sein Auge absolut war, machte er oft die besten
Schnäppchen, denn die meisten Leute sehen das Besondere nur,
wenn es teuer dargeboten & verkauft wird, er aber verstand es
wirklich.
Einmal kaufte er für einen Pappenstiel bei einem Wiener
Altkleiderhändler einen Dirigentenfrack samt Zubehör,
uner-schwinglich für einen Normalsterblichen, nicht für ihn, den
das Drumherum nicht abschreckte, der sich nicht genierte, in
Läden zu gehen, in die sich keiner ohne weiteres getraut hätte.
Was ich damals an Kunstverständnis besaß, wusste ich durch ihn.
Er hatte mich mit seinen Bildern, seinen Künstlerfreunden &
-kollegen in eine, mir bis dahin unbekannte Welt, geführt.
Letztendlich war es mir nur deswegen möglich gewesen, auf
dieser Intensivstation weiterzuarbeiten, wo täglich gekämpft,
gestritten, intrigiert wurde, man ständig wegen allem auf der Hut
sein musste, während anderswo, wie ich nun wusste, eine Welt
existierte, welche sich mit Farben & Formen befasste, mit Kunst
& Philosophie, wo es unendlich viele Fragestellungen gab, man
193
sich über Picasso, Sokrates, Heidegger, Rembrandt in einem
Atemzug unterhielt, und wo man vor allem von jedem geachtet &
akzeptiert wurde.
Als ich meinen späteren Mann Ottokar noch nicht lange kannte,
nahm er mich mit zu einem prominenten alten Maler, welcher
damals einmal wöchentlich sein Atelier für alle öffnete und mit
jungen Leuten über Kunst sprach, ihre Fragen beantwortete, seine
Bilder zeigte. Niemand dort fragte, wer man war, es genügte zu
grüßen, seinen Vornamen zu nennen, und schon gehörte man dazu.
Mit offenem Mund muss ich dagesessen sein, unsicher, baff über
das, was sich mir bot, beeindruckt vom Publikum und Werner
Otte, so hieß der Maler, ich wünschte mir damals nichts, als
irgendwann in der Lage zu sein, eine wenigstens winzige Frage
stellen zu können oder überhaupt zu verstehen, worum es im
einzelnen ging.
Jahre sollten vergehen, in denen ich mich eifrig um
kunsthistorisches & philosophisches Wissen bemühte. Die knappe
Zeit, die mir neben meinem Beruf zur Verfügung stand, nützte ich,
um auf die Universität zu gehen, Vorlesungen zu hören, Listen
von Büchern zu lesen, Bilder anzuschauen, die Kunstepochen
voneinander unterscheiden zu lernen, die geschichtlichen
Hinter-gründe zu verstehen, mir Namen über Namen und alle
möglichen Begriffe zu merken, mich mit Formen & Farben zu
befassen.
Je mehr ich mich vertiefte, umso gieriger wurde ich nach diesem
Wissen. Es war wie ein Sog, eine Sucht. Einmal in den Strudel
gerissen, kam man nicht mehr heraus, und ich wollte es nicht
einmal. Bald begann ich mit Ottokar zu reisen, die großen Bilder
& Bauten in Wirklichkeit zu besichtigen.
Schon unsere erste große, gemeinsame Reise führte uns nach
Griechenland, und jedes Jahr sollte von jetzt an einem anderen
Land gewidmet sein.
Während des Jahres malte Ottokar natürlich, hatte Ausstellungen,
verkaufte Bilder, fand Galeristen, gewann Wettbewerbe für die
194
künstlerische Ausgestaltung von Bauten, beschränkte sich nicht
mehr nur auf das Tafelbild, sondern begann große Kunstprojekte
im öffentlichen Raum zu realisieren.
Als Ottokar & ich in der kleinen Bergkirche Sankt Jakob am
Thurn heirateten, war ich bereits eine Art Vorzugsschülerin der
Bildenden Kunst, in der Lage, Fragen an einen ausgebildeten
Maler zu stellen, recht sicher etwas erklären zu können, ohne dass
jemand darüber gelacht oder es komisch gefunden hätte.
Die Kunst war längst mein liebster Zeitvertreib geworden, ich
liebte alles, was mit ihr zusammenhing. Sie diente mir als
Ablenkung, als Ausstieg, als Flucht, am Ende konnte ich nicht
mehr leben ohne sie, kann es nicht bis auf den heutigen Tag.
Mir ist es unvorstellbar geworden, wie man eigentlich existieren
kann ohne Kunst, denn sie steht ja nicht am Ende, sondern am
Anfang aller Entwicklung.
Sogar die Literatur, die immer meine persönliche Vorliebe
gewesen war, ist mir längst undenkbar geworden ohne die Bilder
meines Mannes, ja ohne Bilder & Statuen überhaupt.
Wörter, Sätze, die nicht zu Bildern werden, scheinen mir tot &
leer, Texte, die keine Bilder erzeugen, ebenso.
Was ich besonders schätzte, war der leichte, lockere,
unvoreingenommene Umgang, den bildende Künstler nicht nur
mit ihresgleichen, sondern mit allen pflegen, denn sie sind nicht
herablassend, nicht arrogant wie die Ärzte, die Schriftsteller, was
ich, als ich selber zu schreiben begann, meine ersten Erfolge hatte,
erkennen & lernen musste.
Maler & Malerinnen empfand ich immer als angenehm,
freundlich, unkompliziert, sie nahmen mich auf in ihre Mitte,
ließen mich gerne und ohne Herablassung eintreten in ihre Welt,
die für sie selbst bestimmt nicht leicht war. Die meisten unter
ihnen hatten eine schwere, mitunter heroische materielle Existenz
zu führen.
Tag für Tag mussten sie kämpfen für den Verkauf ihrer Werke, um
195
Ausstellungen, gute Kritiken, Mäzene & Sammler.
Und doch oder vielleicht deswegen ist es ein besonderes
Völkchen, nicht stolz wie ihre Kollegen aus der Literatur, nicht
abgehoben wie die Komponisten und vor allem, vor allem nicht
eingebildet.
Ich war ihnen sehr dankbar und ehre sie dafür, denn nie hat man
mir das Gefühl gegeben, dumm zu sein, weil ich etwas nicht
wusste, jeder erklärte gerne mit einfachen Wörtern seine Werke,
sie gaben ihre Fehler & Unzulänglichkeiten selber zu, sie konnten
über sich lachen, und dies ist das größte, was einer in dieser Zeit
der allgemeinen Eitelkeit zuwege bringen kann.
Daraus schöpfte ich Zuversicht für mich, für meinen, in der
Öffentlichkeit weitestgehend ungeschätzten Beruf. Sie gestatteten
mir in Begleitung von Ottokar, in ihre wunderbaren, manchmal
prächtigen, manchmal bescheidenen Ateliers einzutreten, mich an
ihren Arbeiten zu erfreuen, ja, ich durfte später allein kommen
und sogar Modell sitzen.
Dies aber berührt bereits meine andere Geschichte, die Geschichte
meiner Ehe, meiner Liebe zu einem Maler, das, wovon Doktor
Sommerfeld in diesem Moment keine Ahnung haben konnte.
Wir gingen jetzt die steinerne Treppe hinunter, wateten mehr als
knöcheltief durch den Schnee, es schneite schon den ganzen Tag,
und ich weiß nicht mehr, wessen Idee es gewesen war, einen
Schneemann zu bauen. Ich wunderte mich nur, wie unbefangen &
natürlich sich dieser, doch fremde Mensch mir gegenüber verhielt.
Irgendwie erinnerte er mich an die Künstlerkollegen meines
Mannes, welche mich ebenso selbstverständlich & offen
aufgenommen hatten, und bei denen ich mich ähnlich wohl fühlte
wie jetzt bei diesem schwedischen Arzt.
Auch hier keine Herablassung, keine übertriebene Bewunderung,
keine Schmeichelei, es war einfach nur besonders schön.
Als wir drei verschieden große Schneekugeln übereinander
getürmt hatten, suchten wir Steine, Zweige, Zapfen von den
196
umstehenden Bäumen des Parks, bastelten daraus Augen, Brauen,
Nase, Mund, Knöpfe, gaben der kleinsten obersten Kugel ein
Gesicht, formten Arme & Hände, sodass schließlich ein, im
Schein der Laternen, funkelnder Schneemann vor uns stand.
Wie Kinder umkreisten wir unser Gebilde, traten vor & zurück,
betrachteten es und waren zufrieden damit.
Plötzlich nahm mich dieser schwedische Professor, der vor ein
paar Stunden noch unerreichbar, ja völlig vergessen, so gut wie tot
und aus der Welt gewesen war, bei der Hand und küsste sie
vollendet, zog mich als ganzes zu sich heran. Weil er sich aber
gleichzeitig gegen den Schneemann lehnte, der langsam nachgab,
fielen wir beide gemeinsam in den Schnee, sodass wir schließlich
zwar in dicken Mänteln, aber eindeutig aufeinander lagen.
Ich versuchte augenblicklich aufzustehen, was mir nicht gelang, ja
nicht gelingen konnte, denn nicht nur er hinderte mich ganz
bewusst daran, sondern auch meine dicke Jacke, der viele Schnee,
der jede Bewegung verlangsamte & verunmöglichte, mich
erschöpfte, in Watte packte, sodass ich fast wie in Zeitlupe gegen
einen sichtbaren wie unsichtbaren Widerstand ankämpfte.
Nicht dass mir der Professor, wie ich ihn damals noch nannte,
seine Gründe für diesen Überfall erklärt hätte, denn eigentlich
empfand ich es, trotz der fast genauso in meinen Teenagerträumen
ausgedachten Vorstellung von romantischer Liebe, als
unver-schämt, sich einer verheirateten Frau, die ich schließlich
war, auf so unzweideutige Weise zu nähern.
Erst viel später sollte er mir gestehen, dass es ihm in diesem
Moment unmöglich gewesen war, sein tiefes schweres Geheimnis,
welches ich für ihn darstellte, preis zu geben.
Ich verstand absolut nicht, wie er, obgleich er nun wusste, wie es
mit mir stand, ich sogar Mutter von zwei Kindern war, es wagen
konnte, mich zu verführen.
Wer weiß, was es bedeutet, eine junge Ehe im Stadium des
Kinderkriegens zu führen, versteht, was es heißt, in eine so
besonders gefährliche Situation zu geraten.
197
Schon war ich längst, auch ohne Alexander, an der Stelle
angekommen, wo es anfängt, schwer zu werden, man sich und
seinen Partner ein erstes Mal aus den Augen verliert, heimliche
Enttäuschungen bewältigt, anfangs tapfer, dann immer offener zu
hadern beginnt, zu streiten mitunter, alles zu bereuen.
In diese Zeit hinein trat nun ein fremder, reifer Mann, der mir den
Hof machte, in die Offensive ging. Komplimente bekam ich zu
hören, so leise, so süß, ich errötete wieder, erinnerte mich
wehmütig. Das vergangen Geglaubte zeigte sich aufs Neue, wenn
auch in anderer Gestalt, Verliebtheit war wieder da, das Kribbeln
im Bauch, obwohl man‘s schon verloren glaubte.
Alles das liegt bereits weit zurück, ist überhörbar geworden, hat
weder Zeit noch Platz mehr im gegenwärtigen Leben, das längst
die verschiedensten Zwänge bestimmen und nicht zuletzt die
Kinder in die Hand genommen haben.
Sie nämlich fordern ihr Teil in aller Selbstverständlichkeit, sind
rücksichtslos & selbstbewusst zugleich, so als hätten sie ein
Anrecht auf die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern, die selbst
nicht wissen, wie ihnen geschieht, zum ersten Mal der Schwere
der Elternschaft, der ganzen Verantwortung gewahr werden,
langsam ihre Illusionen verlieren, die Träume begraben.
Mit der Sicherheit eines Naturgesetzes erwartet das, von einem
selbst in die Welt gerufene Leben sein Recht, und obwohl es seit
Menschengedenken so gewesen sein muss, ist es immer wieder
aufs Neue eine Überraschung für so gut wie jeden.
Ottokar hat keine Ahnung, dass, während er zu Hause auf unsere
Knaben aufpasst, ich im Begriff stehe, einem anderen zum Opfer
zu fallen, ja alles zu gefährden.
Ihm, der über eine haushohe Phantasie verfügt, ist beinah alles
vorstellbar, außer dies: die Verführung seiner Frau durch einen
Fremden, schließlich handelt es ich um einen dienstlichen Termin.
Sie tut nichts anderes, als sich von ihrem alten Chef zu
verabschieden. Was sollte daran nicht in Ordnung sein?
198
Nie hatten wir Grund gehabt, umeinander zu bangen, eifersüchtig
zu sein, und so sollte es immer bleiben. Stürzt nun auch dieser
Traum in sich zusammen? Existieren denn überhaupt keine
Grenzen mehr? Ist denn nicht alles verloren, wenn dies geschieht?
Ich dachte in diesem Augenblick an nichts als daheim, die Kinder
und dass ich Ottokar versprochen hatte, bald zurück zu sein. Was
sonst? Ich wollte ja selbst so schnell wie möglich wieder weg von
hier.
Was schließlich gingen mich diese Leute noch an in ihrer
Eitelkeit, ihren völlig anderen Verhältnissen. Für mich gab es doch
nichts anderes, nichts anderes als meinen lieben Ottokar und
unsere Söhne, auch wenn wir im Augenblick eine schwierige Zeit
durchlebten.
Ich war davon mehr als überzeugt, dass es bald vorübergehen und
wieder leichter werden würde, denn wie hieß es im Volksmund so
trefflich: wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, dann wird
es erst richtig schön.
An diesem heiklen Punkt waren nun auch wir angelangt. Eine
solche Binsenweisheit hatte nichts Erschreckendes oder
Lächerliches mehr, sondern traf in uns auf das reinste Verständnis.
Nicht mehr gemeinsame Kinder zu haben, war unsere Vorstellung
vom vollkommenen Glück, sondern sie eigentlich wieder los zu
sein, damit es wieder so werden möge wie früher, als wir noch
allein waren und nur einander gehörten, nicht gestört waren, uns
nicht heimlich lieben, verstecken mussten, als wären wir wieder
Teenager, die keinen Ort haben, keinen sicheren Moment, um zu
knutschen.
Immer kam ich so schnell wie möglich zurück von allen
Veranstaltungen, Kinofilmen, Konzertbesuchen, lief zu Ottokar
ins Atelier, konnte es kaum erwarten, ihm Details zu erzählen, was
ich erlebt, gesehen, gelernt oder wen ich getroffen hatte, sah ja
längst auch mit seinen Augen, wollte sofort wissen, was er von
den Neuigkeiten hielt.
Was hätte ich anderswo suchen oder erwarten sollen? Mein Glück
199
lag daheim bei meiner Familie, nirgendwo anders. Hatte ich mir
denn nicht immer ein Zuhause wie dieses gewünscht, ein ganz &
gar eigenes, wo ich bestimmen durfte, welches mir & ihm
gehörte, niemandem sonst, quasi meine & seine Handschrift trug?
Doch diesmal war es anders. Tatsächlich fing ich an, mich mit
einem anderen zu beschäftigen, mir von ihm beinah schamlos,
schöntun zu lassen. Wie lange hatte ich keine Schmeicheleien
mehr gehört!
Die Zeit des Gebärens & Stillens ist besonders schwer. Man
entbehrt einander, sehnt sich nach der Verliebtheit der
Anfangstage, ist ganz & gar überfordert, wird sich fremd, fängt an
zu zweifeln, ein erstes Mal wird ein unsichtbarer aber deutlich
spürbarer Riegel vorgeschoben, eine feine, unmerkliche Linie
gezogen, zuerst noch so, als bildete man es sich nur ein, doch auf
einmal ist alles verflogen, es bleibt keine Zeit mehr für
Zärtlichkeiten, um miteinander zu schlafen, die Kinder stehen
jederzeit mit nassen Windeln im Zimmer, quengeln & sabbern,
dass einem die Lust vergeht.
Vielleicht ist es nur der Übergang zur wirklichen Liebe, das
eigentliche Leben, die erste Einsamkeit in der Ehe, die
Reifeprüfung par excellence, der Blick auf die andere, auf die
Rückseite, die es doch von allem gibt, eine Art Prüfung vielleicht,
eine Ahnung davon, wie sehr man Verantwortung trägt, jetzt, da
man nicht mehr allein ist, sondern Kinder hat.
Sie jedoch sind die letzten, welche Verstand haben für die
Schwierigkeiten der Eltern, ihre Rolle anzunehmen. Sich vom
Liebespaar, das sie vor kurzem noch darstellten, zu verabschieden
und in einen anderen Abschnitt des Zusammenlebens einzutreten,
wäre jetzt das gescheiteste.
Die Privatheit zweier Menschen beginnt mit ihren Kindern quasi
öffentlich zu werden, schon ist man die kleinste Einheit der
Gesellschaft, des Staates, belangbar, erreichbar, gefangen.
Unter dem Einfluss der Müdigkeit, des schlechten Schlafs, der
damit einhergehenden Vergesslichkeit, an welcher Mann & Frau
200
nach den Nächten mit schreienden Säuglingen leiden, sind sie
überaus anfällig für Ablenkungen & Zerstreuungen.
Die Sexualität ist fast verschwunden, so gut wie einerlei
geworden, bereits eine lästige Pflicht, der man sich unterwirft, die
mangels Lust auch ausgelassen wird, jetzt seltener ein echtes
Bedürfnis darstellt.
Und doch war es gerade in unserem Fall ganz anders.
Nach mehreren Fehlgeburten, Eileiterschwangerschaften und
anderen Rückschlägen waren Jahre vergangen, in denen vor allem
ich mir ein zweites Kind gewünscht hatte, nicht zuletzt, um
endlich der Intensivstation den Rücken kehren zu können.
Ottokar inzwischen gut etabliert als Maler, als Lehrer, unsere
Wohnung abbezahlt, verfügten wir über erstes überflüssiges Geld,
sodass es nicht mehr unbedingt notwendig erschien für mich,
arbeiten & verdienen zu müssen.
Mehr & mehr übernahm ich die Organisation seiner
Ausstellungen, die Koordination der Galerien, die Buchführung,
das Schriftliche, was ihn entlastete und mir ein erstes Mal
außerhalb des Krankenhauses ein Gefühl von echter &
anerkannter Bedeutung gab und ihm einen freien Kopf für seine
Bilder & Projekte ließ.
Ich genoss diese Selbstständigkeit, die von einer ganz anderen Art
war als meine aufreibende Arbeit auf der Station, welche
bestimmt wurde von herrschsüchtigen Kolleginnen, die sich zu
Chefinnen aufschwangen und auf diese Art ihr Unwesen mit mir
& meinesgleichen trieben.
Ihr Anspruch, ihr Einfluss waren ja geradezu unbegrenzt gewesen,
nichts, das sie nicht besser gewusst hätten, nichts, das während
einer ganz normalen Abwesenheit von zwei, drei freien Tagen
nicht geändert worden wäre, ohne einen davon in Kenntnis zu
setzen, einzig zum Zweck, um einem die eigene Unfähigkeit vor
Augen zu führen und sich wenigstens für einige Stunden über
einen zu stellen. Auch, wenn ich die letzten Jahre zum
Führungsteam gehört hatte, gab es viele, welche mir das Leben
201
schwer machten, nichts lieber taten, als mir einen Fehler
nachzuweisen.
Auch an diesem Abend saßen sie da wie Bienenköniginnen, nach
wie vor sicher in Amt & Würden, hatten den reservierten Festtisch
mit ihrer ganzen Allwissenheit & Macht quasi bis auf den letzten
Platz für sich und genau so ausgesucht.
Allein mein Erscheinen, nachdem ich die Station ja bereits vor
einem Jahr verlassen hatte, mussten sie als Affront empfinden.
Es ist mir daher auch aus diesem Grunde nicht leicht gefallen,
mich auf diesem Empfang blicken zu lassen, Gefahr zu laufen, mit
abschätzigen Blicken bedacht zu werden, Raunen & Gemurmel
hervorzurufen.
Man konnte förmlich hören & sehen, was das Flüstern, das sich
Zueinanderneigen & Zueinanderbeugen, das die Köpfe
Zusammenstecken & Ohren gegen die Münder Verschieben
während meines Erscheinens heißen musste.
Was will denn die hier?
Wer hat sie überhaupt eingeladen?
Glaubt sie schon wieder, was Besonderes zu sein, irgendein Recht
zu besitzen, hier - mir nichts dir nichts - einfach aufzutauchen?
Wie hat sie davon erfahren?
Wer hat es ihr gesagt?
Gegenseitige Verdächtigungen tauchen auf, aber das ist ja nichts
Neues.
Frauen, die damals verheiratet waren und Kinder hatten, stellten
im Krankenhaus ohnehin ein Ärgernis der besonderen Sorte, wenn
nicht gar ein Problem dar, eine Last auf jeden Fall, waren Grund
für Spott & süffisante Bemerkungen.
Keine Selbstverständlichkeit wie heutzutage, eine Übergangszeit
eben, man saß zwischen allen Stühlen.
Man arbeitete schließlich nur, weil man musste, einen Mann mit
nicht genug Geld geheiratet hatte. So wurde es gesehen, vermutet,
erzählt, behauptet.
Noch war ich in Karenz oder Karenz-Urlaub, wie es damals hieß,
202
so als wäre, ein Kind zu bekommen eine Art Ferienbeschäftigung,
und wer weiß, ob ich angesichts meines überraschenden
Auftauchens an diesem besonderen Abend, nicht womöglich
vorhatte, auch nach dem zweiten Kind wieder zu arbeiten,
jemandem seinen Platz streitig zu machen!
Um Himmels Willen, das wäre ja noch schöner! Jetzt sind endlich
die anderen dran, sie wollen auch zum Zug kommen, aufsteigen,
umsteigen, andere Verhältnisse schaffen.
Also beäugten sie mich wie eine Gefahr, versuchten sich etwas
herauszuknobeln, zusammenzureimen.
Wahrscheinlich fanden mich einige schon während der
Ausbildung zu hübsch, später dann etliche Ärzte, am meisten die
Turnusärzte, die freilich kaum etwas anderes im Sinn hatten, als
mit einer Schwesternschülerin ins Bett zu steigen, alles in allem
Dinge, die ich nicht wusste, jedenfalls viel zu spät erfahren habe,
die mir aber unter meinen Kolleginnen zum Nachteil gereicht
haben dürften, was so verstiegen wie einfach ist.
Weder fand ich mich hübsch noch liebäugelte ich im Dienst mit
irgendwelchen Turnusärzten, die mir dann & wann gewiss dicht
auf den Fersen waren, übrigens nicht nur mir, ließ mich aber zu
nichts hinreißen, habe mit keinem jemals geschlafen. In aller
Unschuld & Naivität war mir die Liebe heilig, ich vertändelte &
verschenkte sie nicht.
Als Bauernmädchen mit Tieren & Feldarbeit aufgewachsen, habe
ich mir meinen eigenen Reim auf die Beobachtungen und
mitgehörten mageren, oft ordinären Sätze über dies, was sie Liebe
nannten, gemacht. Niemand hat mich je wie etwas Besonderes
behandelt oder für etwas bewundert oder gelobt. Ein Mädchen
war nichts, man schaffte ihm Haus- & Putzarbeiten an, schickte es
in der Gegend herum, um dies & das zu holen, ich war ein
Gebrauchsgegenstand.
Ich fürchtete die Männer, sie waren mir unheimlich, wollte mit
ihnen nichts zu tun haben, sie konnten einem ein Kind machen,
einen sitzen lassen, schlagen, betrügen, schlecht behandeln,
203
ausbeuten.
Es gab dafür unzählige Beispiele, ich war sogar ein lediges Kind,
ein Fratz also, ein Ausdruck, welche nicht wenige Verwandte wie
meinen Namen verwendeten, wurde selbst in der engsten Familie
meiner Mutter, meines Vaters herablassend behandelt, und dies,
obwohl meine Eltern später meinetwegen geheiratet haben. Ich
trug einen Makel, einen schwarzen Fleck auf der Stirn, der mir
überall hin vorauseilte, den man nie verlor, besonders als
Mädchen nicht.
Inzwischen aber vollauf beschäftigt mit meinem glücklichen wie
auch unglücklichen Leben als Ehefrau, Hausfrau & Mama, konnte
ich die Gedanken meiner anwesenden Schwesternkolleginnen
ahnen, wenngleich nicht wirklich wissen, doch jede Art von
Vorurteil mir gegenüber war mir geläufig, das Rechnen damit zur
zweiten Natur geworden, und noch heute fühle ich mich deswegen
minderwertig.
Vielleicht gab es ja sogar einen Hauch von Hoffnung in mir, sie
könnten Verständnis & Respekt für mich aufbringen, wären nicht,
wie ich dachte, gemein, sondern nett & aufgeschlossen geworden.
Gewiss hatte ich einen handfesten Verfolgungswahn, und
womöglich war ja alles doch nicht so schlimm.
Hatte nicht Ottokar selbst dies oft angedeutet, mich, wenn ich
wieder die Flöhe husten hörte, zurecht gewiesen und mir den
Kopf gerade gerückt? Mir wieder & wieder gesagt, was ich
inzwischen längst wissen musste, aber oft nicht glaubte, nämlich,
dass wohl doch alles in Ordnung war. Wie auch hätte dieser
fröhliche und gleichzeitig hoch gebildete Mensch, die seltenste
Kombination, die es überhaupt gibt, sich eine Vorstellung machen
sollen von der Niedertracht einer Kolleginnenschaft unter den
recht speziellen Bedingungen einer Intensivstation?
Darum hegte ich mitunter selber Zweifel über meine
Interpretation der Vorkommnisse, aber ich musste es jemandem
sagen, und so erzählte ich in all den Jahren die Stations- &
204
Krankenhausgeschichten meinem Mann.
Im Innersten tickte ich richtig, davon war ich überzeugt, stimmte,
was ich erlebt & gesehen hatte, andererseits aber verstand ich
auch Ottokar, wenn er dort & da Abstand nehmen musste und es
manchmal nicht mehr aushielt.
Für einen leichteren Umgang mit mir griff sogar er zum Mittel der
Täuschung, redete mir meine Anschauungen aus und andere ein,
versuchte auf diese Weise ein normales Leben mit mir zu führen,
mich abzulenken, mir die Dinge nach & nach und immer wieder
umzudeuten, im einzelnen und als ganzes zu verharmlosen, zu
relativieren.
Was hatten wir nicht diskutiert! Wenn ich ausgeflippt &
ausgelaugt nach einem Nachtdienst oder auch einem
gewöhnlichen Tagdienst heimkam, alles loswerden musste,
während er mir Kaffee kochte, Butterbrote mit Käse herrichtete,
sich den ganzen Wahn- & Schwachsinn anhörte, den ich ihm
brühwarm auftischte, alles heraussagte, wie es mir gerade einfiel,
weinte & schrie über die Ungerechtigkeit, die Überheblichkeit,
mit der die anderen mir begegneten. Keine Ahnung, woher sie das
Selbstbewusstsein nahmen, stundenlang brauchte ich jeden Tag,
bis ich einigermaßen normal & erträglich wurde!
Ottokar wusste mehr als irgendjemand, der tagtäglich diese
Station betrat, kannte sich längst aus mit speziellen Therapien,
möglichen & tatsächlichen Fehlern, Differenzialdiagnosen, stellte
Fragen, die einem Turnusarzt nicht eingefallen wären.
Ottokar wusste Bescheid, war eingeweiht, obwohl selbst das
verboten war! Niemand außerhalb des Krankenhauses durfte an
derlei Informationen kommen, es verletzte die Schweigepflicht,
aber wie ich leben hätte sollen, ohne dies alles jemandem zu
erzählen, davon stand nichts in den Schweigepflichten.
Wie oft wurden ärztliche Verordnungen, medizinische Vorgänge
zum Stolperstein, jedes noch so kleine Detail, ein Häkchen hier,
ein anderes dort, ein vergessenes konnte eine Schwester in die
größten Schwierigkeiten bringen, vor allem aber wurden einem
205
die Fehler anderer regelmäßig untergeschoben.
Ich hatte als Schwesternschülerin brav gelernt, alle Prüfungen in
vier Jahren mit Auszeichnung absolviert, mich auf und über mein
Diplom gefreut, doch wer hätte sich ausdenken können, dass ich,
wenn alles vorüber wäre, erst recht Leuten gegenüberstehen
würde, die das herzlich wenig interessierte und völlig andere
Prioritäten setzten, ja, die ihre Vorherrschaft seit Jahren, wenn
nicht Jahrzehnten, gewiss nicht von einer frisch diplomierten
Schwester gefährden ließen, geradezu darauf spezialisiert zu sein
schienen, diese genüsslich ausrutschen zu lassen.
Also stand ich bereits am allerersten Tag, noch leuchteten die
goldenen Sterne der besten Absolventin über mir, einer um
Dutzende Jahre älteren, von allen gefürchteten Kollegin
gegenüber, die sich vorgenommen hatte, auch mir ihre
Überlegenheit, ihre ganze Macht & Unüberwindbarkeit persönlich
vorzuführen.
Am Anfang brauchte ich lange, bis ich wusste, wo ich stand, wie
es stand, was ich überhaupt konnte oder gar wert war, denn
niemand sagte es einem. Jeder Tag nichts als eine neue
Herausforderung & Überwindung, ein Abenteuer mit ungewissem
Ausgang. Zuckerbrot & Peitsche gehörten zur Tagesordnung,
wobei, wenn ich es mir recht überlege, eigentlich fast nur die
Peitsche in Form jeglicher Demütigung, Zurechtweisung,
Korrektur, Belehrung existierte.
Vielleicht war es sogar so, dass eine gewisse Kollegin inzwischen
so weit von der Realität außerhalb einer Krankenstation entfernt
lebte, dass man ihr nicht einmal einen Vorwurf machen konnte;
doch auch eine durch & durch kranke & überhebliche Person in
einer überhöhten Position macht anderen das Arbeiten zur Hölle.
Aber dies lag jetzt hinter mir, ich hatte mich behauptet, in vielem
durchgesetzt, aber ich war angegriffen, nervös, reizbar,
misstrauisch geworden.
An jenem Abend des Festes allerdings hatte ich es bereits ad acta
206
gelegt, dachte nicht daran, jemals wieder auf diese Station zurück
zu kommen, jemanden zu verdrängen, war in jeder Weise eine
andere geworden, die Karriere interessierte mich nicht mehr, sah
meine Aufgabe nicht mehr in begrenzten Schwesternarbeiten,
sondern in meiner Familie, die ich nun endlich hatte. Ihr wollte
ich dienen, meinem geliebten Mann, ein uraltes Bild, gewiss, doch
wer sagt, dass es darum nicht jemandem alles bedeuten kann, vor
allem, wenn man so bitter erlebt hat, wie schwer es ist, sich unter
Fremden zu behaupten.
Nicht so die anderen, die in mir eine überwunden geglaubte
Gefahr witterten, mich mit Blicken & Bemerkungen verfolgten,
böse Strahlen, wie ich es als Kind nannte, gegen mich aussandten.
Sie hatten ja ihre Welt nicht verlassen, sich zwar fachlich
fortgebildet, waren aber die gleichen geblieben, hatten den Kreis
enger & strenger um sich gezogen, sich verbündet, den Stil der
Ältesten übernommen, es sich für ihre Verhältnisse recht
gemütlich eingerichtet während mir unter ihnen die Luft zum
Atmen gefehlt und mich schwere Träume geplagt hatten. Sie
konnten sich nicht vorstellen, dass jemand unter keinen
Umständen dort hin zurückwollte.
Und als wäre die Überraschung meines Erscheinens für sie nicht
genug, kommt dieser schwedische Professor vor den Augen der
gesamten Kolleginnen- & Schwesternschaft ausgerechnet auf
mich zu und bittet mich um den nächsten Tanz, entführt mich
sogar hinaus auf die Terrasse, weiter in den Schnee, macht mir in
aller Form öffentlich seine Aufwartung.
In Wahrheit wurde ich wegen meiner Verschiedenheit, meiner
Unberechenbarkeit & Unangepasstheit immer beneidet, gehänselt,
vielleicht gehasst, und jetzt erdreistete ich mich, anlässlich dieses
Festes, das mich nichts anging, in einem fast privaten
Zusammenhang hierher zu kommen und mir einen Auftritt zu
genehmigen, der mir bestimmt nicht mehr zustand, womit sie
sogar recht hatten.
Später an diesem Abend: der Professor & ich gingen nicht mehr
207
zurück in den warmen & hellen Saal der Aufmerksamkeit, der
Bequemlichkeit, später wird er mich mit dem Taxi nach Hause
begleiten, meine Wohnung von außen sehen, was ihm unheimlich
bescheiden vorkommen muss.
Zeit wird vergehen, ehe wir uns wieder sehen, denn es sieht nicht
aus, als käme es ein zweites Mal zu einem Treffen.
Aber wie es oft ist, geschieht es anders, denn es müssen die Wege
& Bestimmungen erfüllt werden, so als wären sie vor langer Zeit
irgendwo niedergelegt worden, nein, nicht irgendwo, sondern an
einem genau bestimmten Ort und warteten nur auf ihre Stunde,
und ich selbst werde diejenige sein, die sie herbeiführen wird.
***
IX
Wien, immer wieder Wien
Nach dem Fest kehrte ich, wie Aschenputtel beinah, zurück in
mein Leben, als hätte es diese Ballnacht im Winter des Jahres
1993 nie gegeben, als wäre es nichts anderes als eine
außergewöhnlich schöne Abendunterhaltung gewesen, etwas, was
es ab & zu gibt, aber nicht wieder so schnell vorkommen wird.
Ich verdrängte alles, weil ich dachte, es sei am besten so, obwohl
ich versprochen hatte zu schreiben, mir seine Adresse eingesteckt,
eine Höflichkeit, die ich freilich jedem hätte zukommen lassen,
nichts weiter. Diese plötzliche Begegnung sollte nicht Besitz von
mir nehmen, zum eigenen Schutz wollte ich mich nicht länger
damit befassen, gerade, als hätte ich geahnt, es könne mehr
dahinter stecken, ja, etwas daraus werden, was meine ganze
Existenz in der jetzigen Form zu gefährden imstande wäre.
Es sollte, durfte jetzt nichts mitten in mein Leben treten, zu wenig
gefestigt schien es mir noch für auch nur einen einzigen Gedanken
in eine andere Richtung, für etwas, das größer sein könnte, als
208
alles bisherige.
Noch im selben Jahr wird mein erster Erzählband erscheinen; in
einem kleinen Verlag in Wien soll es eine Lesung vor geladenem
Publikum geben. Einige persönliche Einladungen werden mir
zugesandt, die ich nach Vorliebe & Gutdünken verwenden darf,
und eine davon schicke ich, fast ohne Bewusstsein und doch
überlegt, nach Stockholm. Wie ich damals so dreist sein konnte,
bleibt mir selbst ein Rätsel, vielleicht, weil ich dachte, es würde
als ein letztes Dankeschön gewertet werden können,
unverfänglich harmlos, distanziert genug, eine Art Spaß, eine
kleine Aufmerksamkeit oder Erinnerung, wenn auch verbunden
mit der leisen Hoffnung auf eine Antwort, ein liebes Wort, einen
kurzen Brief, auf keinen Fall eine weitere Begegnung.
Es war ja eigentlich nichts, eine Geste nur, wie bei den
Ausstellungen meines Mannes; viele, die man einlädt, erscheinen
nicht, es gehört zu den Gepflogenheiten der Kunstszene, auch
welche, die nicht kommen werden, anzuschreiben, ihnen damit
Informationen zu geben, sie in Kenntnis zu setzen, ihres und das
eigene Gesicht zu wahren, die Verbindung auf diese Weise
aufrecht zu erhalten.
Leute im In- & Ausland werden kontaktiert, ferne wie nahe
Bekannte, Freunde, Kollegen, Sammler, Interessenten, um den
Faden nicht abreißen, sondern von sich hören zu lassen, sie auf
dem Laufenden zu halten.
Und nicht viel anderes denke ich mir in jenem Augenblick, als ich
tatsächlich den Namen Professor Dr. Alexander Sommerfeld auf
das Kuvert mit dem aufgedruckten Absender des Verlags schreibe.
Zum ersten Mal betrete ich einen Raum, wo Leute auf eine
Lesung von mir warten, fremde Menschen sind gekommen, die
Reihen gut besetzt, leises Sprechen & Rascheln ist zu hören.
Heute steht mein BÄNDERHUT auf dem Programm, mein erster
Erzählband, der dem Publikum vorgestellt werden soll.
Obwohl ich die Lage trotz Nervosität & Unsicherheit ganz gut
bewältige oder überspiele, wie man mir später versichert, kommt
209
mir alles unwirklich vor, so als müsste ich jeden Moment
aufwachen und erleichtert feststellen, dass ich nur geträumt hatte.
Nun ist es soweit, heute geht ein langer Weg zu Ende und ein
anderer, vielleicht ebenso langer fängt erst an.
Im Nachhinein aber wird sogar dieses unermessliche Glück,
welches das öffentliche Vorstellen des ersten Buches für jeden
Schreibenden bedeutet, beinah zur Nebensache. Wie konnte das
geschehen?
Zu dieser Stunde befand ich mich in einer überaus glücklichen
Aufregung, denn zeitlich knapp aus Salzburg angekommen, blieb
mir kaum eine Minute, mich übermäßig zu beunruhigen, und so
hielt sich gottlob meine Zittrigkeit in gewissen Grenzen.
Die Menschen, welche nach & nach kamen, wirkten aufgeräumt,
erwartungsvoll, freundlich. Leise & rücksichtsvoll nahmen sie
Platz, sprachen flüsternd miteinander, als wären sie in einer
Kirche, während die Reihen gleichzeitig voller & voller wurden.
Dies hatte ich von draußen beobachtet, die meisten waren an mir
vorbei gegangen, ohne zu wissen, wer ich war.
Langsam wurde mir die Bedeutung, die sie mir zugestanden,
bewusst, ihr besonderer Respekt spürbar, dabei war ich doch die
Schüchterne & Nervöse und empfand den weit höheren Respekt
vor ihnen, aber offensichtlich wussten sie das nicht, was mir nur
recht sein konnte.
Vielleicht hielten sie mich für bedeutend, routiniert, überschätzten
mich, denn je länger das Niedersetzen, Miteinanderreden &
Zueinanderneigen dauerte, umso unsicherer wurde ich.
Doch endlich erlöste man uns alle von der sich aufbauenden
Spannung. Eine Ansprache, in der ich vorgestellt wurde, kam wie
von selbst zustande.
Die überaus charmante Verlegerin, eine feine alte Dame trat in den
Vordergrund und sagte schöne Dinge über mich.
Sie verstand es zu schmeicheln mit Worten nicht nur, sondern mit
dem Schmelz ihrer Sprache, ihrer Stimme, welche ein gehobenes,
anspruchsvolles Flair verbreitete und geeignet war, uns alle in eine
210
poesiereiche Atmosphäre zu versetzen.
Langsam wurde das allgemeine Licht reduziert, die Leselampe,
hinter der ich saß, setzte nun sich, mich und mein Buch in Szene,
es war an alles gedacht.
Ich verstand nichts, obzwar ich die Worte hörte, die Zuhörer
waren scheinbar zufrieden, sie hingen an meinen Lippen,
widmeten mir ihre ganze Aufmerksamkeit, denn wie es so schön
heißt, man hätte eine Stecknadel fallen gehört, kein Räuspern,
kein Hüsteln, nichts, nur Stille.
In der Bundeshauptstadt sind ja sogar wir Westösterreicher
Ausländer wie die Wiener wiederum für uns exotisch & fremd
wirken.
Doch an jenem Abend stand nichts zwischen uns, man war ganz &
gar auf der literarischen Ebene miteinander beschäftigt, ja eins
geworden. Keine Vorurteile, keine Herablassung, einfach nichts
dergleichen.
Im Saal ging das Licht schließlich ganz aus, die guten Worte
waren zu Ende gesprochen, und ich saß jetzt ganz allein unter
einer hellen, fast grellen Leselampe und begann, ein Glas Wasser
neben mir, mit dem Vorlesen der ersten Geschichte.
Ausgewählte Kapitel sollte ich aus meinem Erzählband nehmen
und mich anschließend einer Diskussion stellen. Soweit, so gut.
Wieder etwas, das leichter gesagt als getan war.
Kann überhaupt jemand ermessen, was für eine Einsamkeit unter
solchen Bedingungen in einem herrscht? Welche Hitze ein Licht
aussenden kann? Davonlaufen hätte ich am liebsten mögen, nie
zur Tür hereinkommen dürfen, ja, hatte ich denn einen Vogel,
einen Adler im Hirn, mich da her zu setzen und meine persönliche
Geschichte wie ein Schausteller zum Besten zu geben?
Die unausdenkbare Scham, die mich anflog, die Schüchternheit,
welche mich plötzlich plagte, die ich nicht zeigen sollte, so meinte
ich, die mich aber, wie, um mich zu verraten, rot anlaufen ließ, als
hätte ich Fieber. Dies, was wir früher die „Gschamigkeit“ genannt
haben, eine Mischung aus Scham & Schüchternheit, war das, was
211
mir jetzt zu schaffen machte.
Vor lauter Leuten, die ich nicht kannte! Wer weiß, was sie zu all
dem sagen, schreiben, denken werden, mich in der Luft zerreißen
vielleicht, sich lustig machen, mich auslachen, mit, weiß Gott
wem oder was, vergleichen?! Ich hatte ja keine Ahnung, was sie
mit meinem Herzblut, das ich vor ihnen auf den Tisch rinnen ließ,
anfangen würden.
Sie hatten keine Ahnung wie mir zumute war, wie sehr ich bereits
bereute, mich auf diese Präsentation eingelassen zu haben, wie
wenig ich an mich glaubte. Gewiss waren alle hier um Häuser
gescheiter, wussten viel besser, wie man sich ausdrückt, hatten es
studiert, diskutiert, schrieben in Zeitungen hochgestochene Texte,
von denen ich nicht im Traum einen zustande brächte.
Aber ich musste da durch, ob stotternd oder sonst wie, keine Idee,
wie andere das schafften, ob sie unter Drogen standen oder woher
sie so sakrisch viel Selbstüberschätzung nahmen, sich dies hier
zuzutrauen.
Ich glaube, ich habe mich wie, um mich meiner Stimme zu
versichern, geräuspert und jemanden in weiter Ferne sagen gehört:
Bänderhut. Pause.
Großvater saß versonnen auf der Bank vor dem Haus, blinzelte
hinauf auf die Spitzen der Berge, wo noch die Sonne schien, die
ersten Sterne sich zeigten....
Ich konnte den Text auswendig, hätte das Buch nicht gebraucht,
aber es wurde so verlangt und hätte komisch ausgesehen, ohne
nachzuschauen, etwas Ungebundenes vorzutragen.
Es ging mir überraschend gut, ich betonte mit Gefühl, las ruhig,
langsam. Nicht zu schnell, hatte man mich gemahnt, Sie müssen
wissen, die Leute hören es zum ersten Mal, wollen genießen, sich
in die Atmosphäre versenken, die Augen schließen, die Bilder
entstehen lassen.
Ich wurde hineingezogen in die Erzählung, sie war ja viel mehr
212
als eine Begebenheit in der Vergangenheit, ich selbst nämlich war
die Geschichte, und die Geschichte war ich.
Nein, nicht ich nur, sondern meine Familie, die einfachen, oft
harten, aber guten Menschen, die hinter mir standen, aus denen
ich hervorgegangen war, die mich geformt & geleitet hatten.
Für sie und an ihrer Stelle saß ich nun hier, und wieder kam es mir
vor wie damals, als ich sie beschrieben hatte, denn ohne
nachzudenken hatte ich es getan, wie von selbst war alles
entstanden, und auf einmal lag sie da, als hätte ich sie nur
gefunden, als hätte es sie immer gegeben – meine Geschichte.
Wie ich sie das erste Mal zu Papier gebracht hatte, so blieb sie
stehen, niemand setzte auch nur einen Beistrich, den ich nicht
gemacht hatte und wehe, es hätte jemand versucht.
Sie war in Stein gemeißelt, in mir Gestalt geworden, niemand,
nicht einmal ich, konnte daran etwas ändern.
Ein Bild war entstanden, das Bild eines Bauernhauses, des
Elternhauses meiner Großmutter, des Hofes, in den meine
Urgroßmutter eingeheiratet hatte.
Dort war es, wo ich meine eigene, mir selbst gerade noch
vorstellbare Geschichte beginnen ließ mit äußerster Einfachheit,
wo nun der Vorhang aufging und der ganze denkbare Prunk einer
Liebe sich mehr & mehr entfaltete.
Erste Blicke, heimliche Treffen, Hochzeit, Kinder, Krieg, Tod,
Witwenschaft, langsames Sterben & Wiedererblühen, der
christliche Auferstehungsgedanke in seiner irdischen Inkarnation,
die Ingredienzien der klassischen Tragödie, angesiedelt unter
gewöhnlichen Leuten.
Es lag in meinen Händen, meinem Kopf, sie zu Königen zu
machen, ihnen Wichtigkeit, Bedeutung & Namen zu geben.
So still war es im Raum, dass man das leise Aufgehen der Tür als
Störung empfand, sich nicht einmal umdrehen wollte, um nur ja
nichts zu versäumen. Mir selbst erging es ähnlich. Und doch hielt
ich für einen Augenblick inne, wartete, bis der Herr im Mantel
sich niedergesetzt hatte.
213
Später stellte sich heraus, dass es Professor Sommerfeld war, der
wegen meiner fast gedankenlosen Einladung für diesen einen
Abend und dieses Ereignis eigens nach Wien gekommen war.
Selbst als die Lesung und die anschließende Fragezeit vorüber
waren, wartete er noch geduldig, bis ich mit allen gesprochen
hatte, hielt sich im Hintergrund, machte sich nicht, wie die
anderen, über das Buffet her, rührte nichts an.
Langsam geriet ich in seine Richtung, es klopfte mir das Herz, er
verunsicherte mich, ehrte mich, machte mich nervöser als der
ganze ungeheure Vorgang meiner ersten öffentlichen Lesung
zuvor.
Mein Gott, wenn ich dies gewusst hätte, hätte ich es bestimmt
nicht getan. Schon kam es zu Vorwürfen & Zweifeln in mir.
Ich sollte in einem Gästezimmer des Verlags übernachten, hatte
bereits meinen Schlüssel erhalten, wollte mich so schnell wie
möglich zurückziehen, es endlich hinter mir haben, zu Hause
anrufen, wo man gespannt wartete oder besser gesagt, auf Nadeln
saß. Und jetzt das! Diese unerwartete, unverhoffte Begegnung,
was sollte ich damit anfangen, es war zu viel, viel zu viel für
diesen Tag.
Als ich endlich auf ihn zutrat, gab er mir die Hand, und als ob das
nicht genug wäre, küsste er sie vollendet, gratulierte mir, war
überaus gerührt & angetan.
Niemand hatte sich bisher so ehrfurchtsvoll verhalten, trotz all der
Höflichkeit & Wertschätzung, die mich umgab. Dies musste auch
anderen aufgefallen sein, denn plötzlich schaute man uns an. Die
Besonderheit unseres Treffens übertrug sich wohl auf die
Anwesenden, war nicht länger unsere Privatangelegenheit.
Doch wie besonders, wie folgenschwer es tatsächlich war, wusste
in diesem Augenblick nicht einmal ich.
Gleich darauf werde ich mit ihm gehen, gerade so, als wäre es
ausgemacht gewesen, als gäbe es nichts anderes. Vergessen ist das
Gästezimmer des Verlags, wir spazieren nebeneinander, setzen uns
214
auf eine zufällige Bank. Nun ist es an mir, ihm zuzuhören, seiner
Erzählung, die schließlich die Grundlage dieses Romans werden
sollte, seine und letztlich meine Geschichte, welche fast
unmerklich unsere gemeinsame zu werden beginnt.
An diesem unscheinbaren Ort verschlingen sich unsere Leben
ineinander, werden eins, beinah so, als wären sie es schon immer
gewesen.
Allein im Moment wissen wir noch nichts darüber, und doch ist es
der Anfang dessen, was ich als Arbeitstitel Ewigkeit, später aber
Gold nennen werde.
Uns trennen zwanzig Jahre nicht nur, sondern weit mehr, doch der
Spalt zwischen uns wird enger von Satz zu Satz, von Blick zu
Blick, von Wort zu Wort.
Ihm zuhörend, gehe auch ich wieder zurück an den Ort unserer
allerersten Begegnung, in die Nacht auf der Intensivstation vor
fast zwei Jahrzehnten, als wir uns zum wirklich ersten Mal
gegenüberstanden.
Es liefen ihm jetzt die Tränen über das Gesicht, er saß gebeugt
neben mir, hier auf dieser fast gemeinen Parkbank, eingerahmt
von ein paar dürftigen Stauden, je einem schiefen Mistkübel
rechts & links, als wäre einer nicht genug.
Er suchte an sich herumtastend nach einem Taschentuch, fand
aber keines. Längst tropfte schon Wasser aus seiner Nase, seine
Augen waren überschwemmt, ich musste mich beeilen, wenn ich
diese Flüssigkeiten noch auffangen wollte.
Endlich fand ich eins, weiß nicht, wie es ihm reichen, aber
irgendwie gelingt es.
Dieser große angesehene Mann, Nobelpreisträger für Medizin
inzwischen, was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, erzählt mir,
fast ohne Einleitung, seine Lebensgeschichte, redet zu mir, mit
mir, als wäre ich sein Beichtvater.
War ich dessen würdig, ging mich das alles etwas an? Ich fühlte
mich überfordert, wo schließlich sollte das hinführen? Unmöglich,
215
sich einen Reim darauf zu machen.
Wenn ich es richtig auffasste, sollte es schon früher einmal in
Schweden ein Mädchen, eine Frau gegeben haben, die aussah wie
ich, sogar ausgebildete Krankenschwester gewesen war.
Aus den dort & da verworrenen Sätzen entstand nach & nach ein
Bild vor mir. Eine Doppelgängerin?, eine Wiedergeborene?, was
meinte er, sollte ich sein?
Ich hörte bestimmt nicht alles, musste erst grundsätzlich
verstehen. Mir wurde abwechselnd heiß & fröstelnd, mein Mund
trocknete aus.
Ich saß in einem leeren dunklen Raum, ganz allein, draußen im
All vielleicht oder sonst irgendwo, unendlich fern von allem,
unendlich weit auch von dem fremden Mann neben mir.
Als ich aus dieser Absenz zurückkehrte, quasi wieder aus dem
Wasser oder dem Nichts auftauchte, aus dem Off geflogen kam
und auf die Bank klatschte wie ein nasser Frosch, da hörte ich ihn
gerade diesen eigenartigen Satz sagen:
Seither habe ich mit keiner Frau mehr geschlafen.
Ich muss ihn ziemlich angeglotzt haben, spürte, wie mir schlecht
zu werden begann. Was hatte er vor? Welchen Grund gab es für
dieses Treffen in Wirklichkeit? Durfte ich hier einfach sitzen
bleiben und seiner Halluzination oder was es war, Vorschub
leisten?
Sie,....... Sie sind die einzige Frau,..... die einzige Frau, ....... mit
der, mit der......... ich vielleicht, vielleicht..... schlafen......
schlafen.... könnte.
Warum haben Sie mit keiner Frau mehr geschlafen?
Weil, weil, weil ich es nicht mehr kann.
Weil ich mich schuldig fühle an Silvias Tod, am Tod meines
Kindes, das sie in sich trug.
Ich habe sie doch selbst an einen Baum gefahren. Sie hat es nicht
überlebt.
216
Oh mein Gott. Um Himmels Willen. Was für eine Geschichte!
Ich wusste nichts anderes zu sagen, weiß nicht einmal, ob ich es
wirklich gesagt habe.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, bitte verzeihen Sie mir, ich
wollte Ihnen nicht verletzen.
Ich weiß, ich durfte es Sie nicht sagen, aber ich konnte nicht
anders, ich bin deswegen heute zu Abend gekommen, verzeihen
Sie mir tausendmal. Ich habe nichts gefragt, glauben Sie mir, es
tut mir so leid, es war schlecht und egoistisch von mir.
Alles hatte ich erwartet damals in Salzburg, nur nicht eine junge
Kinderkrankenschwester, die genau aussieht wie meine, vor vielen
Jahren, gestorbene Frau.
Wen hätte dies nicht zu Fall gebracht? Eher findet einer einen
Klumpen Gold mitten auf der Straße, als dass ihm seine tote Frau
plötzlich & leibhaftig gegenüber steht! Und doch muss es so
gewesen sein.
Gott weiß warum, aber ich sah aus wie sie. Das hatte ich nicht
wissen können, konnte mir nur seinen Blick, seine Worte, seine
Verblüfftheit, sein überraschendes Verschwinden damals nicht
erklären.
Nun, da ich ihm wieder mitten in einer Nacht gegenüberstand,
neben ihm saß, erzählte er mir jene, seltsame, fast unglaubliche
Geschichte, die mich in seinen Augen zu seiner Frau, doch in
Anbetracht dessen, wer ich wirklich war, zu seiner Geliebten
machen sollte. Darin lag die Erklärung für seine überstürzte
Abreise wie für seine sichere Rückkehr, die Auflösung des
Rätsels.
Was er mir damals hätte sagen sollen, sagen hätte müssen, um
mich nicht so ratlos stehen zu lassen, holte er jetzt, zwanzig Jahre
später, zwanzig Jahre zu spät, nach.
Er überbrachte mir persönlich & nachträglich die Antwort auf die
Fragen, die zurück geblieben waren, während ihn in Wahrheit der
Gedanke an mich in all den Jahren nicht mehr losgelassen hatte.
217
Wie groß die Gestalt war, die ich in ihm angenommen hatte,
welche Art von Besessenheit und fixer Idee ich darstellte, konnte
ich noch lange nicht wirklich verstehen.
Er begriff, dass ich überlegte, ob er mich um etwas gebeten hatte,
bereute augenblicklich die Lage, in die er mich damit brachte,
widerrief sofort jede Silbe, versuchte, seine, vielleicht lange
überlegte Dreistigkeit, ungeschehen zu machen.
Sie sind die einzige Frau, mit der ich vielleicht schlafen könnte,
ja, genau das hatte er gesagt. In mir stieg eine so glühende Hitze
auf, dass er sie spüren musste.
Er kniete sich jetzt auf die Erde, was sag’ ich, auf den staubigen
Schotter, bat mich in aller Form um Verzeihung.
Daraufhin oder viel später, daran existiert in keinem von uns eine
Erinnerung, gingen wir das erste Mal in aller Absicht miteinander.
Es muss uns etwas geleitet haben, denn es geschah mit einer
Selbstverständlichkeit beinah, als müsste es so und nicht anders
sein.
Sein Hotel lag in der Innenstadt, verfügte über uniformierte
Pagen, Kofferträger, Burschen in Dienerposen alten Stils,
Trinkgeldjäger, Personal für dies & das an jeder Ecke.
Diskretes Nicken an der Rezeption, als wir vorübergehen, dezente
wie ganz offensichtlich undezente Blicke auf mich von allen
Seiten.
Als unsäglich peinlich & beschämend empfinde ich die scheinbar
gleichgültige Registrierung & Taxierung vor allem meiner Person,
das Betrachtetwerden, das stille, fast kumpelhafte Gewähren
durch die Angestellten, der dienstlich korrekte & verlangte
Respekt,
welchen
sie
den
Gästen
bei
solchen
Übernachtungs-preisen entgegenzubringen angehalten sind, und
doch drücken ihre Blicke, die uns zwar kaum berühren, doch
umso genauer in Augenschein nehmen, eine gewisse
Herablassung aus, gespeist aus dem Wissen, so etwas wie Zeugen
eines wahrscheinlichen Skandals zu sein.
Keine Ahnung, wofür sie mich halten, ob für einen harmlosen
218
Besuch, eine Hure, ein armes Tschapperl oder von allem etwas,
auf jeden Fall gibt es, wie es aussieht, eine Art von Verständigung
darüber, wie wohl in vielen Fällen vor uns, trotz allem & vor
allem, gebührenden Respekt zu zeigen und gleichermaßen sehend
wie blind zu sein.
Fast kriminalistisch verfolgen uns die Augen der Bediensteten
durch die schier endlos erscheinende Lobby. Man öffnet uns sogar
den Aufzug, übergibt uns an das weiterführende Personal. Ob sie
überhaupt wissen, welch‘ widersprüchliche Eigenschaften sie
erfüllen? Längst bewegen sie sich, ob Empfangschef oder Liftboy,
in den höchsten Sphären der Diplomatie.
Ach, das alles ist mir bereits zu kompliziert. Schon fange ich an,
diesen Abend in Gedanken zu beenden, etwas, das mich noch vor
einer halben Stunde gefesselt hatte, hinter mich zu bringen.
Ich denke an Ottokar, an die Lage, in der ich jetzt bin. Wenn er
davon wüsste! Nicht auszudenken! Einfach das letzte. Habe ich
mich in etwas hineinziehen lassen? Warum?! Was geht mich das
hier an? Ich bin eine verheiratete Frau, und am wenigsten habe ich
etwas dergleichen nötig.
Ottokar kann sich doch meiner immer sicher sein, dennoch gehe
ich mit einem Fremden auf sein Zimmer, in ein Hotel, wie in
einem schlechten Film. Ja, habe ich denn einen Vogel? Was soll
überhaupt dort geschehen?
In meiner, soeben gewonnenen Vorstellung von Alexanders
Situation, wollte ich ihm, nach allem, was er mir auf der Bank
erzählt hatte, helfen, geben, wovon er träumte, nehmen, woran er
litt, ein erstes & letztes Mal untreu sein gegenüber meinem
eigenen Mann, um der Menschlichkeit genüge zu tun, einer
außergewöhnlichen Lage gerecht zu werden. Ottokar würde es
verstehen, dessen war ich gewiss, außergewöhnlich wie er in allen
Dingen & Anschauungen war.
Irgendwann konnte ich es ihm sagen, vielleicht nicht sofort aber
doch in einiger Zeit, denn ich musste es tun, das eine wie das
andere, dabei ging nichts wirklich aktiv vor sich, es geschah
219
einfach, nahm seinen Lauf, ließ sich nicht mehr anhalten.
Ich konnte jetzt kein Stoppschild mehr anbringen, keine
Bremsung einleiten, es war zu spät, obwohl ich nichts dazugetan
hatte, wie von selbst war es so weit gekommen, nichts
Verständliches, sondern etwas Bestimmtes, davon es keinen
Ausweg gab.
Während mir unzählige Überlegungen durch den Kopf gingen,
sich wiederholten, abwechselten, neue Facetten hervortraten,
unfertige, nur halb gedachte Gedanken mit tiefer Leere im Gehirn
konkurrierten, war ich nicht in der Lage, die Entscheidung, was
genau Vorrang haben sollte, zu treffen.
So kamen wir schließlich ganz konkret an eine antiquierte
Zimmertür, beschlagen mit allerlei Messing, wie es bei alten,
vornehmen Hotels oft der Brauch ist, um sich höchst gehoben zu
geben. Schnalle, Nummer, Einrahmung, alles sollte aussehen wie
aus Gold.
Mit einem fragenden, etwas flackernden Blick sah mich der
Professor, wie ich ihn immer noch respektvoll, sogar in Gedanken,
nannte, an, wie um sich noch einmal zu versichern, während er die
Karte in den Schlitz steckte und die Klinke hinunterdrückte.
Dahinter lag ein völlig normales, wenn auch auf luxuriös
gemachtes Hotelzimmer mit einem Doppelbett, was ich sofort
bemerkte – immerhin - er hatte mit mir gerechnet, wie es aussah!
Oder gab es in Hotels dieser Kategorie etwa nur Doppelzimmer,
Suiten?
Und als ob er gehört hätte, was ich gerade dachte, antwortete er,
obgleich ich nichts gesagt hatte: Es hat kein anderes Zimmer mehr
gegeben, ich musste es nehmen.
Was dann geschah, weiß ich nicht mehr genau.
Es muss ein verlegenes Warten stattgefunden haben, ein im Raum
Herumschauen, extreme Unsicherheit wenigstens bei mir.
Zeit verging, verging in kleinen Dosen, Sekunde für Sekunde, zog
sich, verlangsamte sich, wie spät es wohl sein mag, dachte ich,
wagte aber nicht auf die Uhr zu schauen.
220
Ich stellte meine Tasche ab, wir setzten uns fast gleichzeitig auf
die Bank vor dem Bett, hier legte man wohl das Gewand hin oder
die Zierdecke. Er nahm meine Hand, streichelte sie, ohne mich
anzusehen. Ich hatte einen unerträglich trockenen Mund, musste
Wasser trinken sofort, und als wir im Badezimmer nebeneinander
vor den beiden Waschbecken standen, ich Wasser soff wie ein
Kalb, endlich in den Spiegel schaute, sagte ich plötzlich, als hätte
ich die Lösung:
Waschen wir uns die Hände!
Er lachte, worüber ich sehr froh war, weil es unsere Lage etwas
auflockerte,
gleichzeitig
erinnerte
mich
unser
Nebeneinander-stehen vor zwei Spiegeln, die beiden
Waschbecken, an eine typische OP-Situation. Wieder schien er
meine Gedanken zu erraten, denn er antwortete:
Aber Schwester Maria, es ist doch keine Operation.
Doch.
Ja, dann, waschen wir uns die Hände.
Damals wie später noch oft, bin ich überrascht, mit welcher
Folgsamkeit er auf meine Argumente eingeht.
Gemeinsam stehen wir also am Waschenbecken in diesem riesigen
Hotelbadezimmer und halten unsere Hände unter den
Wasserstrahl, seifen sie ein, spülen sie lange & gründlich ab,
während sich unsere Augen gleichzeitig im Spiegel begegnen, ich
die meinen niederschlage, während die seinen in meinen
verharren.
Ich sehe & spüre auch seine Verlegenheit, bin verblüfft wie
schüchtern er reagiert, genau wie ich, denke ich, genau wie jeder
gewöhnliche Mensch.
Es ist mir in diesem Moment einfach noch unvorstellbar, dass ein
Mensch wie dieser sein könnte wie unsereins, denn Zeit meines
Lebens habe ich zu anderen aufschauen müssen, tun, was sie für
221
richtig hielten. Vielleicht lag sogar darin der tiefere, wenn auch
unbewusste Grund meiner Bereitschaft jetzt, so etwas wie einer
Aufforderung Folge zu leisten, als ob es eine Art ärztliche oder
höhere Anordnung wäre, eine akute Entscheidung wie sie mir aus
dem Krankenhaus geläufig war, wo man oft auf unvorhergesehene
Situationen & Komplikationen rasch & gehorsam reagieren
musste.
Wie unnötig mein besonderer Respekt in diesem Fall gewesen
wäre! Aber vielleicht muss man in eine neue Lebensepoche erst
langsam hineinwachsen, bis man selber glaubt, ein wenig weiter
hinaufzureichen, vielleicht war mir in diesem Augenblick nicht
bewusst, dass ich bereits eingetreten war in eine andere Zeit
innerhalb meines Lebens.
Jedenfalls war ich jetzt keine Kinderkrankenschwester mehr,
sondern eine Schriftstellerin, eine womöglich begehrenswerte
Frau geworden, die soeben ein Buch veröffentlicht hatte und nicht
einmal das erste.
So tief lag bei mir im Unterbewusstsein der Respekt vor fremden
Menschen begraben, dass ich gar nicht auf die Idee kam, ich
könnte bewundert werden, jemand würde sich nach mir umdrehen
oder mich als Frau begehren, um etwas bitten anstatt es mir
anzuschaffen.
Gewiss, ich hatte Ottokar, Kinder sogar, doch selbst dies kam mir
oft genug seltsam vor. Ich war doch immer noch derselbe
unsichere Mensch, der oft am liebsten unsichtbar gewesen wäre,
davongelaufen vor den großen Dingen & Begegnungen, froh
darüber, nicht wirklich wichtig zu sein, jemanden neben sich zu
haben, der alles gekonnt über die Bühne bringt.
Ottokar war vor mir mit anderen, bedeutenderen Frauen, so dachte
ich, liiert gewesen, darunter eine wunderschöne Perserin, die
gleichzeitig mit ihm in Wien studiert hatte, eine anspruchsvolle
Dame, das konnte jeder sehen, denn man hat in meiner
Anwesenheit von ihr erzählt, geschwärmt, Photos herumgezeigt.
In seiner Familie sogar wurde ich mit ihr des öfteren konfrontiert,
222
was für eine prominente Vorgängerin!, fast hätte man meinen
können alle wunderten sich, wie ich es mit so einer aufnehmen
konnte, niemand war auf die Idee gekommen, es könnte mich
verletzen, und nicht einmal ich wunderte mich damals über diese
Offenheit, die doch selbst bei tolerantester Auslegung einer
Beleidigung gleichkam.
Eine Pianistin und ein Maler. Ich habe nie verstanden, wie er sich
mir zuwenden hatte können, sie verlassen, obwohl sie ihm
nachlief. Freilich muss es Streit & Ärger gegeben haben,
Besitzansprüche an ihn von ihrer Seite, doch genaues war für
mich im Dunkeln geblieben, nein, ich wollte es nicht wissen.
Noch immer hatte ich keine Ahnung von Männern, denn auch sie
muss man erfahren, man sollte Verhaltensmöglichkeiten eigens
dafür von zu Hause mitbekommen, Selbstbewusstsein, und wie
hätte ich darüber verfügen sollen?
Hatte ich nicht gerade aus meiner Biographie vorgelesen, stand da
etwa nicht beschrieben, aus welch’ einfachen & archaischen
Verhältnissen ich stammte, und war ich denn nicht in festen guten
Händen? Was hatte ich also verloren bei einem anderen Mann,
warum war ich mit ihm gegangen?
Genoss ich diese Art von Schmeichelei? Suchte ich Erfahrung,
Nervenkitzel?
Ich war im Begriff, einen Fehltritt zu begehen, meinen geliebten
einzigen Mann zu betrügen. Wollte ich womöglich beweisen oder
herausfinden, ob ich es könnte - jemanden zu verführen - nicht nur
eine brave Ehefrau, sondern auch ein Weibsteufel zu sein?
Solche Gedanken schossen mir im Kopf herum, waren in alle
Richtungen unterwegs, stachen mir ins Herz, rechts in die Leber,
mitten in den Bauch.
Ich war bereits viel zu weit gegangen, hatte längst eine Linie
überschritten, selbst wenn ich sofort auf der Stelle stehen bliebe.
Noch war Zeit umzukehren, noch konnte ich nein sagen, aber ich
tat es nicht, ich konnte es nicht. Aber konnte ich denn das andere?
Später werde ich keine Erklärung dafür haben wie es geschehen
223
konnte ohne irgendeine sexuelle Erregung sogar.
Was ich beinah körperlich spürte, vor mir sah, war, dass dieser
Mann Hilfe brauchte, einer fixen Idee nachhing, einem Traum,
einer Täuschung vielleicht und ich die einzige Person war, die ihn
erlösen konnte, wenigstens ein einzelnes Mal.
Ich erinnerte mich plötzlich an Yukio Mishimas „Meer der
Fruchtbarkeit“, wo Richter Honda einer Reinkarnation seines
Jugendfreundes Kyoaki Matsugae auf er Spur zu sein glaubt, sein
ganzes Leben darauf verwendet, ihn zu finden, immer wieder für
kurze Zeit meint, ihn gefunden zu haben, bis ihm wieder alles
zerstiebt, zerfließt, sich in nichts, in einen Irrtum auflöst.
Wann, wenn nicht jetzt sofort? Es blieb keine Zeit für langes
Nachdenken, für eine Umfrage in der Verwandtschaft, außerdem,
es war kein Thema, das nach Veröffentlichung oder Aufschub
verlangte, ich musste handeln und zwar ganz allein, ja oder nein,
etwas anderes gab es jetzt nicht.
So ungefähr dürfte meine Entscheidung zustande gekommen sein,
mit dem Hintergedanken, nie wieder daran rühren, nie wieder
darüber reden, zu keinem Menschen, alles zu vergessen, im
letzten, unbeleuchteten Schrank des Gedächtnisses als ein
Geheimnis für alle Zeit verschwinden zu lassen.
Ja, so muss es gewesen sein, denn schon früher wusste ich
manchmal nicht, was ich tat, warum etwas passierte, obwohl ich
es scheinbar selbst bestimmte.
Längst ahnte ich, wie wenig man beeinflussen kann, die Folgen
abschätzen, wie sehr alles vorgegeben ist.
Freiheit ist ein gewaltiges Wort für große wie für kleine Dinge,
doch eines, welches wir nicht verstehen, nicht einmal wirklich
begehren in seiner ganzen Bedeutung, eine Art Ideal, eine
Hypothese, denn es ist viel mehr so, dass fremde Mächte die
Fäden für uns ziehen.
Die Freiheit im großen wie im kleinen wird in Wahrheit von der
Sehnsucht nach Sicherheit untergraben & überlagert, sie ist ein
Spuk im Kopf, und niemals sind wir wirklich frei, auch dann
224
nicht, wenn wir es glauben und felsenfest behaupten.
Wie es in den alten Büchern etwa heißt: „ … und es erfüllte sich
die Schrift“ oder „ …auf dass die Schrift erfüllt werde…“ .
Auch für mich, für uns muss es irgendwo einen solchen Text
gegeben haben, für heute Nacht genau.
Zwei ganz verschiedene, ja fremde Menschen treffen einander, um
sich zu lieben, scheinbar ohne einen Ausweg.
Mechanisch ging ich also zum Bett, schlug die Überdecke zurück,
schlüpfte aus den Schuhen, zog mein Jackett, meinen Rock,
meine Strumpfhose aus. Gott sei Dank, dachte ich, trage ich ein
Unterkleid!
Er folgte mir, schaute mich gespannt an, beobachtete jede meiner
Bewegungen. Ich setzte mich hin, schaute ihm in die Augen,
schlug sie nieder, hatte das Gefühl, seinen nicht stand zu halten.
Ich hörte ihn irgendwann sagen:
Ich komme mir schlecht vor, ich darf das nicht, ich kann das nicht.
Kommen Sie. Tun Sie, was Sie tun möchten. Ich schenke es Ihnen.
Niemand wird es erfahren. Danach werden Sie und ich fortgehen
von hier und nie wieder zurückkommen, uns nie wieder sehen.
Das alles ist so unwahrscheinlich, so unglaubwürdig, dass kein
Bedarf zu Aufklärung besteht.
Kommen Sie und löschen Sie das Licht.
Ja.
Und so war es. Im Dunkeln geschah es. Im Dunkeln tat er das mit
mir, was wir „miteinander schlafen“ nennen, drang in mich ein,
ohne mich vollkommen auszuziehen. Wir waren nicht nackt,
sahen einander nicht an dabei, so, als hätten es die zwei
Menschen, die es taten, sogar voreinander verheimlicht, wie
kleine Kinder glauben, wenn sie die Augen fest zuhalten, sie
würden nicht gesehen.
So groß war unser beider Schuldempfinden, dass wir zu Kindern
225
wurden.
Als es vorüber war, legte er sich neben mich, streichelte mein
Gesicht, genau wie Ottokar es immer tat, strich mir durch die
Haare deckte mich schließlich zu, zog sich in der Finsternis an.
Als das kleine Nachtlicht anging, saß er neben mir und sagte
immer wieder:
Danke, danke, danke, ich danke Dir tausendmal, danke!
Noch immer konnte ich ihn nicht mit Du ansprechen, obwohl er
gerade noch auf mir gelegen war und ich ihm mit meinem Körper
Befriedigung gegeben hatte.
Ich hatte währenddessen keinen Augenblick meine Lage
vergessen, ununterbrochen an meinen Mann gedacht, der auf den
Tod nicht darauf gekommen wäre, was ich gerade getan hatte.
Es war mir absolut unvorstellbar, einen Fehltritt zu begehen, ja
begangen zu haben. Meine katholische Erziehung und mein
eigenes Empfinden hinderten mich nicht nur an so einem großen,
sondern an viel geringeren Vergehen.
So erinnerte ich mich just in diesem Moment an einen Heiligen
Abend vor etlichen Jahren, als Ottokar nach den Weihnachtsfeiern
mit unseren Eltern & Großeltern zu später Stunde noch mit mir
schlafen wollte und ich ihm, als wäre es eine Todsünde,
antwortete: Aber, ich bitte dich, doch nicht in der Heiligen Nacht!
Es schien mir eine schwere Sünde zu sein, obwohl es nie jemand
gesagt hatte; wo stand schließlich, dass man zu Weihnachten
keinen Sex haben durfte, und dennoch, im Innersten wollte ich,
die nicht mehr im Entferntesten so katholisch war wie früher, auch
längst kein Mädchen mehr, im Innersten wollte ich rein sein, die
Feierlichkeit und den Ernst eines hohen christlichen Festes nicht
beschmutzen.
Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, nie, dass ich dem
Mann, welchem ich das Eheversprechen gegeben hatte, was im
katholischen Glauben ein Sakrament ist, nicht nur ein öffentliches
Bekenntnis, betrügen könnte, und doch hatte ich es getan. Eben
jetzt. Vor wenigen Minuten.
226
Es war nur ein schwüler Traum, bestimmt, aus dem ich bald
aufwachen musste, doch ich wachte nicht auf, ich war ja hellwach.
Alexander hingegen, zerknirscht zwar, doch gleichzeitig verwirrt
vor Glück, übergeschnappt, durcheinander, dankbar, aus dem
Häuschen, sodass ich selbst Mut gewinne und Vertrauen, ja
Verständnis & Mitleid für ihn empfinde, mehr als für jemand
anderen jemals.
In mir denken sich die Gedanken ganz allein, kommen aus der
Tiefe des Herzens, ohne Anstrengung, mühelos, leicht, voller
Freude & Einfachheit.
Ich fühlte mich jetzt ähnlich stark wie nach den Geburten meiner
Kinder, als ich mich auch allwissend & unverwundbar wähnte.
Doch es war noch mehr, es musste das ganze Geheimnis des
Weiblichen in mir wirksam geworden sein.
In diesem Moment hatte etwas in mir nachgegeben, zuerst
zögernd, dann fließend, ohne mein Zutun beinah.
Man musste nicht einmal eine Geburt hinter sich bringen, für
Nachkommenschaft sorgen, nein, es reichte einem Mann
tatsächlich der reine Sex, damit er einem aus der Hand fraß.
Doch sollte ich meine, gottlob nicht ausgesprochene
Schlussfolgerung, bald bereuen, denn der, welcher neben mir lag
und auf seine Weise philosophierte, war alles andere als jemand,
dem es nur um Befriedigung ging.
Und plötzlich, vielleicht waren auch Stunden vergangen, gelang es
mir, einen wie diesen, beim Vornamen zu nennen, flüsternd tat ich
es, wie Mutter & Geliebte in einem, vorsichtig, tastend:
Alexander! Lieber Alexander!
Damals wunderte ich mich über seine Tränen, denn erst später
sollte ich erfahren, dass das Beste, auch bei Männern, gerade darin
sichtbar wird. Nach allem, was er erleben musste, noch weinen zu
können, sich dessen nicht zu schämen, sondern im Gegenteil zu
zeigen, wie hilflos er war, auch wenn er seine Traurigkeit, seine
Enttäuschung verbergen zu müssen glaubte, war ein für mich
erstes Zeichen seiner Besonderheit.
227
Er gestand mir seine Ängstlichkeit, seine Einsamkeit, seine Scham
darüber, mich, eine fremde & verheiratete Frau „darum“ zu bitten.
Welche Reaktion würde ich zeigen, wie mich verhalten? Durfte er
das? Natürlich nicht. In keiner Kultur, in keinem Land war so
etwas Ungeheures denkbar.
Tausendmal hatte er sich alles überlegt, Jahr für Jahr, Tag für Tag
seit der ersten Begegnung daran gedacht, Pläne entworfen, sofort
ad acta gelegt, nur, um tags darauf wieder von vorne anzufangen.
Zu wissen, dass es jemanden gibt, den man nicht bekommen kann,
der den Schlüssel für das verlorene Glück besitzt, es aber nicht
weiß, nicht einmal ahnt, zu wissen, man ist selbst vor Bestürzung
davon gelaufen, obwohl vielleicht alles möglich gewesen wäre.
Und je mehr Zeit vergeht, umso unwahrscheinlicher wird alles.
Solche und ähnliche Sätze redete er, ich lag da und kannte mich
im Moment nicht im geringsten aus, war einfach nur froh, es
hinter mir zu haben. Irgendwann ging ich ins Bad, duschte mich,
zog meinen Pyjama an und fragte: Kann ich hier bleiben heute
Nacht oder ist das verboten?
Ich bitte Dich, hier zu bleiben, ich könnte dich nicht gehen lassen.
Ich könnte ohne dich nicht einschlafen.
Nicht mit dir und nicht ohne dir.
Ohne dich.
Ja, ohne dich. Verzeihung. Ich kann nicht gut Deutsch.
Doch, sehr gut sogar.
Und wie es ist, hat jede noch so besondere Stunde ihre prosaische,
normale und vollkommen natürliche Seite, so auch diese; doch es
war mir recht, es sollte nicht etwas sein, was es nicht gab, sich
nicht einfügen ließe in das andere, eigene & eigentliche Leben, in
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welchem man danach wieder existieren können musste.
Auch er duschte sich, kam angezogen zurück, fragte, ob er sich
noch einmal zu mir legen dürfe.
So lagen wir also beieinander, und mehr & mehr wurde es
unvorstellbar, sich am nächsten Morgen für immer zu trennen.
Es verging auch diese Nacht, unbarmherzig & barmherzig
zugleich, wir schliefen sogar ein, und es zwitscherten zwar nicht
die Vögel, es sang keine Lerche, doch es gurrten die Tauben der
Großstadt, gingen aufgeplustert gurrend auf der Fensterbank hin
& her, es graute der Morgen, es nahte der Abschied.
Ein Abschied, bei dem er mir ein Versprechen abverlangte, das ich
nicht einzulösen imstande war und doch erfüllen sollte.
Nun aber zurück auf diese alte windschiefe Bank, auf der er mir
so viel erzählte, dass ich das Wichtigste verstand, soviel
jedenfalls, dass es mich anrührte & erschütterte und schließlich
mit ihm gehen ließ.
Während der Schwangerschaft wurde alles immer komplizierter.
Sie hing an mir, als hätte sie schreckliche Angst, ich glaube heute,
es war eine handfeste Schwangerschaftspsychose, doch damals
war ich damit überfordert.
Ich musste schließlich bei meiner Arbeit alles richtig machen,
mich konzentrieren, hatte noch viel zu lernen, war zum ersten Mal
voll und ganz verantwortlich für alles, was ich tat oder anordnete,
konnte niemanden fragen, jedenfalls nicht sofort.
Sie legte mir alles als Desinteresse aus. Was mich aber am
meisten beunruhigte, war ihr Bedürfnis nach immer mehr Sex.
Mir stockte schier der Atem. Ich traute meinen Ohren, meiner
Wahrnehmung nicht. Er ging immer mehr ins Detail. Was, in aller
Welt, hatte ich damit zu tun?
Sie war plötzlich unersättlich, was das betraf. Ich befürchtete eine
Frühgeburt, eine Infektion, war heilfroh, wenn sie die
229
Schwangerschaft gut überstand, hatte nichts weniger im Sinn, als
mit ihr zu schlafen, wollte sie nicht belasten, belästigen, in Gefahr
bringen, hatte keine Lust darauf.
Um Gottes Willen, so dachte ich, wenn ihr oder dem Kind etwas
zustoßen würde.
Ich schonte sie, wo und wie es ging.
Um Sex ging es auch bei unserem letzten Streit, sie war bereits
gefährlich nah am frühest möglichen Geburtstermin, wieder
verlangte sie es, und ich weigerte mich.
Sie bekam einen hysterischen Anfall, tobte, schrie. Ohnehin
wussten schon alle über uns Bescheid, tratschten über uns,
verachteten uns für unser Chaos miteinander.
Insgeheim lasteten sie es ihr an, das wusste sie, dennoch sie
konnte nicht anders. Sie war wohl wirklich krank, kam mit sich
selbst nicht zu Rande und schob alles auf mich.
Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen, als sie ins Hospital zu
bringen, redete ihr ein, falls ein Kaiserschnitt gemacht werden
müsste, wäre es besser, in einem richtigen Kreißsaal zu sein
anstatt draußen in der Dschungelstation.
Ziemlich überstürzt und gänzlich zerstritten brachte ich sie
irgendwie in den Wagen, einen offenen Range Rover.
Ich wollte, dass sie die Zeit bis zur Geburt im Krankenhaus
verbringt, sich beruhigen kann und sich endlich auf das
Unvermeidliche einstellen.
Wiederum glaubte sie, ich wolle sie nur los sein, sie allein lassen,
aber ich konnte auf ihre irrationalen Argumente und Ansichten
nicht mehr eingehen. Zu oft schon hatte ich es getan.
Ich fuhr also schnell, sehr schnell, war zornig, selbst einem
Nervenzusammenbruch nahe, hinter mir lagen mehr als
vierundzwanzig Stunden Dienst, dann wieder eine dieser
Auseinandersetzungen mit ihr, die ich inzwischen fürchtete, mehr
als alles andere.
Er redete atemlos, nicht alles verstand ich, war mit anderen
Gedanken beschäftigt, warum er so gut deutsch sprach, mir das
230
alles erzählte. Doch er fuhr fort, sah mich nicht an, wollte, wie es
aussah, alles loswerden, herunterhaspeln, hatte es sich gut
überlegt, tausendmal geprobt, denn seine eigene Rede riss ihn von
Szene zu Szene, als würde er einen Film nacherzählen.
Ich war übernächtigt, total erschöpft, wollte nichts als schlafen,
endlich alles hinter mich bringen, ich stieg aufs Gas.
Wir rasten mit hoher Geschwindigkeit über die staubige Straße,
pfeilgerade durch den nächtlichen Dschungel, es waren mehr als
hundert Kilometer, eine kleine Ewigkeit bei diesen Verhältnissen.
Dann passierte etwas, von dem ich nichts Genaues weiß. Ich
glaubte einen Menschen oder ein Tier, vielleicht einen Affen, auf
der Fahrbahn zu sehen, bremste auf der Stelle. Vielleicht bin ich
aber einfach eingeschlafen und habe es geträumt, das kann ich
nicht mehr sagen, konnte es auch damals nicht. Ich kam später
dafür vor Gericht, musste mich rechtfertigen für das, was jetzt
geschehen war, obwohl ich nichts darüber wusste, so wenig wie
der Richter, der mich fragte, der Anwalt, der mich verteidigte. Es
existiert heute wie damals eine zurechtgemachte Erinnerung, eine,
die man mir in den Mund gelegt hat, mir eingeredet, zugeordnet,
sodass die Wahrscheinlichkeit, die Logik über die Wahrheit siegte,
die keiner mehr kennt.
Aber sie wollten auch damit zu Ende kommen, irgendwann nach
Hause gehen, einen Schlussstrich ziehen, ein Urteil fällen.
Als ich zu mir kam, hatte ich den Jeep ganz offensichtlich an einen
Baum gefahren, Silvia saß nicht mehr neben mir.
Ich war verletzt, blutete am Kopf, hatte mir die Beine
eingeklemmt, konnte mich aber irgendwie befreien.
Ich spürte keinen Schmerz, obwohl meine Hände, die Arme, fast
lose an mir hingen, sie waren kalt, ich schwitzte & fror in einem,
dachte noch bei mir – ein Schock. Mit weichen Knien, gefühllos
und leer, auch in den Füßen, kam ich schließlich aus dem Wagen,
plumpste wie eine fallen gelassene Marionette auf den Boden,
ohne etwas zu fühlen.
Nach einigen Versuchen stand ich aufrecht, es geschah alles sehr
231
langsam, ich konnte mich nicht schneller bewegen, nichts
gehorchte mir. Mit einer gewissen Verzögerung kam es zu den, von
mir selbst gedachten Bewegungen, sie geschahen nicht wie sonst
von selbst, ich musste sie bewusst zustande bringen, es war, als
wäre die Verbindung ins Gehirn gekappt. Doch darum konnte ich
mich jetzt nicht kümmern, auch war es mir seltsam egal.
Aber wo war Silvia? Wie konnte sie nicht mehr da sein?
Allmählich kamen Teile von schwachen wie deutlicheren
Erinnerungen, leuchteten wie eine Sternschnuppen auf,
verschwanden wieder.
Das Rufen in die Nacht hatte keinen Sinn. Nur die tausend
Geräusche des Urwalds, das Kreischen, gellende Schreie von
Vögeln, vielleicht Eulen, waren zu hören. Glasklare Akustik.
Tiefste Finsternis. Was war geschehen? Wie war es geschehen?
Kaum erinnerte ich mich an etwas, vergaß ich es schon wieder.
Ziellos suchte ich. Es muss unendlich lange gedauert haben, denn
ich stolperte und stolperte, über Wurzeln, Stümpfe, unbekannte
Dinge, blieb in Lianen hängen, fiel der Länge nach hin, rappelte
mich wieder hoch, bis ich an einen Körper stieß und stürzte.
Unbewusst wie auch wohl überlegt ging ich in die richtige
Richtung, hatte offensichtlich eine klare Ahnung, wohin ich mich
wenden sollte.
So fand ich sie. Blutüberströmt.
Ich erschrak, wie man so sagt, zu Tode, erkannte oder wusste
sofort, dass sie nicht atmete, auch das Herz schlug nicht,
jedenfalls nicht spürbar. Irgendwann hob ich sie hoch,
beobachtete mich selbst dabei, sah mich von außen als ginge es
mich nichts an, funktionierte mechanisch, fast wie ein Roboter.
Komisch wie man in so einer Situation das Richtige tut, ohne
nachzudenken, ohne Wissen und doch mit Verstand. Heute weiß
ich, dass Denken und Fühlen ein- und dasselbe sind. Damals aber
trennte ich es noch voneinander und wunderte mich.
Ich trug sie die Straße entlang, zählte die Schritte, gab es wieder
232
auf. Ich trug meine tote Frau mit dem Baby im Bauch. Zum Rasten
legte ich sie auf den Boden, legte wieder mein Ohr auf ihren
Körper. Das Kind in ihr bewegte sich, es lebte!
Vor so kurzer Zeit noch war alles in Ordnung gewesen, und jetzt,
jetzt hatte sich mit einem Schlag alles verändert. Wie sich in so
kurzer Zeit, in einer Minute oder Sekunde sogar!, alles ändern
konnte!
Ich weiß nicht wie lange ich so unterwegs war, bis jener
scheppernde Lastwagen auftauchte, der auf mich zufuhr, als hätte
ich ihn bestellt und einen Meter vor mir stehen blieb.
Der dunkle Fahrer begriff sofort den Ernst der Lage, er nahm mir
Silvia ab, bettete sie auf die Ladefläche. Ich aber sah ihm zu, als
betrachtete ich das Geschehen auf einen anderen Planeten.
Als ich sie ihm übergab, fielen auf der Stelle meine Hände
hinunter, so als gehörten sie nicht mehr zu mir, später stellte sich
heraus, dass sie gebrochen waren.
Ich fiel auf den Boden, verlor das Bewusstsein. Wie hatte ich
Silvia mit zwei gebrochenen Händen halten und so weit tragen
können?
Er beantwortete seine eigene Frage.
Weil man in solchen Augenblicken vielleicht alles kann.
Tausendmal habe ich es seither durchgespielt, darüber wieder und
wieder nachgedacht und bin zu diesem einfachen Schluss
gekommen.
Er brachte mich anscheinend ins Führerhaus, wo ich, als wir
bereits unterwegs waren, zu mir kam, gab mir Wasser zu trinken,
stellte keine Fragen, fuhr mich ins Hospital, blieb, bis er mich und
die Tote in Sicherheit wusste.
Was für ein Mensch!
In all den Jahren habe ich oft an ihn gedacht, auch als ich lange
Zeit später wieder kam, um die Dschungelstation zu besuchen, ein
Krankenhaus zu bauen, die alten Kollegen und Freunde zu sehen.
Doch niemand kannte ihn, niemand wusste, wer er gewesen sein
könnte.
233
Oft denke ich, er muss eine Figur gewesen sein in diesem Stück,
eine Art Engel, dessen Rolle es war, mir zu helfen. Hier hieß es,
fahren keine Lastwagen, schon gar nicht in der Nacht. Was hatte
er geladen, fragten sie, aber ich konnte mich nicht erinnern.
Er hätte einen Elefanten transportieren können, und ich hätte
nichts bemerkt.
Doch dies alles war nicht einmal das Schwerste - das Schwerste
war die Zeit danach, das Zurückfinden, das Verdrängen, ohne das
es nicht weitergeht. Das neue Dasein, das ich erst finden musste,
doch ich wusste nicht einmal, wonach ich suchte, wohin ich
zurückkehren sollte.
Niemand hatte den Mut, sich mir zu nähern, mich etwas zu fragen,
ja überhaupt eine Ahnung, wie einem solchen Menschen zu
begegnen sei, nach den Wochen der Absence, der völligen
Abwesenheit meines Geistes, nach dem Toben und Schreien, nach
der Zeit, von der ich nichts weiß, außer dass ich einen tiefen
Schmerz körperlich fühlte und nicht das Geringste zu mir nahm.
Man soll mich vorerst ans Bett gefesselt haben, bis ich eines Tages
einschlief und eine Ewigkeit nicht mehr aufwachte.
Als ich wieder zu mir kam, erkannte ich mich selbst nicht mehr,
mir waren die Haare ausgefallen, die Haut vertrocknet, ich
gebrauche nicht die medizinischen Ausdrücke dafür, denn, was ich
im Spiegel jetzt sah, war ein anderer Sommerfeld, ein Fremder,
ein Knochengestell, jemand, den ich noch nie gesehen hatte, auch
mein Gedächtnis war verstört, es war mir nicht einmal klar, dass
ich Arzt war, was ich hier tat, wer die Menschen um mich herum
waren.
Erst mit den Erzählungen der anderen kehrte langsam meine
eigene Erinnerung zurück.
Sie hatten für mich einen Medizinmann geholt, denn die Afrikaner
verstehen sich besser auf den Geist als wir Europäer, außerdem
waren die mit ihrem Latein längst am Ende.
Ich war ja nichts mehr als ein vor sich hindösender Körper, der
mal mit geschlossenen, mal mit offenen Augen dalag, ohne dass es
234
einen Unterschied gemacht hätte.
Doch der echte, der richtige, der afrikanische Arzt verstand alles,
hatte schon die ganze Zeit um mich herum seine Zaubereien
laufen.
Plötzlich tauchten vor meinen Augen seine Augen auf, sie drangen
in meine ein, ich schaute in einen Tunnel und sah genau, was
passiert war.
Diesen Vorgang oder diese Hypnose, was immer es war,
wiederholte er, wie sie mir später erzählten, so oft, bis ich bereit
war, aufzustehen, an den anderen, die mich staunend
beobachteten, vorbei zu gehen, hinaus ins Freie, an jene Stelle, wo
man Silvia, mein großes Mädchen und Silvia, mein kleines
Mädchen begraben hatte.
Auf einmal wusste ich alles, ja, ich habe sogar gesehen, wie sie es
aus dem Bauch geholt haben, es aber nicht mehr lebte, wie
hübsch, wie wunderschön, wie klein und süß es war.
Und jetzt, da ich hier stand, sah ich sie wieder, sie lagen da unten
und schliefen, alle beide, Silvia hatte das Baby auf dem Bauch, sie
schaute tot aber glücklich aus, ruhig, allwissend. Nichts mehr von
Streit und Angst, nichts Schweres, nichts Trauriges. Es war vorbei,
und ich wusste es.
Am liebsten hätte ich mich zu ihnen gelegt.
……
Nach langem Schweigen fuhr er langsam fort:
… Da erinnerte ich mich an meinen Vater, seine Erzählung von
der schwersten Nacht seines Lebens, damals in Südschweden, als
ich geboren wurde und er meine erste und meiner Mutter letzte
Nacht auf Erden, mit uns verbrachte, gerade so, als hätte er eine
Familie. Er wollte es ein einziges Mal auskosten, wissen, wie es
ist, Vater zu sein, bei seiner Frau zu liegen, die soeben ihr erstes
Kind geboren hatte. Und damit war für ihn alles zu Ende, er
gefror gewissermaßen diesen Status quo für einige Stunden ein,
hielt die Uhrzeiger an in der Finsternis einer langen, aus der Zeit
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gefallenen Winternacht.
Er ließ sie sich nicht nehmen, schickte die Hebamme fort und
legte sich zu uns, deckte uns zu, schlüpfte selbst unter die
gemeinsame Decke, obwohl meine Mutter bereits tot war.
Dies alles sah ich jetzt so deutlich vor mir, als hätte ich es selbst
genauso erlebt und nicht nur von meinem Vater gehört.
Aber ihm war ich geblieben, ich dagegen hatte nichts und
niemanden mehr.
Ich kniete mich auf die Erde, irgendetwas, vielleicht die Kraft des
Medizinmannes, hatte mich an das Grab geführt.
Ich spürte ihn hinter meinem Rücken, er legte seine Hände auf
meinen Kopf, etwas konzentrierte sich in mir, und ich fing an,
meine Umgebung und die Menschen wahrzunehmen, es kehrte
nach und nach mein Geist zurück, so langsam, als hätte er über
lange Zeit weit außerhalb von mir existiert. Mit aller Vorsicht tat
er es, so als müsste er mich erst erkunden, wieder kennenlernen,
als traute er mir nicht ganz. Doch ich ließ ihn eintreten, war froh,
ihn wieder zu haben, mein Bewusstsein, mein Ich.
Noch am selben Tag begleitete ich den Medizinmann in sein Dorf,
wo ich mich erholen sollte.
Von hier aus begann ich meine neue, meine eigene Arbeit, es war
nichts mehr wie früher, ich konnte nicht weitermachen, wo ich
aufgehört hatte.
Ich war jetzt allein unterwegs, behandelte, verarztete ein Dorf,
eine Ansiedlung nach der anderen, schlief in den Hütten der
Eingeborenen, stand Tag und Nacht zur Verfügung, wurde gerufen
zu Geburten, bei Verletzungen, Blutungen, Infektionen,
Schlangenbissen, Fieber, Schmerzen, Leiden aller Art, musste
handeln, ob ich mich auskannte oder nicht. Es war das Konzept
meiner Genesung, der Medizinmann hatte es für mich arrangiert,
er wusste, wie er mich da herausholen und ins Leben
zurückführen konnte.
Die Dinge waren so dringend, dass ich nie genug Zeit hatte zum
236
Nachdenken. Alles musste sofort geschehen, man kam mit keiner
einzigen Bagatelle. Jetzt war meine ganze Phantasie gefordert,
niemand mehr zum Fragen da, kein Buch, das ich aufschlagen,
keine Nacht, in der ich durchschlafen konnte.
Ich zermarterte mein Gehirn, versuchte oft verzweifelt und auch
vergeblich, mich an medizinische Fakten, an Studiertes, Gelerntes
zu erinnern, und doch war ich nie besser als damals. Denn die
Notwendigkeit machte mich zum Meister. Wenn ich nicht arbeitete,
schlief ich abgrundtief, sobald ich aufwachte, arbeitete ich.
Ich war jetzt wirklich Herr über Leben und Tod, wie es manchmal
so großspurig heißt.
Ich lebte in der Medizin auf, ich diagnostizierte nach meinem
Gefühl, wurde immer sicherer darin, legte mein Schulwissen ad
acta und konnte doch jederzeit darauf zurückgreifen, ich sah
nichts mehr als Krankheit und Leid, das man bekämpfen oder
wenigstens lindern musste, und es war gut so.
Nun ging ich in die wirkliche und eigentliche Lehre, zum ersten
Mal stand ich allem ganz allein gegenüber mit meinem Wissen,
den Lücken darin, sammelte Erfahrung um Erfahrung, führte
genau Buch über jeden Fall, war Professor und Schüler zugleich.
Was ich nicht wusste, nie gesehen, gelernt hatte, führte zu
medizinischer Kreativität und Phantasie, denn man kann nicht
alles studieren, viele Dinge, Krankheiten, Symptome, Ursachen
kannten nicht einmal meine früheren Professoren in Schweden.
Sie hatten selbst keine Ahnung, welchen Problemen und
Belastungen man hier mitten in Afrika ausgesetzt war.
Diese Arbeit wurde mein größtes Glück, schenkte mir Vergessen,
forderte mich Tag und Nacht, ließ mich nicht zum Grübeln
kommen. Nie mehr sollte ich perfekter sein als damals, auch wenn
das niemand wusste oder begriffen hätte. Mein persönliches Leid
wurde verdrängt, kleiner von Tag zu Tag, ja es war sogar so, dass
ich ohne es - so vieles nicht verstanden hätte.
Ich glaube ganz bestimmt, man muss selber leiden, um Leiden zu
verstehen. Arzt sein, kann jeder, der Medizin studiert hat, aber es
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ist nichts als ein Beruf, wenn man nicht mit den Menschen leidet.
Jeden Abend fiel ich sekundenschnell in einen tiefen Schlaf,
schreckte bald nicht mehr auf. Die schweren Träume wurden
seltener, bis sie schließlich ganz verschwanden.
Nach etwa einem halben Jahr kam ich in das Dorf des
Medizinmannes zurück. Sie hatten mir eine eigene Hütte gebaut,
und als ich an einem der ersten Abende zu Bett gegangen war,
geschah etwas Unglaubliches.
Ein ganz junges Mädchen trat plötzlich herein und legte sich
etwas umständlich zu mir.
Ich traute meinen Augen nicht. Zuerst dachte ich, sie wäre krank,
sie wolle mir etwas zeigen, sie hätte es nicht gewagt, vor den
Augen der anderen zu mir zu kommen.
Ich versuchte, sie zu verstehen, mir einen Reim auf ihr Benehmen
zu machen, untersuchte sie genau, und natürlich war sie
beschnitten und zugenäht in der, sogar für afrikanische
Verhältnisse, brutalsten Art.
Irgendeine Quacksalberin musste sie vor langer Zeit malträtiert
haben, die Nähte sahen aus wie Stacheldraht und waren genauso
hart.
Ich will nicht lügen, seit dem Tod Silvias hatte ich zwar selten,
aber doch auch an so etwas wie Sex gedacht, aber
augenblicklich ein schlechtes Gewissen bekommen und davon
Abstand genommen. Und im großen und ganzen war das, was ich
täglich zwischen den Beinen der Frauen zu sehen bekam, nicht
gerade dazu angetan, sentimental zu werden. Noch heute dreht
sich mir der Magen um, wenn ich daran denke.
Vor den Geburten musste ich sie aufschneiden, es ist mir noch
immer schleierhaft, wie Männer überhaupt in diese Geschwülste
eindringen konnten.
Allein die Menstruation war eine unbeschreibliche Qual, es
konnte das Blut nicht abfließen, es kam zu Rückstauungen, harten
Bäuchen, Bauchfellentzündungen, Todesfällen.
Um den Geschlechtsakt ausführen zu können, wurden die Frauen
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nicht selten von den Männern mit Messern aufgeschnitten.
So schnell wie möglich nach der Geburt riefen sie bereits die
Beschneiderin zum Wiederzunähen.
Ich tastete ihren Bauch ab, er fühlte sich an wie ein Stein und sie
krümmte sich bei jeder Berührung vor Schmerz.
Während sie geschickt worden war, um mir Lust zu bereiten, mit
mir zu schlafen, was eine besondere Geste des Häuptlings war,
überlegte ich mir, wie ich ihr helfen könnte.
Am ersten Abend schickte ich sie weg, ich fühlte mich
außerstande, sie heute noch zu behandeln, und eines lernt man in
Afrika – Geduld, man kann nicht jede Krankheit sofort heilen,
niemand erwartet es, und es ist auch nicht möglich.
Alle Mädchen, alle Frauen litten unter denselben Problemen,
daher hatte ich mich zwar gewundert, dass ausgerechnet sie
gekommen war mit etwas, das hier mitten in Afrika zum Normalen
zählte, doch wäre ich nicht auf die Idee verfallen, sie könnte ein
persönliches Geschenk für mich als Mann sein.
Als sie am zweiten Abend wiederkam, war ich bereits gewappnet.
Ich hatte mir das Operationsbesteck hergerichtet, auf
Dschungelart desinfiziert, zeigte ihr, wo sie sich hinlegen soll.
Sie zitterte vor Angst. Ich ging so behutsam vor wie es mir
möglich war, ließ sie zuerst in den Zuber steigen und badete sie
in warmem Wasser mit Kräutern und Öl.
Später spritzte ich ihr Schmerzmittel und Schlafmittel. Als sie
endlich schlaff und bewusstlos vor mir lag, versuchte ich den
immer noch harten Faden mit dem Skalpell aufzuschneiden, doch
die Verwachsungen und Wucherungen waren so enorm, das Licht
so schlecht, dass ich zeitweise kaum etwas sah.
Ich musste auch die Haut verletzten, es kam zu Blutungen, sie
schreckte auf, bewegte sich, schrie auf, versuchte sich
übermenschlich zu beherrschen, wimmerte, wusste noch immer
nicht, dass ich sie behandelte. Sie dachte bestimmt, ich würde sie
nur für den Geschlechtsakt präparieren.
239
Als ich endlich fertig war, die Öffnung vorsichtig zu dehnen
versuchte, quollen schwarze Klumpen, hellrotes Blut und alter
stinkender Schleim durcheinander aus ihr heraus. Ich dachte, es
würde nie aufhören. Im selben Maße wie sie diese Flüssigkeiten
verlor, wurde der Bauch weicher, ließen die Schmerzen nach.
Ihr Körper lockerte sich, wurde fast schlaff, und schließlich
schlief nicht nur sie, sondern auch ich vor Glück und Erschöpfung
ein.
Sie litt sogar unter einer ganz akuten Entzündung, damals hatte
ich noch keine Ahnung von diesen Dingen, denn die Frauen, die
mir bisher hier im Dschungel untergekommen waren, hatten mich
nicht deswegen kontaktiert, obwohl ich natürlich wusste, also
gelernt hatte, dass man damit konfrontiert werden würde. Und es
hatte wohl auch welche gegeben, die nicht beschnitten oder
wenigstens nicht wieder zugenäht worden waren.
Da ich bisher kaum mit Frauenheilkunde in der Praxis zu tun
gehabt hatte, war ich zunächst total schockiert, vor allem über
das Ausmaß der Verstümmelung, über die Endgültigkeit, die
Brutalität, und vor allem, weil es sich nicht um Geburtsschäden
handelte, die notdürftig oder falsch versorgt worden waren,
sondern um absichtlich zugefügte, oft wiederholte und irreversible
Verletzungen.
Am anderen Morgen lag der ganze Haufen noch immer da,
übersät von Fliegen und Ungeziefer aller Art. Ich erschrak
darüber, denn es war gefährlich, ich hatte etwas Wesentliches
vergessen gehabt, wohl kurz daran gedacht, noch im Schutz der
Nacht alles fortzuschaffen, zu vergraben, doch die Müdigkeit war
stärker gewesen. Es stank bereits bestialisch, so schnell und so tief
es ging, vergrub ich alles nicht weit von der Hütte.
Von nun an kam sie jeden Abend, wollte sich mir hingeben, sich
opfern, sich bedanken, ihren Auftrag erfüllen. Doch wir lagen nur
nebeneinander. Sie war, glaube ich, schrecklich in mich verliebt.
Mit der Zeit schickte sie mir ihre Freundinnen, ich sollte auch sie
aufschneiden.
240
So arbeitete ich nicht nur tagsüber im Dorf, sondern auch nachts
bei mir daheim in meiner Hütte. Ich brauchte kaum Schlaf, war so
beschäftigt und befriedigt von diesen Operationen und dem
Gelingen, dass ich mir wirklich ganz nützlich vorkam.
Der Häuptling hatte keine Ahnung davon, dachte wohl, ich würde
außerordentlichen Gefallen an den Frauen seines Stammes
gefunden haben, fühlte sich geschmeichelt, zwinkerte mir
kumpelhaft zu, wenn ich ihm über den Weg lief, machte eindeutige
Gesten.
Nie habe ich Beschwerden oder Reklamationen bekommen. Da die
Beschneiderinnen und die maßgeblichen Weiber offensichtlich
nichts davon wussten und die Männer im allgemeinen nicht hinter
diesen Genitalverstümmelungen standen, sondern Frauensache
waren, gab es wenigstens in diesem Dorf und für eine bestimmte
Zeit eine Erleichterung, zumindest für die ganz jungen Mädchen.
Es war jeden Abend dasselbe.
Wieder kam das erste Mädchen, das man inzwischen als geheilt
betrachten konnte.
Ich fing bald an, ihre Liebkosungen zu genießen, sie war
wunderschön, eine von den vielen Töchtern des Häuptlings, ein
besonderes Geschenk, eine Braut, eine Danksagung für meine
Arbeit, eine Ehrengabe.
Doch ich konnte sie nicht annehmen wegen Silvia, wegen meiner
eigenen kleinen Tochter, ich hätte es als Vergehen empfunden, als
Verrat, als Barbarei, nicht nur, weil das eingeborene Mädchen
beschnitten war, sondern auch, weil mir das Verlangen fehlte.
Wir lagen jede Nacht beieinander, ich erzählte ihr auf schwedisch
meine Geschichte, bis sie einschlief, ich weinte, während sie mich
liebkoste, sie verstand mich nicht und verstand mich doch.
Jeden Morgen schlüpfte sie aus meiner Hütte, man beobachtete
uns, war der Meinung, es stünde alles in ihrem Sinn zum Besten.
Für das Dorf, die Angehörigen galten wir als Paar, als Mann und
Frau.
241
Damals rechnete ich mein Unvermögen noch meiner Trauer zu,
erklärte es mir damit, dass nicht genug Zeit vergangen sei, es
eines Tages wiederkommen würde.
Es musste jetzt nicht sein, es schien mir normal, im Moment mit
keiner Frau schlafen zu können oder zu wollen, noch dazu mit
einem armen beschnittenen Mädchen, das überdies viel zu jung
war. Es war mir nach unseren Gesetzen wie meinem Gewissen
verboten, sie anzurühren, selbst wenn ich gewollt oder gekonnt
hätte, nicht aber nach den Gepflogenheiten der afrikanischen
Tradition.
In der letzten Nacht vor meinem Weggang weinten wir beide, sie
ahnte, dass ich sie nicht mitnehmen würde, sie keineswegs als
meine Frau akzeptiert hatte.
In den frühen Morgenstunden verließ ich mit dem Jeep das Dorf.
Wie alle anderen, stand auch sie da und schaute mir nach.
Das ist Afrika, voller Herzlichkeit und Verständnis, aber auch
dunkel und schwer.
Afrika hat mir alles gegeben, und Afrika hat mir alles genommen,
sage ich immer.
Was ich wirklich kann, verdanke ich diesem Kontinent, der mit
keinem anderen vergleichbar ist. Tief und schwarz, leicht und hell,
voller Liebe wie voller Hass, in nichts ist er lau, sondern immer
absolut. Eindeutig im Ausdruck, eindeutig im Eindruck.
Nie habe ich erlebt, dass ich nicht wusste, worum es ging, man
stand mir freundlich oder feindlich gegenüber, nicht misstrauisch
wie bei uns. Niemand fragt, woher du kommst, wer du bist. Es
zählt nur der Augenblick.
Die Ursprünglichkeit, die Ehrlichkeit, die Reinheit der Tugenden,
das Gespür für Gefühle, das einfache Menschliche, das nicht
zugedeckt wird von irgendwelchen Abstandhaltern, die in Europa
überall angebracht werden. Es ist egal, ob du Arzt bist oder Jäger,
denn das allein sagt nichts aus über dich.
Ein Häuptling oder sonst ein kluger Mann wird dir mit derselben
Sicherheit gegenübertreten wie anderswo ein Staatsanwalt.......... .
242
Die Geschichte auf der Parkbank in Wien verlor sich im
Uferlosen.
Nach und nach, noch in Afrika, war Alexander klar geworden,
dass mit ihm etwas geschehen war, was er nicht in den Griff
bekam.
Zwar gefielen ihm die Frauen nach wie vor, doch bekam er keine
Erektionen mehr.
Vielleicht, ja bestimmt, würde er sich eines Tages in Schweden
behandeln lassen, dort gab es Spezialisten für so gut wie alles.
Seine Sorge hielt sich in Grenzen. Es war nicht wichtig jetzt.
So konzentrierte er sich immer versessener auf seine Tätigkeit als
Arzt, war nun in der Lage zu forschen, ohne sich einer Frau
gegenüber für seine Abwesenheit rechtfertigen zu müssen oder
dem Vorwurf, ein schlechter Vater zu sein, gegenüberzustehen.
Für eine Familie mit Haus & Hund & Pony würde später noch
genug Zeit sein, so dachte er.
Fürs erste fing er langsam an, seine Freiheit zu erkennen; zu
genießen, wäre zu viel gesagt gewesen, aber es folgte für einige
Jahre eine ganz persönliche Sorgenlosigkeit.
Er stand unter keinem Druck mehr, niemand machte ihm
Vorhaltungen, wenn er abends nicht seinen Mann stand, sich nach
tausend Überlegungen & Gedanken einfach zur Seite drehte und
einschlief.
Zum ersten Mal war er wirklich frei von allem, keine Prüfungen
mehr, keine Verantwortung, keine Rechtfertigungen im privaten
Leben, in Dingen, die er jetzt als unkalkulierbar ansah. Es war
ihm so schwer gefallen, ein guter Ehemann zu sein, denn wie
jeder Mensch, hatte er sich gefreut auf die Liebe, die Ehe, das
erste Kind, das zweite Kind, das dritte, genau wie einst sein Vater,
hatte all den Aufregungen zuversichtlich entgegengesehen, sich
nach einer Familie gesehnt, gemeint, es gäbe nichts Schöneres,
nichts Leichteres als dies.
Doch war alles anders gekommen, vorüber gegangen wie ein
243
Traum beinah, und über weite Strecken war es ein Alptraum
gewesen.
Das Schwere, so schien es, lag hinter ihm, ab jetzt würde er in
Ruhe nach der Zeit der Trauer und des Schmerzes tun können,
was er immer gewollt hatte und was mit Silvia, so sehr er sie noch
immer liebte, so sehr sie ihm fehlte, doch unmöglich gewesen
war, dies wenigstens wusste er jetzt.
Für sie war er vor allem ihr Mann, ihr Geliebter gewesen, nicht
Arzt oder Forscher, was interessierte sie das!
Um Kinder zu haben, braucht man schließlich einen Mann, nicht
einen Mediziner, denn das alles kannte sie zur Genüge von ihrem
Vater, der auch erst Zeit für ihre Mutter gefunden hatte, als es zu
spät war. Dies war es wohl, was sie immer vor Augen hatte, das
schwere Sterben ihrer Mutter, der tragische Abschied ihrer Eltern
voneinander, das Zugrundegehen dieser kleinen Familie.
Die Ehe ihrer Eltern war harmonisch und vernünftig gewesen,
doch dann kam die Krankheit der Mutter, durch welche sie
beendet wurde.
Die wenige verbleibende Zeit nach der reichlich spät gestellten
Krebsdiagnose, die damals noch das Todesurteil bedeutete, war in
der Tat außergewöhnlich gewesen, auch für Silvia, sodass sie
zeitweise ganz darauf vergaß, worin der Grund für ihr plötzliches
abwechslungsreiches Leben lag. Es hatte ihrer Mutter nichts
genützt, mit einem Arzt verheiratet zu sein.
Für Silvia war also ein Doktor nicht etwas schier Unvorstellbares
wie für die anderen Schwesternschülerinnen, von denen sich eine
jede die Finger nach Alexander abgeschleckt hätte.
Sie war ehrlich vernarrt in ihn gewesen, unreif, ungestüm, doch
nicht wegen seines Berufes, sondern weil er ihr als junger Mann
gefiel und weil er besonders war. Wie sonst hätte er sich mit einer
Landpomeranze wie sie eine war, eingelassen, er war nicht so
hochmütig & arrogant wie die meisten Ärzte, die es für
gewöhnlich genossen, wenn ihnen die Schwesternschülerinnen
aus der Hand fraßen, sie bewunderten und zu jedem Tingeltangel
244
mehr als bereit waren.
Die Aura, die von Alexander ausging, zog sie an, seine Stille, sein
Lächeln, sein Ernst, die besondere Innigkeit, bei allem, was er tat.
Nie war er anmaßend oder herablassend, etwas, was sie von
seinen Kollegen zur Genüge kannte. Er genehmigte sich keine
Unhöflichkeiten, keine Launen, keine Schlampereien, er nahm
alles & jeden ernst, gab sich bescheiden, zurückhaltend, geduldig.
Das Leiden von Silvias Mutter war immer schlimmer geworden,
die Schmerzen ließen sich bald nicht mehr beherrschen, und als
Mädchen erlebte sie die Bitternis, mit der ihre Mutter die
Krankheit ertrug. Wie sie sich dagegen wehrte, sie verleugnete, sie
hasste, Gott anklagte, Ihn beschimpfte, weinte & schrie, dass es
die Toten am Friedhof rühren musste!
Doch Gott und die Toten hörten sie nicht, sie wurden nicht gerührt
vom Schmerz eines einzelnen Menschen, sie musste erfahren, was
es hieß, ohne Hilfe, ohne Linderung zu sein, nicht zu sterben,
sondern leidend zu Ende zu leben. Als Mädchen schon erkannte
Silvia, wie die Natur ohne Erbarmen war, gegenüber Kindern
sogar. Das Gejammer, das Mitleid, die Gleichgültigkeit der
Umgebung war nichts als Hilflosigkeit, die Krankheit erwies sich
als immer stärker, je mehr man sie bekämpfte.
Der Tod selbst ließ sich Zeit, als wollte er wieder & wieder
gebeten werden, als müsste er täglich quasi neu überlegen, um
sich dann eines anderen Sterbenden zu besinnen und just dorthin
zu eilen.
Nein, Silvia hatte sich auf & über Alexander gefreut seit der ersten
Stunde, dem ersten Blick beinah, immer & immer & immer
wieder.
Sie war, wie er später erzählen sollte, entsetzlich in ihn verliebt
gewesen, so was von auf der Stelle verknallt, dass er fast darüber
erschrocken war.
Schließlich lag es nach jenem fatalen Fehler von Silvia, der sie &
245
Alexander zusammengeführt hatte, nicht gerade auf seiner Linie,
sie darüber hinweg zu trösten. Niemand konnte sich an einen
solchen oder auch nur ähnlichen Vorfall erinnern, denn in diesem
altehrwürdigen Krankenhaus gab es wohl seit Menschengedenken
keine Schwesternschülerin, die einen Patienten auf dem Gewissen
hatte.
Alexander war genug damit beschäftigt, selbst alles richtig zu
machen, sich einzuarbeiten, nach den Jahren an der Universität
das Theoretische mit dem Praktischen in Übereinstimmung zu
bringen.
Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine hysterische
Schwesternschülerin, welche sich ihn als Retter ausersah.
Obwohl sie ihm sofort gefallen hatte, bereits beim ersten
Zusammentreffen, da sie ihm entgegengestürzt war, brauchte er
doch wenigstens ein bisschen Zeit, schließlich hatte er nicht jetzt
und nicht auf so tragische Weise damit gerechnet.
Am Anfang war sie die treibende Kraft ihrer Liebe gewesen, hatte
die Initiative ergriffen, ihn immer wieder um ein Treffen gebeten,
ihn angerufen, eingeladen. Bald lernte er sie besser kennen, und
sie hatten etwas gemeinsam, wie er, hatte auch sie keine Mutter
mehr.
Zwar nicht von Anfang an mutterlos aufgewachsen wie Alexander,
hatte sie doch die Mutter zu einem Zeitpunkt verloren, als sie sie
am meisten gebraucht hätte und deren langes, schweres Sterben
bewusst erleben müssen.
Dies war es gewesen, was ihn als erstes aufhorchen ließ, ja, seine
Sicht auf dieses Mädchen vollkommen veränderte, und so hatte
alles begonnen.
Durch seine Herkunft war Alexander besser gestellt als seine
Kollegen, konnte wie einst sein Vater Rahel jetzt Silvia
beeindrucken, auch wenn er noch keine Ahnung von seinem
tatsächlichen Reichtum hatte.
Sein Vater kam kein einziges Mal nach Stockholm, ohne ihm extra
Geld zu geben, mit ihm etwas Besonderes zu unternehmen, ihn
246
außergewöhnlichen Leuten & Frauen vorzustellen, ein paar Tage
in den Süden zu entführen, mit ihm, wie früher, ein Wochenende
auf dem Land zu verbringen.
Einmal stand er mit einem neuen Buick vor dem Krankenhaus,
fuchtelte mit den Schlüsseln, hatte sich wie ein junger Hund
darauf gefreut, seinen Sohn mit diesem Geschenk zu überraschen,
Alexander war es mehr als peinlich gewesen, doch Silvia hatte es
genossen.
Je genauer er ihre Vergangenheit kennenlernte, um so mehr
verstand er sie, umso mehr begann er sie zu lieben.
Sein Vater war durchaus kein komplizierter Mensch, es war ihm
egal, dass Alexander sich keine von den feinen Damen ausgesucht
hatte, sondern ein schwedisches Mädchen vom Land, eine
Krankenschwester, was war daran verkehrt?
Schnurstracks verkündete er es Rahel.
Hör zu, konnte er sagen, Alexander, unser Alexander, stell’ dir vor,
hat ein Mädchen! Was hältst du davon?
Viel später sollte Alexander erfahren, dass sein Vater ständig mit
seiner toten Mutter redete, keinen Schritt ohne ihren Rat, ihre
Zustimmung unternahm.
So hatte er denn nichts Eiligeres zu tun gehabt, als heim zu rennen
und sie zu informieren.
Diese hatte gelächelt und es für gut befunden, Grund genug für
ihn, es zu akzeptieren, nicht er entschied schließlich darüber,
sondern sie, Alexanders Mutter im Jenseits.
Als Alexander eines Tages, nachdem er die ärztliche Approbation
erhalten hatte, seinen Vater davon unterrichtete, dass er Silvia
heiraten wolle, war dieser nicht sonderlich überrascht, längst hatte
er mit Rahel alles besprochen, und sie war ja auch einverstanden
gewesen. Auch schien es seinem Vater angebracht, es war für ihn
undenkbar, dass sein Sohn mit einem Mädchen ausging, ohne es
zu heiraten.
247
Ja, ja, konnte er sagen, das wissen wir, geht in Ordnung.
Er, der Vater des Bräutigams, würde sich um die
Hochzeitsvorbereitungen kümmern, Alexander sollte sich ganz
auf seine zukünftige Frau konzentrieren, mit ihrem Vater Kontakt
aufnehmen, sich einen Termin geben lassen, ihn aufsuchen, in
aller Schicklichkeit um ihre Hand anhalten, das andere konnte er
seine Sorge sein lassen.
***
X
Silvias & Alexanders Hochzeit
Alexander fuhr also mit Silvia in den Norden, um in aller Form
um ihre Hand anzuhalten.
Der Zustand dieses alten Mannes, der Silvias Vater war, irritierte
ihn allerdings, denn der reagierte bestürzt & verständnislos.
Schon, als sie ankamen, benahm er sich eigenartig.
Misstrauisch, als handelte es sich eventuell um einen Überfall,
spähte er zur Tür heraus, die er nur einen winzigen Spalt öffnete,
obwohl seine Tochter draußen stand.
Wen hast du da mitgebracht? fragte er, als sei er total ahnungslos.
Aber, Papa, ich habe dir doch geschrieben, ich komme mit
Alexander, meinem Verlobten.
Deinem Verlobten!, mich hat jedenfalls kein Mensch gefragt.
Glaubst du, du kannst mich vor vollendete Tatsachen stellen, oder
was?
Papi, hör zu, wir sind weit gefahren, es geht um unsere, um meine
Zukunft, ich liebe Alexander, und ich möchte, dass du mir
erlaubst, ihn zu heiraten. Er ist Arzt, genau wie du, er ist ein
lieber Mensch, er meint es ernst, bitte, sei so gut, mach’ die Tür
auf, damit wir hineinkommen können.
248
Jahre bist du nicht hier gewesen, hast dich nicht um mich
gekümmert, und jetzt soll ich auf einmal alles erlauben.
Er ließ sie endlich herein, schlurfte vor ihnen ins Wohnzimmer,
setzte sich in seinen Ohrensessel und machte Anstalten, seine
Zeitung weiter zu lesen.
Silvia verdrehte Alexander gegenüber die Augen und sprach ihm
leise Mut zu.
Wissen Sie, Silvia ist ohne Mutter aufgewachsen, fing er an, sie
hat viel mitgemacht, ich gebe sie nicht jedem Dahergelaufenen,
und ich bin dadurch auch nicht einfacher geworden.
Die wirre Rede von Silvias Vater beeindruckte Alexander, er
versuchte daher rasch & engagiert, seine Sicht der Dinge
darzulegen, erklärte ihm, dass er Bescheid wisse, erzählte davon
wie auch er ohne Mutter aufgewachsen ist, er & Silvia sich
liebten, wie sie sich kennengelernt und vieles gemeinsam hatten,
sogar die mutterlose Kindheit und, und, und … .
Doch er hatte den Alten unterschätzt, dieser ließ ihn nicht einmal
ausreden, fiel ihm ständig ins Wort, schien, sich darauf vorbereitet
oder spezialisiert zu haben, Alexander schachmatt zu setzen.
Silvia hatte sehr wohl befürchtet, dass ihr Vater so und nicht
anders kontern würde, doch hatte sie auf Alexanders Geschick
vertraut, nicht von vornherein die Sache verkomplizieren wollen
und jeden Gedanken an einen schlechten Verlauf dieses Gesprächs
bewusst wie unbewusst, weit von sich geschoben.
Absichtlich hatte sie Alexander im Unklaren über die schwierige
Art ihres Vaters gelassen, Angst gehabt, ihn im letzten Moment zu
verschrecken, vielleicht sogar zu verlieren.
Alexander verfügte durch den nachgiebigen & sentimentalen
Charakter seines Vater über keine Vorstellung von anderen Vätern.
Es gab eine richtige, sogar ins Weltanschauliche gehende
249
Auseinandersetzung zwischen Silvias Vater und Silvias
zukünftigem Ehemann, doch Alexander ging als Sieger hervor.
Nicht dass es ihm leicht gefallen wäre, diesen alten Herrn zu
übertrumpfen, aber manchmal, so dachte er, muss man Menschen
vor Tatsachen stellen, die sich zwar in ihrer Phantasie, nicht aber
in Wirklichkeit verleugnen lassen.
Nun erinnerte er sich, dass auch er seinen Vater einmal in aller
Unerbittlichkeit, deren Väter offenbar fähig sein können, erleben
durfte.
Es lag weit zurück, nun ja, so weit auch wieder nicht.
In der Zeit, als er in Stockholm die ersten Jahre Medizin studierte,
wohnte er in einer überaus hübschen Studentenwohnung, die sein
Vater ihm ausgesucht, eingerichtet und natürlich bezahlt hatte.
Doch wie es oft ist, wenn man sich in Sicherheit wiegt, passiert
ein Unglück.
Es kam soweit, dass Alexander in irgendeiner Weise die Sache mit
der Sexualität ergründen wollte. Immerhin war man etwa zwanzig
Jahre alt, und kein Mensch kam damals auf die Idee, einem damit
zu helfen.
In jenen Tagen war es durchaus nicht selbstverständlich, mit
einem Mädchen auf den Punkt zu kommen, schon gar nicht
einfach, und doch musste ein jeder sozusagen auf eigene Faust
irgendwann, irgendwo & irgendwie, mehr oder weniger heimlich,
mehr oder weniger offensichtlich, seine Erfahrungen sammeln.
Ein Studienkollege hatte ihm von einem Bordell in Södermalm
erzählt, einem, damals als heruntergekommen geltenden Stadtteil
von Stockholm, wo man anscheinend günstig auf seine Kosten
kam.
Nicht dass Alexander Probleme mit Geld gehabt hätte, sein Vater
ließ ihn nie schlecht ausgestattet zurück, im Gegenteil, er verfügte
über ein eigenes Konto, konnte sich so gut wie alles leisten,
schöpfte kein einziges Mal seine finanziellen Möglichkeiten
wirklich aus.
250
Während seine Studienkameraden sich ständig in diesbezüglichen
Nöten befanden, kannte Alexander solche Ängste nicht.
Nicht dass es vollkommen egal gewesen wäre, ab & zu fragte sein
Vater sogar nach einem bestimmten überwiesenen Betrag, denn er
legte Wert darauf, seinen Sohn weder Not noch Überfluss spüren
zu lassen, sondern ihm ein angenehmes Leben zu bieten. Doch
dieser fühlte sich reich beschenkt, kannte ja die anderen, wie sie
immer fretten & rechnen mussten, in Schulden & Geschäften
steckten, die ihm erspart blieben. Alexanders Vater war, obwohl er
dachte, seinem Sohn gegenüber sparsam & normal zu sein, doch
überaus großzügig.
In seinen Augen wurde beileibe nicht alles gekauft, Ausgaben
aller Art gut überlegt, und Alexander wusste ohnehin nichts über
den tatsächlichen Reichtum seines Vaters, zwar, dass er, wie es
aussah, hin & wieder gute Geschäfte machte, doch man lebte
äußerlich nicht über die Verhältnisse, fügte sich ein in das
allgemeine Bild, passte sich an, fiel nicht auf. Dies war sowohl die
skandinavische wie auch die persönliche Lebensart des alten
Herrn Sommerfeld.
Lieber untertrieb man in gewissen Dingen, gab sich gediegen,
aber unaufdringlich, protzte nicht, trug den Pelz, als Pelzhändler
sogar, nach innen gewendet. Wünsche wurden zwar nicht
abgeschlagen, doch genau besprochen, am Ende bewilligt. Sein
Vater wollte über seines Sohnes Angelegenheiten Bescheid
wissen, beschäftigte sich gerne mit Kleinigkeiten, sah sich ja
gerne als Vater & Mutter in einem.
Der Erwerb einer Füllfeder etwa, einer neuen Schultasche waren
ihm wichtig, darüber wurden längere Briefe geschrieben, als
Alexander noch kleiner war.
Herr Sommerfeld brachte immer besondere Stücke von allem mit,
machte sich extra auf die Reise in die Ortschaft, zur Familie, wo
sein Sohn sich gerade aufhielt, erachtete keine Frage, kein
Bedürfnis als zu gering, um sich damit zu befassen.
Allerdings beim besten Willen unvorstellbar für Alexander, auf
251
irgendein Verständnis des Vaters für seinen plötzlichen &
persönlichen Gusto auf Sex zu stoßen, womit er ganz richtig lag.
Jede Frage darüber erübrigte sich. Unausdenkbar, ihm dieses
Interesse zu erklären, alles, alles, nur nicht das. Darüber konnte er
seinen Vater nicht informieren, es musste also heimlich
geschehen, so viel stand fest. Herr Sommerfeld war für Alexander
wie Gott der Herr, in diesen Dingen.
Er würde, so dachte er, wohl einen Teil des Monatsgeldes das eine
oder andere Mal dafür aufwenden müssen, vielleicht anderswo
etwas einsparen. Mal sehen, was es kostete und ob es ihm gefiel.
So ging Alexander eines Abends mit schlechtem Gewissen zwar,
aber entschlossen, in jenes sogenannte Freudenhaus, das der
schlaue Kollege, ihm genannt hatte.
Doch, oh‘ weh, es stellt sich anders heraus, schon die erste Station
ist eine schier unüberwindliche Hürde für ihn.
Die Mamsell, die gleich hinter dem Eingang am Tresen thront,
grinst ihn frivol an, bewegt unanständig ihre Zunge hin & her,
schnalzt & zischt, nimmt ihn genau unter die Lupe. Ihren
übermächtigen Busen hat sie gut sichtbar vor sich auf dem Tisch
ausgebreitet, nur ein feines Netz liegt darüber.
Das erste Mal, Herzchen?
Ja.
Alexander wird rot, schlägt die Augen nieder, wäre am liebsten
wieder umgedreht, ach, hätte er doch nie mit diesem
Etablissement Kontakt aufgenommen, seinen Kopf durch diese
Tür gesteckt! Im diesem Augenblick wollte er nichts lieber, als
alles rückgängig machen, aus diesem unangenehmen Traum
aufwachen.
Entschuldigung, stammelte er, Entschuldigung, ich, ich, es tut mir
leid, ich, ich muss gehen .... .
252
Das muss dir doch nicht leid tun, es ist normal, ich habe lauter
hübsche, junge, äußerst interessante Mädchen hier, die sich gut
darauf verstehen.........
Trotzdem, ich, ich.......... . Mein Vater darf es nicht wissen, wenn er
es erfährt, weiß ich nicht, was geschieht.
Ach, dein Vater! Um Himmels Willen, er wird es nicht erfahren,
das verspreche ich dir!
Väter sind auch nur Männer, oder warum glaubst du, dass es dich
gibt?
Ja, schon, aber............ .
Alle Männer wollen immer nur ein- und dasselbe. Und wenn man
hier in diesem Haus etwas weiß, dann dies, glaub’ mir!
Sie lachte aus vollem Halse.
Und obwohl sie nicht eine Frau wie seine Mutter war, musste
doch auch Rahel darüber Bescheid gewusst haben, als sie mit
seinem Vater, ohne mit ihm verheiratet zu sein, ins Bett gegangen
war.
Über den Unterschied zwischen einer Frau hier und einer wie
seiner Mutter oder seiner zukünftigen Frau, wenn es sie geben
sollte, konnte er momentan keine Klarheit gewinnen.
Sowieso war ihm jede Lust vergangen, am besten, so dachte er,
augenblicklich verschwinden, ach herrje, hätte er doch nie die
Schneid aufgebracht, über diese Schwelle hier zu treten! Was,
zum Teufel, war in ihn gefahren!
Nun stand er da wie ein x-beliebiger, lüsterner Kerl, der er nicht
mehr im geringsten war, konnte weder vor noch zurück.
Die Matrone am Empfang aber geht auf seine Verlegenheit nicht
mehr ein, hat kaum aufgehört, ihre Patiencen zu legen, sich
derweil eine Zigarre in den Mund gestopft, zündet sie jetzt
umständlich an, dreht sie anzüglich zwischen den Lippen, fängt zu
253
paffen an, lacht kräftig & heiser, zeigt ihre goldenen Zähne. Sie
rutscht vom Hocker, betrachtet sich beiläufig im, neben ihr
stehenden, goldgerahmten und bombastisch mit roten &
schwarzen Dessous verzierten Spiegel, verlangt, mir nichts dir
nichts, irgendeine Summe, an die er sich später nicht erinnern
kann, doch folgsam zählt er ihr die Scheine auf den Tisch.
Sie legt sie in eine, bereits prall mit Geld gefüllte Schublade,
verschließt sie mit einem Schlüssel, steckt diesen zwischen ihre
Brüste, macht sich eine Notiz.
Alexander wunderte sich über die, auch hier herrschende, korrekte
Art im Umgang mit Geld. Professionell, denkt er, erstaunlich bei
der Liederlichkeit des Gewerbes. Noch weiß er nicht, dass alle
Geschäfte gleich sind, es keinen Unterschied macht, womit genau
das Geld hereinkommt, ob mit dem Kauf oder Verkauf eines
Pelzes, eines Messgewandes, einer ärztlichen Behandlung oder
einer Dienstleistung wie dieser.
Dann brüllte sie etwas Unverständliches den Gang entlang und
gleichzeitig in den ersten Stock hinauf, deutete ihm, sich um die
Ecke zu verdrücken und auf seinen Aufruf zu warten.
Wie im Warteraum eines Arztes, eines Amtes oder vor einer
Prüfung sollte er sich demnach hinsetzen.
Im Gehen bereits, schaute er sie noch einmal an, sah, wie gut &
perfekt sie geschminkt & gekleidet war. Eine Frau von bestimmt
fünfzig Jahren, die wusste, was sexy war, einen Mann
beeindrucken konnte, allerhand drauf hatte, für sich genommen
einen Wert darstellte und für die Gesellschaft ebenso nötig war
wie etwa eine Krankenschwester oder ein Kindermädchen.
Als er um die Kurve kam, traute er seinen Augen nicht.
Da saßen im Schein roter Laternen lauter Gestalten, die eines
gemeinsam hatten, sie machten einen rohen, primitiven Eindruck,
und es waren Männer. Die Beleuchtung wirkte eher wie eine
Verdunklung, sie sollte die Gesichter der Kunden verfremden,
verstecken, aber auch etwas zwischen erotischer Stimmung &
Barmherzigkeit erzeugen. Schließlich wollte keiner später vom
254
anderen deutlich erkannt werden können.
Schmutzige Witze drehten ihre Runde. Übertriebenes Gelächter.
Bestimmt, so dachte Alexander, waren auch sie verlegen, suchten
ihre Scham zu verscheuchen, locker & groß zu tun, obwohl es
ihnen tierisch ernst war, so ernst, dass sie Geld dafür bezahlt
hatten, welches bestimmt nicht leicht verdient war für Leute wie
sie, Geld auch, das sie notwendig für etwas anderes gebraucht
hätten, Geld, das irgendwo fehlte, womöglich zu Hause bei Frau
& Kindern. Für andere wiederum gab es hier die einzige Chance,
überhaupt an Sex zu kommen. Manche waren jünger, sahen aus
wie Matrosen oder Holzfäller, sie bekämpften wohl nur ihre
Einsamkeit zwischen zwei Arbeitsblöcken, bevor sie wieder für
Monate oder gar Jahre von der Bildfläche verschwanden. Plötzlich
wandte sich ihm einer zu und nahm ihn in genaueren
Augenschein.
Na, Junge, bist wohl zum ersten Mal hier, was? Das sieht man
doch gleich!
Keine Antwort von Alexander.
Ach so, groß dran, was? Einer von den Besseren, die auch ihre
Bedürfnisse haben, aber nicht erwischt werden wollen?
So ging es geraume Zeit. Alexander war gezwungen, sich ihre
Attacken und Beschreibungen anzuhören, Spott & Gelächter
schütteten sie zurecht über ihn aus. Noch immer hätte er gehen
können, und doch tat er es nicht, dachte wohl, er müsse die Sache
zu Ende bringen. Wieder zu verschwinden, schien ihm im
Augenblick der schwierigere Weg als zu bleiben.
Währenddessen öffneten sich Türen, Männer kamen heraus,
andere drückten sich hinein.
Als Alexander an der Reihe war, sollte er in ein Zimmer gehen,
aus dem gerade ein großer, schwerer Mann gekommen und
hechelnd an ihm vorbei getorkelt war. Noch fingerte dieser an
seinem Hosenschlitz herum, schaute nicht links noch rechts, bog
um die Ecke, dann fiel irgendwo draußen eine Tür ins Schloss.
Er schien auf die Straße getreten zu sein.
255
Erst jetzt merkte Alexander, dass er diesem Mann mit dem Gehör
gefolgt war, ihn noch gesehen hatte, als er bereits seinen Blicken
entschwunden war.
Nach mehrmaliger Aufforderung trat er wie in Trance, bar jedes
Verlangens und mit klopfendem Herzen durch dieselbe Tür.
Dieser Kerl war sein Vorgänger gewesen, so also spielte es sich
ab.
Herein…., herein!…., der Nächste bitte…, hallo……,
haaalllooooo!……her-a-i-n….. .
Was sich ihm jetzt bot, hätte er im Traum nicht für möglich
gehalten, denn er sah im schummrigen Licht ein junges nacktes
Mädchen, das über einer Waschschüssel die Schenkeln spreizte
und sich mit einem Waschlappen wusch.
Der Raum war von dichter, schlechter Luft erfüllt, und wie es
Alexander schien, voller Fetzen & Staub.
Er suchte als erstes ein Fenster, das sich öffnen ließ, doch stellte
sich heraus, dass dieses mehrfach zugehängt war, hinter den
anderen drapierten Stoffen an den Wänden taten sich auch keine
Öffnungen auf, alles schien absichtlich verschlossen zu sein,
sodass er die Orientierung verlor und resignierte.
Was er nun beschämt beobachtete, war das Fräulein, welches
hastig versuchte, sich für ihn bereit zu machen. Es graute ihm,
nichts wollte er weniger als das! Um Gottes Willen, wo war er
hingeraten? Was tat er? Was war das für eine Welt?
Jetzt trat sie ans Bett, ohne ihn anzuschauen, begutachtete das
Leintuch, zog es weg, holte ein anderes aus der einzigen
Kommode, warf das alte auf den Boden, breitete das frische
Laken auf der Matratze aus, drehte sich um, sah ihn zum ersten
Mal an.
Ein trauriges erloschenes Gesicht, das sich dennoch bemühte,
einen freundlichen, aufmunternden Eindruck zu machen.
Wie im Zirkus, dachte Alexander, die Traurigkeit eines Clowns,
dem nach nichts weniger zumute ist als nach Lachen und es doch
vortäuschen muss.
256
Na, komm’ schon, was glotzst du so? Hast du vergessen, für was
du gekommen bist und bezahlt hast?
Sie legte sich rasch aufs Bett, öffnete ihre Beine und winkte ihn zu
sich heran. Wahrscheinlich wollte sie so schnell wie möglich mit
ihm fertig werden.
Sie trug ein schmuddeliges, unten offenes Mieder, Strümpfe,
Strapse, Stöckelschuhe, Dinge eben, die erregend wirken sollten,
doch für Alexander waren sie im Augenblick das reine Elend.
Er hätte ein Unmensch sein müssen oder eine andere
Vergangenheit haben, um eine Einladung wie diese, so
selbstverständlich sie für den Moment war, anzunehmen.
Es wurde jene Nacht, in der er die Lebensgeschichte eines
Mädchens erfuhr, das in einem Haus wie diesem gelandet war.
Er setzte sich auf die Bettkante, streichelte ihr Gesicht. Sie war
jünger als er, und als er dies gewahrte, überkam ihn das Grauen.
Stammelnd begann er schließlich:
Ich heiße Alexander……… Ich studiere Medizin……… Ich, ich
will das hier nicht, ich………. konnte mir nicht vorstellen, dass es
so sein würde, ……….. dass es so etwas gibt,……………. verstehst
du?
Ja, nein. Ich kenne nichts anderes, kenne keine Männer wie dich.
Ich wollte wissen, wie es ist, mit einer Frau zu schlafen, aber
jetzt...... jetzt will ich es nicht mehr, ich will es nicht tun, und ich
will es nicht wissen.
Das macht doch nichts, du musst kein schlechtes Gewissen haben,
ich bin dafür da, es macht mir nichts aus, es ist schön für mich,
einmal mit einem guten Menschen .......weil, weil, die anderen sind
nicht so, sie schauen mich nicht an, es ist ihnen egal, wie ich
aussehe, ich bin für sie nichts als ein Loch, eine Hure, nichts,
niemand.
257
Ich bin kein guter Mensch.
Doch. Das sieht man. Und du kommst aus einem reichen Haus.
Du bist gebildet. Das hier ist nichts für dich. Es gibt bessere Puffs,
wo Leute wie du hingehen. Das hier ist eine Erniedrigung für
dich.
Hierher kommen Männer, die kein Geld haben, die aus den
gleichen Verhältnissen kommen wie die Mädchen hier.
Alexander schlug die Augen nieder, rührte sie nicht an, schwieg.
So begann sie schließlich zu erzählen. Wie ihr Vater, ein Säufer &
Hurenbock, sie verspielt hatte, als sie ganze dreizehn Jahre alt
gewesen war, dass sie noch neun Geschwister hatte… .
An jenem Abend vor Jahren war sie ihn wieder suchen gegangen,
holen aus einem Wirtshaus, wo er das Geld, welches er an diesem
Tag vom Wohlfahrtsamt abgeholt hatte, anstatt es heim zu
bringen, ausgab, verprasste, so wie er es schon oft getan hatte.
Den ganzen Tag hatten die Mutter & sie gewartet, vergeblich wie
immer, denn es fiel ihm nicht ein, wofür man das Geld, wenn man
zehn Kinder hatte, brauchen könnte.
Als sie ihn endlich fand, war er längst pleite und dachte nicht
daran, mit dem Kartenspielen aufzuhören. Wieder einmal hatte er
sich zugesoffen, war längst nicht mehr bei Verstand, jähzornig,
aggressiv, fühlte sich in die Enge getrieben, konnte nicht vor und
nicht mehr zurück.
Da kam ihm das Mädchen, die Lästwanze, wie er sie oft nannte,
die ihm seine Alte ständig hinterhergeschickte, gerade recht.
Seine Augen begannen plötzlich zu leuchten, so als wäre ihm die
Idee seines Lebens gekommen.
Betrunkene haben zuweilen großartige Einfälle, solche, die ihnen
wie die letztendliche Erleuchtung erscheinen. Er kniff die Augen
zusammen, begann durch alles hindurchzuschauen, ein Licht zu
sehen, das ihm dort drüben am Ende der Gaststube Rettung
versprach. Zutraulich ging sie indes zu ihrem Vater, es war
258
schließlich nicht das erste Mal, dass sie ihn holte, endlich
gefunden hatte, um ihn sicher heimzubringen.
Mein neuer Einsatz!, krächzte er, und niemand wusste zunächst,
was er meinte.
Doch am Ende gab es keinen Zweifel mehr. Er bot, um seinen
Kopf aus der Schlinge zu ziehen, seine eigene Tochter an.
Södermalm war damals ein armes Viertel. Wer dort wohnte,
gehörte zu den untersten Schichten der Gesellschaft, man könnte
sagen, zu den Ausgestoßenen.
Hier lebte man einerseits von der Hand in den Mund, von
Almosen & Sozialhilfe, andererseits von Alkohol, Glücksspiel,
Prostitution.
Da gab es Kneipen, die davon existierten, dass die Arbeiter und
sogar die Arbeitslosen ihr mageres Einkommen in Schnäpse
umsetzten, den Gewinn pfeilgerade in die Freudenhäuser trugen,
ihr Glück mit Karten & Würfeln versuchten, sich selbst für so gut
wie alles feilboten, der uralte Teufelskreis eben, aus dem sich,
einmal hineingeraten, kein Ausweg mehr fand.
Tagtäglich, nachtnächtlich ereigneten sich grausige Szenen in den
Lokalen, auf offener Straße, hinter privaten Fensterscheiben,
Vorkommnisse, die sich niemand außerhalb dieses Quartiers
vorstellen wollte.
Alexander hörte zum ersten Mal Dinge, die er kaum glauben
konnte. War es denn möglich, dass es mitten in Schweden, in der
Hauptstadt, nicht weit entfernt von seiner Wohnung, so etwas
gab?
Wo hatte er bisher gelebt? Wie behütet bei aller Unbehütetheit und
wie unwissend bei allem Wissen war er bis zu diesem Tag
aufgewachsen? Er verlor den Boden unter den Füßen, wurde von
Scham & Mitleid ergriffen, überwältigt.
Es klopfte an die Tür. Wann man endlich fertig sei? Jemand stand
draußen und hatte nichts Besseres zu fragen, als, wann man denn
fertig sei?
Die Zeit ist längst um!
259
Sauerei so was! Für einmal zahlen und es fürs Doppelte treiben!
Diese Schnösel!
Die glauben wohl, sie sind überall was Höheres!
Und so weiter und so fort! Lauter verschiedene Stimmen, draußen
kochte es, man hatte keinen Verstand für lange Wartezeiten.
Es wurde schon mit den Fäusten gegen die Tür gepumpert, immer
dreister, immer lauter, in immer kürzeren Abständen.
Bin ich vielleicht beim Arzt oder auf dem Sozialamt, wo man für
nichts und wieder nichts, warten muss?
Also so was!
Da riss Alexander die Tür auf, stürzte hinunter zur Dame am
Empfang, legte ihr sein ganzes Geld auf die Budel, wollte bei
diesem Mädchen, das im Begriff war, ihm ihre Lebensgeschichte
zu erzählen, noch ein wenig bleiben, doch die Alte rief ihn frech
zurück, so liefe das hier nicht, es gäbe noch einen Haufen
Kunden, die auf dieses Zimmer abonniert wären, wo käme sie
denn da hin! Sie wolle keinen Aufstand, alle hätten schließlich
bezahlt und Anspruch auf einen gewissen Genuss.
Am Ende löste sich der Knoten irgendwie, jedenfalls schien die
Chefin die meuternden Freier auf andere Mädchen verteilt zu
haben. Alexander sollte vorerst in Ruhe gelassen werden.
Sie hieß Sonja, und er blieb die ganze Nacht bei ihr. Nicht, um mit
ihr zu schlafen, sondern sie reden zu lassen, sie zu liebkosen, zu
trösten, ihre Tränen abzuwischen.
Am Ende gab er ihr seine Adresse, was ihm zum Verhängnis
werden sollte, denn er stellte damit Hilfe in Aussicht, legte sich
selbst an die Leine, lieferte sich aus.
Doch in Wahrheit war es Alexanders goldenes Herz, seine
Empfänglichkeit, sein Blick für das Leid, auch, wenn es später
260
nicht so aussehen sollte.
Ab jetzt ging er regelmäßig nach Södermalm, brachte Geschenke,
zahlte gleich für die ganze Nacht unten bei der strengen Alten, gab
Sonja extra Geld, schlief kein einziges Mal mit ihr.
Seine Wochenenden verbrachte er nun, wie andere auch, im
Freudenhaus.
Wieder & wieder ließ er sich ihre Geschichten erzählen, wollte es
genauer wissen, sie durch seine Anwesenheit schützen vor den
Männern draußen vor der Tür, für die er sich schämte, während er
erfuhr, wie es ihr täglich erging, was sie durchmachte, was sie von
ihr verlangten für Geld, das sie niemals sah.
Natürlich war sie nicht gleich hierher gebracht worden. Es
handelte sich damals, als sie ihren Vater geholt hatte, lediglich um
ein Versprechen, eine gestundete Ehrenschuld!
Und als der Tag kam, an dem die offene Rechnung beglichen
werden sollte, hatten es Vater wie Tochter fast vergessen,
jedenfalls das alkoholgeschädigte Hirn des Mannes, das sich
kaum jemals an etwas Brauchbares erinnerte.
Sonja jedoch nicht, wenn auch nur halb verstanden, halb nicht
geglaubt, war die verschlagene Art, mit der ihr Vater damals ein
Papier unterschrieben hatte, während gleichzeitig ihr Name
gefallen, der sechzehnte Geburtstag zur Sprache gekommen war,
etwas gewesen, was sie seither beschäftigte.
Im Gedächtnis lauerte es, machte ihr Angst, in ihrem Inneren
existierte seitdem ein Ort, an den zurückzukehren sie sich
fürchtete.
Es gab Träume, in denen sie von zu Hause fort musste, heilfroh
war, in der Früh unversehrt aufzuwachen, und doch war sie nach
jenem Abend in der Kneipe kein Kind mehr gewesen.
Die Streitereien zwischen den Eltern verfolgten sie, seit sie auf der
Welt war. Es war etwas zwischen Liebe & Hass, zwischen
nächtlichen Kämpfen & Schwangerschaften, die den Vater nicht
im geringsten interessierten.
Nie hatte sie begreifen können, warum eine Frau, ihre eigene
261
Mutter, mit diesem Mann ins Bett gehen konnte, sich neben ihn
legen und sich bearbeiten lassen.
Wie oft hatte sie dieses Gestöhne & Geheule, das Stoßen &
Pressen gehört, das Quietschen des Bettes, als wolle es jetzt &
jetzt auseinanderbrechen. Wann hörte dies einmal auf, wann
hatten sie genug, wann endlich waren sie einander überdrüssig?
Anscheinend kam diese Stunde nie.
Wozu hatte Sonja ihn denn eigentlich heimgebracht, sich
auslachen & anmachen lassen? Warum war sie durch die Straßen
gelaufen, hatte in die Wirtshausfenster geguckt, ihn ausgespäht
und heimgeführt wie einen kleinen widerspenstigen Jungen?
Diese Eltern brauchten sie, um miteinander leben zu können, ein
Kind, das sie wieder zusammenbrachte, um nichts weiter zu tun,
als sich mit ihrer Begierde neue Sorgen zu fabrizieren.
Weil sie in Wahrheit nichts miteinander anzufangen wussten,
schliefen sie miteinander. Unverständliche, doch offensichtliche
Dinge. Inwieweit ihre Mutter den Vater sexuell ertragen musste
und bis zu welchem Grad sie es selber wollte, ergründete sie nicht.
Am nächsten Morgen dann wieder Geschrei, Streiterei, Geldnot,
die kurze Stille der Nacht, die auf das Geschiebe folgte, war schon
wieder vorüber.
Dies alles und noch viel mehr war jetzt ihr eigenes Leiden
geworden, das sie niemandem offenbarte, nicht einmal der Mutter,
die genug zu ertragen hatte, keine Belastung mehr aushielt.
So war in einer stockfinsteren Winternacht vor einigen Jahren
plötzlich ein Mann vor der Tür gestanden, hatte Einlass begehrt
und ihnen einen, von ihrem Vater unterschriebenen Zettel, auf den
Tisch gelegt, alles zwischen Säuglingsgeplärre, Essensgeruch,
Suppendampf.
Ihre Mutter war ohne jede Ahnung, doch Sonja wusste sofort,
worum es ging. Der Vater, der, wie durch ein Wunder, gerade zu
Hause war, stellte sich blöd. Sein Denken war ja vom Alkohol in
Mitleidenschaft gezogen, seine Erinnerung ohnehin laufend
gestört & unzuverlässig.
262
Sonja aber erkannte den Mann, der ihr seit damals nicht mehr aus
dem Kopf gegangen war. Ein fetter abstoßender Mensch, wie auf
einem Verbrecherfoto aus der Zeitung.
Ihre Stunde schien gekommen, das Unausbleibliche eingetroffen.
Wortlos packte sie ihre Habseligkeiten zusammen und ging mit
dem Fremden.
Das Schlimmste, so sagte sie, war nicht das Mitgehenmüssen,
sondern, dass ihre Eltern dem keinen Einhalt geboten, es
geschehen ließen, ihr nicht einmal nachschauten, nichts zu
verhindern versuchten, sondern mit ihrer eigenen Tochter die
Schulden bezahlten, damit man sie in Ruhe ließ.
Ihrer Mutter, die bereits wieder schwanger war, verzieh sie es
nicht, wie sie sich abwandte, just in dem Moment, da Sonja ein
letztes Mal zurückschaute, ihren Blick als mögliche Rettung, den
Hauch einer Hoffnung suchte.
Später kam ihr in den Sinn, dass ihre Mama sogar froh gewesen
sein könnte, immerhin war eine Esserin weniger, jetzt, wo das
nächste Kind bereits unterwegs war, ihre Eltern niemals aufhörten,
übereinander herzufallen, um neue Säuglinge in die Welt zu
setzen, die sie am Ende nicht ernähren konnten.
Wie oft hatten sie zusammen geweint, wie oft war sie, Sonja,
gegangen, ein weiteres, letztes, allerletztes, wirklich allerallerletztes Mal, den Vater zu suchen, ihn und damit das Geld
heimzubringen, das sie so dringend brauchten.
Wie hatte ihre Mutter sie angebettelt, ihr alles Mögliche &
Unmögliche versprochen, wenn sie nur noch dieses eine Mal ging.
Ihrer Mutter aber fiel jetzt in diesem Schicksalsmoment nichts
Besseres ein, als wegzuschauen. Jetzt hätte sie sich endlich
revanchieren können, etwas vom bisher vergeblich Versprochenen
einlösen, ein Mindestmaß an Loyalität zeigen, Widerstand leisten,
einen Versuch unternehmen, so etwas wie Liebe unter Beweis
stellen, hätte auch einmal kämpfen sollen für etwas, wenigstens
für Sonja, ihre beste Tochter, ihre einzige Stütze, dieses so
besondere Mädchen, auf das andere stolz gewesen wären,
263
während man sich hier von ihr abwandte, die einzigen Menschen,
die sie kannte, die sie kannten, ihr dieses Leben gegeben hatten,
sie ließen sie im Stich.
Es geschah einfach nichts. Es war ihnen alles egal geworden,
einerlei, sie waren am tiefsten Punkt angelangt, wo es keine
Scham und keine Bedenken mehr gibt. Scheinbar war ihre Mutter
schon genauso vergesslich wie der Vater, der längst jede Würde,
jedes Empfinden für Liebe & Leid verloren & versoffen hatte.
Ihre Mutter brachte kein Interesse mehr auf oder war nicht in der
Lage, irgendetwas zu begreifen, hoffnungslos überlastet &
überfordert. Sie ließ sich eins ums andere Mal schwängern, ging
kein einziges Mal selbst in die Kneipen, sondern schickte Sonja,
und das war nun der Dank für all die Jahre, die umsonst geopferte
Kinderzeit. Für eine nicht stattgefundene Kindheit, für kaum einen
Augenblick von Freude oder etwas, das den Namen Glück
verdient hätte. Zu nichts war ihre Mutter selbst bereit gewesen, zu
gar nichts. Auch jetzt fand sie kein gutes Wort, ja überhaupt kein
Wort. Sie ließ es zu, dass man sie abführte, ihre Tochter, wie eine
Verbrecherin.
Der Vater war nichts als ein Lump, der nicht mehr im Stande
war, für eine Flasche Alkohol nicht alles zu tun, der, wenn es sein
musste, seine Familie verriet, aber ihre Mutter, ihre Mutter, der sie
ständig unter die Arme griff, ihr mit den Kleinen, den
Neugeborenen half, für die sie putzen ging, waschen, ihr abnahm,
was sie konnte, ihre Mutter wandte sich jetzt ab, schaute zu
Boden, gab keinen Laut von sich, war ohne Mitleid für Sonja.
Alles, woran Sonja jetzt dachte, war schon Vergangenheit, musste
sie vergessen, zurücklassen, um allein ihren Weg antreten zu
können.
Sogar die kleineren Geschwister weinten, einige plärrten wie
verrückt, versuchten, sie zurück zu halten, sie, die nichts wussten
und doch alles verstanden.
Wie oft dachte sie daran, an diesem Ort, wo sie nun gelandet war,
wie sie wohl alle über die Runden kamen, wie ihre Mutter es
264
schaffte, die Kleinen durchzubringen, an die Sozialhilfe zu
kommen, Essen zu kaufen, eine Suppe zu kochen in diesem
desolaten Haushalt, wie die Tage wohl inzwischen vergingen, ob
sie und was sie getan hatte, schon ganz vergessen war.
Sie besaß doch gar keinen Topf, der mit Sicherheit nicht leck war,
musste Kohlen besorgen, bezahlen. Ihre Mutter hatte nie
einheizen können, nie den Grips und die Geduld aufgebracht, ein
Feuer anzumachen. Sonja konnte es, als sie noch nicht einmal zur
Schule ging.
Gewiss würden sie sich schämen für sie, hätten sie gewusst, wo
sie nun war, obwohl sie daran dachte, ihnen Geld zu schicken,
damit wenigstens die Geschwister ab & zu etwas oder etwas
Besseres zu essen hatten.
Ihre ganze Familie hatte sie seither nicht wieder gesehen.
Zuerst war sie in die riesige Wohnung des Fetten gekommen, hatte
dort im Haushalt, in der Küche gearbeitet, Leute bedient,
hauptsächlich geputzt & gewaschen, war nicht nur vom Herrn,
sondern auch dessen schwachsinnigen Söhnen von Anfang an
missbraucht worden, und als sie schwanger war, musste man sie
leider entlassen.
Jetzt wollten sie mit der Sache nichts mehr zu tun haben, sie war
ihnen zu heiß, zu mühsam geworden. Sie regten sich auf über die
Dummheit, sich ausgerechnet als unverheiratete Magd allen
Ernstes mit Männern einzulassen, sie konnten eine solche
Unmoral absolut nicht akzeptieren.
Jeder tat vor dem anderen so, als fiele er aus sämtlichen Wolken.
Die Herrin des Hauses, die Tag & Nacht wie im Märchen keinen
Finger rührte, spielte die Höchstbetroffene war vor Entrüstung
ganz bleich und drohte mit den Nerven niederzubrechen.
Dieser Skandal! Er durfte auf keinen Fall öffentlich werden. Was
für eine Sorge plötzlich im Haus, diese Dienstboten, dieses
Gesindel, sie waren es nicht wert, dass man ihnen half, ihnen
einen ordentlichen Posten gab. Sie bespuckten die Hand, die man
ihnen reichte, welche sie fütterte, aber sie war nicht die erste
265
Hündin im Haushalt gewesen, alle waren sie gleich.
Sonja wusste nicht, wohin. Wer in aller Welt würde ihr in ihrem
Zustand helfen, nach Hause zurück traute sie sich nicht, war
mehrmals nahe dran, ließ dieses Ansinnen aber wieder fallen. Was
sollte dort schon geschehen, wo sie doch selber nichts als Armut
kannten.
Vorübergehend fand sie für die Nächte eine Bleibe in einem
kirchlich geführten Nachtasyl.
Das Kind ging wie durch ein Wunder schließlich von selbst
verloren. In einer eiskalten Nacht fiel es ihr in ein verdrecktes
öffentliches Klo. Bei allem, was sie bisher gesehen, erlebt hatte,
war dies das Schlimmste, nicht einmal die plötzlichen, schier
unerträglichen Schmerzen, sondern das Aussehen, der Schreck,
der Anblick dieses schleimigen, blutigen Gebildes, das bereits
menschliche Züge & Formen zeigte und zuckend, wenn auch
unendlich dünn & winzig schließlich schon auf das wenige
Wasser, das sich herunterziehen ließ, widerstandslos in die
schwarze Tiefe glitt.
Alles war voller Blut, sie besaß keine trockene, saubere
Unterhose, keine Schale warmes Wasser, kein Bett, kein Stück
Brot, sie war so elend & einsam in ihrem Schmerz, wie nicht
einmal ihre Mutter es jemals gewesen war.
Nun war sie neunzehn Jahre alt, verfügte über den Verstand eines
dreizehnjährigen Mädchens und die Erfahrung einer
fünfzig-jährigen Frau.
Diese Diskrepanz war Alexander sofort aufgefallen. Während er
über viel Wissen verfügte, hatte er keinerlei Lebenserfahrung.
Eines Tages, eines Samstags, kam Alexander nicht zur
verabredeten Zeit ins sogenannte Maison de Plaisir.
Wie ein Versprechen stand diese Bezeichnung in französisch &
roter Leuchtschrift über der Pforte, Maison de Plaisir, eine freche
Anwandlung von Vornehmheit, als würde die hier verkehrende
Kundschaft diesen Begriff verstehen.
Über diesen Titel musste er immer schmunzeln, denn Freude war
266
damit, wie er nun wusste, am wenigsten verbunden, weder für die
Mädchen noch die Freier, war vielmehr ein Ausdruck für die
Freudlosigkeit, die diesen Dingen innewohnte, die Traurigkeit, die
Einsamkeit, welche in allen Ecken zu finden war.
Sein Vater hatte sich in einem vom Datum her etwas weiter
zurückliegenden Brief für die kommenden Tage angemeldet,
sodass Alexander nun auf ihn wartete.
Es existierte keine andere Möglichkeit, als ihn zu empfangen, und
höchstwahrscheinlich lief seine Ankunft auf den Samstag Abend
hinaus, für welchen er wieder mit Sonja verabredet war.
Seit Monaten hatten sie einander nicht gesehen. Sein Vater, wie
immer, geradezu aus dem Häuschen, freute sich unbändig auf die
Zeit mit Alexander, seinem einzigen, allerliebsten Sohn, wie er ihn
überall nannte, die Abende & Tage also, die er vor sich liegen sah
wie das Gelobte Land.
Alexander aber hoffte inständig, sein Vater möge nicht gerade am
Samstag Abend vor der Tür stehen, doch genau so war es.
Mit Sack & Pack sogar, in bester Laune, eingekleidet wie für eine
Hochzeit, im schwarzen Mantel mit Pelzkragen, mit Geschenken
aller Art für Alexander, mit tausend Ideen.
Einen Tisch bereits bestellt in einem der besten Restaurants
Stockholms, voller Geschichten & Fragen, und dann, ja dann
würde er hier bei ihm übernachten, mit ihm, wie früher, Junge!
weißt Du, als Du noch klein warst, wie früher! Alles wissen
wollen, von Mama reden, von der Vergangenheit, der Zukunft,
von Tante Marie, deren eigene Geschenke er für ihn dabei hatte....,
er überschlug sich beinah, es sprudelte aus ihm hervor wie aus
einer unerschöpflichen Quelle.
Alexander indes stand fassungslos in der Tür, ging endlich zur
Seite, ließ sich umarmen, auf den Rücken klopfen. Was war auf
einmal passiert, dass er sich nicht ebenso freute wie sein Vater?
So war es doch immer gewesen! Sie hatten ja nur einander in
diesem Meer von Zeit & Raum, in diesem ganzen & begrenzten
Leben!
267
Alexander konnte seine Enttäuschung nur mühsam verbergen, sein
Gewissen erdrückte ihn, seine Gedanken waren bei Sonja,
während ihm sein, über alles geliebter Vater, gegenüberstand,
dieser alte Herr, dessen ganzer Stolz & Sinn sein Sohn war.
Mechanisch half er ihm aus dem dicken Mantel, sah mit
Wohlgefallen & Unbehagen seinen tadellosen Anzug darunter, die
Akribie, mit der sein Vater sich für dieses Wiedersehen zurecht
gemacht hatte: weißes Hemd, weiße Fliege, ja, sein Vater stammte
aus einem wirklich guten Haus, es war ihm nicht möglich, anders
zu sein.
Er hatte keine Ahnung vom Leben & Leiden der Menschen
außerhalb seines Kreises, obwohl er doch selbst einen so großen
Schmerz in sich trug.
Für seinen Vater lag etwas anderes als Rahel & Alexander jenseits
jeder Vorstellung. Seine Verantwortung, sein Streben, seine Arbeit,
alles galt seinem Sohn, für den er bereit war, ohne sie - Rahel, zu
leben, ohne eine Frau überhaupt, denn dies war nur sie gewesen,
niemand sonst und Alexander, der immer der kleine weinende
Junge bleiben würde, den er ihr aus den bereits toten Armen
genommen hatte in jener Winternacht, wieder zurückgelegt, dieser
Alexander, der jetzt Medizin, Medizin! studierte, war sein ein &
alles im tiefsten Sinn dieser beiden kleinen, großen Wörter.
Wie vielen Menschen hatte er von ihm erzählt, wie viele hatten
ihn nach ihm gefragt, da sie wussten, dass man dem alten Herrn
keine größere Freude bereiten, ja von ihm so gut wie alles haben
konnte, wenn man ihm die Gelegenheit gab, über seinen Sohn zu
sprechen.
Längst existierten nur noch Rahel & Alexander für ihn, längst
erzählte er ihr Abend für Abend seinen Tag, seine Sorgen, seine
Gedanken, seine Bedenken, es machte keinen Unterschied für ihn,
dass sie tot war.
In seinen Träumen war er mit ihr zusammen, liebte sie wie damals
in Italien, in Schweden, auch wenn es schon so weit zurücklag.
Er hatte inzwischen gelernt, sie zu sehen, wann & wo er wollte,
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um sich mit ihr zu besprechen, zu beraten.
Rahel, konnte er sagen, Rahel, ich fahre zu Alexander nach
Stockholm, ich habe alle meine Geschäfte abgeschlossen.
Alles in Sicherheit, weißt du. Ist es dir recht so?
Bestimmt ist es dir recht. Bin gespannt auf ihn, habe ihn fast ein
halbes Jahr nicht gesehen.
Er ist so wunderhübsch wie du, wir können zufrieden mit ihm sein.
Fragen will ich ihn, wie es ihm geht, ob er vielleicht ein Mädchen
hat und nach dem Studium natürlich.
Ich bin so stolz, dass er Arzt wird, die Dinge gut und leicht
begreift. Genau wie du!
Nein, von mir hat er das nicht. Das Theoretische, es ist von dir,
seiner Mutter, aber ich, ich habe gehalten, was ich dir in jener
Winternacht versprochen habe, weißt du noch, als dieses kleine
Menschenkind, unser erstes und einziges, zur Welt kam, ich habe
es gut erzogen, ich habe alles getan, mein Bestes gegeben, und es
ist gut geworden.
Noch wusste der junge Alexander nichts von den elterlichen
Abkommen & Gesprächen der beiden, den Nächten, in denen sie
sich trafen, auch nicht, dass sein Vater mit dem Tod Rahels die
Fähigkeit, mit einer Frau zu schlafen, verloren hatte.
Alexander, wenn du dich schön gemacht hast, lass uns gehen, ich
freue mich schon so lange auf diesen Abend, und jetzt ist er da!
Ja, Papa.
Während Alexander im Badezimmer ist, sich zurechtmacht,
klingelt es an der Tür. Herr Sommerfeld geht & öffnet nichts
ahnend.
Was er jetzt zu sehen bekommt, erscheint ihm wie eine
Fatamorgana, ein Alptraum der schlimmsten Sorte, nein, wie ein
Irrtum!
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Vor ihm steht ein leibhaftiges Flittchen, daran besteht kein
Zweifel, doch, was das Schlimmste ist, sie verlangt, seinen Sohn
zu sprechen!
Ich bin Sonja. Wohnt hier nicht Alexander Sommerfeld? Wir sind
nämlich für heute verabredet gewesen, wissen Sie!
Offener Mund, gedankenloses Anstarren der Person seitens des
Vaters.
Ich bin Sonja. Hier muss Alexander Sommerfeld wohnen. Wir sind
für heute Nacht verabredet!
Mehrmals, wie ein Tonbandgerät, sagt sie dasselbe, versucht, an
diesen alten Mann heranzukommen, doch dieser reagiert nicht.
Er kann nämlich nicht begreifen, was diese offensichtliche Nutte
an der Haustür seines Sohnes will.
Sieht aus, als kämen Sie von einer Stätte des Lasters, der Unzucht,
antwortet er endlich. Ausdrücke & Bezeichnungen, die in seinem
Gehirn soeben zustande gekommen sind, die er mühsam &
halblaut von sich gibt.
Wo ist er? Sind Sie vielleicht sein Vater?, hört er sie sagen. Er
nickt, will sie fortschicken.
Gehen Sie bitte, Sie können hier nicht hereinkommen, das ist
vollkommen unmöglich, verstehen Sie!
Mein Sohn ist ein anständiger Mensch.
Sie müssen sich geirrt haben. Ich bin sein Vater, und ich sage
Ihnen, wer immer Sie sind, was immer Sie wollen, verschwinden
Sie! Es darf Sie niemand hier sehen.
Da kommt Alexander aus dem Badezimmer.
Die Unfassbarkeit dieser Szene muss ein schlechter Scherz sein!
Sein Vater & Sonja stehen sich gegenüber und reden miteinander!
270
Sie, draußen, in Lackstiefeln, kurzem Rock, der kaum das Gesäß
bedeckt, mit sexy zerzausten Haaren, grell geschminkt, eine
leibhaftige Prostituierte.
Er hätte alles gegeben, dies hier ungeschehen zu machen, es
seinem Vater erklären zu können, doch es bestand nicht im
geringsten die Möglichkeit dazu.
Nicht einmal Gottvater hätte jetzt eine Lösung gefunden.
Sonja stürzt auch noch auf Alexander zu, umarmt ihn theatralisch,
beschwört ihn, sie nicht hinauszuwerfen, ihr zu helfen, bleiben zu
dürfen!
Wenn er richtig versteht, hat sie gerade das Freudenhaus
verlassen, will zu ihm ziehen, ausgerechnet heute, beruft sich auf
gewisse Versprechen oder Absprachen, die sie mit ihm getroffen
haben will, was sie doch nur missverstanden haben kann!
Jedenfalls ist niemand Geringerer, als sein Vater, sein Vater!
Zeuge dieses Ereignisses. Wortlos, bleich, entsetzt nimmt dieser
seine Sachen und geht.
Wie vom Schlag getroffen, verfallen & grau ist er jetzt. Verflogen
das Glück, das er eben noch vor sich wähnte, verschwunden,
verloren die Tage & Stunden, auf die er die letzten Monate
hingelebt & -geplant hatte. Wenige Minuten hatten ausgereicht, es
zu zerstören. Der Anblick dieses Mädchens, das plötzlich
auftauchte, irgendein Recht einzufordern schien, Gewalt über
Alexander hatte, brachte seine Welt zum Einsturz.
Die Zeit, die er mit seinem Sohn verleben durfte, war ihm das
wertvollste seines Lebens, und nun gab es sie nicht mehr.
Schon, als er noch klein gewesen war, flog er zu ihm, auch,
wenn er zu Fuß ging, im Auto unterwegs war, lebte in den Wolken
bereits Wochen davor. Dann kannte seine Phantasie keine Grenzen
mehr, seine Gedanken an Alexander waren seine ganze, ganze
Freude. Sie machte ihn strahlend, leuchtend, leichtfüßig,
übermütig, schwärmerisch, schelmisch. Diese Vaterliebe, die
besondere Beziehung, die sie miteinander hatten, war sein
vollkommenes Glück auf Erden. Und jetzt - alles zerstört & dahin
271
mit einem Mal.
Ohne Abschied, ohne seinen Sohn noch eines Blickes zu
würdigen, verlässt er langsam & bedeutungsschwer in jeder Geste
die Wohnung, dreht sich nicht mehr um, seine Schritte verhallen
im dunklen Hausgang, es fällt die Tür in den Rahmen, draußen
hört man die Absätze leiser & leiser werden. Es ist etwas gerissen
in diesem alten Herrn, der die Welt nicht mehr versteht, und wie
ohne Verstand einfach aus Alexanders Augen verschwindet.
Es hätte keinen Sinn gehabt, ihn aufzuhalten, ihm seine & Sonjas
Geschichte zu erzählen, denn wenn er auch kein praktizierender
Jude mehr war, so prägte ihn doch eine tiefe, ernste, seinem Gott
in allem verantwortliche Religiosität.
In dieser Nacht schläft Alexander das erste & einzige Mal mit
Sonja, denn es ist gleichzeitig die Stunde, zu der alles egal
geworden ist, ein Wendepunkt, ein Ende & ein Anfang.
Sein Vater wird ihm ab jetzt alles streichen, aufhören, seinen
Lebensunterhalt zu bezahlen, denn sein Sohn verkehrt mit Huren,
betrügt seine Eltern, verprasst das Geld, braucht keine
Unterstützung mehr, ist ein Lump geworden, wie andere auch,
weiter nichts.
Mehr noch, es war ihm, dem alleinerziehenden Vater, nicht
gelungen, einen anständigen Menschen aus ihm zu machen. Er
hatte selbst versagt, war gescheitert, hatte sich etwas vorgemacht,
sich hinreißen lassen, seinen einzigen Sohn zu vergöttern, war
stolz & frevelhaft geworden, und nun bezog er Gottes Strafe,
musste sich beugen, wie Hiob hingehen und in Demut annehmen,
was Er ihm zudachte, Buße tun, es Rahel erklären.
Diese bittere Ansicht gewinnt Herr Sommerfeld an jenem Abend
in Stockholm, und hier beginnt Alexanders neuer, eigener Weg.
***
XI
272
Ganz allein
Ein Weg, der ihn in die Tiefen der Armut, der Verkommenheit,
der Verlassenheit führt, nichts mehr vom Hörensagen ist, sondern
die eigene Anschauung einer plötzlich ganz anderen Wirklichkeit.
Alles, was er bis jetzt nicht kannte, nicht kennen musste, wovor
sein Vater ihn geschützt hatte, es stürzte nun auf ihn ein,
schmerzte ihn, ließ ihn mit einem Schlag erwachsen werden.
Er muss aus seiner Wohnung ausziehen, hat kaum einen Monat
Zeit, sich eine neue Bleibe zu suchen, Arbeit, um diese bezahlen
zu können, alles tun wie es sich gehört, neben dem Studium.
Die schönen Zeiten also sind vorüber, verspielt, vertan. Besser er
vergisst sie sofort, ja, das wird das beste sein, so denkt er, aber
ach, wie bitter & schwer kommt es ihm vor, etwas wie die
Vertreibung aus dem Paradies ist ihm geschehen.
Nackt wie einst Adam fühlt er sich, ungerecht bestraft genauso,
aber mit seinem Vater war jetzt ebenso wenig zu reden wie damals
in der alten Zeit mit Gott Selbst.
Wie beleidigte & rachsüchtige alte Männer reagierten sie beide,
sein irdischer wie sein himmlischer Vater.
Nie hätte Alexander es für möglich gehalten, dass sein Vater, sein
Vater, so etwas tun könnte. Er musste ihn zutiefst enttäuscht
haben, auch unterschätzt, nicht ahnend, wie sehr er für seinen
Sohn lebte, an ihn dachte, mit ihm fühlte, für ihn arbeitete, er, der
der ganze Inhalt seines Daseins war.
Es war das Unausdenkliche, das Unvorstellbare, das Allerletzte
geschehen, sie hatten einander verloren.
Wieder & wieder versucht er sich später zu erinnern, wie es an
jenem Abend gewesen war oder gewesen sein musste.
Völlig verwirrt war sein Vater zuerst auf den Sessel neben dem
Eingang gesunken, hatte nach Luft gerungen, kein Wort mehr
herausgebracht.
273
Er starrt nur mit eisigem Blick auf dieses Flittchen, das vor ihm
steht, welches sein Sohn ganz offensichtlich kennen muss, mit
dem er vertraut verkehrt, das er ins Haus bestellt, von seinem,
nein, seines Vaters Geld bezahlt. Nach dieser weiten Reise voller
Sehnsucht nach seinem Jungen, nach den Hindernissen, den
Verzögerungen, den Ärgernissen, die er hinter sich hat, muss er
dies hier sehen!
Nichts missgönnte er Alexander, im Gegenteil, machte ihm
tausend Angebote & Vorschläge, verwöhnte ihn mit seiner
Zuneigung, seinen Briefen, begleitete ihn Tag & Nacht, wo immer
er war, wie lang & wie weit sie auch voneinander getrennt sein
mochten, mit seiner Liebe, seinen Gedanken & Wünschen.
Abend für Abend redete er mit Rahel über ihn, schloss ihn in alle
seine Gebete ein, bis der Schlaf ihn überkam, träumte weiter von
ihm, von Rahel, denn die beiden waren seine Familie, sein
Himmel- & sein Erdenreich.
Alexander zerbrach sich also immer wieder den Kopf über die
tatsächlichen Vorgänge an diesem Abend. War er zunächst noch
auf dem Sessel gesessen oder doch sofort gegangen? Es waren so
viele Bilder, je länger er nachdachte, je öfter er sich das Treffen
ins Gedächtnis rief, umso mehr wurden es. Bald flossen sie
ineinander, bald standen sie einzeln & überdeutlich
nebeneinander. War es nur seine Vorstellung, wie es gewesen sein
könnte oder war es wirklich so gewesen?
Es gab ja niemanden, mit dem Herr Sommerfeld verkehrte,
geschäftlich, gesellschaftlich, der nicht wusste, wie sehr er seinen
Sohn verehrte, seinen einzigen Sohn, der in Stockholm Medizin
studierte, sein hübscher & begabter Junge, welcher ihm niemals
Sorgen bereite und das Gold seines Lebens war.
Wie hatte er ihn nicht dargestellt, seinen Augenstern! Wie stolz
war er gewesen auf dieses besondere Kind, für das seine Frau ihr
Leben hingegeben hatte, für das alles, alles gewesen war!
Fast mitleidig waren manche bei seinen Schilderungen geworden,
besorgt zuweilen darüber, was aus dem alten Herrn Sommerfeld
274
wohl werden würde, wenn sein Sohn ihn einmal enttäuschen oder
ihm gar etwas zustoßen sollte! Welche Last trug nicht auch er, der
diesem Idealbild entsprechen musste!
Doch freuten sich die meisten mit ihm, waren so freundlich, ihn
nach Alexander zu fragen, wussten sie doch, wie gerne er von ihm
erzählte.
Doch etwas Unfassbares, ihm völlig Verborgenes musste
geschehen sein. Warum wusste er davon nichts? Warum
hinterging ihn sein Sohn? Hätte er denn nicht Verständnis gehabt,
wenn er Sehnsucht nach einem Mädchen geäußert hätte?
Bestimmt hätte sich eine Lösung finden lassen. Warum hatten sie
dieses Thema nicht miteinander besprechen können? Was oder
wer war zwischen sie getreten?
Gewissensplagen, endloses Kopfzerbrechen auf beiden Seiten,
denn auch Alexander dachte & dachte über die Vorkommnisse
nach, ob er nicht seinem Vater hätte etwas sagen müssen, nicht
einfach den Rat eines Kollegen annehmen, sich hinreißen lassen
und wie jeder Trottel schnurstracks ins Bordell rennen.
Welcher Teufel hatte ihn geritten, dass er auf seinen Vater
vergessen konnte! Nicht darüber nachgedacht hatte, was passierte,
wenn er dahinter käme!
Er war ja überhaupt nicht verliebt gewesen, wollte nur wissen, wie
es ist, was konnte daran so schlimm sein?
Niemand auf der Welt würde ihm glauben, wenn er erzählte, er
hätte dort in diesem Haus, nicht eine einzige sexuelle Erfahrung
gemacht! Also schwieg er gegenüber seinem Vater, unternahm
nicht einmal den Versuch einer Verteidigung. Sollte er ihn auch
noch für einen Lügner halten?
Ach, schrecklich war nur, auf welche Weise sein Vater es
begreifen musste, denn nie hätte dieser erfahren dürfen, dass
zwischen ihm und einer registrierten Prostituierten, die Sonja für
ihn freilich nicht war, etwas lief.
Wenn er Sonja nur nicht seine Adresse gegeben hätte, damals!
Was hatte seinen Vater just an diesem Abend genau in diesem
275
Moment und keine halbe Stunde früher oder später nach
Stockholm geführt? In welch‘ eine Lage waren sie beide damit
geraten! Warum hatte er sich nicht korrekt angemeldet, wie sonst
auch?
Sein Vater war ein alter Herr, gewiss, vielleicht wäre es zu seiner
Zeit undenkbar gewesen, vielleicht aber hatte für ihn einst Rahel
alles geregelt?
Wie konnte Sonja überhaupt vor seiner Tür stehen, was hatte sie
sich dabei gedacht? Nein, es war total schief gelaufen, zwei
Katastrophen waren aufeinander zugesteuert, es bestand keine
Chance, sie abzuwenden oder ihnen auszuweichen.
Warum war sein Vater überhaupt ohne jedes Verständnis für diese,
doch auch menschliche Seite? Konnte er denn nicht verstehen,
dass nicht jedem ohne weiteres die große Liebe begegnet, sondern
es sich normalerweise ganz anders abspielt? Musste man denn
gleich heiraten, war es das, was er meinte? Hatte er vergessen wie
es ihm ergangen war? Wo war seine Männlichkeit hingekommen,
sein Verstand für die Nöte eines jungen Mannes?
Die Überlegungen Alexanders gingen bald in diese, bald in jene
Richtung, widersprachen sich, verliefen im Sand, fingen von
selbst wieder & wieder von vorne an.
Er legte sich sogleich und später Verschiedenes zurecht,
interpretierte herum, sinnierte, haderte, ging hin & her, auf & ab,
lief aus dem Haus. Wenn es ihn in den Nächten nicht zwischen
den Tischen seines Wirtshauses, in das er in der Folge dieser
Ereignisse geraten war, herumriss, wenn er nicht abgrundtief vor
Müdigkeit schlief, wenn er nicht büffelte wie ein Ochse, dann
suchten ihn schwere Träume & Gedanken heim. Sein
Selbstmitleid war nicht eben gering, es ging um den Verlust seiner
Kindheit, den Verlust seiner Unschuld, den Verlust seines Vaters,
dessen Vertrauen, und alles beweinte & bedachte er, was schön,
was heimatlich gewesen war, er hatte es an einem einzigen Abend
in wenigen Minuten verloren.
276
Als sein Vater ihm in jener, jetzt so fernen Nacht erzählt hatte, wie
sie, seine Eltern! ganze sieben Jahre hindurch vor seiner Geburt
miteinander geschlafen hatten und dies auf Rahels eigenen,
skandalösen Vorschlag hin, welche sich, frech wie sie gewesen
sein muss, keinen Deut um ihren eigenen Vater scherte, den doch
der Schlag hätte treffen können bei der Vorstellung oder
Offenbarung solcher Dinge.
Für einen Rabbiner, wie könnte es anders sein, gehörte Sex erst
recht in die Ehe, hatte so gut wie nichts mit Vergnügen für Frauen
zu tun. Um Himmels Willen! Hatte er dafür seine Tochter zum
Studieren gehen lassen? Nie im Leben, nie im Sterben.
Doch genauso war es gewesen, sein Vater hatte es ihm selbst
gestanden, und dies, was jetzt passiert war, schien nichts anderes
zu sein als damals. Jeder quälte sich mit unzähligen Fragen,
Erinnerungen, Vorwürfen, Zweifeln.
Wie schwer fiel es dem Vater, das Erwachsenwerden des Sohnes
zu akzeptieren, wie schwer dem Sohn sein eigenes Verlangen
einzuordnen, zu zügeln, den Vater nicht vor den Kopf zu stoßen.
Er wollte ihn doch schonen, ihn nicht mit allem belasten,
belästigen, behelligen, vor ihm alles Unangenehme möglichst
verheimlichen. Doch, was nützte ihm jetzt seine Rücksichtnahme,
seine Reue?
Alexander schämte sich fürchterlich, und doch wusste er
zuinnerst, es gab keine andere Möglichkeit, als irgendwann zu
lernen, damit klar zu kommen, doch wie es aber aussah, hatte er
darüber seinen Vater verloren.
Für den Augenblick war er allein. All das Schwere, das hinter ihm
lag, wog nichts dagegen, denn immer hatte er sich mit seinem
Vater eins gewusst, selbst damals, als die Sache mit Astrid passiert
war. Doch nun schien alles umsonst und endgültig zerstört, jetzt
war es wirklich aus.
Sonja, die nie ein Zuhause wie Alexander gekannt hatte, zwar
Vater & Mutter, also richtige & ganze zwei Eltern besaß, verstand
überhaupt nicht, warum Alexander so zerknirscht war, worin
277
genau das Problem bestand. War sie denn gar kein Mensch?
Dies hier schienen in ihrem Sinn keine Sorgen zu sein. Was sie da
sah, verstand sie ebenso wenig wie Alexanders Vater.
Aus einem reichen Haus zu kommen, gescheit, gebildet zu sein,
alles in Hülle & Fülle zu haben und so ein Wesens zu machen um
dieses Detail? Was für Fragen wurden hier gestellt, was begriff sie
nicht, wie konnte sie sich so verschätzt haben? Sie hatte doch nur
bei Alexander geläutet, der ihr eigens dafür seine Adresse gegeben
hatte, für den Fall, dass sie einmal nicht ein- noch aus wusste, so
hatte sie es verstanden.
Ja, sie war fortgelaufen in einer Anwandlung von Romantik
vielleicht, hatte sich verliebt in diesen Burschen, der so rein war,
so besonders, so unvergleichlich, dass sie es nicht glauben konnte.
Vermochte denn dieser alte feine Herr Sommerfeld nicht einmal zu
ahnen, wie sie litt, wie sehr sie erniedrigt wurde für das bisschen
Geld, das am Ende der Woche auf ihrem Nachttisch lag, der ihr so
wenig gehörte wie das Bett, die Kleider, die Unterwäsche, ihr
eigener Körper?
Nein, ein Herr Sommerfeld war nicht in der Lage, sich dies
vorzustellen, lebte in einer gänzlich anderen Welt, hatte wohl im
Leben kein solches Etablissement betreten oder je betreten
müssen. Am Ende war sie es, die verstand, obwohl sie nichts
gelernt und schon gar nicht studiert hatte.
Doch beide waren mit diesen Gegensätzen überfordert und absolut
nicht mächtig oder willens genug, sich in den anderen soweit
hineinzudenken, wie es nötig gewesen wäre, und dennoch sah
Sonja, worum es ging und dass den alten Herrn selbst keine
Schuld traf. Was war schon eine so bürgerliche & herrschaftliche
Haltung gegen das, was sie ständig über sich ergehen lassen
musste, gegen das, wo sie hingeraten war, wo es keine Leute
dieser Art hin verschlug, wo es keine Höflichkeit, keine Distanz
und kaum Freundlichkeit gab, nicht einmal etwas Persönliches, es
waren verschiedene Sterne, auf denen sie lebten.
Als sein Vater fort war, die Tür hinter sich mit eindrucksvoller
278
Dramatik zugeknallt hatte, sodass sämtliche losen Dinge
wackelten, da blieb ihnen nichts mehr, als miteinander zu
schlafen. Dies war die einzige Stunde, die ihnen dafür gegeben
war, in beider Leben nur dies eine Mal, und nie vergaß Alexander
den Satz, den Sonja damals gesagt hatte:
Schlaf mit mir so, als würdest du mich lieben.
Wie denn sonst?
Wie eben alle Männer, … um ihren Samen,… ihren Druck,… ihre
schmutzigen Phantasien loszuwerden.
Stotternd, schüchtern, mit niedergeschlagenen Augen brachte sie
die Wörter hervor.
Später, als es vorüber war, hörte er sie sagen:
Danke. Danke. Danke.
Aber du musst dich doch für nichts bedanken, Sonja!
Ich kann mich doch auch bedanken. Ich, ich möchte mich gerne
bedanken.
Alexander lachte, konnte kaum aufhören, denn es war das letzte,
was er erwartet hätte. Ein Mädchen bedankt sich, weil ein Kerl
mit ihr geschlafen hat.
Ach, Alexander, was weißt du schon, bei allem, was du weißt,
aber, was ich weiß, das weißt du nicht.
Wieder endlose Heiterkeit bei ihm.
Was du weißt und ich nicht weiß, dass du weißt und … wie? … du
nicht weißt, was ich weiß, oder was…?
Alle anderen haben mich nur benützt, … beschmutzt, …besudelt,
… mir weh getan …. . Darum, weil du anders warst… und dafür
danke ich dir in alle Ewigkeit.
Ich werde es vielleicht nicht mehr erleben, vielleicht nämlich
279
werden wir nie wieder miteinander schlafen, so beieinander
liegen dürfen wie jetzt, aber, aber … .
Sie begann zu weinen, zu schluchzen.
Aber einmal wenigstens bin ich einem Prinzen begegnet, sodass
ich weiß, wie es für schöne reiche Frauen mit ihren Männern sein
muss.
Alexander tut seine Ausgelassenheit jetzt leid, er nimmt sie in die
Arme, streichelt sie, küsst sie. Er trägt sie sogar ins Bad, stellt sie
unter die Dusche, sich selbst dazu, er wäscht sie, stellt sich zu ihr
unter die Brause. So etwas hat noch niemand mit ihr getan, so
etwas wird nie wieder jemand mit ihr tun.
Was soll jetzt werden?, fragt Alexander.
Nichts, was soll schon werden, aber wenn du einmal kannst, hol‘
mich dort raus. Vergiss nicht, dass ich dich darum gebeten habe,
nachdem wir das erste Mal zusammen waren. Vergiss nicht, ich
war Deine erste Frau!
Ich möchte gerne eine gute Arbeit tun und wenn es Abwaschen
oder Kochen wäre, eine Beschäftigung im Krankenhaus, ich
würde alles tun, um von dort weg zu kommen. Versprich mir, mir
zu helfen, eines Tages.
Ich verspreche es.
Versprich es, damit dies hier nicht alles war, sondern einen
tieferen Sinn hat. Ich weiß, ich bin nichts für dich, gehöre nicht zu
den Frauen, mit denen du einmal zusammen sein wirst, bin nicht
klug, nicht hübsch genug…
Sag‘ so was nicht, das denke ich doch gar nicht, das bildest du dir
ein.
Und dein Vater, wie er reagiert hat, was war das?
280
Ach, das weiß ich auch nicht, ich verstehe es so wenig wie du.
Du bist ein guter Junge, das sieht jeder, und ich verspreche dir,
ich werde dich, solange ich lebe, mit meinen guten Gedanken und
Wünschen begleiten.
Wieder begann sie zu weinen.
Und wenn du kannst, vergiss das nicht, vergiss mich nicht,
erinnere dich immer daran, was heute war, damit du eines Tages
zurückkommst.
Ja. Ich verspreche es.
Da erkannte Alexander, wie ernst die Liebe ist, wie schwer und
wie im scheinbar Gewöhnlichen das Ungewöhnliche verborgen
liegt.
Er wird dieses Versprechen tatsächlich halten, wird nach vielen
Jahren zurückkommen, Sonja ausfindig machen und ihr ein
kleines Häuschen schenken, wo er ihr einen privaten Kindergarten
einrichtet. Eine ausgebildete Kindergärtnerin wird ihn leiten, doch
Sonja ist die Herrin, der alles gehört.
Auf eine Zeitungsannonce hin fand Alexander schließlich eine
Anstellung als Wirt, zuerst als Schankbursche, bald als Chef eines
Lokals in Södermalm.
Seine Wohnung lag jetzt auch in diesem Viertel, war aber nicht
mehr als ein einzelner feuchter, kalter Raum mit einer Glühbirne
in der Mitte der Decke, von der es bei Regen heruntertropfte.
Wenigstens wohnte er ganz oben im Dachgeschoß, während unter
ihm in zwei Stockwerken alle möglichen Leute hausten.
So gut es ging, versuchte er damit zurecht zu kommen.
Tagsüber studieren, auf der Uni erscheinen, sich einigermaßen
zusammenrichten, in die Bibliothek gehen, mit Studenten &
Professoren verkehren, ohne allzu viel von seinen neuen
Lebensumständen sichtbar werden zu lassen, mehr noch, sie zu
281
verheimlichen, den Spagat zu schaffen zwischen Unter- &
Oberwelt, Schauspieler zu sein, Unvereinbares in sich miteinander
zu verbinden.
Zu verschiedenen Zeiten, sollte er einmal resümieren, muss man
verstehen, was verlangt ist von einem, nicht lang darüber
nachdenken, um irgendwie zu entkommen oder hadern mit sich
und anderen, sondern es annehmen. Das ist der Sinn. Früher oder
später muss jeder niederknien, jeder demütig sein vor den
Verhältnissen, die er erfährt. Wissen, dass man nicht geschützt ist
in dieser Welt, sondern leiden muss für alles, was Wert besitzt.
Doch abends erkannte man ihn nicht wieder, wenn er sich in so
etwas wie einen Kellner verwandelte, im Hinterstübchen Suppen
anrührte, dicke Eintöpfe kochte, Alkohol & Brot servierte, das
Lokal putzte, die Gäste begrüßte und später hinausbeförderte.
Sonja war zurückgegangen in ihre Welt, hatte eingesehen, dass sie
nicht bleiben konnte, doch es war ihr ein Trost gewesen, ein
Anliegen sogar, gekommen zu sein. Sie schöpfte Kraft aus diesem
Geschehen, war immerhin aufgenommen worden, nicht
weggeschickt, Alexander hatte in ihren Augen Wort gehalten, ja
musste bitter dafür bezahlen. Was für ein Charakter, der
angesichts solcher Schwierigkeiten ein Versprechen nicht brach,
sich vor den Augen seines Vaters zu ihr bekannte! Zwar hielten sie
Kontakt miteinander, doch er konnte sie sich nicht mehr leisten,
schon gar nicht auf die großzügige Art wie früher.
Es war nicht daran zu denken, noch einmal offiziell zu ihr zu
kommen. Wie könnte er dies eines Tages seinem Vater erklären?
Würde es ihn überhaupt noch interessieren? Wo er wohl war?
Kein Brief, kein Anruf, nichts mehr seit jenem Vorfall.
Alexander hatte bei einer Nachbarin die neue Adresse
zurückgelassen, doch sein Vater war verschwunden, meldete sich
nicht mehr.
Der einzige Besuch, den er erhielt, war Sonja, die ihn manchmal
am Sonntag besuchen kam. Dann saßen sie nebeneinander,
redeten ein wenig, doch meistens schwiegen sie.
282
Sonja ließ ihn lernen oder schlafen. Sie war es jetzt, die ihm
Brötchen & Kuchen brachte, Kaffee in einer Thermoskanne.
Was für ein Unterschied zu seiner früheren Wohnung und alles
wegen ihr!
Quer durch den Raum hatte Alexander Schnüre gespannt, an
denen seine nasse Wäsche hing.
Insgeheim bewunderte sie ihn, wie er damit fertig wurde, sich in
sein Schicksal fügte, seine Strafe annahm, als hätte er ein
Verbrechen begangen.
Tapferer Alexander, sagte sie oft.
Hätte er mehr Zeit gehabt, wer weiß, ob ihn nicht Selbstmitleid &
Verzweiflung überkommen wären, doch mit seinem neuen Leben
vollauf beschäftigt, konnte er keine Sorgen oder tiefgründigeren
Gedanken gebrauchen oder bewältigen.
In der Früh das Aufstehen war das Schlimmste, da er nie vor drei
Uhr ins Bett kam, meistens sogar später. Nur kaltes Wasser, das
öffentliche Wannen- & Duschbad war, weiß Gott, wo, es ging sich
erst am Samstag oder Sonntag aus, und wenn er dann auch noch
verschlief, wurde es schwierig. Da halfen nur Abhärtung,
Vernachlässigung.
Einigermaßen musste es ihm täglich gelingen, irgendwie
unauffällig in die Uni,
den Seziersaal,
die Bibliothek
einzutreten, gerade so, als wäre es das Selbstverständlichste von
der Welt. Seine Persönlichkeit war nun gespalten. Sie bestand aus
zwei Teilen, aus dem normalen Studenten am Tag und dem
ausgefuxten Wirt in der Nacht.
Er ging zwischen den beiden Verhältnissen, in denen er nun lebte,
hin & her wie zwischen zwei Zimmern oder zwei Ländern.
Am Anfang hatten sie ihn übers Ohr gehauen, nach Strich &
Faden hintergangen, die Zeche geprellt, Theater gespielt, gelogen,
was das Zeug hielt.
Der Lokalbesitzer kontrollierte ihn wie einen Knecht, stellte ihn
wegen der Finanzen zur Rede, fuchtelte mit Bleistift & Papier vor
seinen Augen, mit Rechnungsblöcken, Buchhaltungstabellen,
283
bewies ihm, wie wenig Geld er eingenommen hatte und wie viel
es sein hätte müssen.
Doch für Alexander ging es zunächst nur darum, mit der Klientel
überhaupt fertig zu werden. Was sich am Ende des Tages, der
Nacht in der Kasse fand, oblag dem Zufall, er jedenfalls verfügte
weder über Trinkgeld noch sichere Einnahmen.
Was sollte er machen, wenn einer keine Öre mehr in der Tasche
fand, wie oft er sie auch umdrehte, sich vor ihm quasi auszog, auf
die Knie fiel, weinte & flehte, beeindruckende Geschichten zum
besten gab. Sie waren größtenteils gut im Erfinden &
Ausschmücken ihrer Dramen, doch selbst wenn alles Lug & Trug
war, Alexander sah doch, wie arm sie tatsächlich waren, allein die
Kleider, die Unterwäsche, die alten stinkenden Mäntel, die sie ihr
eigen nannten. Sie wussten in Wahrheit nicht einmal wie arm sie
waren, kannten im Gegensatz zu ihm ja nichts anderes.
Bin ich ein Stein, oder was?, fragte er seinen Chef, der ihn deppert
& allwissend angrinste, ihm mit der Kündigung drohte.
Erst als Alexander Anstalten machte, diese anzunehmen, sich was
anderes zu suchen, drehte der andere den Spieß um, zeigte
Verständnis, gab gute Ratschläge, tat ihm Geheimnisse kund,
weihte ihn ein in die Gepflogenheiten des Metiers.
Im Wesentlichen ging es darum, an die Sozialhilfe der Kunden
heranzukommen, und wenn dieselbige ein jeder hier in der
Kneipe, also nirgendwo anders ausgab, waren Einkommen &
Gewinn mehr als gesichert.
Er eröffnete ihm, mit wie viel er fix rechnen konnte, kannte die
Höhe der Zuschüsse, ihre Verpflichtungen gegenüber
Familienan-gehörigen, die Alimentenforderungen, einzelne oder
etwaige Zuverdienste, offizielle wie schwarze.
Der Mann war informiert wie einer vom Geheimdienst. Auf jede
Frage, jede Unsicherheit wusste er eine Antwort, nichts brachte
ihn in Verlegenheit. Alexander erhielt einen Schnellsiedekurs in
Sachen Wirtshausgeschäften.
Das Trinkgeld kannst du dir behalten, und ich lege Wert darauf,
284
verstehst du? Du musst Interesse haben, bei Laune gehalten
werden, gib dich nicht mit falschem Mitleid ab, sie würden es
auch nicht tun, sind brutal und gefühllos auf ihre Weise! Komm
ihnen ruhig grob, du musst dir kein Gewissen draus machen, sie
verdienen es nicht besser. Zu Hause schlagen sie ihre Frauen und
Kinder, und hier möchten sie den Zimperligen geben. Glaub ihnen
kein Wort, vergiss ihre Jammereien. Zeig ihnen, wer der Herr im
Hause ist.
Eine Zeit lang kam der Inhaber des Lokals zum Kassieren vorbei,
gab Alexander sozusagen praktischen Unterricht im
Geldeintreiben. Er war das reinste Inkassobüro, kannte kein
Pardon, und tatsächlich konnte man nur staunen, wie viel er aus
dem letzten Habenichts noch herausquetschte.
Er wusste bestens Bescheid, wann die Leute ihr Geld in der
Tasche hatten. Immerhin war er so anständig, nicht alles
aufeinmal zu nehmen, sich um die Verbindlichkeiten des Gastes
zu kümmern, kannte oft sogar die Frauen & Kinder, welche von
dieser Kreatur abhängig waren.
Alexander erhielt von ihm eine Liste mit den wichtigsten Namen
& Verhältnissen, sodass er, wenn die Auszahlung des Lohnes, der
Unterstützung an den Kunden erfolgt war und derjenige
großspurig in der Kneipe auftauchte, zuerst das erforderliche Geld
für die Familie hinterlegen musste.
Später kam es so weit, dass er es den Angehörigen sogar
aushändigte, weil die meisten Frauen samt Kindern zur Abholung
selbst in der Kneipe auftauchten. Nach & nach erzählten sie ihm
alles, was sie meinten, dass er wissen sollte, und natürlich band
ihm jede Seite ihren eigenen Bären auf.
Doch es gab auch ehrliche Leute darunter, oft logen sie nur, weil
sie mussten, oft war eine Lüge ihre Rettung.
Vor seinen Augen spielten sich Szenen ab, die er sonst nie kennen
gelernt hätte. Weinend kamen manche Frauen oder schickten die
Kinder, ihren Alten zu holen, sein Herz zu erweichen, ihn
irgendwie heim zu bringen.
285
Dies war ein anderes Schweden, ein anderes Leben, sein Vater
hatte keine Kenntnis davon, denn im letzten schützte ihn das Geld,
der Reichtum und, was damit verbunden war.
Sein Vater lebte mit Rahel, seiner längst verstorbenen Frau und
Alexanders Mutter, mit seinen Gedanken in einer vergangenen
Zeit, in einer guten und überaus schönen & angenehmen Welt, wo
niemand lügen musste, weil niemand arm war, es nichts gab, was
sich nicht hätte lösen lassen.
Natürlich tat er alles mit Liebe, mit Freude, mit Hingabe, war klug
& gefühlvoll, aber er hatte keine Ahnung vom wirklichen Leid,
das Alexander jetzt tagtäglich erlebte.
Zu essen gab es dicke Suppen mit Brot, und nicht wenige, die sich
nicht einmal diesen wirklich billigen Stampf leisten konnten,
anschreiben ließen, etwas von baldigen Einkünften schwafelten,
mit Tränen um ihr Essen kämpften.
Nach der Phase des Einarbeitens ließ man ihn selber wirtschaften
allein mit den Männern & Frauen, welche mitunter sogar aus dem
Obdachlosenmilieu stammten, ohne Familie waren, alles verloren
hatten, sich verzweifelt & leicht dem Alkohol hingaben.
Weil diese Getränke so teuer waren, blieb ihnen kein Geld mehr
für die Lebensmittel.
So war Alexander jeden Tag mit einer endlosen Bettelei
konfrontiert, musste lernen, dass für einen Alkoholiker mitunter
Bier & Schnaps wichtiger sind als eine warme Mahlzeit, er
gleichwohl eine braucht, ihm aber mit Vernunft und guten
Ratschlägen nicht beizukommen ist.
Nach den ersten vergeblichen Versuchen ließ er es bleiben, sie
davon zu überzeugen, nicht nur zu trinken, sondern zuerst etwas
zu essen.
Was bist du, ein verdammter Priester?
Von der Heilsarmee, den Hut-Templern oder was, ein Spitzel von
denen?
Sie lachten ihn aus, hänselten ihn, andere wurden aggressiv,
demolierten die Einrichtung, warfen mit Gläsern & Tellern, wenn
286
er nicht sofort mit dem Schnaps anrückte.
Nach & nach aber gewann er Einsicht, Verständnis, vor allem,
weil immer wieder auch Frauen ins Lokal kamen, um Essen
bettelten, ihre Männer suchten, selbst ohne Bleibe waren, Kinder
bei sich hatten oder schwanger waren.
Gegen die Sperrstunde hin kam es regelmäßig zu Schlägereien,
die Nervosität stieg mit der Anzahl der konsumierten Flaschen.
Selten, dass einer alles bezahlte.
Alexander redete bald mit ihnen in ihrer Sprache, gebrauchte ihre
Ausdrücke, drohte, wie ihm sein Chef geraten hatte, mit
Lokalverbot & Polizei.
Vor allem die Polizei, die Polizei! tat ihre Wirkung. Sie war das
letzte, was man noch brauchte. Das Leben war hart genug, auf
keinen Fall ein Bullenproblem, darüber wenigstens herrschte
Einigkeit.
Sowieso saß jeder mehr oder weniger häufig in der
Ausnüchterungszelle, und angenehm war das nicht, die gingen mit
einem nicht besonders pfleglich um, allein darüber kursierten
entweder die wüstesten Geschichten oder wurde ganz
geschwiegen.
Lieber ließen sie sich von Alexander rausschmeißen, belehren,
bevormunden, lieber gaben sie Ruhe, lieber, lieber....., alles lieber
als die Polizei.
Wenn an den Schauergeschichten, die erzählt wurden, nur die
Hälfte stimmte, konnte in ganz Stockholm kein halbwegs
anständiger Mensch verantworten, einen Betrunkenen hinter
Gitter zu bringen.
Außerdem hatten einige tatsächlich etwas auf dem Kerbholz,
waren keine unbeschriebenen Blätter, wurden, auch ohne großes
Aufsehen regelmäßig kontrolliert, aufgesucht, erwischt.
Kleinere Einbrüche, Diebstähle, Raufereien, Körperverletzungen,
Überfälle, Betrügereien gehörten schließlich zum Lebensstil
seiner Gäste. Wenn auch nicht alle im kriminellen Bereich tätig
waren, so doch einige, und wer genau sie waren, blieb
287
verständlicherweise im Dunkeln, wurde nicht verraten, auch wenn
man einander oft feindselig gesonnen war. Noch war aus
Schweden nicht das sozialstaatliche Schlaraffenland geworden,
das Vorzeigeprojekt Europas, zu dem es erst später aufrücken
sollte.
Bis dahin würden noch einige strenge Winter vergehen, noch
konnte sich niemand ein solches Wunder vorstellen. Auch wusste
in Alexanders Kneipe keiner von solcherlei Vorbereitungen, die
dafür bereits liefen, und hätte dies einer behauptet, wäre
angesichts der Wirklichkeit nichts weiter als allgemeine Heiterkeit
aufgekommen.
Wie eh & je herrschte in den unteren Schichten des Landes die
Armut.
Als Alexander eines Abends seine Leute endlich aus dem Lokal
draußen hatte, die Gläser abgespült, die Fenster zum Lüften
geöffnet waren und er mit seinem Kübel in Richtung Toiletten
unterwegs war, diese nämlich gehörten auch überholt, denn es gab
eigentlich nichts, was nicht zu seinem persönlichen
Aufgaben-bereich gehörte, kamen eindeutige Geräusche aus einer
der Kabinen.
Zwei Männer hatten sich eingeschlossen, kamen ihm jetzt mit
Hauben über dem Kopf entgegen und verlangten die Einnahmen
des Abends.
Da fiel ihm ein, dass sein Chef keinen Spaß mit Geld verstand und
ihm gedroht hatte, bei etwaigen Überfällen oder Unebenheiten in
der Abrechnung, wie er es nannte, keine Gnade zu kennen und ihn
persönlich dafür zur Verantwortung zu ziehen.
Dies versuchte er jetzt den Gangstern zu erklären, doch diese
hatten dafür kein Verständnis.
Sie bugsierten ihn zur Kassa, schlugen ihm solange mit einer
Flasche auf den Kopf, bis er sie öffnete und die Scheine &
Münzen herausholte. Bevor sie gingen, boxten & traten sie ihn
nieder, ließen ihn liegen.
Als er blutüberströmt und völlig durchgefroren zu sich kam,
288
waren Stunden vergangen, die Räuber über alle Berge.
Dafür musste er eine ganze Woche umsonst arbeiten, denn wie
nicht anders zu erwarten, war man unerbittlich mit ihm verfahren.
Es gehörte nicht zum Charakter des Lokalbesitzers, und dieses
hier war nicht sein einziges, Gnade gegenüber Angestellten walten
zu lassen.
Ein anderes Vorkommnis war zwar nicht so bedrohlich, doch nicht
weniger erschütternd.
Eine Frau mit einem Baby war bis zur Sperrstunde geblieben,
hatte jede Menge Würste, Kartoffeln, Suppen, Brot und auch
Alkohol verdrückt. Doch, als es ans Zahlen ging, verschwand sie
so seltsam schleichend wie sie gekommen war.
Alexander kannte sich inzwischen gut genug aus, um zu wissen,
sie würde irgendwann wieder kommen. Doch sie blieb derweil
verschwunden, wie es aussah.
Als er gerade abschließen wollte, trat sie aus dem dicken, runden
Filzvorhang, der als Schutz gegen Zugluft & Kälte innen vor der
Eingangstür aufgehängt war, hervor.
Ich, ich habe kein Geld, kein bisschen, hört er sie sagen. Und
weiter: Ich habe seit Tagen nichts gegessen, ich musste es tun, ich
habe ein kleines Kind, siehst du!
Sie hielt ihm das Bündel mit dem winzig kleinen, schlafenden
Lebewesen entgegen.
Ich weiß.
Ich kann mit nichts sonst bezahlen.
Als könnte es noch einen Zweifel über die Art ihres Angebotes
geben, hob sie ihren Rock und machte eine eindeutige, schlüpfrige
Geste.
Geh nach Hause. Du brauchst nicht zu bezahlen.
Doch, ich hätte es nicht tun dürfen, ich habe ja nichts.
289
Alexander lernte in den Kinderheilkundevorlesungen gerade die
Neugeborenenlehre, die Muttermilchproduktion, die wesentlich
mit der Ernährung der Stillenden zusammenhing. Dies ging ihm
durch den Kopf während diese Fremde mit einem Kind an der
Brust, ihm ihren Körper anbot.
Er hörte sie längst nicht mehr reden, sondern starrte auf den
Säugling, der indes friedlich schlief.
Hast du es gestillt?
Ja, darum brauche ich Essen und Trinken, sonst habe ich keine
Milch für die Kleine.
Du darfst keinen Alkohol zu dir nehmen, hörst du?
Was du nicht alles weißt. Du bist wohl ein verkappter Gelehrter.
Ja, das stimmt, ich studiere Medizin.
Warum machst du dann diese beschissene Arbeit für dieses
versoffene Gesindel hier?
Das ist eine lange Geschichte, ich bin hundemüde, gehen wir.
Du willst mich also nicht?
Nein, danke, ich will dich nicht, bin nur froh, wenn ich für heute
draußen bin und endlich ins Bett komme.
Du bist ein guter Mensch oder vielleicht nur hochnäsig.
Weder das eine noch das andere.
Als würden sie zusammengehören, verlassen sie gemeinsam das
Lokal, Alexander schließt ab, sie begleitet ihn noch ein Stück des
290
Wegs, bis sie in eine Seitengasse biegt und verschwindet. Er wird
sie nie wieder sehen. Auch diese Szene ist nicht die einzige ihrer
Art.
Öfters bieten ihm Frauen diese Bezahlung an, einige stellen sie
scherzhaft in Aussicht, andere geben sich den Anschein von
Erfahrung & Gelassenheit, einige meinen es ernst oder spielen
mit der, ihrer Meinung nach, für Alexander verlockenden
Möglichkeit der beiderseitigen bargeldlosen Begleichung.
Über drei Jahre arbeitet er in dieser Kneipe. Am Ende fällt ihm der
Abschied nicht mehr leicht.
Viele hat er kommen & gehen gesehen, kennengelernt,
liebgewonnen, manche sind plötzlich ausgeblieben, auf einmal
wieder dagestanden, waren böse oder überrascht, wenn er sich
ihrer erinnerte oder nicht erinnerte. Wie überall gab es Menschen,
die ihre Schulden ernst nahmen und Krone für Krone, Öre für Öre
abtrugen, andere prellten die Zechen, etliche bestellten nie für
mehr, als sie Geld bei sich trugen, wieder andere gaben
grundsätzlich den gesamten Lohn bei ihm aus.
Als sie erfuhren, dass Alexander das letzte Mal bediente, da brach
eine Revolte aus. Sie umringten ihn, überstürzten ihn mit Fragen,
herzten & küssten ihn, wünschten ihm Glück & Freude,
Reichtum, schöne Frauen und alles, was sie nicht besaßen, sich
vorstellen und nicht vorstellen konnten. Längst kannten sie seinen
Namen, nannten ihn mit Ehrfurcht, mit Zärtlichkeit in der Stimme,
nun mit Tränen in den Augen.
Manche waren stolz, ihn zu kennen, andere gaben es nicht zu,
hatten ihn aber lieb gewonnen, jeder unterhielt eine eigene
Beziehung mit ihm.
Auf dass du uns nicht vergessen mögest Alexander Sommerfeld!
Skol!
All tides all teles!
Auf immer, König Alexander!
291
So einen wie dich kriegen wir nicht mehr! Leb wohl! Vergiss nicht,
was du bei uns gelernt hast, und dass es das Wesentliche war!
Was in den Büchern steht, wissen wir nicht, außer dass man dafür
wahnsinnig gescheit sein muss, aber, wir, wir haben es auch nicht
leicht, wir sind auch nicht dumm, vergiss das nicht, verachte uns
nicht.
Weil Trinker zuweilen Propheten sind, sollte es sich bewahrheiten,
und Alexander wusste schon im Augenblick, dass sie recht hatten,
zuerst war es Sonja gewesen, dann diese Leute hier, die Erlebnisse
mit ihnen, die Einblicke, die er gewonnen hatte in ihre
Verhältnisse, alles gehörte zu seiner Ausbildung, mehr noch seiner
Bildung, seinem Land, zu seinem Menschenbild von nun an.
Nie mehr würde er jemanden einfach als Kranken sehen, sondern
immer zuerst das Eis brechen, den Abstand zwischen Arzt &
Patient zu überwinden suchen, mit einem Augenzwinkern, einem
freundlichen, einem festen Händedruck, einem Lächeln, egal, was
& wie es genau sein sollte, so viel Zeit & Liebe musste ihm
immer bleiben. Dies schien ihm tatsächlich das Wesentliche, die
Quintessenz seines Berufes, seiner Einstellung, seiner Ausbildung
zum Doktor der Medizin zu sein.
So soll es sein! Ich vergesse euch auch nicht, danke, danke für
alles!
Und so war es, ja, so war es.
Ein guter Arzt, so sagte er, muss zuerst einmal die Menschen
mögen, sie kennenlernen wollen, wenigstens ein bisschen, muss
sich auf sie einlassen, darf sie nicht erst beachten, wenn sie zu
Patienten geworden sind, vor ihm liegen und medizinische Hilfe
brauchen, sondern sie als Ganzes sehen, und immer muss man ihr
Vertrauen gewinnen. Man darf sie nicht belügen, nicht die Geduld
verlieren, denn auch sie müssen Geduld mit uns haben, man darf
sie nicht kühl und sachlich behandeln wie am Fließband, auch
292
wenn es in der Praxis oft schwer ist. Man muss jeden ernst
nehmen, auch etwas von sich hergeben, sonst verliert man den
diagnostischen Blick, die Neugier, die uns auf die richtige Spur
führt, die Freude am Beruf und läuft nur noch seiner Karriere und
den Befunden hinterher. Wenn es so weit gekommen ist, hat man
verloren, fängt man an schlecht zu arbeiten, Fehler zu machen,
froh zu sein, keinen gemacht zu haben.
Wie viele Kollegen habe ich, die schon während der Arbeit an
nichts als das freie Wochenende denken, das Golfspielen, an ihre
Segeljacht, es nicht erwarten können, ihre Praxis, das
Krankenhaus zu verlassen und jedes Mal mit Grauen vor der
Arbeit zurückkommen, mit ihren Gedanken dauernd woanders
sind.
Dies erzählte er mir Jahrzehnte später fast genauso. Noch weit
davon entfernt, einen Roman daraus zu machen, schrieb ich es aus
dem Gedächtnis auf, legte den Text zu meinen Notizen.
Vielleicht waren es Erfahrungen wie diese, die ihn zu dem
besonderen Menschen werden ließen, der er war, wodurch er
heraus stach aus der Schar der Ärzte, die vollkommen gleich &
verwechselbar in ihren offenen, weißen Kitteln zu den Visiten
erschienen, durch die Krankenzimmer wallten, mit ihren harten,
hölzernen Pantoffeln polternd daherstaksten. Nicht so Alexander,
der lautlos ging, gebundene Schuhe trug, einen zugeknöpften
Mantel, wie es sich gehörte, sich nicht die geringste, alltägliche
Lässigkeit herausnahm.
Sie achteten nicht auf den Lärm, den sie verursachten, die
Gespräche, welche sie lauthals führten, das Gelächter, das man
schon von weitem hörte, noch bevor sie das Krankenzimmer
betraten. Die meisten waren kaum willens oder imstande, sich
persönlich den vielleicht schmerzhaften, ängstlichen Zustand
eines Patienten zu vergegenwärtigen oder die Störung, die sie
darstellten, die Herablassung, welche sie zelebrierten, die betonte
Langeweile ihres Gehabens.
293
Nach & nach, anfangs schleppend, doch immer professioneller
werdend, hatte er sein Studium vorangetrieben, immer routinierter
Bücher & Skripten auswendig gelernt, seine Prüfungen abgelegt.
Jetzt erinnerte er sich, wie oft er eingeschlafen war, sein Pensum
nicht bewältigt, das Interesse verloren, die Müdigkeit nicht mehr
beherrscht hatte.
Wie oft er seinen Vater in dessen Abwesenheit und aller
erdenklichen Einsamkeit seines kalten Zimmers beschimpft hatte!,
an die tausendmal gewiss, laut & deutlich zu jeder Zeit, ihm
Vorhaltungen gemacht, gejammert, gelästert, gehadert, nicht
anders als so mancher Jude in seiner langen biblischen Geschichte
mit keinem Geringeren als Gott dem Herrn gerungen hatte.
Doch immer mehr begann er die Dinge in einem anderen Licht zu
sehen, sich als Privilegierten betrachten.
Das Leben in der Kneipe veränderte ihn, verlangte Beweglichkeit,
Fingerspitzengefühl, soziales Gespür, Aufmerksamkeit &
Barmherzigkeit, aber auch Härte & Konzentration. Hier lernte er
täglich mehr als bei seinen klugen Professoren, von denen sich
nicht wenige für allwissend hielten, mächtig gut verdienten, mit
dicken Bäuchen herumstolzierten, sich auf Kongressen
hervortaten, ihre Hausmacht sicherten, jeden argwöhnisch
beäugten, der ihnen in die Karriere pfuschen könnte, die
Studenten für sich schuften ließen. Bei den Studienkollegen, die
mehr oder weniger versuchten, sich dareinzufinden,
durchzukommen, war es nicht viel anders. Sie hatten einander
immer weniger zu sagen, Alexander erschien ihnen zunehmend
komisch, wenn sie sich überhaupt mit ihm beschäftigten.
Er fing an, seine Abendgäste zu mögen, mehr als alle anderen, mit
denen er auf der Universität zu tun hatte, die, wie er jetzt fand,
rein gar nichts vom Leben verstanden. Unter ihnen war er ein
Student wie jeder andere, dort aber Schankwirt, jemand, den sie
beim Namen kannten, schon bei der Tür herein nach ihm riefen,
so als wollten sie sich sofort vergewissern, ob alles noch beim
294
Alten war.
Alexander!
Doktor!
Missiö Sommerfeld, wie geht‘s dir, alter Junge!?
Komm herunter von deinem hohen Ross, du Scheißkerl du!
Es war die Herzlichkeit der Gosse, aber eine innige & ehrliche
Herzlichkeit. Er schätzte diese etwas raue Zärtlichkeit, brauchte
sie bereits, wie holprig & zögerlich sie auch mitunter
daherkommen mochte. Es hätte ihm etwas gefehlt ohne sie.
Die Gäste brachten sie so zum Ausdruck wie ihnen der Schnabel
gewachsen war.
Ihr werdet mir einmal fehlen, konnte Alexander antworten.
Was soll ich ohne eure Aufrichtigkeit?
Wer wird mir je wieder die ganze Wahrheit sagen!
Stolz, schier ehrfürchtig, hörten sie seine Worte, ließen sie sich
auf der Zunge zergehen & wiederholen.
Du musst es dreimal sagen!, konnte es von hinten heißen.
Und, als wäre es ernst gemeint, tat er es, gerade wie in den
Märchen, wo man die Zaubersprüche auch dreimal sagen musste.
Sie machten sich einen Spaß draus, ihn ihre Namen abzuprüfen.
Doch er kannte sie längst, auch wenn sie oft lange nicht
erschienen, weil sie im Krankenhaus lagen, auf der Wachstube
aufgehalten wurden, wie sie es nannten, oder einen längeren
Aufenthalt in einem gewissen Präsidium hinter sich zu bringen
genötigt waren.
Ihre Phantasie, für die unangenehmeren Orte & Ereignisse des
Lebens eine Bezeichnung zu finden, war fast grenzenlos und
äußerst unterhaltsam.
Welches Etablissement hast du besucht, sagtest du?, fragte
Alexander zum Beispiel.
295
Oder: Na, wie war dein Hotel?
Oh, es war alles vom Feinsten, das kannst du mir glauben,
morgens gleich das Kaviarfrühstück, zu Mittag Lachs mit
sämtlichen Beilagen, und von den Desserts machst du dir keine
Vorstellung! Am Königshof könnte es nicht besser sein.
Am Königshof? Was du nicht sagst. Muss ja toll gewesen sein.
Ja, dabei ist es noch gar nichts gegen das Abendmahl bei mir!, so
ein anderer weiter.
Der Kronprinz selbst hätte es nicht verschmäht, und der ist nun
wirklich nicht gerade der Allerbescheidenste!
Ho, ho, das läuft ja auf Majestätsbeleidigung hinaus!
Ach, was, so ein kleiner Lump wie unsereins ist doch für die
Aristokraten im Königsrang nicht sanktionsfähig!
Satisfaktionsfähig!
Was bitte, ist denn das, wenn man fragen darf?
Na, satisfaktionsfähig eben.
Alexander, du bist doch gescheit, studierst an der Königlichen
Universität, erkläre du uns, was das heißt!
Ja, ich habe dieses Wort eigentlich auch noch nicht gehört.
Aber, es ist doch sicher eins von den ausländischen, denk nach!
Ja, es ist lateinisch, ganz bestimmt, und es heißt wohl, dass ein
einfacher Mann einen hohen nicht beleidigen kann, weil er dafür
296
viel zu gering ist, .... beziehungsweise nicht zur Rechenschaft
gezogen wird, was so viel heißt wie, wenn zwei sich duellieren,
müssen sie vom selben Stand sein!
So, so ist das! Zu gering, sagst du? Das hör’ sich einer an. So also
reden die da oben!
Je nach Alkoholspiegel kam es, vor allem zu vorgerückter Stunde,
zu bestimmten Meinungsverschiedenheiten der gröberen, auch
handgreiflichen Sorte, außer man ließ sich von Alexander
beruhigen, der sich schließlich auch nicht zu gut war, zu erklären,
was er wusste und beileibe hier mit uns nicht unseren
beschissenen Abend verbringen müsste!
Beruhigt euch Kinder, es ist doch nur ein Scherz, ein Spaß, ein
Wort! Lasst es egal sein, seid fröhlich und unterhaltet euch über
etwas Besseres.
Ja, du hast recht, du bist ein verdammt kluger Bursche!
Klar, ist er das, ein Doktor eben!
Ich bin noch nicht Doktor!
Ach was, für uns bist du Doktor, die da oben können sagen, was
sie wollen, selbst, wenn sie dich durchfallen lassen diese
akademischen Esel, für uns bleibst du immer der Doktor! Wir
haben keinen anderen und wollen keinen anderen!
Ja, er hatte hier seine Lobbyisten, seinen Fanclub, seinen
Wahlbezirk, zweifellos.
Dennoch fiel es ihm mal schwerer, mal leichter, dies zu ertragen,
die Gegensätze unter einen Hut zu bringen, seine Prüfungen zu
bestehen, die Vorlesungen zu besuchen, mit den Professoren zu
297
verhandeln, Termine auszumachen und abends hier her zu
kommen.
Doch das Schlimmste war sein Aufzug, das sich immer wieder
Zusammenrichten, die Hygiene bei den Verhältnissen, in denen er
jetzt lebte, sich in aller gebotenen Eile irgendwie so weit zu
bringen, dass sie ihm dort in der besseren Welt nichts anmerkten,
er seine Fassade zu wahren halbwegs im Stande war. Seine
Wäsche bereitete ihm besondere Sorgen, das Trocknen, das
Bügeln und damit sein ganzes Aussehen & Auftreten.
Zwar schauten sie ihn des Öfteren befremdlich an, wechselten
verräterische Blicke, verstohlene Grimassen, aber im großen &
ganzen kam er über die Runden. Sogar ziemlich gut, denn es gab
kaum eine Prüfung, die er nicht mit „Sehr gut“ hinter sich brachte.
Wenn etwas dieser Art auf ihn zukam, wussten es alle in der
Kneipe, zitterten um & mit ihm, redeten über das, was von so
einem verlangt war, verdammt nochmal!
Das musst du erst mal drauf haben und auf die Bühne bringen!
Dafür sind wir hier alle viel zu blöd!
Das kannst du laut sagen!
Es gab sogar welche, die sich als Vertretung im Wirtshaus
anboten, was sie dann gar nicht schlecht machten, nur, damit er
lernen konnte und sich nicht immer so abhetzen musste.
Sich mächtig zusammenrissen, es tatsächlich hinkriegten, auf ihn
in aller Nervosität warteten, derweil den Laden am Laufen hielten,
alles bewältigten, obwohl sie sonst für nichts zu gebrauchen
waren. Nicht dass dies erlaubt gewesen wäre, doch alle wussten,
worum es ging, standen hinter ihm, rissen sich auf einmal
zusammen, und wenn auch sonst so gut wie nichts klappte, was
sie sich vornahmen, so passierte während Alexanders
Abwesenheit doch nie etwas. Blitzblank standen die Gläser in
einer Reihe, die dampfenden Töpfe in der Küche ließen nichts zu
298
wünschen übrig, die Tische waren abgewischt, sie wollten einen
guten Eindruck machen, sich nicht blamieren, nicht voreinander
und schon gar nicht vor Alexander.
Angespannt warteten sie auf ihn, beobachteten genau, wie er
eintrat, erhoben sich langsam, hielten den Atem an beinah, und
wenn sie ein Lächeln, ein Augenniederschlagen bei Alexander
ausmachten, und war es noch so unauffällig, fingen sie zögernd,
wie, wenn man nicht weiß, ob das Konzert schon zu Ende ist,
ohne ein einziges Wort von ihm, das Klatschen & Gratulieren an,
bis alles in einen ohrenbetäubenden, wirklich aufrichtigen
Applaus überging.
Von allem war dies das Schönste, das, worauf er sich am meisten
freute, das Feiern mit den einfachen Leuten von Södermalm.
Doch lag von ihrer Seite Wehmut darin, denn mit jedem Mal
rückte der Abschied näher, ja eigentlich war er längst im Gange,
und mit jeder bestandenen Prüfung verloren sie ihn ein bisschen
mehr.
Hätte sein Vater ihn hier erlebt, er wäre stolz gewesen, dachte
Alexander oft, denn es kommt ja wohl nicht nur auf das Wissen
an, sondern auch auf den Charakter, auf die Liebe zu den
Menschen, das Verständnis für ihre Nöte, so wie sie Verständnis
für die seinen hatten.
Und es sollte sogar eines Tages jenen Abend geben, an dem sein
Vater sich auf den Weg machte, ihn aufzusuchen, endlich ernsthaft
nach ihm fragte, tatsächlich Ausschau hielt, die Spur aufnahm, der
alte Herr seinen Canossagang in die Kneipe tat und vor lauter
Staunen & Entsetzen fast zusammenbrach, voller Freude &
Mitleid, ja, sich aufrichtig schämte, in seiner, mitunter
theatralischen Art, Alexander umarmte und ihn in aller Form um
Verzeihung bat.
Nun, so viel Aufhebens hätte es vor allem in der Öffentlichkeit für
Alexanders Geschmack gerade nicht sein müssen, dafür hätte man
früher kommen können, doch nun war es so, was ihm auch recht
war und recht sein musste.
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Eines fortgeschrittenen Abends nämlich, ging in unserem Lokal
die Tür auf, und herein kam unter den Augen der Södermalmer
Unterwelt ein feiner Herr mit Hut & Pelzkragen, schritt
geradewegs auf die Theke zu, nahm seit seinem Eintreten nichts
als Alexander ins Visier.
Endlich, so dachte er, hatte sein Sohn ausreichend gebüßt, genug
verstanden, um zurückgeholt zu werden.
In Wahrheit lagen auch hinter ihm unendliche Qualen,
Gewissenbisse, Rahelsgespräche, Alpträume, Ahnungen.
Allein das Schweigen über seinen einzigen Sohn, nicht mehr von
ihm zu reden, etwas, das zuvor seine Lieblingsbeschäftigung
gewesen war, ja, man konnte sagen, kaum jemand wagte es, ein
Gespräch mit ihm anzufangen, ohne sich nach dem jungen Herrn
zu erkundigen, allein dieses, selbst auferlegte Schweigen war für
ihn eine bittere Medizin, eine Hiobsstrafe.
Jedermann wusste, wie sehr er an ihm hing. Manche behaupteten
gar, es wäre ausgeschlossen, mit ihm Geschäfte zu machen, auf
seine Gunst zu zählen, wenn man nicht durch aufmerksame,
mitfühlende Fragestellung hinsichtlich des Sohnes ein gutes Licht
auf sich zu werfen verstand.
Dann konnte es vorkommen, dass auch Herr Sommerfeld sich
nach des anderen Sprösslingen erkundigte und das gleiche
Interesse zeigte, erstaunlich viel über Kinder wusste, so, als wäre
er Spezialist auf diesem Gebiet. Sie kamen ins Fachsimpeln,
erzählten die drolligsten Geschichten über ihre Kinder, wurden
rührselig & sentimental, vergaßen mitunter das Geld, die
Bedingungen, die Geschäftsordnung, zerflossen in Erinnerungen,
konnten aufstehen und ein Glas Wein trinken gehen, ohne sich
noch zu vergegenwärtigen, wozu sie sich getroffen hatten. Nichts
& niemandem ging der alte Herr mehr auf den Leim als Fragen
nach seinem geliebten Alexander. Ihm galt sein ganzer Sinn, seine
Sorge, sein ganzes Leben.
Er verstand Menschen, die es hielten wie er, vertraute ihnen,
300
machte mit ihnen aus keinem anderen Grund Geschäfte, Gewinne,
half ihnen, vorwärts zu kommen, denn wenn sie Verständnis &
Liebe zu Kindern hatten, waren sie für ihn akzeptable Partner. Wer
Kinder hatte, sie großzog, sich um sie sorgte & kümmerte, sie
liebte & achtete, war für ihn unantastbar.
Nun aber war ihm jede Aufmerksamkeit dahingehend zur Qual
geworden, die anderen wussten nicht ein noch aus, womit sie ihn
stimulieren sollten, wie mit ihm handelseinig werden. Er schien
das Interesse an so gut wie allem verloren zu haben.
Es schien ihm zuweilen wie der Verlust des Augenlichts, doch
gerechte Strafe musste sein, fand er, grämte sich, raufte sich die
Haare, schlief schlecht, durchlief Phasen der Rage wie der
Gleichgültigkeit, doch am Ende, am Ende musste er begreifen,
dass ein Teil der Schuld auch bei ihm selber lag.
Rahel hatte ihn auch diesmal eines Besseren belehrt, ihm allen
Ernstes erklären müssen, dass der Sohn nur seiner Natur gefolgt
war, etwas, worauf er in seiner abgöttischen & überbesorgten
Vaterliebe total vergessen hatte, gerade, als wäre Alexander
lediglich eine Art Teddybär oder der kleine Bub von früher.
Ein schier ewiges hin & her, ein endloses Tauziehen zwischen den
Eheleuten, also ihm und dem Geist seiner Frau, lag hinter ihm.
Diese Kneipengeher & Trunkenbolde, unter denen er seinen Sohn
nun fand, schienen ihm alles andere als der rechte Umgang, und
sein Gewissen regte sich erneut.
Man verfolgte ihn mit rollenden Augen & offenen Mündern,
suchte untereinander Blickkontakt, rührte sich keinen Zentimeter
von der Stelle.
Es war so leise, dass man die Mäuse rascheln & kratzen hörte, das
Schlucken von Spucke, das Atmen ringsum.
Jeder wusste sofort, um wen es sich handelte. Im Leben hatten sie
nicht so einen Herrn gesehen.
So einer hatte in ihrer Gegend nichts verloren, das sah man
sogleich. Traurigkeit überkam sie, der letzte Abend schien
gekommen, noch bevor Alexander sein Studium beenden konnte,
301
und dieses hier hatte ihnen, den Södermalmern, gerade noch
gefehlt.
Der Auftritt des alten Sommerfeld führte ihnen erst recht ihre
Verworfenheit, ihre Armut, ihre Lage in aller Deutlichkeit vor
Augen. Sie waren nicht mehr unter sich, ein wirklich Fremder war
eingetreten, einer, der Anspruch erhob, ihre Welt wieder
zurückwarf auf das, was sie zuvor gewesen war, bevor Alexander
aufgetaucht war und sie mit seiner Anwesenheit geadelt hatte.
Man nahm ihnen ihren allerliebsten Wirt, den sie respektierten wie
keinen anderen. Nie wieder würde ihnen einer wie er
unterkommen, sich mit ihnen abgeben.
Alexander erging es ähnlich, denn jetzt, wo sein Vater tatsächlich
kam, musste er ihm erklären, dass er nicht ohne weiteres hier
fortkonnte.
Es war auch sein besonderer Ort geworden, seine erste große
Lebenserfahrung, denn er kannte jetzt die Leiden & Sorgen dieser
Menschen, ihre Tapferkeit, ihre Ängste, ihren Schmerz, ihre
Geschichte.
Als sein Vater ihn einfach mitnehmen will, sich nichts anderes
vorzustellen vermag, als mit seinem Sohn dieses elende Lokal auf
Nimmerwiedersehen zu verlassen, da widersetzt sich Alexander:
Aber Vater, ich kann nicht mit dir gehen!
Ich habe hier meine Arbeit, meine Freunde, meine Gäste,
verstehst du nicht? Ich muss dableiben aus allen Gründen.
Alle lauschen gespannt, spitzen die Ohren, trauen ihren Augen
nicht. Alexander folgt seinem Vater nicht, erklärt ihm, dass er
bleiben will, habt ihr das gehört? Er gehorcht seinem eigenen
Vater nicht, einem Vater wie diesem!
Das hätten sie im Leben nicht für möglich gehalten!
Obwohl er nicht müsste, es sich leicht machen könnte, in Wahrheit
niemandem Rechenschaft schuldet, Geld wie Heu besitzt, Geld,
das er sich nicht verdienen muss, schon gar nicht auf diese Weise
hier, versieht er bis zum Ende seines Studiums seinen
allabendlichen Dienst in dieser Södermalmer Bude, denn genau
302
dies ist es, was er an jenem denkwürdigen Abend in aller
Öffentlichkeit & Privatheit zugleich, erklärt.
Seinem alten Vater rinnen die Tränen herunter, er versteht die Welt
nicht mehr, aber er selbst hat sich und seinen Sohn in diese Lage
gebracht. Im Innersten, das weiß Alexander, erkennt sein geliebter
Vater sehr wohl, worum es geht und wie stolz er sein kann &
muss, denn sein Sohn macht seinem Namen Ehre, ist nicht
wehleidig & hochmütig geworden, hat den Fehler, der sie zu
trennen im Stande gewesen war, längst gut gemacht, ist über sich
& seinesgleichen hinausgewachsen. Die Härte der Strafe hat ihn
nicht zerbrochen, sondern stärker & edler gemacht.
Er sollte in dem lange ersehnten Augenblick, da er Alexander vor
fremden Menschen gegenübersteht, er sollte jetzt einen guten
Eindruck hinterlassen, keinen Fehler mehr machen, doch was ist
jetzt richtig, was falsch?
Und als wäre das nicht genug, hört er auf einmal Alexander sagen:
Du musst keine Angst haben, Vater, dein Gesicht zu verlieren, wir
sind eine Familie hier, auch wenn es oft schwierig ist mit allem,
das gebe ich zu, gestritten, geschlagen, gelogen & betrogen wird,
aber so ist eben das Leben, denn sie alle hier, jeder einzelne
Mann, jede Frau, haben ein schweres Dasein, schwerer, als wir
beide es uns vorstellen können. Es ist nichts besonderes,
wohlhabend zu sein, doch mit wenig Geld durchzukommen, schon.
Auch ich musste viel lernen, um sie zu verstehen, aber es war in
Wirklichkeit ganz leicht, denn dieses Lokal ist für viele der einzige
Ort, wo sie für kurze Zeit ihr Leid, die ganze Härte, die dieses
Königreich für arme Leute bereit hält, zu vergessen. Wir, Du und
ich, wissen nichts davon, wir haben alles. Darum bitte ich dich,
bezahl’ für heute Abend einem jeden die Zeche, das wäre eine
große Hilfe. Auch wenn du niemanden hier mit Namen kennst, ich
kenne sie alle, ich schätze sogar die meisten, habe unter ihnen
meine Freunde gefunden. Sei so gut und hilf uns bitte.
Sommerfeld legt, ohne weiter zu fragen, den Inhalt seiner
Geldtasche auf den Tresen, und während er hinaus geht, sagt er:
303
Du findest mich in meinem und deinem neuen Haus am Birger
Jarlsgatan. Komm, sobald du hier fertig bist. Ich warte auf dich,
mein Sohn.
Doch Alexander kam weder heute noch morgen noch irgendwann,
denn er wollte nicht in die Knie gehen vor der Bequemlichkeit.
Sein Vater reiste wieder ab, hinauf in den Norden, hinüber nach
England, nach Russland, war insgeheim erstaunt über seinen
besonderen Sohn, von dem ihn etwa ein dreiviertel Jahr später ein
bescheidener Brief erreichte, und zwar in einem Hotel, in
welchem er früher mit Alexander manchmal gewesen war.
Lieber Vater,
Ich möchte Dir nur kurz mitteilen, falls Du diesen Brief überhaupt
zeitgerecht erhältst, dass mir am 1. Dezember 1960 der
Doktortitel der allgemeinen Medizin verliehen wird.
Du musst nicht kommen, mach’ Dir keine Eile, es gibt
anschließend mit ein paar Freunden einen kleinen Imbiss, und am
Abend steigt in der alten Kneipe, die Du ja jetzt kennst, in
Södermalm eine bescheidene Feier.
XII
Meine viel spätere Erinnerung
Die
außerordentliche Geschicklichkeit des fremden Arztes
überraschte mich damals, er aber dachte, wie sich später
herausstellte, vor lauter Nervosität ganz tollpatschig gewesen zu
sein.
Es war nämlich selten, dass es auf Anhieb gelang, über den
gesetzten Spatel in einer Sekunde das Röhrchen in die Trachea
einzuführen und das Frühgeborene währenddessen keinen
einzigen Atemzug verlieren zu lassen.
Die, von mir vorbereitete Beatmungsmaschine musste also nur
noch richtig eingestellt & angeschlossen werden. Schon im selben
304
Augenblick wurde das Kind rosig, bewegte sich, fing an zu
strampeln.
Die erste Sauerstoffeinstellung geschah bereits aufgrund der
Anzeige der Transoxode, jenes Gerätes,
das den
Blutsauerstoff-gehalt durch die Haut misst.
Problemloser, übereinstimmender, selbstverständlicher war für
mich keine medizinische Handlung je abgelaufen, gerade so, als
wäre sie geprobt gewesen, obwohl Alexander mir später gestand,
wie aufgeregt er meinetwegen gewesen war.
Abwechselnd erzählten & erinnerten wir uns jetzt, so viele Jahre
später an den fernen Abend von damals, an manche Details, die
der andere nicht mehr wusste, andere wieder waren vollkommen
gleich in Erinnerung geblieben.
Genau genommen war es diesmal bereits unser drittes Treffen,
auch dieses unvorhergesehen.
Ich hatte eine dünne Spur gelegt, eine leise Hoffnung gehegt, die
sich dennoch überraschend erfüllte.
In den Jahren nach der ersten Nacht hatte ich mein eigenes Leben
gelebt, zwei Jahre nach dem Nachtdienst mit Doktor Sommerfeld
einen Künstler geheiratet, zwei Kinder bekommen, die Station
längst verlassen.
Und, als wäre dies nicht genug gewesen, begann ich zunächst zu
übersetzen, besser gesagt, Übersetzungen anzufertigen und später
mit zunehmender sprachlicher Sicherheit, quasi daraus
hervorgehend, zu schreiben.
In den Nächten, die ich nun nicht mehr auf der Intensivstation
zubrachte, sondern über Papier & Texten, Buchstaben &
Beistrichen saß, in diesen Nächten wurde in mir die Idee meines
Lebens geboren, eine „Idee mit Hörnern“ sozusagen, eine mich
wirklich ganz & gar, durch & durch erschütternde Idee, die mehr
& mehr Besitz von mir nahm, und als ich langsam Klarheit
gewann, begann ich in ihr ein großes Glück zu erkennen. Nichts
anderes war es, als was ich im Innersten schon immer wollte,
nichts anderes als der Wunsch, meine Vergangenheit, meine
305
Erlebnisse, meine Gedanken, meine Leiden, alles, was sich sonst
nicht erzählen ließ, niederzuschreiben. Plötzlich nahm etwas in
mir Gestalt an, wurde konkret, kam auf mich zu, ließ mich nicht
mehr los, nahm mich in Gefangenschaft.
Aus dem Sitzen & Tüfteln über fremden Texten und dem damit
verbundenem persönlichen, fast einsamen Gewahrwerden des
eigenen Talentes, wurde die Suche nach dem, was und wer ich
war, die beinah sang- & klanglose Verwandlung meines Traums in
geschriebene Wirklichkeit.
Noch ungenau zwar, verschwommen & nebelig noch, aber nicht
mehr zu verleugnen. Vor mir stand wie in Feuerschrift an der
Wand ein Weg gezeichnet, den ich zunächst zögernd, noch
ungläubig, bald aber leidenschaftlich anzunehmen begann.
Dann war es soweit, sich zu entscheiden, etwas völlig
Unbekanntes, ein anderes, fernes wie bereits vertrautes, schon
immer geliebtes Land zu betreten.
Ignacio Silone, dessen Fontamara ich damals übersetzte, ließ in
mir einen unerhörten Gedanken, fast eine Erkenntnis reifen, die
mich zuweilen heute noch erschaudern lässt.
Warum schreibst du das alles nicht selbst? Warum läufst du einem
Fremden nach, dessen Werke bereits übersetzt sind, der längst im
Olymp der Literatur zu Hause ist, während deinen kleinen Namen
niemand kennt?
Eine unbedeutende Krankenschwester, ein unauffälliges Mädchen
beinah, scheint überzuschnappen, den Verstand zu verlieren, sich
zu überschätzen, den Boden unter den Füßen zu verlieren, seinen
eigentlichen Pflichten nicht mehr nachzukommen.
Plötzlich konnte ich nicht mehr von diesem Gedanken lassen, er
rührte an mein Innerstes, es war, als hörte ich den Klang einer
geheimnisvollen Syrinx, einen Klang, der vielleicht schon immer
in mir war, dem ich nur nicht zu lauschen gewagt hatte. Nun
wollte ich ihm folgen, ob er ins Glück oder ins Unglück führte,
Erfolg oder Scheitern bringen würde, es war ohne Bedeutung, es
existierte keine andere Möglichkeit mehr.
306
Ich schrieb in jener frühen beneidenswerten und einzigartigen
Unschuld romantische Gedichte, die ich zunächst selber in
einzelne Bändchen zusammenfügte, kitschig verzierte, anderen
zukommen ließ, im engsten Freundeskreis vorzulesen begann,
etwas, das man nur am Anfang zustande bringt, am Anfang, wenn
man noch nicht weiß, dass sie es nicht verstehen werden, sich
über einen lustig machen, obwohl man selbst vor Rührung darüber
weint.
Und doch verlangt das Schriftstellerherz sein ganzes Leben lang
danach, gelesen & anerkannt zu werden, wie jene großen, die
jeder kennt, wenn auch nicht gelesen hat, freilich nur so tut,
gerade genug darüber weiß, um sich auf Partys nicht zu
blamieren. Sie belächelten mich gewiss, aber ich hatte mein
Himmelreich gefunden, ich hatte es gefunden, ich war
unverwundbar geworden.
Im ersten Aufwallen ist es einem egal, man lässt sich blenden,
schmeicheln, verschmähen, es tangiert einen nicht, man ist rein &
voll, voll von Geschichten & Ideen, legt seine ersten
priesterlichen Notiz-Bücher an, kauft sich dekorative Stücke, um
die tiefsten Gedanken hinein zu schreiben, seine Entwürfe, seinen
Vers. Den Vers des Lebens, den man beitragen möchte, zu
veröffentlichen gedenkt, auf dass er später einmal mit einem in
Verbindung gebracht werde.
Dann die ersten Erzählungen, mit denen ich es ähnlich hielt, es
kamen die Erfolge, kleine & große Preise, die mir Mut gaben,
fortzufahren, einen Verlag herbeizauberten und alles, wovon ich
früher nicht einmal träumte, weil ich es mir nicht vorstellen
konnte.
Mein Mann Ottokar unterstützte mich in meiner neuen Arbeit,
was das allerwichtigste für mich war, denn hätte er sie nicht
gutgeheißen, hätte ich nicht sein Verständnis, seine Kritik, seine
Ermunterung gehabt, wäre wohl eines Tages alles im Sand
verlaufen. Niemand kann mit einer Familie am Hals, mit kleinen
Kindern ohne weiteres diesen Weg einschlagen.
307
Wir hatten uns eine Wohnung gekauft, sie hübsch eingerichtet,
und es kam nur noch selten vor, dass ich an die Zeit im
Krankenhaus zurückdachte, doch dies alles geschah nicht sofort,
bedarf eines weiteren Rückblicks und etlicher Erklärungen. So
beginnt nun das Kapitel, das ich jenem Menschen widmen
möchte, dem ich die Möglichkeit und das Glück des Schreibens
verdanke, mein ganzes ungewöhnliches Leben an seiner Seite und
letztlich diesen, meinen ersten Roman.
XIII
Ottokar
Glück & Anfang
Der junge Mann im roten Walkjanker, welcher mir schon in der
Garderobe aufgefallen war, dem es umgekehrt ähnlich ergangen
sein musste, dieser junge Mann sprach mich später an diesem
Abend an, forderte mich noch später sogar zum Tanzen auf.
Mitte der Siebziger Jahre kamen jene lockeren Tänze in Mode, die
man ohne weiteres auch allein oder mit einer Freundin ausführen
durfte, sodass wir zum ersten Mal ohne auf einen Burschen
angewiesen zu sein, ausgehen konnten. Fortgehen, ohne
schamhaft & ängstlich auf einem Stuhl sitzen & warten zu
müssen, bis einen jemand ansprach, mit auf die Tanzfläche nahm,
sich sozusagen erbarmte, um am Ende womöglich zudringlich zu
werden. Seit Menschengedenken war es so gewesen, nichts als
eine Peinlichkeit, eigentlich eine Schande, vor allem eine
Herabsetzung des jungen Mädchens an sich, das in seiner
Einsamkeit in diesen Stunden schier vor Scham verging. Ging
man nicht auf Tanzveranstaltungen, lernte man niemanden
kennen, tat man es aber, gab es nur dieses Ritual, das zwar dem
308
gegenseitigen Kennenlernen von Burschen & Mädchen dienen
sollte, um dessen Abwicklung im einzelnen sich aber niemand je
gekümmert hatte. Man überließ es dem einzelnen wie er es
verstand, auffasste, vermochte. Ja, gewiss, in den besseren
Kreisen, wo man seine Töchter in die Gesellschaft einführte, wo
alles bereits ausdiskutiert schien, man sich in der Tastatur nicht
vergreifen konnte; wo Eltern, Onkeln, Tanten, Großeltern im
Hintergrund wachten & dachten, arrangierten, war es anders, aber
dorthin reichten wir alle nicht, Schwesterschülerinnen, die wir
waren. Ich hatte längst mit diesem erniedrigenden Kapitel Tanz
abgeschlossen, die wenigen Male hatten mir gereicht, lieber
wollte ich allein bleiben, in Gottes Namen halt keinen Mann
finden, als mich noch einmal in diese Lage zu bringen. Es war mir
zuwider seit meiner Tanzschulzeit, und so sollte es bleiben. Ich
fand es unerträglich, ja entwürdigend, wie ein Sonderangebot oder
ein extra für diese Ausstellung zurechtgemachtes Püppchen
dasitzen zu müssen und sich begutachten zu lassen, es gerade
noch oder wieder einmal nicht geschafft zu haben.
Nun war es endlich anders gekommen, denn in anderen Ländern
brachen die Jugendlichen die alten Barrieren nieder, ließen sich
nichts mehr vorschreiben, waren selbstsicher, frech & sehr
erfolgreich. Davon profitierten wir, jede einzelne Landpomeranze,
jedes einfache Bauern- & Arbeitermädchen. Dafür verdienten die
langhaarigen Revolutionäre den größten Respekt. Sie ließen sich
nicht mehr in Uniformen zwängen, die Haare rasieren, in
Kasernen anschreien oder sonst wie verschachteln. Zwar ging es
auf dem Land weiter nach den alten Sitten her, doch in der Stadt
hatte sich die Zeit bereits geändert. Darin lag der Grund, warum
zwei Mädchen wie Patricia & ich, sich erlauben konnten, ohne
die Begleitung älterer Herrschaften, ohne Eltern, einen Freund
oder sonst einem Anstandswauwau, denn über nichts davon
verfügten wir, auf einen, wenn auch recht einfachen Maskenball,
zu gehen.
Meine einzige Freundin damals, Patricia, eine Südamerikanerin,
309
mit der ich in einem Zimmer im Schwesternheim wohnte, hatte
wieder einen ihrer Tobsuchtsanfälle gehabt. Streit war für uns
längst unvermeidlich geworden, gehörte zum ganz gewöhnlichen
Alltag.
Sie, fünf Jahre älter als ich, stammte aus Bolivien, war mit einem
österreichischen Entwicklungshelfer, wie es sie in dieser Zeit
zuhauf gab, herübergekommen, direkt zu mir ins Zimmer, saß
plötzlich auf dem Bett neben mir. So standen wir uns eines Tages
gegenüber, keine verstand der anderen Sprache, doch niemand
hatte Patricia bei sich haben wollen, jede bereits eine Freundin
mitgebracht, eine Zimmerkollegin gehabt, mit der sie unbedingt
zusammenziehen musste, ausgemacht, wie sie sagten, vor
unerdenklich langer Zeit.
Ihr wirklich feuriges Temperament war wieder einmal mit ihr
durchgegangen, sie war eine Rassestute, die Launen hatte,
Ansprüche, ständig unbefriedigt in der Koppel stand. Sie hatte
mich wieder beschimpft, beleidigt, denn sie selbst wurde dauernd
beschimpft, beleidigt ausgelacht, wegen ihrer Herkunft, ihres
Aussehens schlecht behandelt, obwohl sie eine überaus gute
Krankenschwester war. Es lag wieder einer der Tage hinter ihr, wo
sie weinend, zornig, deprimiert nach Hause kam, sodass sie
schrie, sich die Haare raufte, alles mit ihren Fingernägeln
zerkratzte.
Ich kannte diese Zustände zur Genüge, ertrug sie stoisch oder
eben kaum mehr, je nach der eigenen Situation, aber ich wusste,
verstand, dass sie zuinnerst & zuäußerst Heimweh hatte. Ihre
vielen Leiden kamen davon, die starken Medikamente auf dem
Nachtkästchen zwischen unseren Betten verrieten ihre
Krankheiten. Magengeschwüre, Neuralgien, Blasenentzündungen,
Infektionen, Nervosität, Schlaflosigkeit, Schmerzen aller Art,
Erschöpfung, Depressionen.
So war es an diesem Abend wieder eskaliert, doch auch hinter mir
lag ein langer & anstrengender Tag auf der Station, ich hätte selbst
dringend Aufmunterung statt Geschrei gebraucht. In solchen
310
Momenten nannte sie alles beim Namen, fluchte, weinte, trotzte,
schrie mich an, die einzige Person, die greifbar war, nicht weg
konnte, ebenso keinen Ort hatte, als dieses armselige, enge
Schwesternschülerinnenzimmer, das wir uns teilten, ohne jeden
Komfort, ohne Platz, ohne ein privates Stückchen Boden. Ich
musste es mir anhören, in der Grellheit der einzigen Glühbirne
unter einem billigen Stück Blech, das in der Mitte über dem Tisch
hing, so trist, so sparsam wie im alten Leprosenheim in der
nächsten Gasse, so als wäre schon ein Lampenschirm
überheblicher Luxus, nichts, was man jungen Mädchen in der
Ausbildung zur Krankenschwester zugestehen müsste. Über mich
ergehen lassen also die alte Litanei, das immer & ewig gleiche,
das ich seit Jahren ertrug, doch was zu tiefe Ursachen hat und
daher nicht zu ändern ist, das wusste ich lange schon, dagegen
kann man nichts tun. Erinnerungen an die Streitigkeiten meiner
Eltern kamen hoch, etwas, das ich niemandem erzählte, etwas, das
ich hütete wie ein tödliches Geheimnis. Mein Herz begann zu
stechen, meine Luftröhre verengte sich, mein Mund trocknete aus,
Trauer überkam mich, im Kopf spielten sich die alten Bilder von
selber ab, ich musste wieder denken an daheim wie damals im
Internat, als ich vor Sorge um meine Eltern schier verging und
doch nicht fort und es niemandem anvertrauen konnte.
Patricia konnte nicht wissen, dass auch sie Leid verursachte,
welchen Schmerz sie auslöste, sie mir im selben Augenblick
zufügte, durch ihre Anfälle wieder & wieder hervorrief und wie
nahe ich selbst am Abgrund stand.
Sie führte eine Art von Stellvertreterkrieg mit mir; die
Diplomschwestern, Stationsvorsteherinnen, Schülerinnen, Ärzte,
die Österreicher als ganzes nahmen für sie Gestalt an in mir,
gingen in mich ein, flossen zusammen in meiner Person. Erst, als
ich zu weinen anfing, die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte,
mir die Ohren zuhielt, in mich zusammenfiel, da lenkte sie ein,
wurde gewahr, was sie ein weiteres Mal angestellt hatte, und wie
immer tat es ihr in der Seele leid. Ihr gutes Herz gewann wieder
311
die Oberhand, sie kniete vor mir nieder, bat mich dramatisch &
innig wie niemand sonst um Verzeihung, bot mir alles an, was sie
besaß, streichelte meinen Kopf, meine Haare, flüsterte
schluchzend meinen Namen, nannte mich ihren einzigen Schatz,
ihre beste, allerbeste Freundin auf der ganzen, ganzen weiten,
weiten Welt.
Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf, es fiel ihr etwas ein! Sie
besaß ja zwei Ballkarten für just diesen Abend, für den Ball der
Bälle, nämlich den großen, einmal im Jahr zur Faschingszeit
stattfindenden Lateinamerikaball.
Als Versöhnung & Wiedergutmachung sollte ich mit ihr auf dieses
Fest gehen. Es war vorüber, ihre Phantasie kehrte zurück,
augenblicklich riss sie den Kleiderschrank weit auf, ging ihre
vielen Kleider & Röcke routiniert durch, schob sie zusammen &
auseinander. Da hing am Ende der Stange das einzige Kleid,
welches mir gehörte, ein einfaches, schlaffes Dirndl samt
Blümchenschürze und Spitzenbluse. Neben ihren bunten, fetzigen
modernen, ja, mondänen Sachen sah es noch dümmlicher aus als
sonst. Ich hatte es mit vierzehn Jahren in der Modeschule, die ich
zuvor besucht hatte, selbst genäht, ein Werkstück also, das mit
meiner Hände Arbeit zustande gekommen, benotet worden war,
weshalb ich es nicht mochte, nur Mühsal & Wut damit verband.
Sie aber hatte die Idee, die Rollen zu tauschen.
Sie wollte sich als österreichisches Bauernmädchen verkleiden,
ich sollte als Indianerin gehen, als keine zwar mit einem
topfartigen Hut wie in den Anden, sondern in Ermangelung
originaler Requisiten wie eine moderne Halb- oder
Viertelindianerin der besseren südamerikanischen Gesellschaft.
Nach längerem hin & her, dem ausgiebigen Sträuben meinerseits
und dem übertriebenen Schmeicheln ihrerseits gab ich nach. Sie
schlüpfte in mein Kleid, ich in ihres, darüber warf ich den
buntgestreiften Poncho Patricias.
Wir schminkten uns gegenseitig, ich wurde verdunkelt, sie
aufgehellt. Aus der Indianerin war eine Bäuerin geworden, aus mir
312
eine Indígena. Und so kam es, dass sich der rote Walkjanker nach
mir umdrehte und mich schließlich ansprach. Alle waren entzückt
über die offensichtliche Idee, die Kleider zu tauschen, man
lächelte uns freundlich & anerkennend zu, nickte zustimmend,
doch ahnte ich nicht, dass ich bereits meinem späteren Mann
begegnete, der sich in genau dieser Aufmachung in mich
verguckte.
Natürlich hatte sich der Entwicklungshelfer, mit dem Patricia
einst über den Ozean gekommen war, hoffnungsvoll wie
hoffnungslos in sie verliebt & verschaut, darüber seinen Verstand
verloren, ja, sie soweit gebracht, nachdem sie ihr Medizinstudium
wegen der Schließung der Universität in La Paz abbrechen hatte
müssen, ihm nach Europa zu folgen, ihr Land, ihren Kontinent zu
verlassen, in eine, ihr vollkommen fremde Welt zu gehen, um, wie
sich später herausstellen sollte, für immer zu bleiben.
Er dürfte ihr den Himmel auf Erden versprochen haben,
zumindest einen, den er sich vorstellen konnte. Eine Ausbildung
sagte er ihr zu, meinte aber Heiraten, Hausbauen, Kinderkriegen,
die katholische Welt eines Bauernbuben eben.
Patricia aber war ein richtiger Papagei; reinrassige Indianerin,
deren Muttersprache zunächst nicht einmal Spanisch, sondern
Quechua gewesen war. Dunkelhäutig, das Schwarz ihrer Haare
schimmerte blau, ihre Augen konnten glühen wie Kohlen oder
schläfrig wirken, somnambul, gleichgültig, teilnahmslos. Ihr
Wesen so temperamentvoll wie tiefgründig, intelligent, sinnlich,
exotisch. Braucht es noch weitere Gründe für einen Mann, um auf
eine solche Frau zu fliegen wie ein Adler, wie ein Hirsch? Der
Reiz einer, ihm bisher unbekannten Erotik, ja das Weibliche
schlechthin, stürzte mit aller Gewalt über ihn herein. Dabei ließ
sie es so aussehen, als käme ihr gar nicht der Gedanke an einen
Mann, sie war züchtig & streng gekleidet, die Frisur wie geölt &
gebügelt, was sie nur noch anziehender machte, und nicht nur für
ihn. Das zu einem winzigen Knoten tief im Nacken gebändigte
Haar, welches offen gelassen, bis zu ihren Hüften reichte, alles,
313
einfach alles schien dazu angetan, sein Ministrantenherz zutiefst
zu erschüttern, ihn zu verführen. Und als müsste man noch eins
draufsetzen, kam der dunkle durchsichtige Spitzenschleier dazu,
den sie am Sonntagmorgen trug, wenn sie völlig versunken &
ausdruckslos in der dekorativen Jesuitenkirche von San Ignacio
im Tiefland Boliviens in einer Reihe mit ihren Nachbarinnen &
Freundinnen kniete, so aufreizend wie abweisend, so
zurückhaltend wie fordernd.
In jenem Kirchlein, das er mit zwei, drei anderen österreichischen
Idealisten restauriert hatte, von denen ein jeder inzwischen genau
das gleiche tat wie er, nämlich Ausschau halten nach
einheimischen Mädchen, in jenem Kirchlein hatten sie sich das
erste Mal gesehen, dort hatte ihn quasi der Blitz getroffen.
Dagegen verblassten die Dirndln zu Hause, wurden alle gleich,
waren von Stund‘ an vergessen.
Es traf sich gut, dass in Südamerika zu dieser Zeit so verlässlich
& ausgiebig geputscht wurde. Zunächst zeichnete er einen weiten
Kreis um sie, legte unmerklich eine Schlinge darüber, die er
überlegt & langsam immer enger zog, sodass sie sich eines Tages
wie ein gefangenes Lama vollkommen verheddert hatte, nicht
mehr aus & ein wusste, weder vor noch zurück, weder ja noch
nein sagen konnte.
Patricia war aufgrund vorangegangener Ereignisse auf einem
anderen Kontinent, durch das Aufeinandertreffen verschiedener
politischer & persönlicher Zufälle, meine Freundin geworden,
kein einfaches Verhältnis zwar, doch etwas Besonderes, auch für
mich.
Sie sprach, als sie sich in der Schwesternschule in Salzburg
einschreiben ließ, so gut wie kein Wort Deutsch, dies aber schien
in dieser so überaus international gefärbten & revolutionären Zeit
egal zu sein, so viel Vorstellungskraft besaß man nicht, auch nicht
der Entwicklungshelfer, der wohl in Wahrheit nur an sich dachte.
Wie sonst könnte jemand ein junges Mädchen über den Ozean
bringen, in der Fremde aussetzen, vollkommen allein lassen mit
314
einer so schwierigen und schier nicht zu bewältigenden Aufgabe?
Sie gedachte, als Diplomkrankenschwester eines Tages nach
Südamerika zurückzukehren, um ihr in Europa erworbenes
Wissen & Können anzuwenden.
Die Zukunft war noch ein offenes Buch, die allgemeine Stimmung
nach neunzehnhundertachtundsechzig locker & unbekümmert,
auch wenn dies nur für die Studenten galt, welche mit den
Konventionen gebrochen hatten, in der Welt herumzigeunerten,
sich keine Sorgen & Gedanken machten, alles für möglich hielten,
sich um nichts groß scherten, lieber Utopien nachhingen, am
Ganges kifften, mit Saddhus & Gurus meditierten, sich in
Gruppen & Kommunen der freien Liebe hingaben, ausgiebig &
spät frühstückten, von Stipendien & Zuwendungen lebten, vom
Überfluss jener sagenhaften Jahre und sich um reale Ereignisse
nicht zu kümmern brauchten.
Doch die Arbeit im Krankenhaus war ganz anders, hart &
verständnislos für so gut wie alles & jeden, eine in sich
geschlossene Welt, die Schwesternschule schon auf Deutsch
schwierig genug, für Patricia kaum zu schaffen. Andere
Südamerikanerinnen, die zur selben Zeit aus demselben Grund
herüberkamen, verschwanden nach & nach, keine außer ihr
beendete die Schwesternschule.
Dazu kam bald Patricias Heimweh, das man sich nicht tief genug
vorstellen kann, umso mehr als die Dinge schief zu laufen
begannen, aus dem Ruder gerieten, Patricia Anfälle,
Schreikrämpfe, Schmerzen und Depressionen bekam.
Schlaflosigkeit & Angstzustände waren bald an der Tagesordnung.
Wir verfügten über etwa zehn Quadratmeter gemeinsamen
Wohnraum, wahrscheinlich sogar weniger, für alles: Schlafen,
Waschen, Essen, Lernen. Es war wichtig, mit jemandem
beisammen zu sein, mit dem man sich verstand. Niemand aber
wollte mit einer Fremden, einer südamerikanischen Ausländerin,
zusammenziehen, die österreichischen Schwesternschülerinnen
kamen durchwegs aus einfachen Häusern, wo man lieber unter
315
sich blieb, vielleicht, weil sie in diesen Jahren des Umbruchs
schon genug verunsicherte, sie mit sich selbst zu tun hatten, mit
einer eigenen Freundin gekommen waren. Aus tausenderlei
Gründen, sogar ohne Gründe, blieb jemand wie Patricia übrig &
ausgeschlossen.
Doch mir hat schon immer das andere, das Fremde, das Besondere
gefallen, und so geschah es eines Tages, dass wir uns fanden und
ganz selbstverständlich Kolleginnen & Freundinnen wurden. Ich
betrachtete ihr Interesse an mir als große Ehre und war
überglücklich & stolz über eine so außergewöhnliche
Freundschaft.
Ich brachte ihr Deutsch bei, sie half mir recht & schlecht bei
Spanisch, was sie aber vollends überforderte, denn sie hatte keine
Geduld, ich musste mit ihren zornigen Korrekturen im, von mir
extra angelegten Heft, das Auslangen finden, sie fuhr mich an,
hatte nie Zeit & Lust, war schlecht gelaunt, entsetzt & böse über
meine Fehler, brachte dafür nicht das geringste Verständnis auf.
So schlug ich mich selber durch, tat, was ich konnte, denn ich
wollte unbedingt irgendwie Spanisch lernen, war es doch ein guter
Ausgleich
für
die
schlecht
aufgebaute,
laufende
Schwesternausbildung unseres dualen Systems, wo man als
Schwesternschülerin bei der praktischen Ausbildung auf den
Stationen so ziemlich das letzte war. Jeder Tag konnte in einem
Desaster, einem Eklat enden, da sie uns entweder nichts oder die
Dinge falsch & unzureichend erklärten.
Wir standen grantigen, zynischen Stations- & Diplomschwestern
gegenüber, die an uns ihren Ärger ausließen. Die Turnusärzte
hänselten uns, waren anzüglich, respektlos, herablassend, die
Assistenzärzte verlangten Dinge, von denen wir noch nichts
gehört hatten, jede von uns musste sehen, wo sie blieb. So war
mein Selbstwertgefühl und selbstverständlich auch das von
Patricia nach weniger als einem Jahr bereits an einem Punkt
angelangt, der es dringend erforderlich machte, aus völlig anderen
Dingen Befriedung & Aufwertung zu schöpfen.
316
Für den jungen Herrn im roten Walkjanker mit dem seltenen &
seltsamen Namen Ottokar und mich war der erste Augenblick der
Beginn unserer Liebe, unseres gemeinsamen Lebens, unseres
Weges, der uns, wie es die alten Römer einst nannten, von den
Steinen zu den Sternen führen sollte.
Was es bedeutete, sich mit einem Künstler, einem Maler
einzulassen, verstand ich damals nicht im geringsten.
Doch mein Herz war randvoll mit Zuversicht, mit Sehnsucht nach
Freude & Glück, voller Hoffnung, es gut zu machen, Berge zu
versetzen, Träume zu verwirklichen, den Stier bei den Hörnern zu
packen, bereit Armut zu ertragen, Leid & Schmerz im Übermaß,
wenn es sein müsste, nur, um mit ihm vereint zu sein.
Hatte womöglich auch Gott Der Herr in keiner anderen Stimmung
die Welt, die Menschen & Tiere erschaffen und am Ende erkennen
müssen, dass er sich geirrt, alles viel zu rosig & einfältig gesehen
hatte?
Ja, auch Er war blauäugig genug gewesen, Sich Illusionen über
Seine Schöpfung hinzugeben, und doch ist es Ihm gelungen,
etwas Vollkommenes & Ewiges zu erfinden, herrlicher als alles,
was in den Heiligen Schriften steht, tiefer als die Finsternis, heller
als das Licht, dunkler als das Wasser, die Erde, der Himmel, denn
es gibt nur eine Kraft, nur eine Idee, die alles andere zu nichts
weiter als Namen & Wörtern macht.
Der Gedanke des Ersten Tages war nicht, das Licht von der
Finsternis zu scheiden, in so & so viel Zeit Wasser & Land an
verschiedenen Orten zu platzieren, Tiere & Pflanzen in die Welt
zu setzen, am Ende den Menschen zu erschaffen, denn Er, Gott
Der Herr, schuf in Wahrheit nur eines, Gott der Herr nämlich
schuf die Liebe, etwas weiteres war nicht mehr nötig, sie allein
war Seine Idee, die Idee des Lebens als ganzes, die Idee der
Ewigkeit verankerte Er in der Liebe.
Der Schöpfungsakt ist ein Liebesakt, der Liebesakt ein
317
Schöpfungsakt, daher rührt seine Göttlichkeit.
Jeder Tag, jedes Paar, jede Nacht ist ein Neubeginn, ein Fenster in
die Ewigkeit, die Ewigkeit der Liebe, die Ewigkeit des Lebens
und also die Ewigkeit Gottes, des Universums, jenes Großen
eben, wofür es keine Wörter, keine Sprachen mehr gibt.
Die Liebe birgt Anfang & Ende, Geburt & Tod, Glück & Leid,
Weinen & Lachen, Gelächter sogar, Euphorie & Elend,
Gleichgültigkeit & Barmherzigkeit, die Liebe ist das Karussell,
auf dem wir für eine unendlich kleine Weile in einer unendlich
großen Weile wissend wie unwissend Platz nehmen dürfen und
Platz nehmen durften.
Am 30. Jänner 1975, auf den Tag genau vierzig Jahre nach
Alexanders Geburt in Växjö, einem kleinen Ort in Südschweden,
geschieht in Salzburg/Österreich ein scheinbar alltägliches
Ereignis, welches diese beiden kalten Wintertage über Zeit &
Raum hinweg zu einem Datum verknüpfen und für drei
Menschen, die einander ferner nicht sein könnten, zu einem
einzigen Schicksal zusammenführen wird.
Wie eine, vor aller Zeit beschlossene Sache also, liefen die
Bahnen, die Linien aufeinander zu, sodass es kein Entrinnen gab
und geben konnte.
Maria & Ottokar
Alexander & Maria.
30. 1. 1935 / 30. 1. 1975
Maria & Alexander trennten zwanzig Jahre, Maria & Ottokar
fünf Jahre. Alexander & Ottokar fünfzehn Jahre. Alle miteinander
aber vierzig Jahre.
Bereits als die Sterne entstanden sind, die Wolken & Meere, die
Tiere & Menschen, die Pflanzen & das Wasser, das Licht & also
die Finsternis, muss diese Stunde, dieser Tag vorherbestimmt
gewesen sein. Die Stunde der Begegnung wie die Stunde der
Trennung, die Stunde des Glücks wie die des Unglücks, und es
ist wohl die Zeit, welche, gemessen an der Unendlichkeit, der
318
Unergründlichkeit dessen, was nur göttlich genannt werden kann,
nicht den Bruchteil einer Sekunde ausmacht, so unvorstellbar
klein ist und doch zu Jahren & Jahrzehnten menschlichen Glücks
werden sollte, die Zeit, die wir zu messen versuchen, birgt in ihrer
Unmessbarkeit & Unermesslichkeit das ganze Geheimnis.
So, als sei bereits im Anbeginn der Welt, wenn es ihn gab, im
Ursprung aller Zeit bereits, unsere Liebe vorherbestimmt
gewesen, sodass wir sie nur finden & leben mussten wie das
Schicksal, das lange vor unserer Existenz beschlossen war.
Es ist dieser Roman ein Niederknien vor dem Unverständlichen,
dem Unbegreiflichen, dem Endlichen & Unendlichen, dem
Mysterium von Liebe & Tod, von Raum & Zeit, von Bestimmung
& Zufall.
So folgte Datum auf Datum, Jahr auf Jahr, Ereignis auf Ereignis
doch erst mit dem 30. Jänner 1935 hat ein für mich sichtbarer Weg
zu auf den 30. Jänner 1975 begonnen, dem Tag der ersten
Begegnung mit Ottokar, dem Tag des Balls, auf den mich meine
Freundschaft mit Patricia, letztlich aber ein Streit geführt hat,
dem gleichzeitig vierzigsten Geburtstag Alexanders, von dem
niemand von uns zu diesem Zeitpunkt eine Ahnung hatte.
Wie viele Geschehnisse mussten vorangegangen sein und erst
geschehen, damit etwas möglich werden konnte, was gewiss eine
außergewöhnliche Liebesgeschichte genannt werden darf?
Zwar gäbe es einer mathematischen Formel gleich immer wieder
Punkte, an denen sich einiges festmachen ließe, doch dies
geschieht im Nachhinein, wenn jeder immer klüger ist, einem
quasi allwissend gegenübersteht, mit Stolz über die Erkenntnis
seine Ergebnisse präsentiert, doch während es passiert, ist es
niemandem bewusst, bleibt es unsichtbar & unerkannt.
Und doch ist es im letzten ein Geheimnis, das Geheimnis bleibt &
bleiben soll, denn Gott Selbst oder wie immer wir ES nennen, das
Große, das über uns & allem steht, hat Regie geführt, und Er lässt
sich bestimmt nicht in die Karten schauen, korrigieren, überlisten
oder gar etwas beweisen.
319
Was ist selbst die Mathematik, vor der es so viel Respekt gibt,
gegen die Mathematik Gottes anderes, als eine Art Schulübung,
der Versuch, mit Mikadostäbchen ein tragfähiges & bewohnbares
Haus zu bauen.
So oft & so viel ich darüber nachgedacht habe, bin ich auf nichts
anderes gekommen als, dass das Zustandekommen dieser
Liebesgeschichte eine besondere Idee Gottes gewesen sein muss.
Ein hübscher Zeitvertreib im Himmel droben, ein Lächeln, ein
Zwinkern, eine allgöttliche Freude.
Ein Gott muss Wein getrunken haben, als Er ich dies ausgedacht
hat, es beliebte Ihm zu scherzen, zu spielen, es gefiel Ihm, etwas
Kurzweiliges anzustellen mit
einem Deutschen
einer Österreicherin
&
einem Juden.
Denn über uns, das weiß ich nun
nach allem, was geschehen ist
muss ein großes Lächeln
ein liebliches Wohlwollen
gelegen sein
eine himmlische Geste
eine Idee mit einem Geweih
ja, Engelsgesang & Lautenklang
heiter & voller Melancholie zugleich
gerade so, als spielte
auf seiner Flöte
ein Hirte in ferner, längst
vergangener Zeit
verloren eine verträumte Melodie.
Das Jahr 1975 läuft seinerseits auf einen Punkt, einen Tag, eine
Nacht im Winter 1977 zu, als Ottokar & ich bereits ein Paar, wenn
320
auch noch kein Ehepaar, sind.
Ich werde 1977 zum ersten Mal dem schwedischen Arzt
Alexander Sommerfeld begegnen, was ich schon in einem anderen
Kapitel dieses Romans zu beschreiben begonnen habe.
Eine andere Winternacht der Entscheidung ist der 28. Februar des
Jahres 1993, Tag der Verabschiedung jenes Professors, der einst
Vorstand meiner Kinderklinik war und welcher Alexander
Sommerfeld nicht nur in sein Krankenhaus, sondern später zu eben
diesem Fest eingeladen hat.
Unser Wiedersehen an diesem Abend, unser Tanz, unser
Schneemannbau, die ersten Blicke zweier sich ineinander
verliebender Menschen, diese unsere Begegnung ist die
Grundlage meiner Geschichte, etwas schier Unglaubliches nimmt
seinen Anfang, stürzt uns alle in Not & Verzweiflung, Glück &
Unglück, Freude & Leid, Verstand & Unverstand.
Es wird meine Ehe aufs Schärfste geprüft, das unterste zuoberst
gekehrt werden.
Es ist nicht Streit, was uns jetzt trennt, sondern Zwietracht, die
ganz etwas anderes und viel Schwerwiegenderes ist. Vergeblich
versuche ich, den Abend, den Tanz, den Schneemannbau zu
vergessen, obwohl ich keine Ahnung von der tatsächlichen
Ursache oder Tragweite dieses Geschehens habe.
Nur Alexander steht vor einem Phänomen, das er zwar nicht
erklären kann, aber dennoch zu ergründen versucht.
Wie hätte ich wissen sollen, dass es mich bereits einmal gegeben
haben sollte, weit fort, in einem anderen Land zu einer anderen
Zeit, eine ganze Generation früher, angeblich genauso ausgesehen
hatte, sogar Krankenschwester gewesen und schon einmal
Alexander Sommerfeld begegnet war.
Die andere, Silvia, war seine Frau gewesen, vor Jahrzehnten
gestorben, um, wie es aussah, in meiner Gestalt wiedergeboren zu
werden.
Vielleicht würde dies in Asien kein besonderes Aufsehen erregen,
vollkommen verständlich sein, nicht so bei uns, die wir im
321
Allgemeinen nicht an diese Dinge glauben.
Für uns im Westen, in der Tradition des Abendlandes gibt es diese
Vorkommnisse, diese Erklärungen & Möglichkeiten nicht, sodass
wir ratlos & verunsichert diesem Zufall gegenüberstanden,
langsam & schwerfällig begreifen mussten, worum es ging, mehr
noch, dass es das Überirdische in unserer ganz persönlichen
Wirklichkeit tatsächlich gab.
Wir fürchteten uns davor, es schien uns unheimlich, unmöglich,
wir glaubten felsenfest, zu träumen, jeden Moment aufzuwachen
und erleichtert aufatmen zu dürfen.
Doch in Indien, wo das Leben ein Traum ist, im Buddhismus, wo
Menschen, die bereits gelebt haben, wiederkommen, im
Hinduismus, wo die Seele auf Wanderschaft geht, ist es
realistisch, leicht möglich & verstehbar.
Erst einige Jahre später sollte ich im vierteiligen Roman Meer der
Fruchtbarkeit von Yukio Mishima, dem Japaner, darüber lesen,
das allererste Mal in eine andere, eine höhere Dimension des
Denkens eindringen.
Nun bin ich darüber nicht mehr erstaunt, sondern verstehe diesen
Glauben, der weit über uns hinausweist in jene anderen, unserem
europäischen Denken so fremden & fernen Zusammenhänge. Wir,
die der Vernunft anhängen, nur das Erklärbare und an die
Wissenschaft glauben, haben längst die Verbindung mit dem
Jenseits verloren, vielleicht nie besessen.
Ich schätze & liebe die Vorstellung einer möglichen Wiederkehr,
denke zuinnerst, dass wir nichts sind, als ein kleines Licht in der
Unendlichkeit, ein Stern, ein Aufleuchten in der Finsternis für
einen Augenblick. Hindu, Christ, Buddhist, Atheist zu sein, ist
nicht wichtig, einerlei sogar, denn wir existieren auf vielerlei
Weise, sind ein winzig kleines Teilchen im großen & endlosen
Kreislauf des Werdens & Vergehens, des Übergangs von einer
Gestalt in die andere, ob wir‘s glauben oder nicht.
Nur mit dieser fernen, eigentlich fremden Vorstellung konnte &
kann ich die Liebesgeschichte, die mir widerfahren ist, begreifen
322
& bewältigen, denn warum sollte es in der Ewigkeit von Zeit &
Raum nicht wieder einmal jemanden geben können, der bereits
einmal existiert hat? Tausendmal habe ich diesen Faden
gesponnen, bin dem unheimlichen, beunruhigenden Gedanken
nachgegangen, habe mich darin aufgehalten, verheddert &
verloren.
Was im Meer der Fruchtbarkeit von Yukio Mishima, nicht gelingt,
geht für Alexander & Silvia, Alexanders erster & einziger Frau,
durch mich in Erfüllung. Er wird sich nicht, wie Richter Honda,
vergeblich nach seinem Jugendfreund Kyoaki Matsugae sehnen,
vergeblich seine Spur verfolgen, sich verirren, sondern ihm, dem
Abendländer, der nicht an die Wiedergeburt glaubt, wird sie
geschenkt, vielleicht, weil er sein Schicksal angenommen, nicht
gehadert, nicht geklagt, sondern sich ihm ergeben hat. Vielleicht
war es ein einmaliges Geschehen in einer langen Zeit, vielleicht
ein Wunder, vielleicht der Ratschluss eines Gottes, niemand wird
es je erfahren. Doch, wie es auch war, im letzten zählt das
Ereignis.
XIV
Schweden 1934
Es wird Spätsommer, bis sie zurückkommen. Sie trennen sich in
Stockholm, Alexander fährt nach Hause, Rahel ebenfalls.
Die Mutter sieht sofort mit Bestürzung, was mit Rahel los ist.
Der Rabbiner kriegt einen Herzanfall, muss ins Bett gelegt
werden, doch Rahel zwingt ihn, mit aller ihr zu Gebote stehenden
Selbstsicherheit, vor allem aber mit dem, bereits deutlich
erkennbaren Bauch einer Schwangeren im fortgeschrittenen
Stadium, einer Heirat mit Alexander zuzustimmen.
Den ungebildeten Pelzhändler! Den Dahergelaufenen! Hast du
323
verloren dein Verstand ?
Er keucht & hustet, regt sich auf, Ingrid läuft mit Wickeln &
Wärmeflaschen, mit Tee & Brei hin & her, ermahnt Rahel, den
armen Vater in Ruhe zu lassen, doch der kann sich jetzt ohnehin
nicht mehr beruhigen, muss sich übergeben, verkutzt sich, verfällt
in sinnloses, unverständliches Geschrei, bekommt die Worte nicht
aus dem Mund. Ein Erdbeben ist ausgebrochen im Hause
Goldmann, das ist vielleicht eine Heimkehr, eine Schande, eine
Sünde, um Himmels Willen, was werden die Leute sagen, er, der
Rabbiner, ausgerechnet er, der Gestrenge, der Unbeugsame, der
Gerechte! Wie kann Gott Der Herr ihm das antun!
Eine ledige Schwangere! Im eigenen Haus! Ohne Mann!
Vater, ich hab doch einen Mann, wie könnte ich denn sonst ein
Kind bekommen?
Nein, du hast genau keinen Mann, das was du uns da anschleppst,
ist doch kein Mann, unggggeeeeebbbbbildet ist der, nur Geld hat
er, und damit hat er dich rumgekriegt, weil er dir alles gekauft
hat, um dich ins Bett zu bekommen, dich zu ver-ver-verführen!
Meine Tochter! Meine Tochter Rahel! Mein Rahele, wie konntest
du nur! Haste nicht gewisst, wohin das fihrt!
Alles haben wir dir gegeben, dich studieren lassen, ohne dass wir
es uns leisten konnten, uns dein Studium, deinen Aufenthalt vom
Mund abgespart, und jetzt das! Was hast du nur gemacht in
Stockholm! Was fällt dir ein, du dumme Gans! Rahel, was haste
gethin! Was biste fir a Weib!
Ich will’dir sagen, mit Männern wie diesem reichen Nichtsnutz
hast du dich herumgetrieben, deine Eltern betrogen, Gott den
Herrn! Das wird Dir und mir und diesem ganzen Haus teuer zu
stehen kommen!
Deine Jungfräulichkeit hast du verkauft, schämst du dich nicht!
Schöne Augen lässt du dir machen, ein Flittchen bist du, ja genau
das!
324
Vater! Sag so was nicht! Versündige dich nicht! Er ist doch auch
Jude wie du, wie kannst du so über ihn reden!, versucht Ingrid
einzulenken, ihn zu bremsen, damit er nicht noch schlimmere
Sachen hervorkramt.
Aber der Rabbiner denkt nicht im Entferntesten daran, jetzt
aufzuhören, im Gegenteil, er sucht noch nach ganz anderen
Ausdrücken, stottert und sabbert, wird rot & blass, schwitzt, stößt
seine Frau, die ihm ein feuchtes Tuch an die Stirn legen will,
empört von sich.
Ach, hör doch auf, mich mit Fetzen zu traktieren, schimpft er, ihr
dummen Weiber ihr!
Was nützt es überhaupt, euch studieren zu lassen! Ach, ich habe
einen Fehler gemacht, ich habe mich verschätzt, nein, Gott Der
Herr straft mich für etwas, er straft mich für meine
Nachgiebigkeit, meine Vernarrtheit in meine eigene Tochter, für
meinen Stolz, meine Vermessenheit!
Lauter solche Sachen gibt er zum besten.
Vater, es war ganz allein meine Idee, ich habe dich doch vorher
gefragt, und du hast mir Alexander verboten. Ich liebe ihn aber,
schon seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Ich konnte nicht
anders, ich konnte wirklich und ehrlich nicht anders. Ich wollte
dir nicht weh tun, ich wollte dich nicht beleidigen.
Da, da habe ich die einzige Möglichkeit darin gesehen, verstehst
du das nicht?
Oh ja, du hast deine ganze Chuzpe für diesen
winkeladvokatischen Zug verwendet statt zum Lernen! Die einzige
Möglichkeit darin gesehen, verstehst du!, äffte er sie nach.
Aber ich habe doch alles gelernt, fleißig studiert, und das weißt
du!
325
Ja, vielleicht, aber nicht nur das und nicht wirklich, du hast nichts
begriffen! Du hast Schande über uns gebracht. Denk an deine
kleine Schwester, was bist du für ein Vorbild!
Was das für deine Mutter bedeutet! Sie hat dich schlecht erzogen,
das ist die Strafe für mich – oh mein Gott, so viele Jahre später
die Strafe, ich wusste es immer, es geschieht mir recht!........... .
Das große Scheitern ist über uns gekommen, die Rache Gottes,
der solche Späße nicht versteht und nicht verzeiht, das kannst du
mir glauben, du dumme Göre!
So ging es die nächsten Tage & Abende endlos dahin, im Ehebett
schimpfte er weiter mit seiner Frau, es war für alle nicht mehr
auszuhalten, und irgendwann muss er es eingesehen, sich damit
abgefunden, es hingenommen haben wie einen Kelch mit bitterem
Inhalt. Er hatte es als sein Schicksal, seine Prüfung erkannt, es
blieb ihm nichts anderes übrig, als es anzunehmen, auf die Knie
zu fallen, sich in Demut zu üben und wie Hiob nicht mehr zu
schimpfen, obwohl er nichts lieber getan hätte, obwohl er sich von
aller Welt verlassen fühlte.
Alexander wurde herbestellt, ihm hat er noch gehörig die Leviten
gelesen, ihn angeschrien wie einen blöden Schulbuben, und am
Ende akzeptierte der Rabbiner nolens volens Rahels bescheuerte,
nein, Rahels skandalöse Idee, wie er es noch immer nannte, und
willigte unter schrecklichem Getöse & Gezeter, mit Kopfstechen
& Magenschmerzen in diese unselige Heirat ein.
Eine Ungeheuerlichkeit in seinen Augen, eine Sünde, was sonst!
Der Hochzeitstermin wurde für November 1934 festgesetzt, etwa
zwei Monate vor dem errechneten Geburtstermin.
Zwar würde jeder erkennen, dass es nicht mit rechten Dingen
zuging, aber was sollte er machen, man musste zueinander stehen
und das beste draus machen.
Zwei Monate also, in denen Alexander sich um die Gründung des
Hausstandes zu kümmern hatte, in dem kleinen Ort Växjö eine
Bleibe zu erwerben, die Hochzeit bekannt zu machen &
326
auszurichten.
Sie bürdeten ihm alles auf, der Alte bestand auf der Einhaltung
aller Vorschriften, es sollte eine traditionelle jüdische Hochzeit
sein, wogegen Alexander nichts einzuwenden hatte, und selbst
wenn, was hätte es ihm geholfen.
Die Trauung unter dem Baldachin fand in Rahels Elternhaus statt,
wobei es am Hochzeitsmorgen noch zu einer lustigen Szene kam.
Denn wie es der Brauch vorschreibt, brachten sie ihm die
vollkommen verschleierte Braut, und Alexander beging den faux
pas, sofort unter die Spitzen zu gucken, Gemurmel & Raunen
ringsum, Tuscheln & Flüstern. Von wegen, das bringe Unglück, so
ein Flegel, hörbares Ein- & Ausatmen dort & da!
Damit ihr mir ja nicht die Falsche gebt!
Ungläubiges Staunen unter den Gästen. So etwas war noch
keinem untergekommen. Trotz des weitestgehend religiösen
Publikums, tauschte man vielsagende Blicke, schaute sich
gegenseitig an, missbilligend, schmunzelnd, guckte verstohlen,
wie es die anderen aufnahmen.
Immerhin heißt sie Rahel, und ich will nicht weitere sieben Jahre
um sie dienen wie einst der Alte Jakob!
Obgleich dem Rabbiner bei Alexanders Erinnerung an die
Rahelsgeschichte, schier das Blut stockte, kicherten manche,
einige klatschten sogar. Obwohl der Scherz doch offensichtlich
war, ging es in diesem Stadium der Hochzeit, noch recht förmlich
& ernst zu, vor allem aber, weil im Hause Goldmann eigentlich
alles ernst genommen, streng untersucht & gehandhabt wurde.
Im Vorfeld dieser Heirat war bereits so vieles falsch & schief
gelaufen, sodass Rahels Vater alles andere als locker sein konnte,
doch, was hatten sie eigentlich erwartet? Passte dies etwa nicht
genau zu allem, was vorangegangen war, mochte der Rabbiner
denken.
Später sollte Alexander Sommerfeld einmal diese kleine Episode
seinem Sohn Alexander erzählen, aber auch die anderen
Hochzeitsgäste trugen sie weiter und amüsierten sich noch lange
327
darüber.
Niemand konnte damals ahnen, wie viel Zeit ihnen noch
miteinander bleiben würde, wie wenig Spaß & Glück, wie sehr
ihre gemeinsamen Tage, ja Stunden, bereits gezählt waren.
Rahels Vater dachte wieder an den Namen seiner Tochter, er
mochte ihn nicht, doch hatte er seiner Frau damals ihren Willen
gelassen. Es nicht übers Herz gebracht, nach all den Fehl- &
Totgeburten Ingrid, die so viel durchgemacht hatte für seine
Kinder, so tapfer gewesen war, diesen Namen abzuschlagen,
Ingrid, die immer voller Milde & Respekt & Demut ihm
gegenüber war, Ingrid, die Pastorentochter, die es gewiss nicht
leicht mit ihm, dem Rabbiner hatte, immer ihr Bestes gab, das
Menschenmögliche auf sich nahm.
Weil die biblische Rahel bei der Geburt ihres zweiten Sohnes
Benjamin gestorben war, hielt er diesen Namen für ein schlechtes
Omen.
Und jetzt war sie, seine Tochter, die diesen Namen trug,
schwanger, stand knappe zwei Monate vor ihrer ersten
Niederkunft. Würde sich die Schrift erfüllen? Würde dieser Name
sie & sie alle ins Unglück stürzen? Sollte er Recht behalten oder
steigerte er sich hysterisch in etwas hinein? Er neigte zum
Extremismus, zu einer geradezu überbesonderen Genauigkeit,
einer knechtischen Ergebenheit gegenüber den alten Schriften, das
wusste er selbst, und so fürchteten sich die Gläubigen oft vor ihm,
trugen ihm gewisse Dinge nicht vor, beschönigten sie, fürchteten
seine Strenge, sodass er trotz seiner Brillanz vielen fern &
unverständlich blieb. Ihnen kein Priester war, zu dem man
unbedingt gerne kam, nur, wenn man musste, alles in Ordnung
wähnte. Bei aller Mühe, die er sich gab, litt er doch selbst
darunter, mehr gefürchtet als geliebt zu werden.
Auch wenn er Rahel grollte, ihn die Scham peinigte & quälte,
sorgte er sich innerlich um sie, fürchtete um ihre Gesundheit, ihre
Unversehrtheit, ihr Leben, und sein Kummer darüber war nichts
als die unsagbare Liebe eines Vaters, der vor Sorge um die Seinen
328
schier verging. Es war ihm nicht gegeben, seine besondere Liebe
zu zeigen, umso mehr wollte er alles regulieren, denn darin fühlte
er sich sicher, sicher darin, die ewigen Gesetze zu befolgen,
weiterzugeben, mit und durch seine Familie ein gutes &
gottgefälliges Leben zu führen, Vorbild zu sein für seine
Gemeinde, seine Kinder, auch wenn es zwei Töchter waren.
Immerhin hatte er eine Christin geheiratet, die, so sehr sie es auch
versuchte, doch keine der ihren werden konnte. Es war nicht ihre
Schuld, nicht ihr Unvermögen, sondern seines, darum ging er so
hart ins Gericht, doch mehr mit sich selbst als mit den anderen,
auch wenn dies kaum jemand sah oder verstand.
Ingrid hatte längst alles verwunden, freute sich über Rahels
Hochzeitstag und insgeheim auch darüber, welches Glück dem
Mädchen gegeben wurde.
Nie würde sie sich um Geld kümmern müssen, nicht wie sie
ständig zum Sparen gezwungen sein, einen humorvollen guten
Mann an ihrer Seite haben, denn das hatte sie gleich gesehen,
dieser Alexander war ein besonderer Bräutigam, so sanft & willig,
so höflich & fein.
Sie verstand ihre Tochter, dass sie ihn genommen hatte, man
konnte sich nur in ihn verlieben, unmöglich, ihn nicht zu mögen,
ihn nicht zu bewundern.
Mein Gott, wie schwer war es oft, bei aller Liebe zu ihrem Mann,
mit ihm gewesen, wie wenig Spaß vertrug er doch, wie streng
konnte er sein!
Vom ersten Tag an hatte sie ihn auch gefürchtet, ihm gedient wie
eine Magd, auch wenn er sie in Wahrheit auf Händen trug.
Doch waren sie immer arm gewesen, alles hatte bescheiden zu
sein, schon das Geringste beanstandete er, zieh sie der Hoffart,
wenn sie lächelnd die Kinder betrachtete, sich sehnsüchtig etwas
wie ein Kleid wünschte, sich hübsch machte!
Dauernd das schlechte Gewissen, das er ihr gab, obwohl er es
nicht wollte, er selbst war ja Sklave dieses immer gegenwärtigen
Gedankens, konnte nichts dafür, sie wussten es beide, und doch
329
hatte es über weite Strecken die Stimmung in ihrer Ehe bestimmt
& belastet. Irgendwann war die Pflicht im Vordergrund gestanden,
hatte die Liebe sich ihr und dem Ansehen des Rabbiners
untergeordnet. Es musste alles perfekt sein in den Augen der
Gläubigen, der Öffentlichkeit, denn aller Blicke, so dachten sie,
lägen auf ihnen. Im Laufe der Zeit hatten sie wohl vergessen, dass
sie einmal ein liebendes Paar sein wollten, für immer sogar, ja, für
Augenblicke vielleicht gewesen waren, denn die Pflicht, den
höchsten Ansprüchen genügen zu müssen, ist ein Los, welches
alles zu vernichten imstande ist. Sie waren schon so lange nicht
mehr ein privates Paar, daran erinnerte Ingrid sich nun während
der Hochzeitsvorbereitungen ihrer Tochter so schmerzlich, so
bitter, so süß. Sie versuchte, sich die frühe Zeit mit ihrem
Bräutigam vorzustellen, dachte plötzlich wieder an längst
vergessen geglaubte Begebenheiten zurück, ach, nichts von
Belang eigentlich, doch getragen von einer verlorengegangen
Verliebtheit, einer Jungmädchenträumerei, jetzt in ihren alten
Tagen, da eine ihrer Töchter im Begriff stand unter die Chupa, den
Traubaldachin zu treten. Was kam & dämmerte nicht alles herauf,
wie hatte sie ihn damals in ihr Herz geschlossen, und er erst, was
war er für ein verrückter junger Bock gewesen, alles andere als
ein gestrenger Herr. Die Welt wollten sie verändern, sich durch
nichts verunsichern lassen, ihren gemeinsamen Weg gehen, wohin
er auch führen würde. Wie oft hatte sie sich seither gefragt, wo
ihre Brautzeit, ihre jungen Ehejahre geblieben waren, und doch
waren sie es gewesen, welche sie alles hatten ertragen lassen,
denn es hatte gegolten, die in aller Mondscheinseligkeit, so
heimlich und kurz sie gewesen war, gegebenen heißen
Versprechen, einzulösen. Sie schaute daher nicht mehr mit den
verliebten Blicken eines jungen Mädchens, einer Braut auf ihren
Mann, nicht unzufrieden, wie sie es auch öfters gewesen war,
sondern mehr & mehr leicht & mild, denn er hatte ihr doch alles
gegeben, alles geopfert, sein Gewissen beschwert, Sorge getragen.
Dies, was sich jetzt ereignete, war die, nicht weniger
330
bemerkenswert zustande gekommene Hochzeit ihrer Tochter mit
dem überaus freundlichen Schwiegersohn Alexander, den sie nun
bekamen, welcher jetzt zu ihrer Familie gehörte, umso mehr als er
keine Eltern mehr hatte, und letztlich, so dachte Ingrid, war es
eine Folge ihrer eigenen Liebe, dass sie einen Tag wie diesen
erleben durfte.
Es wurde eine harmonische Feier mit Musik & Tanz, jeder Gast
brachte Geschenke, gute Wünsche, es gab feine Speisen, süße
Getränke, Wein sogar. Alexander hatte sich nicht lumpen lassen,
sagten die einfachen Leute, nein, er zeigte, aus welchem Haus er
stammte, welchen Stil er pflegte, wie es sich unter den wirklich
Betuchten & Vornehmen gehörte. Rahels Hochzeitskleid war so
prächtig und von rauschender Seide, wie man es in dieser Gegend
noch nicht gesehen hatte.
Ach, sinnierte Ingrid, Rahel würde ein sorgenloses Leben haben,
ein ganz anderes als sie selbst, mit Alexander, der nun ihrer
Tochter angetrauter Ehemann war, endlich hatten sie einen Sohn,
einen, der ihrem eigenen Gatten in einer Weise zu minder war, in
Wirklichkeit aber grämte er sich darüber, dass er als Vater Rahel
nicht das hatte bieten können, was dieser Fremde so mühelos
vermochte. Er fürchtete, seine Tochter könne zu ihm nicht mehr
aufschauen, er wäre für sie nicht mehr das Wichtigste, sie könnte
ihn sogar vergessen.
Ach, er verlor sich in Selbstmitleid, fühlte sich einsam, verlassen,
stand & saß mit tränenfeuchten Augen herum, war gar nicht
gesellig, sondern nachdenklich, konnte sich zwischen Glück &
Unglück nicht entscheiden, hatte seine Mitte, seine Werte, seine so
geschätzte Urteilskraft, seine Orientierung verloren. Wie eine
Versuchung kam es ihm vor sogar, was hier geschah!
Auch, als andere bei ihm vorstellig wurden, ihm extra
schmeichelten, ihm ihre Hochachtung & Bewunderung erwiesen,
konnte er kaum von seiner Rolle abgehen, gab sich sperrig &
trotzig & furchtbar ernst & zweifelnd.
Erst, als es zu fortgeschrittener Stunde so weit kam, dass ihn
331
keiner mehr beachtete, weil man vollgegessen & trunken bei
Späßen & Tänzen zugange war, da vergaß er scheinbar endlich
seinen Groll, sah, dass er nicht mehr von Belang war, und endlich
griff auch er zu, setzte sich zu seiner Frau, der Brautmutter, und zu
seiner jüngeren Tochter Marie.
Heimlich suchte er Ingrids Hand, drückte sie fest und betrachtete
so mit ihr das schöne Paar, das sich herzte & küsste, verliebt
miteinander turtelte, als hätten sie ihre Hochzeitsnächte nicht
längst hinter sich.
Jetzt tat es ihm sogar leid, und später sollte es ihm noch
schmerzlicher zu Bewusstsein kommen, wie wenig er jene
Hochzeitsfeier, dieses einzige glanzvolle Fest in seinem eigenen
Hause genossen & genützt hatte, um sich mit seiner Tochter, die
an diesem Tag eine so wunderschöne Braut war, zu freuen, ihr zu
zeigen, ihr zu sagen, wie stolz er war, wie sehr er sie liebte, ja,
dass aller von ihm aufgebotene Zorn, nur der unendliche Schmerz
über den Verlust war, seine Art zu weinen darüber, weil sie, weil
Rahel, Rahel!, nun das Elternhaus verließ, ja längst verlassen
hatte, so wie es geschrieben steht, denn wer hätte besser als er
gewusst, dass eine Frau ihrem Manne zu folgen hat, wohin auch
immer.
In Wirklichkeit wusste er ganz genau, was Rahel ihm für einen
Schwiegersohn ins Haus gebracht hatte, welch‘ guter & feiner
Mensch er war, und wie sehr er ihm wohl unrecht tat. Denn, ein
Mann, der gar nicht darauf achtete, ob seine Braut eine Mitgift
bekam oder nicht, sondern sie einfach nahm, der musste sie
wirklich lieben.
Die Freude auf sein erstes Enkelkind hatte er auch nicht
zugegeben, nicht zugeben können. Dies war das andauernde Leid
seines Lebens, das er sich selbst zu verdanken hatte. In diesem
großen Augenblick war er zu verstockt, zu hart, zu hochmütig
gewesen, und doch hatte er nur gerecht sein wollen.
Alexander aber fand es weit besser, alles allein zu bezahlen und zu
organisieren, anstatt sich den knausrigen Gepflogenheiten des
332
Hauses anpassen zu müssen. Allemal besser, als der Alte redet
dauernd drein, so seine Ansicht. Der Rabbiner war ihm ohnehin
rechthaberisch genug, und wäre er nicht sein Schwiegervater
gewesen, er hätte nie im Leben mit so jemandem Kontakt gesucht.
Auch ihre Gäste & Freunde meinten großteils, Rahels Vater täte
nicht recht daran, seinen Schwiegersohn für jeden sichtbar,
herabzusetzen, ihm die ganze Schuld an Rahels Zustand
zuzusprechen, sich womöglich noch für eine solche Hochzeit zu
schämen. Wo gab es denn so etwas, wo es doch nicht besser hätte
stehen können als hier & jetzt mit diesem so besonderen Paar.
Allgemein fanden sie Alexander recht akzeptabel, sogar die alten
Frauen, die jungen waren ohnehin Feuer & Flamme für Alexander,
beneideten Rahel um ihn, um diese allerbeste, geradezu
märchenhafte Partie! Für das, von Haus aus arme Mädchen,
welches einmal keine Rabbinerfrau mit einem Kramladen, wie es
häufig geschah, werden musste, sondern wie sonst keine, die sie
kannten, in einem Honigtopf landete, immerhin war sie jemand
ganz ohne Vermögen.
Gut würde es ihr gehen bei ihm, so die vorherrschende Meinung,
die Frauen tuschelten über des Bräutigams Aussehen, seinen
Charme, seine vornehme Kleidung, das makellose Benehmen.
Eine Villa soll er gekauft haben in der Gegend von Växjö, das
muss man sich vorstellen, dort wollen sie nach der Hochzeit
hinziehen! Ist das die Möglichkeit!
Rahel tanzte gar in ihrem Zustand mit ihm, obwohl sie sich kaum
rühren konnte. Ihr Umfang war beträchtlich und rasch gewachsen,
und wenn eine derart hochschwangere Braut auch kein gutes Bild
abgab, so war doch alles in bester Ordnung.
Am meisten mokierten sich ohnehin nur die ganz alten Weiber
darüber, die nichts offen sagten, aber hinter vorgehaltener Hand
ganz schön über die frisch getraute Ehefrau herzogen.
Rahel wusste das natürlich, trug es mit Fassung, dafür hatte sie
ihn bekommen, ihre Rechnung war schließlich aufgegangen, wer
hätte das geglaubt!
333
Mit einem Pferdeschlitten verließ sie das Elternhaus, ihre Mutter
winkte noch lange, länger als sie zu sehen waren, während der
Vater sich nur kurz im Schnee zeigte, ihnen aber gleich den
Rücken zukehrte & verschwand.
Rahel freute sich maßlos auf ihr neues & richtiges Zuhause, ihr
erstes eigenes Heim, wo sie allein die Herrin sein würde und
niemand Geringerer als Alexander ihr Gemahl. Bald waren sie zu
dritt, eigentlich schon jetzt, sie hatte alles bereits am Anfang so
gut wie geschafft.
In den kommenden zwei Monaten bis zur Geburt überschlug sie
sich schier vor Geschäftigkeit, sie strickte, nähte, häkelte, putzte,
rannte hierhin & dorthin, sodass es Alexander ganz mulmig wurde
von dieser übermäßigen Betriebsamkeit.
Er kümmerte sich indes um eine Hebamme, damit sie sich Rahel
einmal ansah, nicht dass diese es für nötig befunden hätte, jetzt
schon daran zu denken, doch Alexander war anderer Ansicht,
schließlich würde es ihn zuoberst betreffen, wenn man niemanden
rechtzeitig fand & verständigte.
Er begann schon in den ersten Tagen nach der Hochzeit, Rahel in
den Ohren zu liegen, sobald wie möglich, einen Arzt
aufzusuchen.
Es war damals durchaus nicht üblich, einen Doktor von
vornherein zu einer Geburt zu rufen, jedenfalls nicht ohne
erkennbare Komplikationen und wenn, dann überhaupt erst, wenn
es soweit war. Doch dieser verwöhnte, wehleidige Pelzhändler
schien in so gut wie allem ohne Verstand & Maß zu sein.
Er nahm Verbindung auf mit alten Studentenkollegen, die Ärzte
geworden waren, erhielt kaum eine Antwort, und wenn, schien sie
ihm nicht brauchbar zu sein.
So besuchte er eins ums andere Mal die nächste Hebamme, auch
sie hatte er erst finden müssen in ihrem recht abgelegenen
Hebammenhäuschen, wo diese in aller Gelassenheit seine
Schilderungen & Sorgen über sich ergehen ließ, um dann
abzuwiegeln, zu verharmlosen, zu relativieren, zu beruhigen,
334
obwohl sie nichts versprechen oder Genaueres sagen konnte. Sie
verfügte, wie es Alexander vorkam, über eine recht dicke Haut,
über Nerven aus Eisen, vielleicht ein schier tausend Jahre altes
Hebammenwissen und einen ganzen Bottich voller Erfahrungen &
Erklärungen, die ihm vollkommen verborgen blieben. Wie eine
alte Druidin saß sie da und hörte ihm, von Zeit zu Zeit laut
seufzend, zu.
Herr Sommerfeld, pflegte sie zu sagen, verlassen Sie sich auf
meine Erfahrung, glauben Sie mir, ich habe mehr Kindern auf die
Welt geholfen, als Sie sich vorstellen können! Alle werdenden
Väter, vor allem, wenn es das erste Mal ist, sind so, wenn sie denn
zu der Sorte gehören, die sich überhaupt etwas denkt.
Hier auf dem Land macht man kein solches Wesens darum, hier
wird geboren wie gestorben ganz normal.
Diese Hysterie, wenn ich so sagen darf, ist etwas, was ich nur aus
Stockholm, aus Göteborg, aus besseren Kreisen dort & da, kenne.
Wichtig ist es, zuversichtlich zu sein, Ihre Frau nicht zu
beunruhigen, sich selbst nicht unnötig zu ängstigen.
Sie werden sehen, alles geht gut, nichts passiert, bald werden Sie
einen strammen Jungen oder ein hübsches zartes Mädchen haben,
und Sie werden selbst nicht mehr wissen oder verstehen, welche
Gedanken Sie sich darum gemacht haben.
So verblieben sie, und Alexander war schließlich recht froh über
die Zuversicht der Hebamme, denn dass er selbst rein gar nichts
davon verstand, lag sogar für ihn sichtbar auf der Hand.
Dermaßen gestärkt & erleichtert machte er sich auf den Heimweg.
Gewiss war er übervorsichtig, hysterisch, wie sie gesagt hatte, und
zu besorgt. Wenn erst einmal alles vorüber wäre, würde er gewiss
darüber lachen und den Geburten weiterer Säuglinge in Ruhe
entgegen sehen.
Denn mit Rahel würde er viele Kinder haben, darüber bestand
wohl jetzt kein Zweifel mehr, schließlich hatte sie es ihm in
Aussicht gestellt und jetzt, wo es endlich damit anfing, war der
Beweis erbracht. Es funktionierte wie Rahel immer gehofft, ja,
335
felsenfest behauptet hatte.
Es ging auf Weihnachten zu, es schneite & schneite, hörte Tag &
Nacht nicht auf, es wuchsen an den mühsam freigehaltenen
Wegen die Wände in die Höhe, jeden Tag musste man Knechte
zum Schaufeln anstellen, außerdem stand Alexander selbst
knietief im Schnee und warf die Kristalle, wie er sagte, über &
hinter sich.
Rahel indes war guter Dinge, bester Stimmung, stellte
Weihnachtsgebäck her, als verfügte sie etwa über einen
christlichen Haushalt, schickte Alexander mitten durch das
verschneite Land zum nächsten Krämer, um Zutaten zu besorgen,
mal gingen ihr die Nüsse aus, mal die Mandeln oder der Honig,
bunte Schleifchen für den Weihnachtsschmuck, denn obwohl sie
jüdisch waren, bedeutete ihnen dieses Fest mindestens so viel wie
den absoluten & hundertprozentigen Gojim.
Rahel konnte, genau wie ihre Mutter, die aus einem Pastorenhaus
stammte, auf der Stelle sowohl jüdisch als auch christlich denken.
Beide fanden daran nichts Verwerfliches oder Widersprüchliches,
ein Phänomen, über das nicht einmal der Rabbiner, Herr
geworden war. Verhielt es sich denn nicht vielmehr so, dass die
beiden Religionen im Herzen einander zu ähnlich waren, auf
dieselben Wurzeln zurückgingen, den Einen & Einzigen Gott
verehrten? Wie zwei Liebende, wie Ingrid & Rabbi Goldmann, die
manches trennte, doch das Wesentliche vereinte, und wenn denn
schon ein Unterschied bestand, bestehen musste, was konnte er
bedeuten angesichts dessen, was sie verband? Sollte nicht lieber
das Verbindende denn das Trennende hervorgehoben werden, und
gab es damit etwa irgendeine Mühe, einen Nachteil?
Der Rabbiner verlangte so viel von seiner Familie, dies musste er
ihr lassen, sie brauchten wie die Gojim dieses Puppenspiel, und
während er im Studierzimmer über der Thora wippte & murmelte,
tanzten seine Mädchen in der Stube um den Weihnachtsbaum wie
einst die Juden um das goldene Kalb.
336
Nach den Feiertagen, die das frisch getraute Ehepaar, allein &
vollkommen eingeschneit in tiefer Stille verbrachte, in Freude
über das eigene, noch in Rahel schlummernde Kind, das
strampelte & stampfte, bis sich ihr Bauch mal hier mal dort
ausbuchtete und merkwürdige Formen annahm, nach den
Feiertagen also, dem Jahreswechsel, nach Dreikönig, fing
Alexander wieder seine Gänge zur Hebamme an, die er nicht jedes
Mal antraf und dann unverrichteter Dinge heimkam.
Rahel schnaufte jetzt schwer, ermüdete rasch, er sorgte sich um
sie, wenn er ging, und sorgte sich, wenn er neben ihr saß.
Ihre Beine wurden dicker & dicker, ihr Gesicht war aufgedunsen,
sie hatte Anflüge von Fieber, Hitzeanfälle, klagte über
Kopfschmerzen und übermäßige Schläfrigkeit, sie fühlte sich
schwach & krank, konnte nicht mehr lange aufbleiben, aber
genauso wenig liegen oder wirklich schlafen, ihre Brüste wurden
prall & schwer, auch taten sie ihr weh, kaum brachte sie noch die
Knöpfe zu.
Sie war nicht mehr in der Lage, sich anzuziehen, sich allein
auszuziehen, Alexander half ihr bei allem, beim Kochen, beim
Aufstehen & Herumgehen, er massierte ihre Beine, ihren Rücken,
wusch ihr die Haare und tat alles, was sie ihm sonst noch
anschaffte.
Am neunundzwanzigsten Jänner 1935 kurz vor Mitternacht setzte
das ein, was man wohl als die gefürchteten Wehen bezeichnen
konnte, denn zu beider Überraschung tat Rahel nicht der Bauch
weh, sondern der Rücken, es begann zu ziehen im Kreuz, niemand
hatte ihnen das gesagt. Alexander war verunsichert, fühlte sich
von den guten Geistern verlassen, bereute sogar, so schön es hier
war, mit Rahel in diese Einsamkeit gezogen zu sein.
Am Morgen des dreißigsten Jänner hatte sich nichts geändert, die
Schmerzen kamen - ließen nach, kamen - ließen nach, irgendwann
am Vormittag wurden die Abstände zwischen den Krämpfen von
Mal zu Mal kürzer.
Gegen Mittag stapfte Alexander los, die Hebamme endgültig zu
337
holen, welche ihm diesmal fügsam auf dem Fuße folgte und,
kaum angekommen, an Rahel herumzudrücken begann, in sie
hineinhorchte, sie herumdrehte, ihr Hörrohr auf den Bauch legte,
sie rundherum untersuchte und Alexander um alles Mögliche
schickte. Es wurde Nachmittag, kaum, dass es dämmerte, ein
langer dunkler Wintertag ging Stunde um Stunde vorüber, ohne
dass etwas geschah. Die Wehen wurden wieder seltener, hörten
sogar ganz auf.
Gegen vier Uhr Nachmittag machte sich Alexander auf, um einen
Arzt zu holen, gegen den Rat der Hebamme, die meinte, beim
ersten Kind wäre es immer so, und etwas Ungewöhnliches könne
sie nicht erkennen.
Doch er sah wie Rahel die Kräfte verließen, die rosige Farbe, wie
sie blau wurde im Gesicht, schlaff im Bett lag, kaum mehr reden
konnte, nur stöhnte & wimmerte. Ihr Haar klebte schweißnass am
Kopf, das Hemdchen war klatschnass, er lief ständig um neue
Wäsche, heizte zwischendurch ein, während die Hebamme
Gelassenheit vorgab.
Jetzt holte er die zwei Pferde aus dem Stall, spannte sie vor den
Schlitten, wollte versuchen, in den nächsten Ort zu gelangen.
Trotz des aufziehenden Sturms hätte ihn nichts & niemand von
diesem Entschluss abbringen können.
Ein rasender Schneesturm setzte ein, heulte & staubte über die
Landschaft, die Pferde schnaubten & wieherten, sträubten sich
weiterzuziehen, er sah nichts mehr, verlor bald die Richtung, die
Laterne verlosch, doch es gelang ihm, sie wieder anzuzünden.
Wie durch ein Wunder verirrte er sich nicht vollends, und als er
endlich zu jenem Weiler kam, wo der Arzt wohnte, sah er wirklich
noch im Haus des Doktors Licht brennen, Gott sei Dank, er war
zu Hause, wach sogar, jetzt würde alles gut, er hatte es
geschafft!
Doch es öffnete ihm eine überaus grantige Haushälterin, die ihn
harsch anfuhr, was man denn um diese Zeit bei diesem Wetter, um
Himmels Willen, wolle.
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Sagen Sie dem Herrn Doktor, meine Frau liegt in den Wehen,
schon seit gestern, sie braucht einen Arzt, bitte, ich warte derweil
draußen! Rahel Sommerfeld! Er weiß schon!
Alexander schnaufte schwer, bekam wegen der hinter ihm
liegenden Anstrengung kaum noch Luft, jeder Atemzug schmerzte
brennend im Hals.
Widerwillig verschwindet sie im Korridor und meldet, im Sturm
draußen steht einer, dessen Frau sich ausgerechnet an so einem
Tag anschickt, ein Kind zu bekommen. Es geht um Sommerfelds.
Sagen Sie ihm, dass ich gerade erst heimgekommen bin und
bestimmt nichts mehr tun werde als schlafen. Ich war so lange
unterwegs heute, habe noch nichts gegessen, nichts getrunken,
wen interessiert es schon von den Leuten, die einen rufen, wie es
einem selber geht! Auch die Pferde können nicht mehr, ich werde
sie nicht umbringen. Sagen Sie ihm, seine Frau wird ihr Kind
ohne mich kriegen, ich habe sie schon vor Wochen untersucht, es
ist alles in Ordnung.
Mit diesen Worten ließ er sich aufs Bett fallen und schlief
augenblicklich ein, obwohl er gerade noch nachtmahlen wollte.
Alexander hörte draußen im Gang Wort für Wort, denn der Doktor
schien es extra laut und eigentlich an ihn gewandt zu sagen.
Da hören Sie‘s, ruft die Angestellte von drinnen heraus.
Alexanders Bitten & Flehen blieben auch das zweite und das dritte
Mal unerhört, er bot viel, sehr viel Geld an, versprach einen
Nerzmantel, Schmuck, was immer sie verlangten, für die Frau des
Arztes, die Köchin, ach, ob er denn nicht wisse, dass der Herr
Doktor Witwer sei! Das auch noch! Es war alles gegen ihn! Das
Wetter, die Zeit, es gab keine Rettung! In Gottes verschneiter,
grausamer Welt fand er keine Hilfe in dieser Nacht, so sehr er sich
auch mühte, so viel er auch bettelte & versprach. Es hätte nichts
genützt, seinen Kopf auf einem goldenen Tablett darzubringen,
sich auf die Knie zu werfen, es war aus, war aus. Schließlich
schob ihn die Haushälterin grob & eigenhändig hinaus, knallte die
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Tür vor ihm zu, löschte das Licht im Gang, nichts mehr als Stille,
Kälte, Dunkelheit, sie kam kein weiteres Mal mehr heraus.
So machte Alexander sich zutiefst enttäuscht, voller Angst &
Ungewissheit auf den Heimweg. Vielleicht war dort die Lage
inzwischen ganz verändert, er hoffte auf Besserung, auf die
Hebamme, die doch schließlich ihren Beruf verstehen musste.
Tausend Gedanken & Erwägungen gingen ihm durch den Sinn,
der Sturm hatte nachgelassen, es fing an zu gefrieren, der Schnee
war bereits harsch, eisiger Wind fegte Schneefetzen schlierig &
flach über den Boden, die Pferde schossen jetzt leicht dahin, unter
den Kufen des Schlittens gab es nun ein messerscharfes Geräusch.
Knapp vor Mitternacht kehrte er zurück. Ohne sich um die
schwitzenden Pferde zu kümmern, eilte er hinein, doch, als er das
Haus betrat, schlug ihm eine seltsame, schwere Stille entgegen.
Beim Eintreten ins Schlafzimmer traute er seinen Augen nicht, das
Schlimmste, das Unvorstellbare schien Wirklichkeit geworden zu
sein.
Rahel lag reglos & totenblass mit tiefblauen Lippen &
aufgerissenen, starren Augen auf dem über & über blutigen Lager.
Sie versuchte, ihm die Hände entgegenzustrecken, vermochte es
jedoch nicht, bewegte tonlos den Mund, während neben ihr
eingepackt & friedlich das Neugeborene schlief.
Aus ihrem Unterleib quoll in Schüben dickes, dunkles Blut,
schwarz wie erkaltende Lava beinah, dazwischen schoss frisches,
hellrotes daher, fast wie aus einer aufgeregt sprudelnden Quelle.
Die Hebamme hatte alle Tücher & Fetzen, die sie fassen konnte,
in Rahel hineingestopft, presste sich mit dem ganzen Gewicht
dagegen, hatte schon auf jede erdenkliche Weise versucht, die
Blutung zum Stillstand zu bringen, es sollte ihr nicht gelingen, es
konnte ihr nicht gelingen.
Alexander beugte sich über Rahel, nahm ihren Kopf in seine
Hände, hob ihn auf, drang mit seinem Blick in ihre Augen.
Sie versuchte wohl tapfer zu lächeln, es wurde zu einer grausigen
Grimasse, ihre Haut, ihre Hände waren kalt wie Eis, obwohl der
340
Ofen neben ihr lichterloh brannte, es im Zimmer schier
unerträglich heiß war, doch Rahel konnte diese Wärme nicht mehr
in sich aufnehmen, sie hatte ihre Kraft verloren, war zu Tode
erschöpft, schien nur noch auf Alexander gewartet zu haben,
begann sich fast erleichtert von ihm zu verabschieden. Dann,
………….., dann schaute sie ihn plötzlich verloren & leer an,
nein, sie schaute ihn nicht mehr an, Gott weiß, wo sie hinschaute,
sie hatte aufgehört zu leben.
Er begriff nicht gleich, dass ihre Augen nicht ihn, nicht das Baby,
nichts mehr auf der Welt sahen, sondern bereits die Ewigkeit.
Als er dies endlich gewahrte, legte er langsam ihren, jetzt
unendlich schweren Kopf zurück auf das nasse, erkaltete Kissen.
Er starrte auf Rahels Gesicht, das blutdurchtränkte Bett, den
reglosen Körper, er spürte, wie ihm schlecht wurde, er kniete
nieder, begann zu zittern, zu schreien, hörte seine Stimme nicht,
dennoch schrie er ihren Namen, schrie ihn durch das Haus, die
Winternacht, die schreckliche Einsamkeit, schrie ihn durch Zeit &
Raum, schrie, schrie, als könnte er sie dadurch aufwecken,
zurückrufen in sein Leben, diesen Alptraum beenden, schrie, als
müsste er jetzt & jetzt zerspringen, die ganze Welt, Himmel &
Erde, die Sterne, den Winter innewerden lassen, welches Unglück,
welcher Schlag, welches Schicksal ihn, Alexander Sommerfeld, in
dieser Nacht getroffen hatte.
Raaaaheeeeellllll!!!!!!…………Raaaachhelllllllllll………….
Raaaaheeeeellllllll……………….Raaaachelllllll!!!!!!!!
Von den Schreien aber wachte jetzt das Neugeborene auf, erschrak
zum ersten Mal auf dieser Welt bis in seine kleine Seele hinein
und begann bitterlich & unstillbar zu weinen, zu schluchzen, zu
zittern, um Luft zu kämpfen.
Es hatte nach der Anstrengung seiner Geburt nichts ahnend &
selig geschlafen, bis es vom Schmerz des Vaters aus der warmen
Sanftheit, in der es weilte, in die grausame Wirklichkeit seines
341
soeben begonnenen Lebens geholt wurde.
Keine zwei Stunden nach seinem ersten Atemzug erfuhr dieses
Kind, dass etwas Furchtbares passiert sein musste, etwas Großes,
Schweres, Trauriges, doch was geschehen war, konnte es nicht
begreifen, und doch muss es zuinnerst erschüttert gewesen sein.
Es war auf die Welt gebracht worden und hatte im selben
Augenblick die Mutter verloren.
Dieses Ereignis, dieses wortlose Leid sollte sein ganzes Leben,
sein ganzes Schicksal bestimmen, genau wie das seines Vaters.
Alexander schickte die Hebamme fort, sie wollte bleiben, das ihre,
wie sie meinte, noch tun, die Tote waschen und frisch betten, doch
Alexander schob sie weg, denn er gab ihr innerlich die Schuld an
Rahels Tod, genau wie dem Arzt, der nicht mit ihm gegangen war.
Er klagte Gott und die Welt an, er hatte mit einem Mal nichts
mehr, denn er hatte alles, er hatte Rahel verloren. Die Tränen
rannen ihm aus den Augen, der Nase, dem Mund, er ging über, es
strömte aus ihm heraus, so übermäßig viel, er weinte & weinte,
seufzte, wischte vergeblich. Er versuchte sogar aufzuhören, doch
es gelang ihm nicht, in ihm weinte es von selber, in ihm war etwas
zerbrochen. Die Zeit stehen geblieben, die Uhrzeiger zu Boden
gefallen, die Erde hatte aufgehört, sich zu drehen, die Sterne zu
leuchten, das Wasser zu rinnen, die Sonne zu scheinen.
Und doch kam ihm ganz, ganz langsam und fast unhörbar leise ein
unendlich süßer, ein unendlich tröstlicher Gedanke.
Er nahm das Baby auf den Arm, schaukelte es, steckte ihm einen
Finger in den Mund, es saugte kraftvoll, hörte nach & nach zu
weinen auf. Er legte es vorsichtig neben Rahel, sich selbst neben
den Kleinen, und so blieben sie die ganze Nacht beieinander
liegen. Er schlief kein Augevoll. Die beiden neben ihm waren still
& friedlich, das Neugeborene gab schon wie ein kleines
Kraftwerk eigene Wärme ab, die Tote erkaltete mehr & mehr. Eine
unendliche Ruhe legte sich über sie und die Nacht.
Wir waren eine richtige kleine, neue Familie für eine Nacht, eine
342
einzige, eine allereinzigste Erdennacht. Ich umarmte euch beide,
ihr wart meine Familie. Du solltest wenigstens für eine einzige
Nacht in deinem ganzen Leben, in das du mutterlos geworfen
wurdest, eine Mutter gehabt haben.
Du hast mich, als du dich beruhigt hattest, ganz lieb angeschaut,
so als würdest du alles verstehen. Viel später wusste ich, wie sehr
du alles schon verstanden hattest, denn es gab kein zweites Kind
wie dich an keinem Tag deines Kinderlebens und an keinem
anderen, den ich mit dir verbringen durfte.
Am nächsten Morgen habe ich Deine Mutter gewaschen,
angezogen, so schön als es ging, als es mir gelang, ich habe dir
alles erklärt, und du hast alles gehört, hast aufgepasst, das konnte
man deutlich sehen, du hast mich still und klug angeschaut, genau
wie deine Mutter es immer getan hatte, wenn ich mit ihr sprach,
so als wolltest du sagen, mach dir keine Sorgen, es wird schon
gehen, wir schaffen es, du wirst sehen.
Und ich fragte dich sogar: willst du mir und deiner Mutter ein
guter Junge sein?, sagte dir, dass du nun mein ein & alles bist, ich
für nichts und niemanden mehr da sein werde als für dich, dass
ich immer gut für dich sorgen werde, versprach dir, niemals zu
heiraten, nichts anderes zu sein als dein Vater und deine Mutter.
Dann musste ich mich aufmachen, um die Dinge in die Wege zu
leiten, die getan werden mussten, zu allererst Rahels Eltern die
Todesnachricht bringen. Von der Hebamme wusste ich, dass man
einem kleinen Kind Tee geben konnte, das tat ich. Danach nahm
dich mit, du gabst mir Mut und Kraft, du warst brav und
verständig, du weintest nicht, und ich durfte es auch nicht mehr,
für dich, wegen dir.
Ich hatte jetzt einen Sohn. Ich war Vater geworden, ich hatte deine
Mutter, meine Frau, ich hatte Rahel verloren, aber sie würde
trotzdem bei uns sein, ich würde ihr immer alles erzählen, das
beschloss ich an jenem Morgen, es war mir, als hätte sie selbst mir
diese Idee eingegeben, hatte es ihr noch in der Nacht, als sie noch
343
bei uns lag, versprochen, und so hielt ich es zu allen Zeiten, ihr
alles zu erzählen, meine ich, und nur noch für dich da zu sein.
Sie wusste immer ganz genau, was du heute gemacht hast, als du
deine ersten Worte sagtest, deine ersten Schritte gingst, dein
erstes Lächeln, dein erster Schultag, dein erstes Sehr gut. Sie war
immer neben mir wie in jener Nacht, auch wenn nur ich sie sehen
konnte.
Und von Tag zu Tag wurdest du ihr ähnlicher.
***
Sie nannten es „Insertio vellamentosa“, dieses Wort konnte ich
nicht vergessen, würde er ihm eines Tages sagen, und der junge
Alexander wusste schon durch dieses Wort, was es bedeutete.
Die Nabelschnur ist zu kurz, in diesem Fall reißt das Kind in der
Austreibungsphase der Geburt den Uterus mit, die Gebärende
verblutet, es gibt keine Rettung, nicht unter solchen Umständen.
Sein Sohn Alexander hat es ihm Jahrzehnte später so und viel
genauer erklärt, sein Sohn, der nun selber Arzt war.
***
Der kleine Alexander, sein Name war der Wunsch Rahels
gewesen, so wollte es der Brauch, der erste Sohn sollte wie der
Vater heißen, das erste Mädchen wie die Mutter, Alexander der
Kleine also wurde zunächst mit gewässerter Kuhmilch & Mehl
gesättigt.
Rahels Eltern brachen zusammen, als Alexander ihnen die
Todesnachricht überbrachte.
Der Rabbiner ging im Kreis, tobte, schrie, kniete nieder, riss an
seinem Schwiegersohn herum, schlug auf ihn ein.
Ingrid aber fasste sich schnell, nahm das Kleine unendlich zärtlich
in die Arme, erkannte sofort ihre Tochter im ruhigen, noch blassen
Gesichtchen des Säuglings, küsste ihn auf die Stirn, die Nase, die
344
Augen, kümmerte sich gleich um ein Fläschchen, lief zur
Nachbarin, die vor kurzem eine Geburt gehabt hatte, kam nicht
mit leeren Händen zurück.
Bald war das bescheidene Rabbinerhaus voll von Frauen, langsam
kamen auch die Männer nach, spähten herein, traten scheu über
die Schwelle, stellten sich voller Ehrfurcht einer dicht neben dem
anderen in der Stube auf. Alle versuchten zu helfen, zu trösten,
Angebote zu machen; fast jede brachte etwas mit, Wäsche, Milch,
alle erdenklichen Ideen wie: auf das Kleine aufzupassen, es in der
Nacht herumzutragen, alle möglichen & nötigen Arbeiten zu
erledigen, weil Ingrid sich nur um das Kind kümmern sollte, sich
immer wieder ausruhen können musste, sie, die jetzt Großmutter
& Mutter in einem war, damit sie ja die Kräfte nicht verließen. Sie
hätte Tag & Nacht keinen Finger mehr zu rühren brauchen, und
ihrem ersten, und wie sich später herausstellte, einzigen
Enkelkind, hätte es trotzdem an nichts gefehlt.
Als Alexander, der in einen Kampf mit dem Schwiegervater
verwickelt war und nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand,
dies sah, da wurde es ihm leichter ums Herz.
Dieses kleine Kind war, wie es aussah, bestens versorgt, und trotz
des Leids, der Sorge, des Schocks erfasste ihn doch bald ein
Gefühl besonderen Glücks.
Rahel hatte ihn nicht allein gelassen, sie half ihm gleichsam durch
ihre Mutter, als wäre sie selber anwesend, und langsam, ganz
langsam begann sich die Unerträglichkeit des Unglücks, das so
jäh über Alexander hereingebrochen war, in Zuversicht, ja Freude
zu verwandeln. Das unendliche Glück, ein Kind zu haben, ein
kleines Neugeborenes, für es verantwortlich zu sein, einen Grund
zum Weiterleben zu haben, kam Alexander jetzt vor, als hätte Gott
der Herr ihm mit diesem Schicksal auch dessen Heilung
mitgeschickt.
Er hatte zwar keine Frau mehr, doch war er nicht allein. Es gab für
ihn nichts anderes mehr, als für das Kleine zu sorgen, er durfte
keine Gedanken verschwenden an irgendetwas anderes, nicht
345
mehr an sich denken, sondern nur noch an seinen winzigen
Buben.
Welchem Neugeborenen könnte es besser gehen als diesem, das
gerade seine Mutter verloren hatte?, so dachte er. Hätte ihm diese
Tatsache gestern um dieselbe Zeit jemand gesagt, er hätte es nicht
geglaubt.
Ingrid nahm ihn zärtlich zur Seite, erklärte ihm den Unterschied
von Mann & Frau auf ihre Weise, entschuldigte damit den
Rabbiner, nahm ihn in Schutz, denn beim besten Willen, er konnte
nicht anders, konnte nichts weiter als hilflos & verzweifelt sein,
aber sie würde ihrem schwierigen Gatten zu gegebener Zeit
auseinandersetzen, dass es selbstverständlich nicht Alexanders
Schuld war, sondern Gottes Wille, darauf könne er sich verlassen.
Rahel trug eben diesen Fehler in sich, und hätte sie ein Kind von
einem anderen Mann bekommen, es wäre dasselbe gewesen. Dies
sagte ihm seine medizinisch völlig ungebildete Schwiegermutter
schon damals. Alexander sollte sich später über diese Aussage
seiner Großmutter besonders wundern. Mit welcher
Treffsicherheit, mit welchem Instinkt sie diesen Defekt erkannt
hatte!
Diese einfache Frau, die nicht studiert & gelehrt war wie ihr
Mann, der sich in allen Lebenslagen, bei allen Problemen auf
seine Bücher verließ, behielt die Übersicht, verurteilte niemanden,
war gerecht wie ein guter Richter, wie ein weiser Rabbi, behielt
kühles Blut im eigenen Schmerz um den Verlust ihrer Tochter.
Sogar die kleine Schwester Marie, die jetzt dreizehn Jahre zählte,
verstand mehr als ihr Vater, der nur an Rache dachte, mit seinem
Schwiegersohn wie Seinem Gott gleichermaßen haderte.
Marie stand mit aufgerissenen Augen daneben, konnte nicht
fassen, dass ihre geliebte, über alles geliebte, große Schwester, nie
mehr kommen würde.
Sie erinnerte sich, wie Rahel ihr damals gesagt hatte: was mir
gehört, gehört auch dir, ich will alles mit dir teilen, du kannst
immer zu mir kommen, pass auf unsere Eltern auf, wenn ich nicht
346
da bin, und, was immer geschieht, pass auf alles und alle auf.
Das hieß doch wohl auch, dass sie sich, natürlich mit ‚Mammele‘
zusammen, um das Baby kümmern durfte, sollte, musste.
Alexander ließ den kleinen Alexander bei seinen Schwiegereltern,
und wenn auch Marie jetzt ihre Schwester verloren hatte, so
beugte sie sich wie ihre Mutter unendlich glücklich über das Kind,
das sie jetzt im Hause hatten, Rahels Kind.
Was mir gehört, gehört auch dir… .
Marie ging ihrer Mutter von der ersten Stunde an zügig zur Hand,
lernte rasch, damit umzugehen, lebte für die neue Aufgabe, die ihr
wichtiger war als die Schule, die Freundinnen, als alles, was es
sonst noch geben mochte, wichtiger sogar als ihr eigenes Leben.
In der Sorge um den kleinen Alexander reifte Marie schnell heran,
wurde nicht einmal heimgesucht von den Leiden des
Erwachsenwerdens, sondern schlüpfte vom Nesthäkchendasein
direkt in die Rolle der verantwortungsvollen und überaus
besorgten Tante.
Marie vergaß darüber sich selbst, verzehrte sich nicht wie ihre
Freundinnen nach der ersten großen Liebe, ging nicht auf
Tanzveranstaltungen, Feste, schmuste nicht heimlich in dunklen
Ecken, sondern beschäftigte sich nur mit ihrem & Rahels Baby.
Der Rabbiner aber erholte sich von diesem Schicksalsschlag nicht
mehr, er hörte auf zu reden, zog sich zurück, auch aus der
Öffentlichkeit. Es traf ihn zu sehr, dass sich seine Befürchtung,
seine Ahnung, wonach Rahel wegen ihres tödlichen Namens auf
die exakt gleiche Weise wie ihre biblische Namenspatronin
sterben musste, bewahrheitet hatte.
Er verfügte über keine Kraft mehr, mit etwas dieser Größe fertig
zu werden. Zu lange hatte er sich mit jener fixen Idee beschäftigt,
immer trug er sie im Hinterkopf, gerade so, als hätte er auf die
Erfüllung seiner eigenen Prophezeiung gewartet, als wäre es sein
persönliches Los gewesen, es von Anfang an zu wissen und doch
nichts dagegen tun zu können. Ein Jahr nach der Geburt seines
Enkels, ein Jahr nach Rahel starb auch er.
347
Seine Frau meinte, er habe schon bei der Todesnachricht den
Verstand verloren, konnte danach keinen klaren Gedanken mehr
fassen, verwand den Tod von Rahel nicht.
Immer & immer wieder konfrontierte er sie mit dem Vorwurf, der
sie jetzt verbitterte, denn nur ein einziges Mal hatte sie sich gegen
ihn durchgesetzt, als sie sich gewünscht hatte, dass ihr erstes Kind
Rahel heißen sollte. Schon als Mädchen war sie in diese Rahel
und ihre Liebesgeschichte mit Jakob verliebt gewesen, sogar in
deren beide Kinder Joseph & Benjamin, bei dessen Geburt die
biblische Rahel gestorben war, was dem, schon betagten Jakob,
das Herz gebrochen hatte.
Aus eben diesem Grund wollte der Rabbiner nicht, dass eines
seiner Kinder ausgerechnet Rahel heißen sollte.
Obwohl er nicht abergläubisch war, ja sogar äußerst streng gegen
jede Art von Aberglauben & Wahrsagerei wie er dies bei anderen
Leuten nannte, gegen Quacksalber, Hexen, Geisterei und was es
sonst noch alles gab, ins Feld zog, so schien er doch in diesem
Fall nicht davon abzubringen zu sein, dass ein Name wie Rahel
ein schlechtes Omen sei.
Schweren Herzens hatte er damals Ingrid ihren Willen gelassen,
hinter ihr lagen immerhin ein halbes Dutzend Fehlgeburten, zum
Schluss drei Todgeburten. Sogar seine Kollegen, die Nachbarn,
Juden wie Christen, standen auf der Seite Ingrids, die ihrer aller
Meinung nach, genug gelitten hatte, um diesen Wunsch äußern zu
dürfen und erfüllt zu bekommen. Er musste sich diesem Druck
beugen und gegen jede Vernunft‚ ja - wider besseres Wissen, wie
er meinte, nachgeben.
Tatsächlich wurde schon die allerkleinste Rahel sein ein & alles,
ein Kind, das den Nachteil, ein Mädchen zu sein, sogar in seinen
strengen Augen, mit Leichtigkeit ausglich.
Sie war nicht nur auffallend klug, sondern blitzgescheit, hatte
keine Mühe in der Schule jemals. Sie steckte jeden Jungen, so
dachte sogar der Rabbiner, mühelos in die Tasche.
Die Buben, die er in der Judenschul‘ unterrichtete, waren oft
348
begriffsstützig, langsam, faul, desinteressiert, kamen nur, weil sie
mussten.
Nicht so Rahel, die flugs die alten hebräischen Texte lernte, sie
herunterratschte, den weniger begabten Schülern half, ohne
überheblich zu sein.
Die Lehrerinnen waren angetan von ihr, sie durfte aufs
Gymnasium nach Malmö gehen, ein Problem zwar für die
finanziellen Verhältnisse des Haushalts, aber Grund zu Stolz &
Freude bei ihren Eltern.
Als sie alt genug war, übersiedelte sie nach Stockholm, um
Deutsch und die Alten Sprachen zu studieren.
Sie hatte keinen Augenblick gezögert, sich für diese
anspruchsvollen Studien zu entscheiden, denn wenn sie etwas
konnte, dann war es jede Menge auswendig zu lernen, sich
unbändig viel zu merken.
Auch auf der Universität fiel sie bald als besonders aufmerksame
& fleißige Studentin auf, avancierte im Nu zum Liebling der
Professoren, war immer eifrig bei der Sache, strich einen
Prüfungserfolg nach dem anderen ein.
Doch dies war längst nicht alles, denn bald sollte sie ihren
späteren Ehemann Alexander Sommerfeld kennenlernen, der ihr in
allem beistand, vor allem materiell, sie als das Juwel erkannte &
liebte, das sie für ihn wurde, die einzige, wirklich große Liebe, die
erste & letzte seines Lebens.
Diese gemeinsamen Jahre waren seine wie ihre allerschönsten,
und was sie nicht einmal wussten, ihre einzigen. Denn wie alle
Verliebten meinten sie, es lägen unendlich viele glückliche Jahre
vor ihnen, sie hätten jede Menge Zeit und keine Eile. Und doch
gab es eine feine Linie in ihrer Beziehung, die in Wirklichkeit
keine Pause, keine Unterbrechung des Zusammenseins zuließ, die
sie, wenn sie sich denn trennen mussten, auf schnellstem Wege
wieder vereinte, so als gäbe es einen Plan, ein Ziel, eine begrenzte
Weile in der vermeintlichen Ewigkeit der Liebe.
Wenn sie diese Seite ihres Aufenthalts in Stockholm auch zu
349
Hause zunächst & tunlichst verheimlichte, ihre Verliebtheit nicht
zeigen & eingestehen durfte, diese Jahre in Stockholm waren das
größte Glück, das sie auf Erden erfuhr.
Zuerst war sie schüchtern & eigensinnig gewesen, verzopft &
verängstigt, verfügte über keinerlei Aufteten in der Gesellschaft,
hatte bisher nur Lernen, Hausarbeit, Gehorchen gekannt, das
ständige Gefühl der Schuldhaftigkeit des menschlichen Daseins,
der Sünde, des Nichtgenügens, wie es im Haus ihrer Eltern, ihres
Vaters, des Rabbiners, üblich war.
Obwohl verschroben und höchst altmodisch erzogen, wurde aus
ihr an Alexanders Seite bald eine elegante, selbstsichere junge
Frau, die an erotischen Erfahrungen durchaus interessiert war,
sogar die Sexualität mit ihrem Geliebten genoss & auskostete, sie
nach & nach brauchte & forderte. Alexanders finanzielle
Unabhängigkeit sicherte ihnen und vor allem Rahel die nötige
Diskretion.
XV
Nach Rahels Tod ein neues Leben
Jetzt aber, nach ihrem plötzlichen Tod, kehrte Alexander zurück in
das, erst vor kurzem erworbene und schon wieder leere Haus in
der Nähe von Växjö.
Die ersten Tage & Nächte waren schrecklich, er fand keinen
Schlaf, keine Ruhe, machte sich wieder & wieder auf zu den
Schwiegereltern, bei denen er den neugeborenen, winzig kleinen
Alexander zurückgelassen hatte und konnte ihn doch nicht zu sich
nehmen, was er am allerliebsten getan hätte.
Anfangs warf ihn sein Schwiegervater jedes Mal hinaus, bis auch
dieser einsah, dass er dazu kein Recht hatte.
Ingrid, die mit ihrem Mann darüber in Streit geriet, was Alexander
zutiefst bedauerte, jedoch nicht ändern konnte, brachte ihn
350
schließlich zur Vernunft.
Es beruhigte ihn, zu sehen, wie gut der Kleine versorgt wurde, wie
viele helfende Hände zur Stelle waren, ja, es sah fast aus, als hätte
die ganze Ortschaft beinah auf dieses Ereignis gewartet, um eine
gemeinsame Aufgabe zu haben, sich nützlich zu machen, endlich
mit dem Rabbinerhaushalt zusammen zu wachsen.
Alle waren ausgelastet mit ihrem eigenen Leben, hatten Sorgen
genug, doch in diesen Tagen, aus denen Monate & Jahre wurden,
schien es nichts anderes zu geben als Rahels Baby.
Man wechselte sich ab, die Männer beteiligten sich auf ihre
Weise, übernahmen Arbeiten, die sie früher nie gemacht hätten,
taten sich hervor mit Einfällen & Vorschlägen, brachten Gefäße
voller Muttermilch von dort nach da, ließen auch gerne den
Stammtisch ausfallen.
Immer hatte jemand Dienst für dieses und jenes, wurde hierhin &
dorthin geschickt, genierte sich nicht, Weiberarbeiten zu
übernehmen.
Die Männer wurden verständiger gegenüber den eigenen Frauen
und deren Mühsal mit den Kindern, waren auf einmal heilfroh
über ihre eigene Situation, denn wie Alexander Sommerfeld wären
auch sie verloren gewesen ohne ihre Ehefrauen, mit einem
Kleinkind, ganz allein.
Es musste scheinbar diese Katastrophe geben, damit sie begriffen,
was es bedeutete, Kinder in die Welt zu setzen.
Der eine oder andere ging in sich, mit einem Freund oder einfach
dem Nachbarn ins Gericht, sprach ihn direkt auf die sexuellen
Gelüste, die Verantwortungslosigkeit, die diesen Trieben
inne-wohnt, an. Es herrschte plötzlich Offenheit in den bisher
geheimsten Dingen.
Es gab etliche Männer, die bereits zum zweiten oder dritten Mal
verheiratet waren, weil ihre Frauen im Kindbett gestorben waren,
sie erinnerten sich jetzt, wie es ihnen damals ergangen war,
gelobten Besserung, änderten sich nach & nach zu ihren und ihrer
Familien Gunsten.
351
So wurde Alexander der Kleine nicht nur von seiner Großmutter
aufgezogen, sondern war, wie er später selber erzählen sollte, das
erste Kind in Schweden, das im Kollektiv aufwuchs.
Er wurde selbstverständlich in fast alle Häusern getragen, blieb
mal hier mal dort, lief bald selber überall ein & aus, besonders, als
kurz nach seinem ersten Geburtstag, der Großvater gestorben war.
Nach diesem, zwar traurigen, aber in vieler Hinsicht befreiendem
Ereignis war seinem Bewegungsdrang keine Grenze mehr gesetzt,
jeden Tag wurde er mehrmals aus verschiedenen Gärten &
Richtungen zurückgebracht.
Nicht selten saß er irgendwo im Stall, bei den Schweinen in der
Koppel, mit den Hühnern auf Feld, neben oder mitten auf dem
Weg nahe der nächsten Ortschaft bereits. Seine Oma lief ihm
vergebens hinterher, kaum hatte sie sich umgedreht, war er schon
wieder über alle Berge. Ihre Beine trugen sie immer schlechter, so
hatte er leichtes Spiel.
Diese Jahre sollten später zu Alexanders glücklichsten gehören;
auch wenn er sich kaum erinnerte, so blieb ihm doch ein Gefühl
großer Geborgenheit aus jener frühen Zeit, denn sein Vater
erzählte ihm davon so bunt, so farbig, dass es einer persönlichen
Erinnerung recht nahe kam.
Noch bevor er zur Schule gehen musste, als die Formalitäten
dafür bereits erledigt waren, starb seine Großmutter an einer
Grippe, aus der schließlich eine Lungenentzündung geworden
war, und dies war der Tag, an dem Alexander zu seinem Vater
kam, der nun allein für ihn sorgte.
In diesen vergangenen Jahren hatte er ihn unzählige Male besucht,
ihm von überall Kleider & Schuhe, Spielsachen, Geschenke
gebracht, bei ihm geschlafen, mit ihm gespielt, für ihn Vermögen
angehäuft, sich nach ihm gesehnt, war unvermittelt draußen
gestanden, ohne eine Vorankündigung, einfach, weil er seinen &
Rahels Sohn sehen wollte, Rahels Sohn, sagte er oft, was nicht
jeder gleich verstand, doch für ihn, für ihn war es eine
Gelegenheit, sie beim Namen zu nennen, in aller Öffentlichkeit
352
sogar, denn Rahel gab ihm Kraft & Sicherheit, Rahel, die er in
seinem Herzen, seinem Sinn immer bei sich trug.
Vor allem Aexanders Geburtstag, den dreißigsten Januar, Rahels
Sterbetag zugleich, versäumte er kein einziges Mal, egal wie viel
Schnee es gab, welcher Sturm auch toben mochte. Diese
Winternacht war sein Ashram geworden, sein Himmelsschrein,
Gedenktag des größten Schmerzes wie der höchsten Freude.
Er hat dafür geschäftliche Treffen verschoben, Auslandsreisen
abgesagt, dann ab einem bestimmten Zeitpunkt war es aus
politischen Gründen ohnehin nicht mehr möglich, das Land zu
verlassen, sich in Gefahr zu begeben, zu groß wurde seine Furcht,
damit seinen Jungen zu gefährden.
Mit dem Tod seiner Schwiegermutter ergriff ein Gedanke von ihm
vollkommen Besitz, ein Gedanke, der ihn nie mehr losließ. Ihm,
dem alten Sommerfeld durfte nichts zustoßen, nicht um seiner
selbst Willen, sondern, weil er jetzt Vater war, sein einziges Kind
keine Mutter hatte und jetzt auch keine Großeltern mehr.
Als die Beerdigung von Ingrid vorüber war und der Haushalt in
Växjö aufgelöst, als Marie, seine, inzwischen neunzehnjährige
Schwägerin, des kleinen Alexanders Tante also mit ihrer Mutter
auch ihr Zuhause verloren hatte, sich ihren eigenen
Lebensunterhalt suchen, das Rabbinerhaus verlassen musste, sich
entschloss, Lehrerin zu werden und nach Uppsala ging, da holte er
zum ersten Mal seinen Jungen zu sich nach Stockholm.
Selbstverständlich trug er sämtliche Kosten von Maries Studium,
unterstützte sie, bis sie auf eigenen Beinen stehen konnte.
An einem Spätsommerabend des Jahres 1941 fuhren Vater & Sohn
mit dem Zug in die Hauptstadt. Im Koffer befanden sich
Alexanders Habseligkeiten & Erinnerungen. Der erste Abschnitt
seiner Kindheit war zu Ende.
Er schaute aus dem Fenster, als der Bahnwärter pfiff, niemand
stand mehr auf dem Bahnsteig, niemand winkte ihnen, sie waren
allein.
An diesen Blick aus dem Fenster erinnert sich Alexander sein
353
ganzes Leben. Schwer & langsam setzt sich der Zug in
Bewegung, schwarze Wolken steigen auf, und als hätte der Bub
die Tragik des Moments verstanden, begann er leise zu weinen.
Europa befand sich im Krieg. Deutschland war vor wenigen
Wochen in Russland einmarschiert, nicht weit von der
schwedischen Grenze entfernt, wurden Schlachten geschlagen.
Die Welt hatte sich, seit Rahel nicht mehr lebte, vollständig
verändert. Es kamen nur noch traurige & beunruhigende
Meldungen über das Radio.
Dennoch war Alexander glücklich, überglücklich, dieses Kind bei
sich zu haben, neben sich schlafen zu sehen, atmen zu hören.
Wenn Rahel sie beide sehen könnte!
Doch Rahel sah sie bestimmt. Denn irgendwann vor Jahren bereits
war dem alten Herrn Sommerfeld, der er jetzt war und wie er sich
selber gerne nannte, diese überaus wichtige, große Idee
gekommen.
Er hatte auf einmal wirklich begonnen, mit Rahel zu reden, ihr
zuerst das eine oder andere, später immer mehr und schließlich so
gut wie alles zu erzählen.
Anfangs hatte er sie nur bei Unsicherheiten konsultiert, ob er
lieber dieses Geschäft oder jenes abschließen sollte, wann er am
besten reisen könnte, doch die Gespräche wurden immer länger,
immer umfangreicher, immer persönlicher, am Ende ging es fast
nur noch um das Kind.
Seit er den Buben nun bei sich hatte, vergaß er vorübergehend fast
auf Rahel, sie war ja jetzt in Alexanders Gestalt bei ihm, als etwas
Lebendiges, das mit ihm leibhaftig redete, sich von einer auf die
andere Seite drehte, im Schlaf seufzte, träumte, sogar lachte.
Nächtelang lag er wach, um diesen Anblick zu genießen, mit
Rahel auf diese Weise eins zu sein, und doch mit Alexander zu
sprechen, nein, zu flüstern, denn er durfte ihn ja nicht wecken.
Er war kein Phantom, kein Geist, sondern ein lebendiges Wesen,
kein Foto, sondern jemand, mit dem er sich bis zum Einschlafen
354
unterhalten konnte, war nicht eins von Rahels Kleidern, das er
neben sich legte, er sprach nicht mehr mit der Fensterscheibe,
durch welche das Mondlicht fiel, sondern mit einem kleinen und
doch schon großen Knäblein, das gleichsam zu ihm gehörte.
Natürlich bemerkte Alexander bald, wie sein Vater neben ihm
betete, offenbar mit noch jemandem redete.
In Wahrheit waren sie beide in Gedanken immer beieinander
gewesen, denn wie er, was er auch tat, wo er auch war, an sein
Kind dachte, dachte dieses dauernd an ihn.
So oft er sich auch losgerissen hatte von seinen Verpflichtungen,
es war, das wussten beide, ganz wenig, viel zu wenig gewesen,
denn sie wollten nichts lieber, als immer beisammen sein.
Für Alexander, der seine Mutter nie gekannt hatte, war sein Vater
alles. Seine Großmutter, die er innig liebte, schien ihm, so meinte
er später oft, schon ein bisschen alt gewesen, und als er noch
ganz, ganz klein war, ahnte er bereits, dass sie ihn nicht lange
würde begleiten können, denn Kinder haben ein gutes Gespür für
das Alter, für die kleinen Gebrechen, und alte Menschen werden
in ihrer zunehmenden Hilflosigkeit den Jungen wieder ähnlich.
Was sie vor Erwachsenen verbergen konnte, gelang ihr vor ihrem
Enkel keineswegs.
Wie oft hatte er sie schwer schnaufen gehört in der Nacht, die
Schmerzen, die sie plagten, ließen sie schlecht schlafen, so war sie
auch tagsüber manchmal zerfahren, vergesslich, hin & wieder
verwirrt, übermäßig müde.
Es wurde ihr oft alles zu viel, und obwohl sie es vor den anderen
verheimlichen konnte, noble wie harmlose Ausreden für
persönliche Katastrophen parat hielt, kannte Alexander, der längst
neben ihr im Ehebett schlief, als wäre er ihr eigener Mann, ihre
Leiden, wusste, dass sie auf das Lebensende zuging, der Tod vor
der Tür stand und bereits ungeduldig wartete.
Wäre er nicht gewesen, hätte sie sich nicht so lange aufrecht
halten können oder müssen, doch große Aufgaben rufen
außergewöhnliche Kräfte herbei, holen aus jemandem das letzte
355
heraus.
Als einmal der Arzt in der Nacht kommen musste, weil es ihr so
schlecht ging, sie kaum noch Luft bekam, die Schmerzen
unerträglich geworden waren, ihre andere Tochter Marie
verzweifelt hin & her lief, saß Alexander aufrecht mit
aufgerissenen wachen Augen neben ihr im Bett und beobachtete
aufmerksam die Handlung des Arztes.
Sogar seine kranke Großmutter musste lachen, weil der Kleine
sich mit Fragen & Vorschlägen einmischte. Zuerst reagierte der
Arzt unwirsch & entnervt, bis er bemerkte, dass er es mit einem
ungewöhnlich aufgeweckten Kind zu tun hatte.
Er drehte sich also langsam zu ihm, schenkte diesem überaus
wachen kleinen Buben auf einmal seine ganze Aufmerksamkeit,
sah ihm verwundert & tief in die Augen und kam zu dem Schluss,
dass es besser sei, ihn einzubeziehen, als zu versuchen, ihn
abzuwehren, denn an diesem langen Tag, an dessen Ende die
Visite bei Frau Goldmann stand, hatte er nicht mehr die Kraft,
eine Nebenfront zu eröffnen, entschied sich für den friedlichen &
diplomatischen Weg.
Du bist wohl ein ganz schlaues Kerlchen, wie mir scheint?
Was hat meine Oma?
Das kann ich nicht genau sagen.
Aber Sie sind doch ein Arzt?
Ja, aber das heißt nicht, dass ich alles weiß.
Nicht alles, aber was ein richtiger Arzt wissen muss.
So, so. Was muss denn ein richtiger Arzt alles wissen, deiner
Meinung nach?
356
Muss sie bald sterben?
Nein, nein.
Aber, wenn Sie nicht wissen, was sie hat, wie können Sie ihr dann
das richtige Medikament geben und wissen, dass sie nicht bald
sterben muss?
Gott im Himmel, Junge! Ich gebe ihr etwas gegen die Schmerzen,
gegen die Atemnot, für den Kreislauf, etwas zum Schlafen.
Das ist aber ganz schön viel.
Ja, am Ende kommen bei alten Leuten oft recht viele Dinge
zusammen.
In Wirklichkeit ist meine Oma einfach schon alt, ich glaube, das
ist normal, glauben Sie nicht?
Ja, in gewisser Weise hast Du recht. Willst Du auch einmal Arzt
werden?
Vielleicht, aber zuerst möchte ich wissen, was es noch alles gibt.
Wie, was es noch alles gibt?
Ja, welche anderen Arbeiten, die man machen kann.
Verstehe, Du bist ein ganz ein Schlauer.
Auf jeden Fall finde ich es nett, dass Sie mitten in der Nacht
gekommen sind.
Danke, aber das ist selbstverständlich.
357
Wenn ich vielleicht einmal Arzt werde, will ich es genau so
machen.
Na, dann habe ich heute Nacht ja allerhand geschafft, freut mich,
dass ich Dir ein gutes Bespiel war.
Kommen Sie morgen wieder?
Ich denke schon.
Ich werde auf jeden Fall auch immer kommen, wenn man mich
ruft, egal, wie spät es schon ist.
Das ist eine gute Einstellung, wenn auch oft schwer einzuhalten.
Warum schwer einzuhalten?
Ja, weil viele Menschen gleichzeitig Hilfe brauchen, weil jeder
denkt, er wäre der wichtigste, weil man nicht überall sein kann, so
hetzt man als Arzt von Termin zu Termin, man ist selbst nicht
immer gesund, man hat ja nur mit Kranken zu tun, man steckt sich
an, ist überarbeitet, trotzdem muss man weiter, die Patienten
stehen immer an erster Stelle, nehmen es auch manchmal
selbstverständlich, dass man bei Wind und Wetter kommt,
vielleicht selbst in Gefahr ist, man darf sie nicht enttäuschen, ach,
es ist nicht immer leicht, das darfst du mir glauben.
Sind Sie auch manchmal schwer krank?
Natürlich. Wir kommen mit vielen Keimen in Berührung, sind
erschöpft und daher anfällig für alle möglichen Krankheiten und
Infektionen. Wir haben auch eigene Sorgen, was die Patienten
nicht verstehen können, daran denken sie einfach nicht, meinen,
358
als Arzt könnte man sich ohnehin selber helfen.
Möchten Sie trotzdem gerne Arzt sein? Haben Sie viele eigene
Sorgen?
Im Augenblick nicht, aber es gab schon andere Zeiten, meine erste
Frau ist an einer unbekannten Krankheit gestorben, und obwohl
ich Arzt bin, konnte ich ihr nicht helfen. So etwas gibt es.
Haben Sie Ihre Frau zu einem anderen Arzt gebracht?
Ja, einmal, aber ich habe verstanden, dass es keine Hilfe für sie
gab. Niemand hätte ihr helfen können. So bin ich oft zu anderen
Patienten geeilt, während meine Frau zu Hause vor Schmerzen
geschrien hat. Das war mir eine schwere Zeit, eine große
seelische Belastung.
Das ist ja furchtbar! Und ist Ihre Frau dann gestorben?
Ja, aber das ist schon länger her.
Tut es noch weh?
Ja, immer. Aber ich habe eine zweite Frau, ich brauchte eine
Mutter für meine beiden kleinen Kinder damals.
Das verstehe ich. Ist sie eine gute Frau? Ist sie lieb zu Ihren
Kindern, obwohl sie nicht ihre Mutter ist? Hat sie auch Kinder?
Junge, Junge, du fragst aber viel. Aber, weil es dich so
interessiert, will ich deine Fragen der Reihe nach beantworten.
Ja, sie ist eine gute Mutter, auch den Kindern meiner ersten Frau,
nicht nur den Zwillingen, die sie selber geboren hat.
Sie macht keinen Unterschied zwischen ihnen.
359
Das ist gut. Jetzt sind Sie aber doch glücklich, oder?
Oh ja. Selten, dass mich jemand nach meinem eigenen Leben und
Schicksal fragt. Aber dieser kleine Knabe hier tut es zu so später
Stunde, und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Du hast mir eine sehr
große Freude gemacht, und jetzt musst du mir aber sagen, wie du
heißt.
Alexander! Alexander Sommerfeld!
Alexander! Was für ein schöner, was für ein königlicher Name!
Bestimmt wirst du ein besonderer Mensch werden, jemand, dessen
Namen man sich merken sollte!
Er ließ ihn am Ende durch das Stethoskop horchen, Alexander
erkannte die schweren Atemzüge der Großmutter, konnte das
Rasseln in der Lunge hören und die verschieden starken
Geräusche unterscheiden.
Dies war seine allererste Medizinstunde, und noch bevor er erfuhr,
wie seine Mutter gestorben war, hatte etwas in ihm beschlossen,
Arzt zu werden. Gleichzeitig aber wollte er noch viele andere
Dinge lernen, denn es interessierte ihn viel zu viel, ja eigentlich
alles, und er konnte sich daher noch lange nicht entscheiden,
obwohl die tatsächliche Entscheidung in ihm soeben und wie von
selbst beinah, gefallen war.
Alexander war ein wissbegieriges Kind, hätte dauernd sinnvoll
beschäftigt gehört, was der Großmutter natürlich schwer fiel, ja
sie überforderte. Sie musste ihn meistens sich selbst überlassen,
hatte Mühe genug, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, ihm
einzuschärfen, nicht zu weit wegzulaufen, in Sicht- & Rufweite
des Hauses zu bleiben, immer aufzupassen und nichts, was sie
ihm gesagt hatte, zu vergessen.
So ist er viel unterwegs, treibt sich herum auf den Feldern, im
360
Wald, sammelt Blätter, Blumen, Steine, beobachtet Tiere &
Menschen, imitiert Vogelstimmen, legt Listen an, belauscht
Gespräche, zeichnet, malt, macht sich Gedanken über Gedanken,
unterrichtet & unterhält sich von klein auf im großen & ganzen
selbst, legt den ersten & wichtigsten Grundstein für sein späteres
naturwissenschaftliches Studium und seine Freude am Lernen &
Forschen in diesen frühen Jahren.
Von Anfang an beschäftigte er sich also weitestgehend allein,
suchte sich Aufgaben, stellte sich Fragen, erfuhr die
grundlegenden Erkenntnisse durch seine eigenen Beobachtungen.
Als er in die Schule kam, lag hinter ihm bereits ein ernsthaftes
Kinderstudium, das sich sehen lassen konnte. Zwar hatte er sich
nicht wie einige andere, das Lesen & Schreiben selber
beigebracht, doch dafür hatte er gezeichnet, den Aufbau, den
Umriss, die Form von Pflanzen, von Tieren, Entwicklungsstadien
erkannt & dokumentiert, wusste über vieles schon Bescheid,
wovon er erst wieder an der Universität hören sollte.
Als er zu seinem Vater zog, lebten die beiden zuerst in einem
großen Haus in Stockholm, wo Alexander eingeschult wurde.
Doch so konnte es, wie sein Vater fand, nicht bleiben. Später
sollte Alexander nicht verstehen, warum sein Vater trotz des
bereits damals beträchtlichen Vermögens, arbeiten musste und
sich nicht ausschließlich um ihn, seinen Sohn, kümmerte.
Was hinderte ihn daran, ihm ganz & gar Vater & Mutter zu sein,
für ihn zu kochen, ihn in die Schule zu bringen, abzuholen, mit
ihm in den Wald zu gehen, ans Meer?
Es wäre leicht möglich gewesen und war sogar üblich,
Dienstboten zu halten, Kindermädchen, Gouvernanten sogar.
Vielleicht waren es die Ansichten, die Gepflogenheiten der Zeit,
dass ein Mann, selbst ein Mann wie der alte Herr Sommerfeld,
nicht auf diesen Gedanken verfiel.
Stattdessen fuhr er weg, stattdessen verließ er seinen Sohn, um
Geld zu verdienen, Geld, mit dem er nichts anzufangen wusste,
das in dieser, sich wie von selbst anhäufenden Menge niemand
361
brauchte, denn man lebte zwar in guten Verhältnissen, aber nicht
verschwenderisch.
Es hätte gereicht, lediglich die Immobilien, das Erbe zu verwalten,
und doch ging er immer wieder auf Reisen, machte sich auf in den
Norden, um Pelze zu suchen, zu kaufen, weiter zu verhökern,
Vermögen auf Vermögen zu häufen.
Als Mann war er zu nichts anderem erzogen worden, hatte kaum
anderes gesehen als Männer, die Geld verdienten, ihr Vermögen,
ihre Besitztümer verwalteten & vermehrten. Er musste in diesen
Krieg ziehen, wie er meinte, es blieb ihm keine andere Wahl.
Er hätte es nicht geschafft, alleinerziehender Vater zu sein oder
glaubte, es nicht zu können, denn das einzige, was von ihm
wirklich verlangt gewesen wäre, nämlich ganz allein &
ausschließlich für sein Kind da zu sein, tat er nicht, diesen Auftrag
erkannte er nicht, traute ihn sich nicht zu, fühlte sich ihm nicht
gewachsen.
Er machte sich wohl Tag & Nacht ein Gewissen daraus, aber keine
wirklichen Vorwürfe, denn für Väter als Mütter gab keine
Vorbilder.
Er verfiel auf die Idee, Alexander solle eine Mutter haben, so
etwas wie eine Mutter, pflegte er sich selbst zu verbessern.
Ich möchte dich in die Obhut einer Familie geben, damit du so
etwas wie eine Mutter hast!, sagte er eines Tages.
Eine Mutter? Ich habe keine Mutter, das hast du selbst gesagt, ich
habe nur dich! Ich will keine Mutter!
Doch, du sollst wenigstens irgendwie normal werden, und dazu
braucht es eine Frau, verstehst du?
Endlich überredete & überzeugte er den Siebenjährigen, eine
Pflegemutter oder Pflegeeltern zu akzeptieren, damit der Vater
seinen Verpflichtungen, die sich scheinbar nicht aufschieben oder
ausschalten ließen, nachgehen konnte.
362
Weinen, Schreien, Streiten, schließlich Fügen & Nachgeben, und
mit dem nächsten Schuljahr hieß es, sollte Alexander zu einem
kinderlosen Bergarbeiterehepaar in den Norden kommen, das sich
gemeldet hatte, ein Pflegekind bei sich aufzunehmen.
Alexanders Vater hatte ihnen eine Menge Geld versprochen, einen
handfesten Vertrag ausgearbeitet, damit sein Sohn ein gutes Leben
haben sollte, eine Mutter, so etwas wie eine Mutter, gleichzeitig
Schweden kennenlernte, und obwohl er beschnitten war,
protestantisch wurde, sich in nichts von anderen Kindern
unterschied, auf dass er integriert würde und völlig in der
Gemeinschaft, letztlich der Gesellschaft aufginge, kurz gesagt,
alles möglichst auf einmal hinbekam.
So hätte es auch Rahel gewollt, darin wisse er sich mit ihr eins,
dafür hatte er ihren Segen, behauptete er.
Schweren Herzens nahm Alexander Abschied von seinem Vater,
und das erste Kapitel seines Leidens nahm seinen Anfang.
Es wäre Herrn Sommerfeld nicht in den Sinn gekommen,
Alexander etwa in ein Internat ins Ausland zu schicken, in die
Schweiz, nach England vielleicht, wie es andere taten, denn es
hatte nichts mit Schweden zu tun, Schweden aber war seine
Heimat, Alexander sollte es durch & durch kennenlernen &
liebgewinnen.
Was der Junge nicht wusste, es gab etwas in der Vergangenheit der
Familie, dem Rechnung getragen werden musste, dem sich der
Vater verpflichtet fühlte wie schon dessen Vater, wie schon dessen
Großvater. Was es einst für seine Vorfahren bedeutet hatte, Jude
zu sein, sollte er später erfahren, denn so wie jetzt, wo man in
diesem Land eine Staatsangehörigkeit, ein Bleiberecht, ja, Hab &
Gut besaß, war es bei weitem nicht immer gewesen.
Was nun aber für Alexander folgte, waren die bitteren Jahre des
Heimwehs, des Fremdseins, des sich unsichtbar Machens, es hieß,
seinen Anliegen kein Gewicht zu geben, keine Fragen zu stellen,
niemandem zur Last zu fallen; alles Gefühle, Gedanken, die für
sein ganzes späteres Leben bestimmend werden sollten, für ein
363
Kind von sieben Jahren aber schier unerfüllbar schienen.
Ein Bergarbeiterhaushalt bedeutete bescheidene Verhältnisse. Man
konnte die Zuwendung eines reichen Juden gut gebrauchen, hatte
daher nicht lange überlegt, war froh über die willkommene
Aufbesserung, es war wie ein Gewinn in der Lotterie beinah, doch
dies war es nicht, worüber der Junge sich beklagt hätte, wenn ihn
jemand gefragt hätte, denn die Frau des Hauses war nett zu
Alexander, bemühte sich redlich, tat ihr Bestes, hatte eine recht
liebevolle Art mit ihm umzugehen.
Sie war nicht mehr wirklich jung, und die Dinge gingen ihr nicht
leicht von der Hand. Den ganzen Tag, während der Mann
abwesend war, beschäftigte sie der Haushalt, rund um die Uhr
putzte & kochte sie, wusch die Wäsche, bügelte, versuchte
Alexander bei den Hausaufgaben behilflich zu sein.
Er erkannte bald, dass er sie damit lieber nicht konfrontieren
sollte, denn sie tat sich schwer beim Schreiben & Rechnen, doch
sie hatte ein gutes Herz und ein trauriges Gesicht.
Warum hast du keine eigenen Kinder?, fragte er sie einmal, als sie
beieinander saßen, da traten ihr sofort Tränen in die Augen, sodass
es Alexander leid tat, er sein Taschentuch suchte und ihr reichte.
Du bist ein guter Junge, ich wünschte, ich dürfte dich für immer
behalten!
Das ist kein Problem, ich hab‘ eh keine eigene Mutter!
In ihren Augen blitzte Hoffnung auf.
Glaubst du, dein Vater würde das zulassen?
Ich glaube schon, er hat ja keine Verwendung für mich, und sonst
hat sich niemand gemeldet, niemand außer dir wollte mich haben.
Das darfst du nicht sagen, dein Vater sorgt sich Tag & Nacht um
dich, du bist sein ein und alles, nein, du darfst nie für ganz bei mir
364
bleiben, du gehörst ihm, gehörst zu ihm, meine ich.
Ich gehöre niemandem. Meine Großmutter ist schon gestorben,
ich habe gar niemanden, weil Papa ist immer weg.
Aber du denkst doch an ihn.
Ja, die ganze Zeit, überhaupt in der Nacht. Ich rede auch mit ihm,
und ich kann ihm schon bald richtige Briefe schreiben und er mir
auch.
Siehst du. Du bist nicht allein.
Warum hast du keine Kinder?
Das weiß ich nicht.
Wie lange bist du schon verheiratet?
Dreizehn Jahre.
Warst du schon einmal bei einem Arzt?
Sie erschrak über die Reife dieses Kindes, wie konnte es wissen,
dass es medizinische Gründe für Kinderlosigkeit gab?
Woher kommen eigentlich die kleinen Kinder?
Von Gott dem Herrn.
Warum schickt er dir nicht welche, wenn du so gerne welche
hättest?
Sie verfiel in Schweigen & Nachdenklichkeit.
365
Alexander reute es, dass er sie traurig gemacht hatte und sagte:
Ich finde es ungerecht von Gott, wenn er dir keine Kinder schenkt,
weil du bist eine gute Mutter.
Findest du?
Ja, meine Großmutter war viel ungeduldiger mit mir, aber sie war
schon alt.
Du darfst nichts Schlechtes über sie sagen.
Tu ich nicht, ich sage nur die Wahrheit, ich bin ihr dafür nicht
böse, und ich habe sie auch lieb.
Du bekommst bestimmt bald Kinder, und wenn nicht, hast du ja
mich!
Alexander erkannte, dass sie litt. Er ärgerte sie nicht, half ihr im
Haushalt, brachte guten Noten heim, bemühte sich, ihr das Leben
mit ihm angenehm zu machen.
Zahlt mein Vater etwas für mich?
Ja, das tut er, er hilft uns damit sehr, so können wir das Haus
renovieren und besseres Essen kaufen, uns Medizin leisten und
vieles mehr, was andere unseres Standes nicht haben. Außerdem
haben wir ein Kind im Haus, das ist das allerschönste für mich.
Hast du mich nur deswegen bei dir aufgenommen?
Nein, bestimmt nicht, du bist ein ganz, ganz lieber Junge, und ich
und mein Mann freuen uns sehr über dich.
Aber das hast du doch vorher nicht gewusst, wie ich sein werde,
366
ich könnte auch bösartig sein oder unfolgsam oder frech.
Ich habe mit deinem Vater gesprochen, er hat mir auch
geschrieben, ich weiß von ihm viel über dich, er hatte recht, du
bist ein goldiges Knäblein! Ja, so hat er dich genannt. Ein
goldiges Knäblein.
Wirklich? Und wenn ich einmal schlimm bin, was machst du dann
mit mir?
Du bist nicht schlimm.
Ich möchte aber auch schlimm sein dürfen, und bestimmt passiert
einmal was, was ist dann? Was tust du dann? Wie bestrafst du
mich?
Dann werden wir darüber reden; und alles wird gut. Ich werde
dich bestimmt nicht bestrafen.
So saßen sie oft am Küchentisch und redeten miteinander
während Alexander die Hausübungen machte, Gedichte
auswendig lernte, sie Äpfel schälte, Beeren einkochte, Gemüse
einlegte, Teige knetete, strickte & flickte.
Wenn er fertig war, half er ihr, wusch das Geschirr ab, trug
frisches Wasser herein, ging dies & das vom Krämer holen,
verbesserte sogar einige Dinge im Haushalt. Es gefiel ihm längst
besser bei ihr als in dem großen langweiligen, weitläufigen, leeren
Haus in Stockholm.
Außer dass er Heimweh hatte nach seinem Vater, ihm schon
kleine, wenn auch noch unbeholfene Briefe schrieb, die er oft
nicht abschicken konnte, weil sie von seinen Tränen verwischt
waren, außer dass er Heimweh hatte, fehlte ihm nichts.
Wenn sein Pflegevater nach Hause kam, drehte sich der Wind. Er
kam mit schwarzem Gesicht und schwer schnaufend zur Tür
367
herein, musste sich zuerst waschen, seine Frau hatte jedes Mal
bereits Wasser & Handtücher gewärmt, sorgfältig frische Kleider
hergerichtet, das Zimmer geheizt, das Essen bereitgestellt.
Meistens aß er wortlos, erkundigte sich kaum oder nur
oberflächlich nach Alexander, der jetzt ganz still wurde, ihn
ängstlich von der Seite betrachtete, beim Wegtragen der
schmutzigen Wäsche half, Tee nachschenkte.
Dieser Mann war ihm nicht geheuer, schon, als er ihn das erste
Mal gesehen hatte, war ihm dieser strenge Blick aufgefallen, er
lachte wenig, sah nicht aus, als ob er Spaß verstünde.
Einmal hatte er ihn aus heiterem Himmel angefahren:
Was glotzst du so? Hast wohl noch nie einen Schwerarbeiter
gesehen? Hier bei uns gibt es nämlich keine feinen reichen Herren
wie in Stockholm oder Uppsala oder Göteborg.
Alfred! Lass den Jungen in Ruh’! Er hat doch gar nichts gemacht.
Er ist brav und lieb. Er hat nur geschaut.
Alexander war jedes Mal froh, wenn er wieder aus dem Haus war.
Wann kommt er zurück?
Erst am späteren Abend.
Warum ist er so böse auf mich? Er macht mir Angst.
Er ist nicht böse, besonders nicht auf dich. Weißt du, er musste
schon als Vierzehnjähriger ins Bergwerk arbeiten gehen wie auch
sein Vater und sein Großvater.
Er hat nicht viel gelernt, ist als Kind oft krank gewesen. Er kann
sich nicht so gut benehmen wie die Leute in der Stadt oder die
Leute, die du vielleicht kennst, aber er meint es nicht so, das
musst du mir glauben.
Aber ich habe doch gar nichts getan, wo soll ich denn hinschauen,
wenn er neben mir am Tisch sitzt?
368
Du hast recht, mein Kleiner, sei ihm trotzdem nicht böse.
Ich freue mich so, dass du da bist, du weißt ja gar nicht, wie
glücklich du mich machst.
Bitte, bitte bleib immer bei mir, geh nicht fort, sag deinem Vater
nicht, dass er dich holen soll, ich will es dir so schön wie es geht,
bei uns machen, und mit der Zeit wird es auch mit Alfred besser
werden, ganz bestimmt.
Ja, Ich mag dich nämlich auch sehr gerne. Du bist ganz, ganz
nett.
Sie fragte ihn sogar manchmal, ob sie ihn küssen und halten dürfe.
Sie musste das Gefühl haben, es sei ihr nicht erlaubt.
Ja, ja, das kannst du ruhig machen, das macht mir nichts aus,
schließlich bist du ja jetzt meine Mutter, nicht wahr, und Mütter
müssen schließlich ihre Kinder liebhaben!
Alexander brachte sie oft zum Lachen, vor allem, wenn er seine
spontanen Antworten, seine verschiedenen Weisheiten zum Besten
gab. Sie wunderte sich, wie klug, wie lebensklug er war, wie
verständnisvoll und wie brav. Nie hatte sie so ein Kind gesehen.
Es ging von Tag zu Tag besser, auch Alfred wurde netter, weniger
gereizt, ging sogar ab & zu mit Alexander Schlittenfahren oder
Eislaufen, begann den Jungen, wie es aussah, ins Herz zu
schließen, und wenn er es auch nicht richtig zeigen konnte,
mochte er ihn doch auf seine Art.
Alexanders Verständnis ihm gegenüber wurde auch größer, denn
lange hatte er ihn nicht mehr einen reichen, verzogenen Bengel
genannt wie noch vor Monaten, auch brummte er nichts mehr
über den Buben in sich hinein, was zwar ohnehin niemand
verstanden hatte, aber doch deutlich als missgünstige Bemerkung
zu erkennen gewesen war. Der Ton, die Stimmung hatten sich
369
geändert, vielleicht, weil es seit Alexanders Anwesenheit im
Haushalt finanziell viel besser lief als früher.
Er fühlte, wie der Mann ihn zu respektieren begann, sich langsam
für seine Schulaufgaben interessierte, beeindruckt war von der
Korrektheit, mit der er die Hefte führte, der Freundlichkeit, mit
der er über die Lehrerin sprach, die Art wie er seiner Frau zur
Hand ging und vor allem, dass er ihm scheinbar seine
anfänglichen Ruppigkeiten & Beleidigungen nicht nachtrug.
Alexander bemerkte mit Genugtuung & Erleichterung den
Sinneswandel, verlor mehr & mehr die Furcht vor ihm, wenn er
auch auf der Hut blieb.
Was das ausmacht, wenn einer aus einem guten, reichen Haus
kommt!, konnte er sagen.
Ich komme nicht aus einem reichen Haus!
Das war zu viel. Alfred schüttelte Alexander, brüllte ihn an.
Du kommst aus keinem reichen Haus? Du kommst aus keinem
reichen Haus? Was ist das denn, woher du kommst?
Ich komme aus einem leeren Haus. Mein Vater ist nicht da. Meine
Mutter ist tot, meine Großmutter ist gestorben. Meine Tante muss
selber sehen, wo sie bleibt. Das ist kein reiches Haus!
Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich kann nur nicht
anders, verstehst du?
Ich weiß.
Woher weißt du das? Woher willst du wissen, wie es mir geht.
Deine Frau hat es mir gesagt, du hast immer schwer arbeiten
müssen, schon als Kind, deine Eltern waren hart zu dir.
370
Alfred staunte über dieses Kind.
Eine Zeitlang ging es wieder besser. Alfreds Ausraster wurden
seltener, es kam kaum mehr zu solchen Dialogen.
Dann begann Alexander nachts von seltsamen & beängstigenden
Geräuschen im Nebenzimmer, wo das Ehepaar schlief,
aufzuwachen.
Zuerst konnte er nicht begreifen, worum es ging. Er schlief wieder
ein, hatte es in der Früh vergessen.
Bis er eines Tages bemerkte, wie geschwollen & gerötet die
Augen seiner Pflegemutter waren. Scheu schielte er zu ihr hinüber
während sie ihm die Milch wärmte.
Die ersten Tage getraute er sich nicht, sie anzusprechen, doch als
er sah, wie das ganze Gesicht immer fleckiger, dicker, ja rot &
blau wurde, fragte er sie:
Darf ich dich etwas fragen?
Freilich.
Es geht dir nicht gut, nicht wahr?
Wie kommst du denn darauf?
Du siehst krank aus.
Findest Du? Nein, es geht mir gut, es ist nichts. Bin nur etwas
müde und zerstreut, manchmal habe ich solche Tage. Ich habe
vielleicht nicht so gut geschlafen.
Ich weiß.
Was weißt du?
Ich habe, ich habe, …. ,weil ich was gehört habe.
371
Was hast du gehört?
In der Nacht... die Geräusche.
Geräusche? Welche Geräusche?
Aus eurem Zimmer, ich höre euch in der Nacht. Ich höre schon
lange Zeit, dass er dir wehtut. Was macht er mit dir?
Sie errötete vollends und schwieg, sie drehte ihm jetzt den Rücken
zu, der zu zittern begann.
Ich wollte dich nicht weinen machen, entschuldige bitte. Du tust
mir so leid, ich möchte, dass das aufhört, geh fort von ihm, komm
zu uns, mein Papa soll dich heiraten, dann habe ich eine Mutter
und du ein Kind.
Sie fiel vor Alexander auf die Knie, umfing sie, schluchzte wie ein
kleines Kind.
Das kann ich nicht. Ich darf nicht fortgehen, sag‘ das nie mehr.
Ich weiß, du meinst es gut, aber eine Frau kann ihren Mann nicht
verlassen, egal, wie er ist, und ich habe dir doch gesagt, dass er
gut ist, ..... nur nicht anders kann, er hat es nicht besser
gelernt.
Aber er schlägt dich, er beschimpft dich. Niemand muss lernen,
dass man das nicht tut, er ist nicht wirklich gut, verstehst du, ich
mache mir Sorgen, und ich habe Angst.
Ich getraue mich nicht, zu klopfen oder hinüber zu kommen, aber
ich will nicht, dass er dir weh tut.
Er tut mir nicht weh.
Das verstehe ich nicht. Was macht er dann, und was tun
überhaupt die verheirateten Menschen in der Nacht? Warum
schlafen sie nicht? Du hast doch selbst gesagt, er muss im
372
Bergwerk schwer arbeiten. Warum ist er dann nicht müde?
Ja. Schon, aber ........
Aber?
Weißt du, ich weiß nicht, ob ich dir das schon sagen darf.
Klar darfst du, du musst es mir erklären.
Nein, nicht jetzt, du musst jetzt in die Schule, verstehst du, sonst
kommst du zu spät!
Schnell, trink deine Milch, iss ein Brot, ich habe es dir schon
hergerichtet.
Ja, danke, aber, wenn ich heimkomme, erklärst du’s mir, ja?
Ja, bestimmt.
Als er aus der Schule zurückkam, lag sie fiebrig im Bett.
Alexander trat verlegen von einem Fuß auf den anderen,
streichelte ihre Hand, erkannte, wie heiß sie war, ihr Körper
glühte, sie verlangte nach Wasser.
Er war froh über diesen Auftrag.
Soll ich einen Arzt rufen?
Nein, das wird schon wieder, ich habe mich nur verkühlt.
Das glaube ich nicht. Er fällt in der Nacht über dich her und
schlägt dich, nicht wahr?
Nein, nein. Um Gottes Willen, sag‘ so was nicht!
Doch, ich habe es gehört. Er beschimpft dich, dann schlägt er auf
dich ein, ich höre dich weinen und leise schreien, weil du Angst
373
hast, dass ich aufwache, aber ich bin wach. Warum tut er das?
Warum lässt du das mit dir machen?
Weißt du, er will unbedingt Kinder haben, aber ich bekomme
keine, schon dreizehn Jahre nicht. Ich habe schon alles versucht,
verschiedene Frauen gefragt, gebetet, tue es immer noch, aber es
hilft nichts.
Vielleicht ist es nicht deine Schuld?
Waaas?
Vielleicht ist es seine Schuld, vielleicht können Frauen, die
geschlagen werden, keine Kinder mehr kriegen. Wohin schlägt er
dich? Überall?, auch in den Bauch?
Sie schweigt. Sie friert.
Alexander begreift die Tragik dieser Ehe, obwohl er noch keine
genaue Vorstellung von den tatsächlichen Vorgängen zwischen
Männern & Frauen hat.
Er beschließt, etwas zu unternehmen, nachts aufzupassen, diese
Vorgänge seinem Vater zu melden, ihm einen richtig ordentlichen
Brief zu schreiben, so weit er es schon kann, er ist zuversichtlich,
will es schaffen, muss helfen.
Papa, denkt er, wird nicht böse sein, wenn ich Fehler mache, weil
ich weiß erst ganz wenige Wörter und nicht genau wie man sie
schreibt, doch sie müssen reichen. Ich muss es mit wenigen
geschriebenen Wörtern sagen können.
Diese Nacht bleibt es ruhig. Wortlos schleicht Alfred durchs Haus,
nimmt ihn nicht zur Kenntnis.
Am nächsten Tag kann sie noch immer nicht aufstehen, Alfred
überträgt Alexander die Verantwortung und geht in die Arbeit.
In der Schule spricht Alexander seine Lehrerin an und berichtet
ihr von der plötzlichen Krankheit seiner Pflegemutter.
Sie hört ihm erstaunt & überrascht zu.
374
Und was soll ich da deiner Meinung nach machen?
Sie haben ein Telefon in der Schule, verständigen Sie einen Arzt!
Aber...., das muss bezahlt werden, das musst du mit deinen
Pflegeeltern besprechen.
Geld ist kein Problem.
Bist du sicher?
Ja, sicher.
Und woher weißt du das?
Woher ich das weiß? Es muss ihr erstens geholfen werden. Jedem
kranken Menschen muss man helfen. Sogar zu meiner ganz alten
Großmutter ist mitten in der Nacht ein Arzt gekommen.
So viel Geld muss überall da sein, um Hilfe zu holen.
Haben sie dir gesagt, dass du dich um einen Arzt kümmern sollst?
Nein. Ja, doch.
Ja oder nein.
Nein. Aber sie haben genug Geld.
Woher, wenn ich fragen darf?
Durch mich, von meinem Vater, der ihnen jede Menge schickt, weil
er will, dass sie mich gut behandeln.
Dein Vater zahlt ihnen viel Geld? Warum?
375
Weil ich keine Mutter habe und er will, dass ich so normal wie
möglich aufwachse. Das haben wir wirklich lang genug
besprochen, wenn ich es auch nicht ganz verstanden habe, weil es
mir bei ihm sehr gut gefällt und er, das hat er selber einmal
gesagt, mein Papa UND meine Mama gleichzeitig ist, was ja auch
stimmt.
So, so.
Haben sich deine Eltern getrennt?
Ja.
Wann?
Bei meiner Geburt, in Växjö, in dieser Nacht. Also ganz genau am
30. Januar 1935, meinem Geburtstag, nein, meiner Geburtsnacht,
weil ich bin nicht an einem Tag geboren, und als ich geboren
wurde, ist meine richtige Mama gestorben.
Oh, mein Gott, mein Junge, Alexander, es tut mir so leid. Verzeih‘
mir bitte, verzeih mir.
Das muss Ihnen nicht leid tun, ich habe meine Mama ja nicht
gekannt. Später habe ich meine Oma gehabt, Ingrid Goldmann,
die Frau des Rabbiners Goldmann, sie hat sich um alles
gekümmert, aber sie war schon alt und ist auch schon gestorben.
Da bin ich zu Papa nach Stockholm gekommen, aber er sagte,
Männer können keine Kinder ordentlich großziehen, nicht ganz
allein, und so bin ich hergekommen. Er hat meine Pflegeeltern
ausgesucht, und meine jetzige Mutter ist sehr gut zu mir, ich sage
sogar Mama zu ihr, weil sie sich darüber freut, und sie ist es ja
wirklich, ich habe sonst keine Mama, ich will, dass Sie ihr helfen
376
und einen Arzt rufen, ich bin so froh, dass ich sie habe, verstehen
Sie? Es darf ihr nichts geschehen.
Er redet atemlos auf die Lehrerin ein, sagt, was ihm gerade
einfällt, will ihr Herz erweichen, sie dazu bringen, zum Telefon zu
gehen und etwas zu unternehmen.
Ja. Gut, auf deine Verantwortung, Alexander, armes Knäblein.
Die Lehrerin ruft aufgrund von Alexanders Informationen einen
Arzt an, sie schildert die Symptome, die er ihr einsagt, und er tut
es exakt.
Geschwollenes,
gerötetes
Gesicht,
hohes
Fieber,
Schweiß-ausbrüche, Schmerzen am ganzen Körper, Traurigkeit,
Kinderlosigkeit.
Er will möglichst alles sagen, damit eine weitgreifende Hilfe
gegeben werden kann.
Sowohl die Lehrerin als auch der Arzt wundern sich über die
Beschreibung der Symptome durch ein nicht einmal achtjähriges
Kind.
Als er an diesem Tag nach Hause kommt, ist der Arzt schon da.
Eine Nachbarin sitzt am Bett, während Linda schläft. Das Gesicht
der Kranken ist von Erschöpfung gezeichnet.
Sie ist schon untersucht worden, Alexander, sagt die Frau.
Er stürzt zu ihr, schaut den Arzt fragend an, der in aller Seelenruhe
seine Tasche schließt und der Nachbarin, Frau Bergström, einen
beschriebenen Zettel übergibt.
Wie geht es ihr, was hat sie, wird sie sterben, haben Sie ihr
geholfen?
Alexander überhäuft den Arzt mit Fragen, sein Interesse, aber
auch sein Misstrauen sind offensichtlich.
Reg’ dich nicht so auf, mein Kleiner, es wird alles gut.
Was hat sie, was fehlt ihr?
377
Nichts besonderes, sie hat eine Grippe.
Sicher? Sonst nichts?
Nein, ich glaube nicht. Sie braucht jetzt Medikamente und ihren
Schlaf. Ich komme morgen wieder.
Wissen Sie, sie kann keine Kinder bekommen, deshalb schlägt sie
ihr Mann in der Nacht, aber sagen Sie nichts. Helfen Sie ihr
einfach.
Ich tue, was ich kann, doch im Augenblick steht die schwere
Erkältung im Vordergrund, wir müssen aufpassen, dass sie keine
Lungenentzündung bekommt, aber ich schätze, das kriegen wir
mit vereinten Kräften hin. Warst du am Telefon in der Schule?
Nein, die Lehrerin.
Ja, aber du hast ihr eingesagt? Du bist sehr klug und verstehst
weit mehr als andere Kinder in deinem Alter. Woher weißt du,
dass sie keine Kinder bekommen kann?
Sie hat es mir gesagt. Ich will nicht, dass sie bei diesem Mann
bleibt, sondern meinen Vater heiratet, dann hat sie mich und
einen Ehemann.
Der Arzt schmunzelt, schaut die Nachbarin mit einem
vielsagenden Blick an.
Weiß dein Vater davon?
Nein, aber ich werde es ihm schreiben.
Du schreibst es ihm? Der Arzt lächelt wieder, denn in den vielen
378
Jahren, die er nun schon von Haus zu Haus zieht, täglich eine
Reihe verschiedenster Leute in seiner Ordination empfängt und
weiß Gott einiges gesehen & erlebt hat, ist ihm nicht ein einziges
Mal etwas Ähnliches begegnet. Ein Kind, das ihm haarklein
Symptomatik & Diagnose liefert, ein Kind, das Lösungen parat
hat, sich sprachlich, ja sogar medizinisch einwandfrei ausdrückt,
ein solches Kind ist ihm noch nicht untergekommen. Es beschämt
& erstaunt ihn gleichermaßen.
Ja, weil er würde alles tun, damit ich eine Mutter habe, hört er
den Buben weiterreden während er darüber nachsinnt.
Ist deine Mutter schon gestorben?
Ja, bei meiner Geburt.
Verstehe. Aber ich kann natürlich nur meine ärztliche Arbeit
machen, weißt du? Und manche Dinge gehen mich nichts an.
Ja. Trotzdem müssen Sie mehr tun als gewöhnlich. Es reicht nicht
immer, nur seine Arbeit tun.
Was meinst du damit?
Wenn in der Nacht, in der ich geboren wurde, ein Arzt gekommen
wäre, der Arzt, den mein Vater extra durch den Schneesturm holen
gegangen ist, wäre meine Mutter noch am Leben.
Hat er dir das so erzählt?
Ja.
Er gibt also dem Arzt die Schuld?
Ja, so ist es ja auch.
379
Weißt du, als Arzt kommt man in viele Situationen, unser Beruf ist
sehr gefährlich, wir haben sehr viel Verantwortung. Im Laufe
unseres Lebens werden wir für alles Mögliche hergenommen.
Vielleicht wäre deine Mutter auch, wenn ein Arzt da gewesen
wäre, gestorben.
Das kann schon sein, aber es war keiner da. Obwohl mein Vater
ihm alles gegeben hätte, seiner Haushälterin sogar, ging er nicht
mit ihm, als er mit ihm gehen hätte müssen. Wäre er da gewesen
und hätte Mama nicht helfen können, hätte mein Vater es
verstanden, aber so gibt er ihm die Schuld für alles und für immer.
Ja, seufzt der Arzt, also, bis morgen. Du bist ein besonderer
Junge. Pass‘ auf Deine Pflegemutter gut auf, gib ihr die
Medikamente ein mit einem Glas Wasser, koch ihr Tee, sie muss
viel trinken, kannst du das?
Klar, kann ich das.
Aber verbrenn’ dich nicht. Kannst du einheizen?
Ja, ich mach’s gleich. Und kochen tu ich auch für sie und ihn.
Was kochst du?
Eier und Speck, Tee, dazu ein Stück Brot, ja. Alles, was sie will.
Gut. Mach‘ das.
Wann kommen Sie morgen?
Ich weiß es noch nicht.
380
Sie dürfen nicht vor Mittag kommen, sonst verpasse ich Sie!
Wenn Sie nur am Vormittag kommen können, bleibe ich lieber von
der Schule zu Hause.
Nein, nein, es wird sicher Abend, ich habe viele Visiten zur Zeit.
Darf sie aufstehen, um auf die Toilette zu gehen?
Auf keinen Fall in die Trissebude ins Freie, nur, wenn sie im Haus
gehen kann.
Im Haus haben wir keine Toilette, da kann sie nur den Nachttopf
benützen, geht das?
Ja, das geht.
Alexander kümmerte sich um alles, holte Holz & Kohlen, heizte
ein, setzte Wasser für den Tee auf, goss ihn auf, seihte ihn ab,
flößte ihn Linda löfferlweise ein, lief in den nächsten Ort in die
Apotheke um die Medikamente zu bringen, ging mit Linda auf
den Nachttopf, leerte & wusch ihn aus, stellte ihn sauber unter das
Bett.
Trotz ihres geschwächten Zustandes wunderte sich Linda über
Alexanders Einsatz, mehr noch über seine Geschicklichkeit, sie
flüsterte ständig mein guter Junge, mein lieber Junge, mein
kleiner Doktor. Sie war so entzückt, denn niemand hatte sich je in
dieser Weise um sie gesorgt. Auch wenn sie schwach & schläfrig
war, sah sie, wie sehr Alexander sich aufopferte. Zum ersten Mal
im Leben fühlte sie sich sicher & aufgehoben, vertraute sich ganz
diesem Kind an, das ihr erst kürzlich ins Haus geflogen war wie
ein Engel beinah.
Auch Alfred setzt er pünktlich eine genießbare Eierspeise vor,
sogar er ist zufrieden, kommt erleichtert aus dem Schlafzimmer,
geht bald zu Bett. Alexander hat ihm ein Lager in der kleinen
381
Kammer neben der Küche hergerichtet, Alfred kann beruhigt sein
über so viel Obsorge & Verantwortung. Er gibt sich seiner
allabendlichen, allnächtlichen Müdigkeit hin und ruht sich aus
von der harten Arbeit des Tages, genießt die Entlastung, die das
Pflegekind ihm bietet. Dankbar legt er sich nieder, für weitere
Gedanken aber fallen ihm die Augen zu, und er versinkt in der
Gnade des Schlafes, des Vergessens. Alexander aber bleibt bei
Linda.
Als der Arzt am nächsten Tag erscheint, staunt er über den
Zustand des Haushaltes genauso wie über die Betreuung Lindas
durch den Buben. Alles picobello, aufgeräumt, abgewaschen, die
Patientin sitzt guter Dinge im Bett, isst eine heiße Griessuppe, die
ihr von Alexander zubereitet & serviert wurde.
Auf dem Schulweg hat Alexander die Nachbarinnen verständigt.
Eine nach der anderen erklärt sich bereit, verschiedene Dienste zu
übernehmen: einzukaufen, zu kochen, aufzuräumen, aufzupassen.
Er erinnerte sich, wie in seinem Großelternhaus die Leute ein- &
ausgegangen waren und selbstverständlich geholfen hatten.
Nach diesem Vorbild organisierte er nun das Personal für den
aktuellen Haushalt, und wieder ging alles gut.
So sollte er es noch oft in seinem Leben halten, wenn er sich auch
zunehmend darüber beklagte, da seiner Meinung nach die
Menschen vor allem im reicher werdenden Schweden ihre
Hilfsbereitschaft mehr & mehr verlieren & vergessen würden.
Aber damals halfen wir einander, damals ging es nicht anders,
fast alle taten es gerne, sammelten damit eigene Punkte und die
Gewissheit, selbst in dieser Hilfsgemeinschaft aufgehoben zu sein.
Doch als Linda wieder gesund war, dauerte es nicht lange, bis er
wieder die nächtlichen Szenen im Nebenzimmer hörte.
Er beschließt, es seinem Vater endlich zu schreiben, wenn er auch
in der Zwischenzeit geglaubt, gehofft hatte, es wäre vorüber und
mit Lindas Krankheit hätte sich zwischen den Eheleuten etwas
geändert.
Derweil geht das Schuljahr dem Ende zu, Mittsommer rückt
382
näher. Alexander darf bald zu seinem Vater, der ihn überpünktlich
holen kommen wird, ja, längst alle Termine auf diesen einen Tag
hin ausgerichtet hat, um nur ja keine Stunde mit seinem Sohn zu
versäumen.
Er schreibt dennoch diesen Brief in aller Heimlichkeit, schickt ihn
nach Stockholm, wo er auf dem Haufen Post landet, welcher
bereits auf Alexanders Vater wartet, der selbst noch irgendwo
unterwegs ist. Als der Brief weg ist, stimmt es ihn einerseits froh,
endlich etwas unternommen zu haben, andererseits fühlt er sich
wie ein Verräter. Auch fürchtet er etwaige unbekannte
Konsequenzen, die er sich im Augenblick zwar nicht vorstellen
kann, doch selbst seiner bescheidenen Lebenserfahrung nach,
immerhin in einer Weise möglich sind. Bald beginnt ihn seine
Handlung zu reuen, doch sie ist nicht mehr rückgängig zu
machen, die Post ist unterwegs, vielleicht weiß sein Vater bereits
alles, wenn er ihn holen kommt. Doch, nein, es könnte sein, er
kommt direkt von irgendwo, dann würde er, Alexander, vielleicht
den Brief noch finden, bevor Vater ihn lesen konnte, und er könnte
ihn noch verschwinden lassen.
Alexander freut sich aber zunächst auf das Heimfahren, ist
gefangen in seiner Vorfreude, die immer größer, unbändiger,
übermütiger wird, packt bereits seine Sachen, als es noch viel zu
früh dafür ist, überlegt, wartet, rechnet, zählt. Tut er das nicht
schon, seit sein Vater das letzte Mal weggefahren ist? Dieses
Warten auf das Abgeholtwerden wird sein Kinderleben über viele
Jahre bestimmen, das Jahr, die Monate gliedern, das Zählen &
Rechnen auf diesen Tag hin wird ihm zur zweiten Natur werden.
Heimweh wird ihn darum immer begleiten, wohin es ihn auch
verschlägt; am Beginn jeder seiner vielen Reisen wird er die Zeit
unterteilen in Etappen, Tag für Tag eintragen, um später Tag für
Tag durchzustreichen, Blatt für Blatt abzureißen. Er wird nie
reisen um des Reisens Willen, wird immer einen Grund haben
müssen, sein Haus, sein Land zu verlassen, wird es jedes Mal
bereuen und sich jedes Mal freuen auf die Heimkehr, genau wie
383
damals, genau wie damals.
Endlich sitzen sie gemeinsam im Zug. Alexander ist aufgeregt wie
ein junger Pudel, sein Vater ebenso, es liegt eine lange & schöne,
für den Moment noch unendliche Zeit vor ihnen, wenn sie auch
getrübt sein wird von ausländischen Kriegsmeldungen.
Dennoch wollen beide möglichst ungestörte & unvergessliche
Ferien miteinander verbringen, darauf verwenden sie ihren ganzen
Willen, ihre ganze Zuversicht.
Alexanders Vater ist bestürzt über die Erzählungen seines Sohnes,
die Dinge, welche er bereits erleben & meistern musste. Aus ihm
sprudelt es nur so heraus, es überschlagen sich noch im
nachhinein schier die Ereignisse, von der Schule redet er kaum,
auch nicht von Erlebnissen oder Abenteuern mit seinen
Schulkollegen.
Herr Sommerfeld hatte nicht die geringste Vorstellung gehabt, dass
es Probleme im Haus der Pflegeeltern geben könnte, obwohl er
natürlich ständig in Sorge um Alexander war. Keine Idee davon
war ihm gekommen, der Junge könnte eingespannt werden für die
Belange der Pflegeeltern, die sich doch seiner Ansicht nach um
das Kind kümmern sollten und nicht das Kind um sie. Hatte er
denn noch zu wenig bezahlt, um sicher sein zu dürfen, dass
Alexander gut aufgehoben war?
Er war enttäuscht & wütend zugleich. Er wähnte seinen einzigen
Sohn in guten Händen, und jetzt das. Was musste er hören, was tat
sich da für ein Abgrund auf?
Obwohl Alexander sich bemühte, als er die Reaktion seines Vaters
sah, die Vorkommnisse im Bergarbeiterhaus herunterzuspielen,
wieder ins Lot zu bringen, denn längst tat es ihm leid, etwas
gesagt, ja, auch noch einen Brief geschrieben zu haben, er hatte
doch Linda-Mama von Herzen gern, er wollte gerade darum bei
ihr bleiben, ihr helfen, um da sein, wenn sie jemanden brauchte,
obwohl er sich also auf der Stelle bemühte, das bereits Gesagte zu
verharmlosen, war es doch schon zu spät.
Sein Vater hatte ihn gründlich missverstanden, er meinte, handeln
384
zu müssen und dies in einem ganz anderen Sinn, als Alexander es
erhofft hatte. Er hätte Rat gebraucht, um ihr besser beistehen zu
können, doch das Gegenteil kam dabei heraus, am Ende musste er
seine liebe, liebe Linda verlassen.
Den Vorschlag, dass Linda von seinem Vater am besten geheiratet
werden sollte, brachte er lieber gar nicht mehr vor.
Andere Pflegeeltern wurden gesucht, schließlich gefunden.
Alexander war unendlich traurig und beschloss, seinem Vater nie
mehr etwas zu erzählen, jedenfalls nicht über jemanden, den er ins
Herz geschlossen hatte, der ihn brauchte und den er brauchte.
Als die Sommerferien zu Ende gingen, die Reisen durch
Schweden beendet waren, packten sie wieder zusammen und
zogen ein jeder an einen anderen Ort.
Für den kleinen Alexander kam wieder ein neuer Anfang, so sollte
es noch oft sein, von Mal zu Mal fiel es ihm schwerer, sich
umzustellen, einzugewöhnen, wieder & wieder Vertrauen zu
finden zu anderen, zu fremden Menschen.
Sein Vater fing an, besonders aufmerksam zu sein, unvermittelt
aufzutauchen, sich wie ein Kontrolleur vom Amt ein Bild zu
machen über die Zustände, in denen sein Sohn lebte.
Er kam mit beinahe geheimdienstlichen Fragen auf ihn zu, fast
jedes Jahr fand er jetzt auf seine Weise und nach seinem
Dafürhalten Unzulänglichkeiten & Unzumutbarkeiten heraus.
Alexander empfand es durchaus nicht immer gleich, es hätte ihm
das Normale gereicht, denn er wusste längst, dass es nirgends
perfekt und niemand vollkommen war. Die Ansprüche seines
Vaters waren nicht die seinen, er durfte sich diese auch nicht zum
Vorbild nehmen, denn er musste mit einfachen Menschen &
Verhältnissen zurechtkommen.
Als er etwa zehn Jahre alt war, lebte Alexander bei einer Familie,
deren Haus weit außerhalb der Ortschaft lag, er hatte einen
besonders weiten Schulweg.
Um kein Aufsehen zu erregen, hatte ihn sein Vater als Protestanten
385
angemeldet, dennoch wusste der Junge, dass er schon mit drei
beschnitten worden war und eigentlich dem Judentum angehörte,
obgleich ihm nicht klar war, worin der genaue Unterschied
bestand.
Doch in jenem strengen, endlos langen Winter, als kaum ein
Schüler in den Unterricht kommt oder gebracht werden kann, hält
ein neuer Pastor, der offenbar etwas gegen Juden hat, die
Religionsstunden ab.
Man munkelt über das gegenseitige Spähen am Bubenklo bereits,
dass Alexander ein anderes Pippi hat, es wird unter den Buben
getuschelt & gekichert, sie beobachten ihn.
Alexander ist es unerklärlich, wieso das jemand bemerken konnte.
Er weiß nichts von Antisemitismus, davon, dass er auffallend
gescheit ist, kennt nicht die Legende über den Reichtum seines
Vaters, welche die Runde macht, dass er dem Bild des Juden in so
gut wie allem entspricht.
Er hält sich für einen Schweden durch & durch, hat ja goldene
Haare wie alle anderen, vielleicht eine dunklere Färbung seiner
Haut nach dem Sommer als die meisten, aber sonst gibt es seiner
Ansicht nach nichts, was ihn von seinen Schulfreunden
unterscheiden würde. Sogar seine Augen sind blau, wenn auch
nicht hellblau, doch so dunkelblau wie der wolkenlose
Abendhimmel vor Einbruch der Nacht.
In einer der Religionsstunden kommt der Pastor plötzlich auf die
Juden zu sprechen, redet davon wie sie Jesus Christus getötet
haben, ihn verraten, ausgeliefert, ans Kreuz genagelt.
Seither muss dieses Volk die Erde durchwandern, ohne Heimat,
ohne Bleibe, von allen verachtet, verjagt, gehasst.
Die gerechte Rache des Himmels trifft die Juden überall, als Volk
und jeden einzelnen.
Es ist, wie wenn jemand etwas Böses getan hat: es erreicht ihn
der Zorn Gottes, oft sind es Krankheiten, Unglück oder
Verfolgung.
Die Kinder sollen aufzählen, was ihrer Meinung nach eine Strafe
386
Gottes ist und sagen, ob sie jemanden kennen, auf den dies
zutrifft.
Ein bleichgesichtiges rothaariges Mädchen meint, dass Alexander
so einer sein müsste, denn er habe keine Eltern, niemand weiß,
woher er kommt, er sei nicht wie normale Kinder. Weiß der
Himmel, wo sie das herhatte!
So, du hast keine Eltern?, fragt der Pastor Alexander interessiert.
Doch, ich habe einen Vater, nur keine Mutter.
Was ist mit deiner Mutter, ist sie tot?
Ja.
Seit wann?
Seit ich geboren bin.
Seit deiner Geburt?
Weißt du, wir sprechen heute über die Theorie, die besagt, dass
alles Leiden in irgendeinem Vergehen der Vergangenheit seine
Ursache hat.
Ja.
Glaubst du das?
Ich weiß nicht.
Glaubst du an Gott, den Allmächtigen?
Ja.
Dann glaubst du auch, dass Gott die Menschen straft!
387
Alexander antwortet nicht.
Willst du wohl Antwort geben?
Ich weiß es nicht.
Was weißt du nicht?
Ob Er die Menschen straft.
Dein Volk, mein Lieber, dein Volk hat Unseren Herrn getötet, vor
fast zweitausend Jahren. Darum seid ihr dazu bestimmt, durch die
Welt zu ziehen, keine Heimat zu haben, denn wer Gott tötet, ist
verdammt auf ewig.
Das Elend tragt ihr als Volk gemeinsam, aber persönlich wird
jeder einzeln bestraft.
Wer als Jude großes Unglück erfährt, muss sich also nicht
wundern, er gehört zu jenen, die Jesus Christus gegenüber ohne
Erbarmen waren, er trägt selber Schuld daran.
Die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage lässt sogar die anderen
erschaudern.
Als hätte der Pastor nichts Ungewöhnliches, ja, ohnehin allgemein
Bekanntes von sich gegeben, fährt er fort, den Tathergang der
Kreuzigung genau zu rekonstruieren.
In den folgenden Stunden beginnt er damit, die Szenen aus dem
Leben Jesu darstellen zu lassen, tritt als Regisseur dieses
Passionsspieles auf, jedes Kind bekommt eine Rolle, Alexander
die des Juden, des Verräters, dessen, der rufen muss: Kreuzige ihn!
Barmherzig wie die Römer waren, wollten sie Jesus nämlich nicht
töten, geben ihm einen scheinbar fairen Prozess, an dessen Ende
Pontius Pilatus, dargestellt vom Pastor, laut in die Menge ruft: Ich
finde keine Schuld an ihm.
388
Doch Alexander antwortet, muss antworten: Kreuzige ihn!
Da lässt der Pastor sich eine vorbereitete Waschschüssel bringen,
um seine Hände in Unschuld zu waschen.
Es muss schwer für dich sein, keine Mutter zu haben, bei fremden
Leuten zu wohnen, als einziger Jude unter Christen zu sein, das
tut uns bestimmt allen leid für dich, aber du hast jetzt selbst
gesehen, dass es eine uralte Schuld ist.
Aber ich bin Protestant geworden!
Das ändert doch nichts. Das wurde immer versucht, aber, was
geschehen ist, ist geschehen, und niemand kann etwas daran
ändern, auch nicht der Übertritt in eine andere Religion. Es gibt
diese billige Rettung nicht. Zum Zeichen bist du beschnitten, wie
man hört.
Seit längerem leidet Alexander tatsächlich unter besonderen
Umständen, für die er bisher keine Erklärung hatte.
Immer, wenn es darum geht, für etwas gerade zu stehen, etwas
zuzugeben, wird er von den anderen vorgeschoben.
Auch in der Familie, in der er im Moment untergekommen ist,
gibt es vier Kinder, Buben & Mädchen, die allerhand ausfressen,
schamlos lügen, Essen aus der Vorratskammer nehmen, Tiere
quälen, Doktor spielen, um sich über die Geschlechtsteile
herzumachen, Leute ausspähen & erschrecken, sich das Wissen
von kleinen Geheimnissen anderer zunutze machen, um sie zu
allem Möglichen nötigen, sie zu erpressen.
Aus irgendeinem Grund scheint unter ihnen die Übereinkunft zu
bestehen, Alexander die Schuld für so gut wie alles & ohne
weiteres geben zu können.
Als nun der Pastor in dieser hanebüchenen Weise auf die
persönliche Schuldfrage des einzelnen Juden zu sprechen kommt,
ja, dies unter Beweis gestellt hat, begreift Alexander seine Lage;
plötzlich sieht er klar die Ursache für das Ausgeschlossensein, die
389
Benachteiligung, die Selbstverständlichkeit der anderen, ihm ihre
Vergehen anzulasten, und Angst & Einsamkeit beginnen ihm
vertraut zu werden.
Es bleibt ihm, so erkennt er jetzt, eigentlich schon lange nichts
mehr übrig, als den Sündenbock für die Schandtaten der anderen
abzugeben.
Die Pflegemutter, wie die meisten Nachbarinnen, ist nur allzu
gern bereit, ihn zu bestrafen, lieber ihre eigenen Kinder schuldlos
zu sehen als die Wahrheit herauszufinden, man tut sich ganz
leicht, die Gemeinheiten der eigenen Sprösslinge Alexander
zuzuordnen. Was für eine Bequemlichkeit!
Es wird normal, ihn einzusperren, zu schupsen, zuzuschlagen, an
den Ohren zu ziehen, wegzusehen, ihn an den Haaren zu reißen,
anzuschreien. Zuerst passiert es wöchentlich, dann mehrmals in
der Woche, später täglich, ja mehrmals täglich, ständig muss er
gewärtig sein, einer Beschuldigung gegenüber zu stehen.
Die Kinder lassen ihn unverschämte Briefe mit Geldforderungen
an seinen Vater schreiben. Unter dem Vorwand, dieses und jenes
für sich selbst zu brauchen, muss er sich ausbeuten lassen, erkauft
sich damit einige Tage Ruhe.
Als er einmal versucht, der Pflegemutter davon zu erzählen, wird
sie furchtbar böse und schlägt ihm mit dem Nudelholz, das sie
gerade in der Hand hat, derartig auf den Kopf, dass er zur Seite
torkelt und auf den heißen Herd fällt.
So willst du mir kommen? Meine Kinder verklagen! Das lässt du
schön bleiben, das gibt’s bei mir nicht, hörst du!
Wir sind arme aber anständige Leute, oder glaubst du vielleicht,
wir würden dich nehmen müssen, wenn wir so reich wären wie
dein Vater? Wenn er nicht wenigstens zahlen könnte? Ein
Judenkind! Pah! Nie und nimmer!
Wir brauchen das Geld, ihr nicht, wir wisst nicht einmal, wohin
damit. Das ist der Unterschied, den ihr nicht begreifen könnt!
Und der Grund, warum euch niemand mag!
390
Alexander leuchtete diese Logik zwar nicht ein, musste aber zur
Kenntnis nehmen, dass ihm hier niemand half und er mit seinen
Sorgen ganz alleine war.
Dies war das letzte Mal, Hilfe oder Verständnis bei Fremden zu
suchen. Er erkannte, wie schlecht sogar Mütter zu anderen
Kindern waren, wie sehr sie nur auf die eigenen schauten, ihnen
die geringsten Verdienste & Leistungen haushoch anrechneten, die
schlechten aber verziehen oder übersahen, ja, ohne Bedenken
anderen anlasteten, nein, eigentlich nur ihm, dem Juden, dem
Sündenbock, den er für sie abgab. Das war es also! Und der
Pastor, das christliche Gegenstück zum Rabbiner, dachte wohl
genauso.
Doch die vergangenen Monate seit Schulbeginn waren nur ein
Vorspiel gewesen.
Nach dem Vorfall mit dem Nudelholz passierte es ihm das erste
Mal, dass er nachts einnässte. Entsetzt bemerkte er am frühen
Morgen, warum er fror, sein Bettzeug war nass, es roch nach Urin,
es wurde sofort bemerkt, es ließ sich nicht verbergen.
Großes Geschrei & Gelächter der Kinder, eiliges Herbeirufen,
damit es alle sehen konnten, doch in all dem Aufruhr bemerkte
Alexander erkennbare Zurückhaltung bei der Pflegemutter, die
wohl zuinnerst wusste, dass sie daran nicht unbeteiligt war.
Doch es wurde immer schlimmer; wenn sich Streit ankündigte,
nur etwas in Gang kam, das man getrost eine einfache Diskussion
nennen konnte, es am Tisch lauter wurde, irgendein Problem oder
eine Frage auftauchte, selbst, wenn er nicht verstand, worum es
ging, machte Alexander sich nass. Er fürchtete sich ständig davor,
es könnte ihm etwas angehängt werden, er könnte allein deswegen
geschlagen oder bestraft werden, Nervosität begleitete ihn jetzt
von morgens bis abends.
Es geschah in der Schule, während des Unterrichtes, schließlich
reichte es, daran zu denken, was ihn am Nachmittag zu Hause
erwartete. Was sie wieder alles von ihm verlangen und ob sie ihn
wieder hänseln & verspotten würden, was er womöglich tun
391
musste, um wieder herauszukommen. Endlos war inzwischen die
Liste der Peinigungen und übergroß die Furcht Alexanders.
Mittlerweile wussten es so gut wie alle. Die Lehrerin ging so weit,
ihn die Urinlachen vor aller Augen aufwischen zu lassen, während
die anderen lachten und Witze rissen. Sie hatten ja seit der Sache
mit dem Pastor die oberste Billigung ihres Benehmens Alexander
gegenüber.
Schäm dich! Du bist doch kein Baby! Nur Babys machen sich in
die Hose!, so die Lehrerin, die als alleinstehendes Fräulein von
Kindern und ihren Nöten so viel Ahnung hatte wie ein Bauer vom
Studieren.
Nun geht es nur noch gegen ihn, so empfindet er es, von
niemandem kann er Verständnis oder gar Hilfe erwarten, niemand,
niemand hat Erbarmen. Sein Zustand ist schließlich so elend,
dass er eines Tags beschließt, nicht mehr nach Hause zu gehen.
Lange schlaflose Nächte hat er zuvor damit zugebracht, sich einen
Ausweg zu überlegen, seine Lage zu analysieren, Strategien zu
finden, eine List vielleicht, doch am Ende dachte er immer öfter
an Selbstmord, denn die Tage wurden nicht einfacher, sondern
hielten Ereignisse bereit, für deren Bewältigung ihm keine Lösung
mehr einfiel, und doch kam nichts den Nächten gleich, in denen er
schlaflos & ratlos überlegte, den Nächten, die er mehr fürchtete
als den Tod, mehr als den anderen Morgen beinah. Er getraute
sich nicht mehr einzuschlafen, um ja nicht ins Bett lullen. So
schwer er aufstand, so froh war er, dass es wieder überstanden war
das Gespenstische, das Übergroße der Dunkelheit. Doch die
anderen hatten wohl auch nicht geschlafen und derweil wieder
alles Mögliche ersonnen, üble Scherze & Streiche, außerdem
waren sie in der Überzahl. Er sah also eines Tages, eines Morgens
keine Chance mehr, war zuinnerst verzweifelt, fühlte sich
vollkommen verlassen & verloren in einer feindseligen
Umgebung.
Als er einmal versucht hatte, seinem Vater einen Brief zu
schreiben, war dieser abgefangen worden, aufgerissen und laut
392
vorgelesen wie eine Verlautbarung, wurde zu einer Anklage, einer
Spottschrift gegen ihn, als hätte er sein eigenes Todesurteil
ausgestellt & unterschrieben. Er selbst lieferte ihnen die Beweise,
nach denen sie so heftig suchten, er selbst hatte es und sich
erledigt. Konnte es noch ärger werden?
So bleibt Alexander eines Tages in der Klasse zurück, lässt alle
hinausgehen, räumt langsam & sorgfältig seine Bank aus, so als
täte er es zum letzten Mal. Schnell sind alle fort, keiner wartet auf
ihn, auch nicht die Kinder aus seiner Pflegefamilie. Er ist fast
erleichtert, dass es endlich soweit ist. Sang- & klanglos sind sie
verschwunden, ohne ihn zu vermissen, sein Zurückbleiben zu
bemerken, eine Tatsache, die ihm für sein Vorhaben zugute
kommt.
Schon seit dem Morgen fällt dichter Schnee, Alexander nimmt
jetzt nicht den normalen Schulweg, sondern watet zunächst
querfeldein, dann hinüber zu dem Birkenwäldchen, das er bisher
immer nur in der Ferne und im Vorbeigehen gesehen hatte.
Als er dort nach etwa einer Viertelstunde ankommt, lässt er seine
Schultasche fallen, geht noch ein Stück weiter, setzt sich, zuerst
hinter sich blickend, dann in den Himmel, in die Bäume schauend,
schließlich hin. Niemand ist ihm gefolgt. Das Plätzchen sucht er
akribisch aus, man soll ihn nicht gleich finden, nicht bevor alles
vorüber ist, es wird außerdem sein letztes sein auf Erden, das er zu
sehen bekommt, von hier werden sie ihn wegbringen müssen, hier
wird er sein Ende erwarten, sie haben es nicht anders gewollt. Ob
sie etwas wie Schuld fühlen werden? Bedauern vielleicht, Reue?
Er wird es nicht mehr erfahren, oder doch? Wo wird er sein, wie
wird es ihm gehen, wenn sie anfangen, ihn zu vermissen,
irgendwann zu suchen, nach ihm zu fragen? Wie sie wohl
vorgehen? Voller Selbstmitleid denkt er daran. Er stellt sich seinen
Vater vor, die Unerreichbarkeit des einzigen Menschen, den er hat,
der ohne Ahnung ist, dem er unendliches Leid zufügen muss, und
doch gibt es kein Zurück mehr. Er will zu seiner Mutter in den
Himmel fliegen, nur fort von hier, wohin auch immer, selbst,
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wenn am Schluss, auf der anderen Seite sich nichts als Finsternis
auftäte, alles dünkt ihn leichter als noch länger dieses Leben, diese
Angst zu ertragen.
Hier will ich bleiben, hier will ich sterben, ich will nicht mehr
zurück, nicht in die Schule, nicht zu der Pflegemutter, nicht einmal
zu meinem Vater, der mich bei solchen Menschen lässt, ich halte
es nicht mehr aus, es ist zu schwer für mich, ich kann nicht mehr.
Papa, du hast einmal gesagt, man darf nicht im Schnee sitzen
bleiben, auch wenn man noch so müde ist, man schläft ein und
wacht nicht mehr auf, erfriert im Schlaf.
Leb wohl, Papa, verzeih mir bitte, aber du lässt mich allein, so
ganz allein, ich weiß nicht, wo du gerade bist, aber ich möchte
jetzt nichts anderes mehr, als sitzen bleiben im Schnee, mir ist
überhaupt nicht kalt, es ist leicht und schön zu sterben, weich und
angenehm im Schnee zu versinken, warum nur habe ich solche
Angst vor diesem Moment gehabt, ich hätte längst hierher
kommen sollen, es ist so still und friedlich, bald schon, morgen
oder im Frühling, wenn sie mich finden, ist alles vorbei, dann bin
ich schon vor langer Zeit eingeschlafen und endlich, endlich bei
Mama im Himmel.
Er legt sich langsam auf den Boden, lässt sich einsinken in den
tiefen Schnee, während es weiter schneit & schneit, seine heißen
Tränen indes rinnen ihm aus den Augen, tropfen in den Schnee.
Noch Jahrzehnte später wird er in Schuberts „Winterreise“ diese
Stelle besonders lieben in schmerzvoller Erinnerung an jenen
fernen Tag, wird zutiefst wissen & verstehen, und es werden ihm
ob der Schönheit der Melodie, des Textes die Tränen wieder
herunter rinnen, genau wie damals.
Er ist froh, endlich alles hinter sich zu haben, fast glücklich über
seinen Entschluss, bald wird er ausgeführt sein, er will nicht mehr
zurück, nur vorwärts, denn es hat sich in ihm bereits entschieden,
es braucht kein Zutun seinerseits mehr, es ist vollbracht. So
angenehm, so fein, so still, so leicht ist der Weg in die Ewigkeit.
Durch die Müdigkeit nach dem langen anstrengenden Stapfen
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durch den tiefen Schnee, die tanzenden Schneeflocken, fällt ihm
nichts leichter, als das sich Gleiten-, Gehen-, Fallenlassen.
Er friert nicht im mindesten, im Gegenteil, es ist ihm wohlig
warm, fast heiß, er hat schon die Orientierung verloren, um ihn &
über ihm dreht sich alles wie es im Schneesturm leicht geschieht,
er hat keine Ahnung mehr, wo er ist, hat es vergessen, es ist ihm
egal geworden, langsam übermannt ihn die Müdigkeit
vollkommen, und so gleitet er hinüber in eine sanfte, seltsam
angenehme Schläfrigkeit, während um ihn herum lautlos die
Flocken weitertanzen & wirbeln. Sein Kopf wird leicht & schwer
in einem, viele schöne Bilder sieht er durcheinander, sie sind wie
die Blätter eines Buches: das Klassenzimmer, der Pastor, das
Gesicht des Vaters, die Küche bei den Pflegeeltern, eine grüne
Wiese mit gemusterten Kühen darauf, ein Feld mit wogendem
goldenem Weizen wie sein Name Sommerfeld, ein weißes Schiff,
der Strand in Gotland, das Haus in Stockholm, die Schürze der
Großmutter, die Papa immer aufgehoben hat mit den rosaroten
winzigen Blumen, das Muster auf Lindas Vorhängen, eine bunte
Entenfeder - verloren im Wasser, ein Strohhut mit Bändern &
Rosen.
Dann wird alles plötzlich weiß, der Schnee lässt sich auf ihm
nieder wie ein lieber alter Freund, der bei ihm bleibt und zu ihm
hält. Kein Laut durchdringt die Stille, von der er nun ein Teil
geworden ist. Wind ist aufgekommen, er kann nichts mehr sehen,
nur das Wehen & Stauben des Schnees vor seinen Augen, die sich
wie von selber schließen.
Stunden vergehen, es wird bereits nach ihm gesucht, doch, da er
abseits der üblichen Strecke gegangen ist, finden sie ihn nicht. Die
Straßen & Wege sind inzwischen derartig zugeschneit, dass kaum
noch Hoffnung besteht.
Er befindet sich außerhalb der Ortschaft, noch weit von seiner
Unterkunft, am Rande eines kleinen Waldes und in der Nähe eines
einfachen Hauses, einer Hütte beinah, wo eine alte Frau allein mit
395
ihren beiden Hunden lebt.
Die Nacht bricht vollends herein, es schneit & schneit & schneit
als hätten alle Himmel sämtliche Schleusen geöffnet, als gäbe es
auf der Welt nichts als Schnee, wie weiße Tücher treibt der Sturm
ihn vor sich her.
Überall machen sich Leute auf mit Laternen, rufen & schreien,
schaufeln die ständig sich verschüttenden Wege wieder frei.
Die Lehrerin und die Pflegemutter teilen die Trupps ein, geben
Anweisungen, später beteiligen sich auch die Männer des Ortes,
der Pastor, seine Frau, doch von Alexander fehlt jede Spur.
Um Mitternacht wird nach Ermessen & Gutdünken aller
Beteiligten die Suche eingestellt. Schließlich ist es aussichtslos,
bei Nacht weiterzusuchen, es rufen die Pflichten des nächsten
Tages, und die Stimmen der Vernunft, der Müdigkeit, der
Vergeblichkeit gewinnen die Oberhand, denn alles muss am Ende
auch ein Ende haben. Ungeachtet dessen, dass ein Mensch im
Schnee eine solche Nacht nicht überlebt, einigen sie sich darauf,
die Suche abzubrechen, ziehen sich erschöpft in ihre Häuser
zurück. Sie können sich niederlegen und guten Gewissens, das
Ihre getan zu haben, den verdienten Schlaf genießen, es existieren
keine anderen Gedanken als die der Pflichterfüllung, der
Regelmäßigkeit des täglichen Lebens, sogar eine Hilfeleistung hat
ihre Verhältnismäßigkeit.
Es gibt einfach keinen Platz für derart Unvorhergesehenes im
engen Rahmen des Daseins, keine Zeit und keinen Raum für
Geschehnisse dieser Art, man sieht keinen Zweck darin, genauer
nachzusehen, die Suche auszudehnen oder anders zu organisieren.
Man will erst wieder am Morgen weitersuchen, und so trennt man
sich.
In aller Herrgottsfrühe des nächsten Tages werden die beiden
Huskys von der alten ahnungslosen Frau, die weitab der Ortschaft,
doch nahe am Wald in einer Hütte lebt, ins Freie gelassen. Sie sind
lieber draußen, es ist ihnen viel zu heiß in der geheizten Stube,
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auch noch, als diese gegen Morgen längst ausgekühlt ist.
Es dauert nicht lange, da werden sie unruhig, strecken ihre Nasen
in die Luft, schnüffeln, nehmen Witterung auf, beginnen sich
zielstrebig durch den meterhohen Schnee zu arbeiten.
Es gelingt ihnen, zu Alexander vorzudringen, ihn frei zu kratzen,
ihn zu fassen, sie zerren an seinen Kleidern, ziehen ihn mit den
Zähnen aus der Mulde, schleifen den Leblosen zum Haus ihrer
Herrin. Zwar sind es ausgediente Schlittenhunde, doch immer
noch Hunde, auf die man sich verlassen kann, Hunde, die ein
Menschenkind als das ihre betrachten können, sich speziell bei
höchster Gefahr ihrer Verantwortung bewusst sind, Hunde, welche
schon manches Leben gerettet haben, Hunde, auf die mehr Verlass
ist als auf jede Suchmannschaft. Wie die Wölfe in uralten
Legenden machen sie Alexander zu ihrem Wolfskind.
Sein Atem geht nur noch ganz, ganz leise, so oberflächlich, dass
sich der Brustkorb nicht mehr hebt, der Körper ist starr wie ein
Brett, die Kleidung angeeist, die Wimpern & Brauen tragen
pelzigen Frost. Keine Schwierigkeit für die Huskys, sie haben in
ihrem Hundeleben wertvolles Wissen gesammelt, sie reagieren
wie erfahrene Ärzte beinah, erkennen den ernsten, beinah
hoffnungslosen Zustand des Buben, doch sie geben niemals auf,
sie gehen an die Grenze ihrer eigenen Kräfte, tun nichts Falsches,
nur das Wichtigste, sie bringen Alexander in Sicherheit.
Die alte Dame und jetzige Mascha der Huskys nimmt ihn
entgegen, heizt schnell nach, sodass es zu lodern beginnt, greift
mit dem Schürhaken die Eisenringe aus dem Ofen, setzt den
großen Kessel in die Glut, läuft um Schnee, den es rasch zu
schmelzen gilt, wärmt auf diese Weise Wasser, verteilt es in
weitere Waschschüsseln, läuft wieder & wieder um Schnee. Nun
badet sie seine Hände & Füße, schüttet bald wieder heißes Wasser
nach, heizt nach, zieht ihn aus, legt ihn ins Bett, wickelt ihn in
dicke Felle & Decken, legt, im Backrohr gewärmte Tücher, auf
sein Gesicht, seinen Hals, setzt sich zu ihm, betrachtet ihn endlich
im Schein ihrer Petroleumlampe, Stunden vergehen, Stunden sind
397
vergangen. Mit einem Spiegel prüft sie seine Atmung, er läuft an,
langsam wird das Gesicht rosig, die Nasenflügel bewegen sich
leicht. Zwischendurch heizt sie wieder nach. Sie hat alle Hände
voll zu tun. Die Hunde verfolgen das Geschehen, die Handgriffe
ihrer Mascha überaus genau, geben keinen Mucks von sich,
wollen ihre Lebensrettung zu Ende geführt sehen, warten darauf,
gelobt und mit anerkennenden Worten bedacht zu werden, denn
längst wissen sie, dass es gerettet ist, das Menschenkind. Darum
ließen sie nichts aus den Augen, was jetzt geschah, legten
Nachdruck in ihre Beobachtung, ihre Aufmerksamkeit, ihre Herrin
arbeitete gewissermaßen unter ihrer strengen Kontrolle. In den
Schneeländern weiß grundsätzlich jeder, was in so einem Fall zu
tun ist, immer war es so gewesen, seit Menschengedenken gab es
den weißen Tod, es geschah beinah täglich irgendwo, und doch
war es jedes Mal wie ein Wunder, wenn es gelang, einen
Gefundenen durchzubringen, es konnte leicht zu spät sein oder zu
früh aufgegeben, zu geringer Nachdruck in die Handlungen gelegt
werden, zu wenig Wissen & Erfahrung, nicht genug Engagement
verfügbar sein, auch beim Retten kommt es auf den Willen an, die
Hoffnungsgläubigkeit des Helfers, sodass Leben & Tod sich die
Waage hielten, denn auf einen Geretteten kam in jenen Tagen so
gut wie immer ein Erfrorener.
Es bestand bei einer solchen Schneelage ohnehin keine Aussicht,
an einen Arzt zu kommen, also musste in der Regel der einfache
Hausverstand, der allerbeste von allen Verstanden, genügen.
Unter der dicken, aber lockeren Schneedecke hatte Alexander
ausreichend Luft zum Atmen und vor allem Wärme gehabt, um
nicht zu erfrieren, um keinen wirklichen Schaden zu erleiden.
Entscheidend aber für sein Überleben war gewiss die rechtzeitige
Auffindung durch die Huskys gewesen.
Als er nach einigen Tagen & Nächten, war es nur Schlaf oder
Bewusstlosigkeit?, die Augen aufschlägt, neben ihm zwei Hunde
auftauchen und er in das freundliche Gesicht einer alten Frau
398
blickt, glaubt er im Himmel zu sein. Sie sitzt nur da und schaut
ihn an, sagt gar nichts, das gleiche tut Alexander, und ebenso die
Hunde. Lange starren sie einander an, lange sagen sie nichts, es ist
wie eine stumme, wortlose innige Feier der Augen, der Wärme,
der Geborgenheit, ohne jede Grenze zwischen Mensch & Mensch,
zwischen Mensch & Tier.
Alexander spürt, dass er hier in Sicherheit ist, keine Angst zu
haben braucht, obwohl er sich nicht im geringsten auskennt.
Langsam aber setzt er die Figuren, die ihn umgeben zu einer
Geschichte zusammen, allmählich erkennt er in ihnen seine
Lebensretter, eine alte Frau und zwei Hunde.
Nach & nach erzählt er ihr, wie und warum er sterben wollte, von
seiner Verzweiflung nach den Geschehnissen des Herbstes in der
Schule, im Haus der Pflegeeltern, in den letzten vergangenen
Tagen. Wie ihm das Herz so schwer geworden war, seine
Traurigkeit ihn überwältigt hatte, er das Leid nicht mehr ertragen
konnte, den Mut verloren und keinen Ausweg mehr gesehen hatte.
Sie ist erschüttert von den Worten dieses Jungen, dessen Schicksal
sie zutiefst beeindruckt. Was für eine Geschichte, und wie er sie
erzählt! Sie sieht, was für einen besonderen Gast sie in Alexander
hat.
Als er wieder schläft, weicht sie dennoch nicht von seiner Seite,
sie betrachtet ihn wie ein Geschenk, das unversehens mit den
Schneeflocken vom Himmel vor ihre Tür, in ihr bescheidenes
Haus gefallen ist.
Ihr ganzes Leben hat sie allein verbracht, nur mit ihren Tieren
gelebt, in den Gemeinden die Post ausgetragen und allerhand
Arbeiten in verschiedenen Haushalten und auf Bauernhöfen
erledigt.
Sie gehörte nicht zu den besseren Leuten in der Gegend, niemand
kümmerte sich weiter um sie seit sie nicht mehr in der
Öffentlichkeit arbeitete, es gab jetzt jemanden anderen, der ihre
Gänge machte. Die Leute waren vergesslich & gleichgültig, lebten
von Tag zu Tag, waren mit ihren eigenen Sorgen &
399
Angelegenheiten beschäftigt.
Und jetzt dieses Ereignis! Tiefe Dankbarkeit & Freude überkamen
sie, seit einer Ewigkeit rannen zum ersten Mal wieder Tränen aus
ihren Augen, spürte sie, wie ihr warm & leicht ums Herz wurde.
Zuerst verschwamm ihr das Gesicht des Knaben, dann weinte sie
wie ein kleines Kind, sie streichelte Alexander, kochte ihm Tee,
Suppe, war flink & geschäftig, fühlte sich jung, unendlich
glücklich, war mit einem Mal verliebt wie ein junges Mädchen in
dieses fremde Wesen in ihrem Bett, fürchtete, plötzlich
aufzuwachen und womöglich allein im kalten Zimmer zu liegen.
Doch es geschah nicht, alles war Wirklichkeit, kein Märchen,
keine Illusion, keine Einbildung der einsamen Alten, die sie schon
so lange war, sondern wirklich, wirklich wahr.
Alexander indes beobachtete, wie sie die Möbel umräumte,
Kommoden von a nach b verschob, Wäsche herbeischaffte, die
Vorräte überprüfte, hin- & her überlegte, beruhigt nickte.
Allem Anschein nach hatte sie vor, ihn bei sich zu behalten.
Willst du mich behalten?, fragte Alexander also.
Sicher! Oder glaubst du, Gott der Herr, gibt mir in meinem Alter
noch eine andere Chance? Nein, du bleibst bei mir, dich gebe ich
bestimmt nicht mehr her, und wenn du keine Mutter hast und dein
armer Vater dich zu fremden Leuten geben muss, dann kannst du
auch bei mir bleiben.
Schau, ich werde dich gut behandeln, habe genug zu essen für uns
beide, bin ja ganz allein, und es waren meine Hunde und ich, die
dir das Leben gerettet haben.
Dein Vater wird das bestimmt einsehen, meinst du nicht?
Glaubst du, dass er dich mir lässt?
Glaub‘ ich schon.
Oder möchtest du nicht bei mir bleiben?
400
Oh ja, sehr gerne, aber, ob das geht?
Hauptsache, du willst bei mir sein, alles andere kann man regeln.
Bei allem, was du hinter dir hast, verspreche ich dir und deinem
Vater, gut für dich zu sorgen, wenn es dir hier nicht zu bescheiden
ist?
Ich will sehr gerne bei dir bleiben, es ist wunderschön hier.
Na, dann ist ja alles gut. Bleiben wir also zusammen.
In den ersten Tagen kommt ihm die alte Dame etwas seltsam vor,
doch bald hat er sich an sie und ihre Eigenheiten gewöhnt, zumal
sie so lieb & freundlich zu ihm ist.
Warum eigentlich sollte er nicht bei ihr bleiben wollen, so schön
& ruhig wie es hier war?
Keine Quälgeister, keine keifende Pflegemutter, kein streitendes
Ehepaar, keine gemeinen Kinder. War er denn nicht auch hier
schon im Himmel?
Die Schneeverhältnisse lassen keine Verbindung zur Außenwelt
zu, man verfügt im Waldhäuschen natürlich über kein Telefon,
ja, nicht einmal über einen Stromanschluss, Adele, so heißt die
alte Frau, denkt nicht dran, die Hunde mit einer Nachricht ins
Dorf zu schicken. Später wird man ihr dies zum Vorwurf machen.
Schließlich erfährt Alexanders Vater durch die Schulleitung von
der Abgängigkeit seines Sohnes.
Drei Wochen nach Alexanders Verschwinden trudelt ein Brief im
Haus in Stockholm ein, doch Herr Sommerfeld, der auch
telefonisch erreichbar gewesen wäre, wird auf diese umständliche
Weise kontaktiert.
Als er die dürren amtlichen Zeilen liest, begreift er nicht sofort,
was das bedeuten soll.
Sehr verehrter Herr Sommerfeld!
Wir möchten Sie davon in Kenntnis setzen, dass Ihr Sohn
401
Alexander Sommerfeld, seit dem achtundzwanzigsten Jänner
nicht mehr in der Schule war. Die Suche nach ihm wurde drei
Tage darauf ergebnislos abgebrochen.
Bitte setzen Sie sich mit uns oder den Pflegeeltern Ihres Sohnes in
Verbindung. Mit vorzüglicher Hochachtung! Die Schulleitung......
Er liest immer wieder diesen absurden Text, bis ihm der Zettel aus
den Händen gleitet.
Die Haushälterin, die erst am nächsten Morgen kommt, erschrickt
zu Tode, sie findet ihren Dienstgeber wie versteinert und völlig
ergraut in seinem Sessel vor. Er scheint die ganze Nacht nicht
geschlafen zu haben, er ist nicht in der Lage, ihr zu antworten,
obwohl seine Augen offen stehen. Schließlich sieht sie das Papier
am Boden liegen, ahnt einen Zusammenhang, hebt es langsam
lesend auf.
Erst nach Tagen und intensiver ärztlicher Behandlung kann er
reisen. Er nimmt seine beiden Schlittenhunde, die ihn immer
begleiten, mit. Es ist alles tief verschneit, Schweden scheint in
diesem Jahr im Schnee unterzugehen.
Als er endlich ankommt, ist sogar die Schule geschlossen. Ein
Lehrer, welcher im ersten Stock des Schulhauses wohnt, gibt ihm
die erste Auskunft.
Er erwähnt nichts von den Vorfällen in den Religionsstunden,
nichts von den längst bekannten Problemen mit den anderen
Kindern, verlegt sich auf immer denselben Text.
Wir wissen praktisch nichts.
Er ist an jenem Nachmittag nicht zu Hause, also bei seinen
Pflegeeltern, angekommen, obwohl er pünktlich wie alle anderen
nach dem Unterricht die Klasse verlassen hat.
Es war starkes Schneetreiben, die Kinder sind davongeeilt, haben
sich aus den Augen verloren, das kommt vor.
Die ganze Gemeinde hat sich an der Suche nach dem Kind
beteiligt, doch sie blieb ohne Ergebnis. Nach drei Tagen wurde die
Suche eingestellt.
402
Was ist mit Hunden?
Mit Hunden?
Ja, haben Sie keine Suchhunde eingesetzt?
Nein. Es haben sich alle beteiligt, und wenn es Hunde darunter
gab, so haben sie nichts gefunden.
Seit zwei Wochen ist die Schule geschlossen, die weiter draußen
gelegenen Häuser und Gehöfte sind von der Außenwelt
abgeschnitten, von ihnen wissen wir nichts.
Haben diese sich auch an der Suche beteiligt?
Manche, nicht alle, da ja nicht alle davon wussten oder in
Kenntnis gesetzt werden konnten. Diejenigen, die keine
Schulkinder haben.........
Könnte er also irgendwo untergekommen sein? Haben Sie keinen
Kontakt mit diesen, weiter entfernten Haushalten aufgenommen?
Wir haben alles absuchen lassen, auch die beiden nächsten
Ortschaften wurden informiert, aber es gab keine Meldungen,
keine Beobachtungen von dort.
Gab es irgendein Problem mit meinem Sohn?
Nein, jedenfalls keines, das ein Verschwinden erklären würde.
Hat er mit Klassenkameraden das Gebäude verlassen oder allein?
Allein.
Warum?
403
Mein Gott, warum?! Er hat wohl getrödelt.
Welche Stunde war die letzte?
Religion. Aber fragen Sie doch bitte die Kinder .........., diejenigen,
die verfügbar sind.
So begann Alexanders Vater mit seiner eigenen Suche nach
Alexander.
Schritt für Schritt, Wort für Wort, Frage für Frage. Wie ein Puzzle
setzte er die Teilchen zusammen, bis er trotz aller ausweichenden,
abweichenden & unvollständigen Antworten eine Vorstellung vom
Grund des Verschwindens bekam.
Die Auskünfte waren widersprüchlich, die meisten Leute hüllten
sich in Schweigen, was ihm verdächtig vorkam, andere
beschuldigten offen den Pastor, einige die Kameraden, aber auch
auf die Pflegefamilie fiel ein schiefes Licht.
Von gelegentlichen Hänseleien war die Rede, von Spott, vom
„Sich-nass-Machen“ Alexanders.
Langsam, doch immer sicherer erkannte er, dass der Junge aus
Kummer ausgerissen sein musste. Es war also kein Unfall, kein
Unglück, sondern eine Flucht gewesen.
Das gab ihm Hoffnung auf der einen, beunruhigte ihn fürchterlich
auf der anderen Seite.
So viel Zeit wie vergangen war seither! Wenn er nicht irgendwo
Aufnahme gefunden hatte, lebte er nicht mehr, denn es ist
ausgeschlossen, im Freien im Winter und noch dazu so lange, zu
überleben. Möge er nicht erfroren sein! Möge er den Tod nicht
gesucht haben!
Länger als eine Woche sucht Herr Sommerfeld in alle Richtungen.
Der Schneefall hat aufgehört. Schließlich führen ihn seine Hunde
auf die richtige Spur.
Wie ein Wunder taucht dieses einfache Holzhaus, das bis zu den
404
Fenstersimsen verschneit ist, vor ihnen auf, und als wäre das nicht
genug, gucken aus den erleuchteten Fenstern zwei Köpfe heraus,
geradeso als hielten sie nach jemandem Ausschau.
Herr Sommerfeld traut seinen Augen nicht, wähnt sich in einem
Traum, schlägt sich auf die Wange, legt schließlich sein Gesicht
an die Scheibe, sieht, sieht, was er nicht glauben kann, sieht
Alexander und eine alte Dame gegenüber. Unmöglich, denkt er,
ich muss jeden Moment aufwachen.
Plötzlich fällt alle Spannung von ihm ab, er sinkt in den Schnee,
kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, nach den Tagen &
Nächten, die hinter ihm liegen, schläft er auf der Stelle ein, ist
nicht mehr zu wecken.
Als er wieder zu sich kommt, liegt auch er in einem Bett, sieht
Alexander neben sich, Adele, wie er später erfahren wird, heißt der
Engel, der seinen Sohn und ihn gerettet hat.
Er sieht sich von unendlicher Wärme & Herzlichkeit umgeben.
Trotz seiner Müdigkeit, seiner Schlaffheit, ahnt er wie sehr sie
sich um ihn bemüht haben mussten, um ihn so weit zu kriegen,
ihn in seinem steinschweren Zustand in diese Bettstatt zu hieven.
Einen Tag und eine Nacht soll er durchgeschlafen haben, ohne
jede Regung, ohne jede Bewegung. Sein Körper wie auch sein
Geist schienen vollkommen abwesend gewesen zu sein.
Die nächsten Jahre darf Alexander bei Adele verbringen. Es geht
ihm so gut bei ihr, dass ihm die üblichen Gemeinheiten, denen er
als Außenseiter, als der er hier nun einmal gesehen wird,
ausgesetzt ist, nichts mehr ausmachen. Manche nennen ihn daher
arrogant, doch er ist in seinem Glück gleichzeitig quasi
unverwundbar geworden.
Es ficht ihn nichts mehr an, denn er hat seine Angst verloren. Bei
Adele gibt es nur Liebe & Verständnis, tiefe Geborgenheit statt
Leid & Furcht. Er ist aufgehoben bei ihr und sie bei ihm.
Nach der Schule eilt er zu ihr, hilft ihr im Haus, im Garten, spielt
mit den Hunden, hackt Holz, kauft Farbe, streicht alles an & um,
405
kümmert sich um die Hühner, die Eier, geht einkaufen, sogar mit
Adele am Sonntag zur Messe.
Sie leben beinah wie ein glückliches Ehepaar oder wie eine
Großmutter mit Enkelkind, es gibt kein einziges Mal Streit oder
Missverständnisse, es sieht aus, als wären sie füreinander
geschaffen und, als könnte nichts sie je wieder trennen.
Der alten Frau geht es so gut wie nie zuvor. Alexanders
Unterhaltszahlungen ermöglichen beiden ein sorgenfreies, in
Adeles Augen sogar luxuriöses Leben.
Sie kochen gemeinsam, denken sich neue Rezepte aus, Alexander
bringt die Lebensmittel vom Dorf mit nach Hause, bestellt
Spezialitäten beim Kreisler, lässt von seinem Vater alles Mögliche
mit der Post schicken.
Tag & Nacht sind sie mit tausenderlei Dingen beschäftigt.
Während Alexander die Hausübungen macht, sitzt Adele still
daneben und denkt, was sie auf ihre alten Tage noch für ein Glück
haben darf.
Du, Alexander?“, kann sie dann leise fragen, so vorsichtig wie es
geht, um ihn ja nicht zu stören, Alexander?
Ja, was ist?
Gell, schön haben wir’s hier.
Ja, sehr schön.
Willst du nicht für immer bei mir bleiben?
Ja. Ja, das will ich.
Aber, wenn die Volksschule für dich vorbei ist, musst du in eine
höhere Schule gehen, die gibt es hier aber nicht.
Ah, mach dir keine Sorgen, Adele, da wird uns schon was
einfallen.
406
Glaubst du?
Ja, bestimmt.
Das beruhigte sie, doch immer & immer wieder stellte sie diese
einzige, für sie zentral gewordene Frage, denn sie wollte dieses
Glück, diese Glückseligkeit, nie mehr verlieren. Es war ihr erstes
und letztes in ihrem bisher einsamen und bescheidenen Leben, das
fühlte sie. Sie war arm geboren und arm geblieben, und hätte sie
nicht durch Zufall diese alte aufgelassene Hütte gefunden, die ihr
Gott sei Dank niemand streitig gemacht hatte, wer weiß, wo sie
hingekommen wäre und ob es sie überhaupt noch gäbe. Die
Zuversicht dieses Kindes war überraschend für sie, es kam ihr oft
so vor, als wäre es in etwas Großem aufgehoben, als hielte jemand
vom Himmel herunter die Hand über Alexander.
Sogar Herr Sommerfeld verbringt jetzt die Feiertage am liebsten
im Waldhaus, kommt zu Weihnachten, bleibt über Neujahr, taucht
zwischendurch, manchmal unangekündigt, auf, und wenn es nur
für ein paar Tage ist, erholt sich, wird von Adele & Alexander
verwöhnt, genießt die Wärme dieser Bescheidenheit, die
Herzlichkeit und fühlt sich genauso wohl wie die beiden, hat
Heimweh nach seinem Sohn nicht nur, sondern sogar nach den
kleinen Verhältnissen, nach Adele, der Lebensretterin, den
Hunden, die so gescheit dreinschauen, als wüssten sie über alles
Bescheid, als wüssten sie mehr als er selbst. Vor allem aber will er
ganz nah bei Alexander sein, mit den zweien feiern & reden,
lachen & scherzen. Adele aber überlegt, wie sie Herrn Sommerfeld
ihre Bedenken, ihre Freude, ihr Glück, ihre Angst zur Kenntnis
bringen könnte, diesem gebildeten schönen Mann, der die Macht
hat, seinen Sohn jederzeit wieder zu sich zu nehmen oder ihn ihr
zu lassen.
So spricht Adele ihn eines Abends darauf an, was ihr schon so
lange & wehmütig durch den Kopf geht, schwer auf dem Herzen
liegt.
407
Herr Sommerfeld, ich möchte Sie etwas fragen.
Ja? Gerne.
Was mir Sorgen macht, weil, Sie müssen wissen, ich habe mich so
an Alexander gewöhnt, er ist wie ein Himmelsgeschenk für mich,
ich kann mir nicht vorstellen, ihn wieder hergeben zu müssen.
Das freut mich, Frau Adele, und wie es aussieht, möchte auch er
hier bleiben und nie wieder fort.
Aber, er wird bestimmt auf eine höhere Schule gehen bei seiner
Herkunft und seiner Gescheitheit.
Ja, aber er kann hier so lange bleiben wie er will und wie es geht.
Er muss nicht unbedingt sofort dorthin, und sollte er einmal fort
müssen, wird er immer wieder zurückkommen, das dürfen Sie mir
glauben. Mir ist es viel wichtiger, dass er glücklich ist, nach
allem, was er schon durchmachen musste, es kommt auf ein paar
Jahre mehr oder weniger nicht an.
Soll er, wenn er möchte, auf der Volksschule bleiben, meinetwegen
bis zum äußersten Ende, er ist klug genug, um später das eine
oder andere nachzulernen.
Ich denke daran, ihm Bücher zu schicken, damit er später
gleichzeitig und neben der Volksschule her, mehr lernen kann.
Er kann darüber Prüfungen ablegen und mit den anderen später
gleichziehen.
Oh, das wäre wunderbar, aber er macht ohnehin schon so viel bei
mir, hilft mir bei allem, muss alles alleine lernen und begreifen,
ich kann ihm gar nicht helfen, ich bin doch eine ungebildete Frau.
Ich möchte nicht, dass ihm eines Tages alles zuviel wird oder ihm
das Bleiben bei mir zum Nachteil gereicht.
408
Nein, Sie sind keine ungebildete Frau. Er hat sie sehr, sehr gern,
sie sind jetzt seine Mama, seine Oma, einfach alles, er muss das
haben, es ist wichtiger als jede Schule, glauben Sie mir, ich bin so
glücklich und beruhigt, dass wir Sie gefunden haben oder besser
gesagt, Sie – uns.
Nach & nach ließ Alexanders Vater gute Möbel kommen, Spiegel,
gefütterte Vorhänge, ordentliche Wäsche, warme Decken, Kleider
für Adele, Pelze sogar, in den Sommermonaten Wasser einleiten,
neue Fenster einsetzen & abdichten, eine Toilette im Haus
installieren, das Häuschen in jeder Weise streichen & renovieren,
sodass sie bald bei Nacht & Nebel nicht einmal mehr die alte
Trissebude aufsuchen mussten, sondern über ein Wasserklosett, ja
ein kleines Bad im Haus verfügten und es nicht mehr wie früher
durch die Fenster & Ritzen zog.
Es wurde aus dem baufälligen & einfachen Häuschen langsam so
etwas wie eine winzige schnuckelige Landvilla. Bald kam eine
verglaste, beheizbare Veranda hinzu, sodass sie ein Zimmer dazu
gewannen, das Dach wurde erneuert, angehoben, und ein
niedriges Dachgeschoß zum Schlafen entstand. Die Treppe in den
ersten Stock, also unter das Dach, wurde fertig angeliefert, passte
auf den Zentimeter genau. Adele staunte nicht schlecht darüber,
was es alles gab, und was sich machen ließ, wenn man nur
genügend Geld & Wissen besaß. Im Dorf wurde bereits geredet,
gemutmaßt, getratscht. Es war das erste Mal in Adeles Leben, dass
sie beneidet wurde, man sie zuerst grüßte und mit Respekt
behandelte.
Tatsächlich ging Alexander auch, als er die Schule bereits hätte
verlassen können, noch weiter dorthin, etwas, was niemand
verstand, doch sie wussten auch nichts von seinem schönen Leben
bei Adele, denn nie lud er jemanden ein, obwohl sie es ihm gerne
erlaubt hätte, doch er hütete dieses Geheimnis, dieses Glück wie
einen Goldschatz.
Er versprach ihr sogar, dass er, wenn er in ein Internat müsse, in
409
den Ferien bei ihr wohnen und zu ihr nach Hause kommen würde,
nicht etwa nach Stockholm oder Uppsala, wo sein Vater Häuser
besaß.
Doch Adele war schon alt, und eines Tages erlitt sie einen
Schlaganfall, sie konnte nicht mehr reden, nicht mehr aufstehen,
hatte ein schiefes Gesicht, der Speichel lief ihr aus dem Mund.
Es war passiert, als Alexander in der Schule war, sie lebte noch
einige schwere Tage, dann starb sie in seinen Armen.
So kam es, dass er sie früher als geplant verlassen musste, doch
nicht er war fortgegangen, sondern sie. Nie hatte er daran gedacht,
dass sie sterben könnte, und nun war sie tot.
Es geschah etwa um seinen vierzehnten Geburtstag, mitten im
achten Volksschuljahr. Wie er die Tage der Beerdigung
überstanden hat, wusste er später nicht mehr.
Als Adele gestorben war, muss er zum Pastor gelaufen sein, ihm
atemlos berichtet haben, danach geschah alles ohne seine
Wahrnehmung. Man holte sie ab, läutete die Glocken, sodass
einige Leute aus dem Dorf herbeikamen, senkte sie hinab in ein
kaltes Grab, schüttete steinige Erde auf sie, steckte ein Holzkreuz
hinein und entfernte sich. In welchem Zeitraum sich dies alles
abgespielt hatte, wusste er zu keiner Zeit, denn Alexander war
abwesend von diesem Geschehen, schien nur ab & zu
aufzuwachen.
Allein blieb er den Rest des Tages zurück an diesem
schmucklosen Grab, vielleicht die halbe Nacht, bis lange nach
Einbruch der Dunkelheit. Heim kam er in ein finsteres leeres
Haus, konnte nun endlich weinen, während ihn die Hunde, die auf
ihn gewartet hatten, traurig & eindringlich anschauten, ihn zu
fragen schienen, was jetzt mit ihnen geschehen würde.
Fürs erste änderte sich nichts, er war halt nun allein, kochte für
sich, versorgte das Haus und die Tiere, welche er genau wie Adele
über alles liebte. Er beendete zu Schulschluss die Volksschule,
ging ein letztes Mal nach Hause, wartete auf seinen Vater,
versperrte die Haustür, nahm die Schlittenhunde mit, die ihm
410
ängstlich folgten, ihn fragend anschauten, nicht von seiner Seite
wichen, rechts & links so dicht bei ihm gingen, dass er kaum
vorwärts kam, so als fürchteten sie, er könnte sie zurücklassen,
verschenken wie die Hühner oder gar erschießen. So verließ er mit
ihnen die Ortschaft, die so lang, so schön seine Heimat gewesen
war.
XVI
Wieder Abschied & Aufbruch
Ende der Kindheit
Im Sommer des Jahres 1948 beginnt Alexander mit seinem Vater
zu reisen. Er lernt Schweden nun von einer anderen Seite kennen,
den äußersten Norden, unbekannte Orte & Menschen, die mit
ihren Rentieren auf der Wanderschaft sind, ein bescheidenes, aber
freies Leben führen. Abends sitzen sein Vater & er mit diesen
Nomaden & Halbnomaden am Lagerfeuer, im Zelt, essen, tanzen,
musizieren mit ihnen.
Alexanders Vater besitzt eine Ziehharmonika, auf der er zum Tanz
aufspielt, zu der er Lieder singt & singen lässt, Stimmung in die
Abende zaubert. Alle umringen seinen Vater wie einen besonderen
Gast, behandeln ihn gleichzeitig wie einen der ihren, mit großem
Wohlwollen & Respekt.
Er ist derjenige, mit dem sie Geschäfte machen wie mit
niemandem sonst, denn über viele Jahre hat er sich ihr Vertrauen
erworben. Er kauft ihnen die Felle ab, erstmals zahlt jemand ohne
wenn & aber in barem Geld für ihre Produkte, bringt Scheine &
Münzen dafür. Er schätzt ihre Waren, ihre Arbeit richtig ein, haut
sie nicht übers Ohr, versucht, sie nicht herunterzuhandeln. Sie
danken es ihm mit allem, was ihnen zu Gebote steht.
Sie geben ihm ihrerseits wieder Aufträge, möchten Anzüge wie er,
Mäntel, Schuhe, Hüte, etwas von jener eleganten Machart eben,
411
einen Hauch von dem, was es drunten im warmen feinen Süden
Schwedens so selbstverständlich gibt, denn Smaland, das klingt
für sie bereits wie für die Stockholmer Rom oder der Tessin,
klingt nach dem Land, wo die Zitronen blühen.
Junge Samojeden arbeiten für Alexanders Vater, er nimmt sie mit
nach Uppsala, Göteborg, Malmö, einige sogar ins Ausland, auf
Auktionen, gibt ihnen Arbeit & Ausbildung, eine Ahnung von
dem, was es bedeutet, Handel zu treiben, ein Geschäftsmann zu
sein. Ein erstes Mal sehen sie Herren, die, ohne einen Finger zu
rühren, hohe Geldbeträge bezahlen, verdienen, verschieben, in
Sicherheit bringen, Felle in Pelze und Pelze in Gold verwandeln.
Längst hat er sich eine eigene, weit verzweigte Struktur des
Pelzhandels aufgebaut, verfügt über Angestellte, die in seinem
Sinne und in seinem Auftrag für ihn an verschiedenen Orten tätig
sind.
Sogar Alexander wusste bisher nicht, dass es in allen Städten
Schwedens eine Niederlassung des Unternehmens seines Vaters
gab, mit ungläubigen Augen sah er am Ende dieses Sommers die
imposanten beleuchteten Schriften golden & schwarz hinter Glas
gemalt Pelzhaus Alexander Sommerfeld: in Uppsala, in Göteborg,
in Malmö, in Stockholm.
Alexander staunt & staunt, als er sieht wie sein Vater, fast einem
König gleich, bewundert & geachtet wird, obwohl er, der Bub,
sich das alles so wenig vorstellen kann wie Adele es gekonnt hätte
oder die beiden jungen Nomaden, die sie nun begleiteten und
genauso daneben standen wie er.
Wo immer sie in diesem Sommer hinkommen, laufen zuerst die
Kinder herbei, später dann die Erwachsenen, lauschen Alexanders
Vater, der ihrer Sprache mächtig ist, einer Sprache, die sein Sohn
nicht versteht.
Zum ersten Mal sieht er wie sein Vater wirklich lebt, wie & womit
er Geld verdient, ihm gefällt diese Seite seines Lebens in Freiheit,
die Schönheit des Einfachen, Alexander lernt aber auch, welch‘
große Verantwortung er trägt. Wohin sie auch fahren, überall
412
werden sie längst erwartet und aufs herzlichste begrüßt.
Sie kommen voll bepackt mit Paketen, Kleidern, Schuhen,
Süßigkeiten, Kaffee, Delikatessen, allen möglichen Gegenständen
& Geschenken in den Norden, alles in allem Aufträge &
Wünsche, die sein Vater im letzten Jahr entgegengenommen hat
und jetzt auslieferte.
Herr Sommerfeld ist so beliebt, dass er immer von Leuten umringt
wird, einerlei, ob sie mit ihm persönlich zu tun haben oder nicht,
allein sein Erscheinen löst Entzücken & Freude aus, bringt
Abwechslung & Überraschungen ins Dorf. Nicht selten lädt er
abends ins Gasthaus, in den Pfarrhof ein, wo er für Speisen &
Getränke für alle aufkommt, und während er Gespräche führt,
Verträge unterschreibt, verhandelt, dürfen alle feiern, essen &
trinken, ohne etwas bezahlen zu müssen.
Dass er ihnen nun seinen Sohn vorstellt, dessen Geschichte bereits
alle kennen, hebt ihn in die allerhöchsten Regionen der Beliebtheit
empor.
Junge wie alte Frauen fühlen sich aufgerufen, sich um den jungen
Alexander zu kümmern, sich ihm bewundernd zu nähern, ihn zu
berühren, zu betrachten, einzuladen, zu verwöhnen, ihre
Mütterlichkeit wird durch ihn angesprochen, wieder aufgefrischt.
So ein feines stilles Kind haben sie noch nie bei sich gehabt.
Alexander ist zwar schüchtern & zurückhaltend, doch ihm können
sie unverhohlener als seinem Vater, zu dem sie als erwachsene
Frauen ja einen bestimmten Abstand einhalten müssen, ihre
Sympathie & Dankbarkeit zeigen.
Alexander überrascht die warme Freundlichkeit, die ihm von
Fremden entgegengebracht wird, besonders. Hier ist es nicht wie
in der Schule, wo er gehänselt & ausgegrenzt wurde.
Er darf nun den Schutz und das Ansehen seines Vaters genießen,
erkennt zum ersten Mal, was es heißt, nicht einzeln in der Welt zu
stehen, nicht allein zu sein mit allen Situationen & Problemen,
sondern sich zurücklehnen zu können und seinen Vater für sich
handeln & reden zu lassen.
413
Hatte er sich nicht oft leid gesehen an den anderen, die an der
Hand der Mutter in die Schule, die Kirche gekommen waren,
immer jemanden hatten, der für sie die Kohlen aus dem Feuer
holte oder einfach jemanden, der den anderen Respekt einflößte,
sodass sie sich nicht mehr gerade alles trauten.
Ja, es war schon so, ein Kind ohne Mutter, ohne Eltern ist ganz &
gar verloren, so dachte Alexander jetzt.
Wie oft hatte ihm seine Schüchternheit zu schaffen zu gemacht,
doch immer musste er sie überwinden, um die Lage zu meistern.
Niemand redete für ihn, gab ihm Ratschläge, stand ihm zur Seite.
So lernte er die Dinge & Menschen kennen, von Anfang an und
von ganz unten.
Wo konnte er schon hingehen, um sich auszusprechen, Fragen zu
stellen, zu weinen? Adele, die liebe, liebe Adele war die einzige
gewesen in den letzten Jahren, doch er hatte sie nicht mehr.
Hier aber lachte ihn keiner aus, sein Vater schenkte ihm seine
ganze Aufmerksamkeit, las ihm jeden Wunsch von den Augen ab,
obwohl er, Alexander, keinen anderen hatte, als dass es immer so
bleiben möge.
In anderen Ferien machten sie noch viel weitere Reisen, fuhren ins
Ausland, nach Dänemark, Norwegen, England, Deutschland,
Frankreich, immer weiter fort, sogar bis nach Spanien. Doch in
Alexanders Erinnerung blieb die schönste Fahrt jene allererste in
den Norden in dem Sommer, der auf Adeles Tod gefolgt war.
Wo sie in einfachen Gasthäusern übernachteten, eng beieinander
unter einer Decke lagen, sein Vater ihm Geschichten erzählte, sich
nicht genierte, ihn zu herzen und zu küssen, etwas, wofür dieser
eines Tages meinte, eine Erklärung schuldig zu sein.
Er hatte gespürt, wie sehr es den Jungen nach Nähe & Zärtlichkeit
verlangte und er, der Vater, es anfangs fast nicht wagte, sie ihm zu
geben, zum Ausdruck zu bringen, was ihm doch selber so sehr
fehlte und am Herzen lag.
Weißt du, es ist, weil du keine Mutter hast, verstehst du das?
414
Ja.
Weil es nicht üblich ist, dass Väter ihre Söhne küssen.
Nicht? Warum nicht? Was ist falsch daran?
Tust du es nicht gerne?
Natürlich tue ich es gerne. Ich muss für dich doch Papa UND
Mama sein, nicht wahr?
Ich möchte es auch für dich tun, ich möchte ganz dicht bei dir
liegen und dich festhalten.
Und so sollte es bleiben. Am liebsten war es beiden, wenn es
Abend wurde und sie beieinander liegen konnten, um eng
umschlungen einzuschlafen.
In den gemeinsamen Sommern, die sie zur Gänze miteinander
verbrachten, erzählte Alexander seinem Vater die Erlebnisse &
Vorkommnisse des vergangenen Jahres, alles, was ihm einfiel,
manchmal sogar mehrmals. Nie unterbrach ihn sein Vater, immer
hörte er zu, lauschte den Worten seines Sohnes, auch, wenn es ab
& zu vorkam, dass er bereits hinüber glitt in einen sanften Schlaf.
Die Ferien, in denen sie in fremde Länder reisten, sollten vorerst
die einzigen bleiben, denn Alexander zog es in den Norden, wo er
in vertrauter Umgebung und bei netten Menschen mit seinem
Vater eins & allein sein konnte.
Die Sehenswürdigkeiten im Ausland freilich, sie waren gewiss
interessant, es gehörte, wie es hieß zur Bildung, Bauwerke,
Museen, Gotteshäuser zu besuchen, aber die Mühsal des Reisens
durch andere Länder, die Organisation, mit der sein Vater
zwangsläufig beschäftigt war, absorbierte, lenkte, so fand
Alexander, vom Wesentlichen ab, ließ sie einander zeitweise
vergessen. Sie lebten quasi in der Öffentlichkeit von Hotels &
Restaurants unter den Augen Fremder, das alles trennte sie
415
voneinander, machte vor allem Alexander schüchtern & unsicher.
Es beleidigte & erschreckte ihn, wenn er bemerkte, dass Frauen
seinem Vater nachschauten, ihn verstohlen beobachteten, man sich
Gedanken über sie beide zu machen schien, ihnen vielsagende
Blicke zuwarf. Wahrscheinlich ist die Mutter gestorben,
tuschelten sie vielleicht, sie sind auf der Durchreise, sie sollen aus
dem Norden kommen… .
Die Verschiedenheit und die Menge der Eindrücke, die vielen
Menschen durcheinander, die fremden Sprachen, es war ihm zu
viel, er sah nicht ein, was daran gut sein sollte, seinen Vater wie
einen Reiseleiter ermüdet zu sehen. Auch wollte er ihn nicht
teilen, er hasste es allmählich, wenn abends jemand an ihren Tisch
kam, seinen Vater ansprach, mit ihm ein Gespräch, von dem er
nichts verstand, anfing, ihnen damit ihre kostbare Gemeinsamkeit
raubte. Er empfand diese harmlose & freundlich gemeinte,
durchaus übliche Gepflogenheit als Störung, als Unverschämtheit,
als einen gewaltsamen Akt, der ihm seinen Vater wegnahm, die
kurze Zeit, die er mit ihm verbringen durfte, verkleinerte. Er
fühlte sich dann wieder ausgegrenzt & einsam, für scheinbar
Wichtigeres zur Seite geschoben. Genau so wenig mochte er es,
wenn sie ihn nur aus Höflichkeit beachteten, irgendetwas
Oberflächliches fragten, denn was ging sie das an, und was
kümmerte ihn, dass der & der Herr, die & die Dame eine Tochter
ähnlichen Alters besaßen! Nein, er wollte zurück nach Schweden,
mit seinem Vater wieder in den Norden fahren, nichts anderes,
nichts anderes! Nur dies, dass sie beide ganz allein & innig
beieinander seien. Sich wieder aufmachten zu den einfachen &
guten Menschen, wie Alexander meinte, solchen, die es schwer
hatten wie er, auf ihre Weise das Leben so tapfer meisterten, wo
Fragen des Überlebens gestellt wurden und nicht etwas wie
Gesellschaftsspiele von Bedeutung waren. Sein Vater hatte es gut
gemeint, er wollte ihm die Welt zeigen, doch für den jungen
Sommerfeld zählte nichts als das Zusammensein mit seinem Vater,
der, wie er selbst einst gesagt hatte, für ihn doch Vater UND
416
Mutter sein musste, die Zeit also verdoppelt statt halbiert werden
sollte.
Schon in jenem allerersten Sommer ist Alexander überwältigt von
der Landschaft, dem Himmel, den Tieren des Nordens gewesen.
Er fühlt sich wohl in dieser Einschicht, ist zum ersten Mal so
lange mit seinem Vater zusammen, wünscht sich insgeheim nichts
anderes mehr.
Weit mehr als ein halbes Jahrhundert später sollte er
zurückkommen, sich an jene ferne Zeit mit seinem Vater, an
damals, erinnern, wieder in den bescheidenen Dörfern, der weiten
grenzenlosen Landschaft den Sommer verbringen, mit den
Nomaden leben, ihnen bei der Arbeit helfen, mit ihnen
musizieren, tanzen, von Sommer zu Sommer besser ihre Sprache
verstehen.
Manche, die damals Kinder waren wie er, werden ihn noch
kennen, wie eine Fata Morgana wird er ihnen vorkommen, denn
er ist dem alten Herrn Sommerfeld von damals ganz ähnlich
geworden, ja, wie aus dem Gesicht geschnitten.
Am Ende dieser ersten, zur persönlichen Legende gewordenen,
beinahe mythologischen Zeit, die Alexander durch sein ganzes
Leben trägt wie einen Schatz, kommt er auf die Höhere Schule
nach Uppland, nicht weit von Uppsala.
Das Haus, in dem er aufgenommen wird, liegt etwas abgelegen in
der Gegend zwischen den kleinen Ortschaften Osterbybruk und
Tärnsjö.
Diesmal ist es ein Pastorenhaushalt, ein großes klassizistisches
Haus mit einem antiken weißen Portikus, ganz aus Holz, sodass es
überall knarrt & kracht, rot gestrichen mit hellen Fensterstöcken,
ringsherum ein weißer Lattenzaun mit einem lustigen Postkasten
daran, der aussieht wie ein Vogelhaus und oft von den Vögeln
dafür gehalten wird.
Alexander gefällt es sofort, denn wie bei Adele hängen an den
417
Fenstern weiße Spitzenvorhänge, leuchten abends Laternen, wie
überhaupt das Innere sehr gemütlich & geräumig ist.
Das Pastorenpaar hat eigene Kinder, die Söhne sind bereits aus
dem Haus, doch es gibt noch ein allerliebstes Mädchen, namens
Astrid, genau so alt wie Alexander, und, als ob dies nicht genug
wäre, gehen sie miteinander zwar nicht in dieselbe Schule, doch
überwiegend den gleichen Weg.
Astrid besucht ein Mädcheninstitut für wirtschaftliche
Frauenberufe, Alexander das Gymnasium.
Da sie bereits beim ersten Anblick aneinander Gefallen finden,
fällt Alexander der Abschied von seinem Vater nicht so schwer
wie er befürchtet hatte.
Herr Sommerfeld ist nach diesem so überaus schönen Sommer
zwar traurig über die Trennung, doch insgeheim froh über die
sichtbare Zuneigung Alexanders zu Astrid.
Es ist nicht leicht für ihn, seinen einzigen Sohn immer wieder bei
fremden Leuten zurückzulassen, wo er sich von neuem umstellen
muss, einrichten auf die Gegebenheiten, sich arrangieren,
dareinfinden, letztlich wieder ohne ihn, neuen, unbekannten
Problemen gegenübersteht.
Doch wenigstens wird er nicht so einsam sein, denkt er. Noch
dazu ein Mädchen, süß, mit blonden Locken, wie ein kleiner
Engel. Vielleicht, so hofft er, kann er auf diese Weise den Verlust
von Adele leichter überwinden.
Die Zimmer der Kinder liegen direkt nebeneinander, abends sitzen
sie lange am Gang mitten auf dem Boden und reden miteinander,
vergleichen & überprüfen gegenseitig ihre Hausübungen. Am
Tisch beim Essen stoßen ihre Stühle aneinander, berühren sich
manchmal ihre Ellbogen, rückt Astrid das eine oder andere Mal
näher als nötig an ihn heran.
Alexander & Astrid helfen gemeinsam beim Abwaschen &
Kochen, beim Vorbereiten der zahlreichen Zusammenkünfte im
Pfarrhaus, kneten Teige für Kuchen, backen Kekse, belegen
Brötchen für Pfarrabende & Sonntagskaffees, sind bald
418
eingebunden in die umfangreichen Arbeiten eines öffentlichen
Haushalts wie diesem.
Der anfangs schüchterne Alexander taut nach & nach auf, denn
Astrid ist natürlich & offen, ohne irgendwelche Vorurteile, findet
es nach dem Auszug der Brüder gar nicht komisch, sondern
aufregend & interessant, wieder einen Jungen im Haus zu haben.
Die Buben sind ihr ohnehin seit jeher lieber als die Mädchen
gewesen. Auch die Kolleginnen aus ihrer jetzigen Klasse
langweilen sie mit ihren Tratschereien und kitschigen Ansichten.
Sie kann mit Alexander gut umgehen, es kommt sogar so weit,
dass sich die Pflegeeltern beinah aus der Kindererziehung
zurückziehen und sich ihren umfangreichen sozialen Aufgaben in
der Gemeinde besser widmen können.
Manchmal scherzen sie darüber, wie wenig die beiden sie in
Anspruch nehmen, wie gut sie sich verstehen, wie froh sie selbst
darüber sind, ja, wie überflüssig sie sich als Eltern zuweilen
vorkommen.
Das Haus des Pastors mit dem schönen Namen Lindström ist sehr
gesellig, auch über die Pfarreinladungen & –belange hinaus. Es
gibt Zeiten, wo jeden Abend Gäste kommen, eine Menge zu tun
ist, jede Hilfe gebraucht wird, und so wächst Alexander ganz
selbstverständlich in die Aufgaben eines evangelischen Haushaltes
hinein.
Wie alle anderen besucht er den Religionsunterricht, die
Sonntagsschule, liest die Bibel, lernt Psalmen auswendig, schaut
dem Pastor beim Schreiben seiner Predigt über die Schulter, der
sich nicht geniert, ihn ab & zu um seine Meinung zu fragen.
Später diskutieren sie immer öfter miteinander theologische
Fragen, der jüdische Junge lernt über einen christlichen Priester
sein eigenes Volk und dessen religiöse Geschichte kennen.
Der Pastor schätzt das analytische & kritische Denkvermögen
Alexanders, seine launigen, oft witzigen Anmerkungen, seine
mitunter gefinkelten Fragen, ja, er lässt die Predigten bald von
ihm gegenlesen, berät sich in kniffeligen Fragen mit ihm. Der
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kleine Jude, wie er ihn manchmal scherzhaft nennt, nimmt die
biblischen Dinge nicht so ernst wie er & seinesgleichen, und doch
lernen beide voneinander, verstehen sich ausnehmend gut, um
Häuser besser als früher der Pastor mit den eigenen Söhnen, die
an seinem Beruf kaum Anteil nahmen, denen das ewige
Predigtgerede, das ständige hin & her, das Abwiegen der Wörter
auf der Goldwaage des Gewissens auf die Nerven ging.
Seine Buben hatten dieses Interesse nie wirklich aufgebracht,
konnten eines Tages den ganzen Kram überhaupt nicht mehr
hören, weigerten sich, die ständigen dörflichen & kleinstädtischen
Probleme für wichtig zu erachten.
Sie waren es leid, die persönlichen Verhältnisse so gut wie aller
Gemeindemitglieder zwangsläufig zu kennen, die zahlreichen
Besuche zu ertragen, Botschaften entgegenzunehmen, Verständnis
für ihre Sorgen aufzubringen, weiterzuleiten. Sie wollten, vor
allem, als sie älter wurden, die Offenheit des Hauses und die
Öffentlichkeit des Privaten nicht mehr, ihr Leben in diesem
Schaufenster, den Druck innerhalb der Familie, die
Vorbild-funktion, die sie innehatten. Ihre privaten Nöte wurden
nicht erörtert, es durfte sie einfach nicht geben, immer waren die
anderen, war die Gemeinde, war dieses & jenes wichtiger.
Schließlich sahen sie sogar ein, dass es sich tatsächlich so verhielt,
denn was waren ihre eigenen Dinge wirklich gegen die endlose
Kette des Leidens, gegen die Ausweglosigkeit, die Krankheiten,
die eines Tages jeden ereilten, die Abgründe, in die sie oft
schauten, die seelische & materielle Armut.
Sogar die Ehe der Eltern lag unter einem Berg von Verantwortung
& Gewissenhaftigkeit begraben, kaum, dass sie einmal locker &
frei sein durften wie andere Paare, schon der harmloseste Witz,
der kleinste Spaß wurde mit Argwohn gehört, mit unstatthaftem
Übermut in Verbindung gebracht, das Aussehen der Frau Pastor
fast täglich kommentiert, ihre Pflichten & Aufgaben begutachtet
& kritisiert.
Ein Haus wie dieses musste makellos sein, Modell des göttlichen
420
wie des menschlichen Handelns für die Gemeinde.
Jeder Tag, jede Nacht ein Spagat zwischen Liebe & Disziplin, ein
kaum zu bewältigender Spitzentanz. Sie selbst konnten sich oft
nicht entscheiden zwischen ihrer Rolle als Eltern und der als
Ehepaar, zwischen Privatheit & Öffentlichkeit. Es existierte längst
mehr Strenge als Zuneigung, es gab keine Linie mehr zwischen
dem einen und dem anderen. Die persönliche, die eheliche Liebe
fiel mehr & mehr den täglichen Anforderungen zum Opfer, war
manchmal kaum noch zu erkennen, obwohl es der Gemeinde nicht
auffiel, diese wohl meinte, vom Pastorenpaar alles verlangen &
erwarten zu dürfen.
Mit Alexander aber kam nicht nur ein anderes Gesicht ins Haus,
sondern ein neuer, ein fröhlicherer Blick auf die Ereignisse, ein
frischer Wind, eine andere Welt beinah.
Zwar musste auch er sich den Regeln anpassen, durfte nichts
ohne Absprache oder Anfrage entscheiden, doch von Beginn an
hatte er eine Sonderstellung inne, gerade so, als hätten sie auf ihn
gewartet.
Von Anfang an galt er als etwas Besonderes. Die Frau Pastor
behandelte ihn milder als einst ihre eigenen Söhne, vertraute ihm
Aufgaben & Geheimnisse an, die sie mit anderen nie geteilt hätte,
bat ihn sogar in Kleiderfragen oder ihren Mann betreffend, um
Rat.
Als sie einmal krank war, pflegte Alexander sie, als hätte er nie
etwas anderes getan, sodass sie gar meinte: Also, wenn du nicht
einmal Arzt wirst!
Auch schrieb sie an seinen Vater nur das allerbeste, lobte den
Buben in den höchsten Tönen, lud Herrn Sommerfeld sogar in
aller Form ein, doch die Weihnachtsfeiertage bei ihnen zu
verbringen. Ein Wunsch, dem dieser mit Freuden und sofort
nachkam, sodass er bereits etliche Tage vor dem Heiligen Abend
mit seinem Wagen vor der Tür stand, den Rücksitz, den
Kofferraum, den Platz neben sich voller Geschenke, kaum dass er
noch schalten & lenken konnte, und als ob das nicht genug wäre,
421
hatte er noch Koffer & Taschen auf dem Wagendach, war nicht
weniger aufgeregt als Alexander oder Frau & Herr Lindström.
Wie bestellt, hatte es eine Woche vor dem Fest zu schneien
begonnen, in dicken, dichten Flocken, und es sah nicht aus, als
wollte es so bald wieder aufhören.
Es sollte eine unvergessliche Weihnacht mit einem riesigen, über
& über mit Sternen, Figürchen & Süßigkeiten behängten
Tannenbaum & Gaben für jedermann werden.
Herr Sommerfeld hatte die Einladung derartig ernst genommen,
sich so geehrt gefühlt, dass er so gut wie nichts ausließ,
mitzubringen und damit zu einem außerordentlichen Gelingen des
Festes beitrug.
Obwohl die Weihnachtsfeiertage im Pastorenhaus auch
normalerweise nicht gerade bescheiden von statten gingen, war
dieser großbürgerliche Stil doch überaus ungewöhnlich.
Die honorigen Leute, die, wie jedes Jahr zu Tisch geladen und
jene, die so arm waren, dass sie sich ihr Weihnachtsessen vor der
Tür draußen abholen durften, staunten alle in seltener Eintracht,
als sie diesen neuen Glanz zu Gesicht bekamen.
Vorsichtig lugten sie um die Ecke, bemühten sich, die Geräusche,
das Gläserklingen & Lachen zu hören, die feinen Gerüche zu
definieren oder wenigstens einen Blick in das Innere dieser
warmen & hellen Herrlichkeit zu erhaschen.
Gleich nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag machte sich daher
Alexanders Vater mit seinem Wagen auf nach Uppsala, um
Nachschub zu besorgen.
Es war ihm peinlich, all die Menschen an den Fensterscheiben zu
sehen, die Ärmeren der Gemeinde mit milden Gaben abzuspeisen
und sie, wissend geworden über die reichhaltige Wirklichkeit
anderer Leute, fortgehen zu lassen.
Wie sich später herausgestellt hat, sollte es drei dieser großartigen
Weihnachtsfeste geben, ja sie würden zu Ostern und allerlei
Anlässen eine Art Wiederholung erfahren.
Herr Sommerfeld pflegte nun sogar zu Mittsommer zu erscheinen
422
und an alles & jeden zu denken, denn er konnte sich nichts
Schöneres & Wichtigeres vorstellen, als seinen einzigen Sohn
unter so vielen Menschen glücklich zu sehen.
Wozu sollte er schließlich arbeiten, Geld verdienen, was ihm doch
so leicht fiel und wofür ihm eigentlich keine andere Verwendung
einleuchtete, als es für Alexander aufzuheben oder für Marie
auszugeben.
Er unterstützte Rahels kleine Schwester, hatte ihr Studium, ihren
Unterhalt bezahlt, ihre Ausstattung, ihre Tanzkurse, sie wohnte
jetzt in seinem Stadthaus in Stockholm, als wäre es ihr eigenes,
verfügte über eine Hausangestellte, konnte sich bestellen &
wünschen, was sie wollte.
Er tat es immer noch, obwohl sie zunehmend versuchte, es
abzulehnen, denn schließlich verdiente sie als Lehrerin einer
angesehenen Mädchenschule in Stockholm bereits ihr eigenes
Geld.
Wie hätte er ahnen sollen, wie sehr sie in ihn verliebt war, wie viel
sie von Rahel über ihn wusste!
Nichts hätte sie lieber getan, als mit ihm gelebt! Er indes gab ihr
zwar alles, las ihr, wie man so sagt, quasi jeden Wunsch von den
Augen ab, überhäufte & überraschte sie mit Geschenken, führte
sie zum Essen aus, ging mit ihr, wenn seine Zeit es zuließ, ins
Theater, in Konzerte, auf Bälle, doch was sie so heiß ersehnte,
worüber sie Tag & Nacht in Aufruhr war, darauf kam er nicht.
Nie trat er ihr zu nahe, nie war er etwas anderes als charmant, ihr
Tanzpartner & Begleiter, doch nie bekam sie mehr als einen
Handkuss, einen Händedruck, eine Verbeugung, und niemand,
niemand hätte ihnen geglaubt, dass sie kein Liebespaar waren.
Er war einfach loyal gegenüber Rahel und ihrer Familie, fühlte
sich für Marie verantwortlich, so, als wäre sie sein Kind, genau
wie Alexander, und schließlich blieb sie ja seine Schwägerin, auch
ohne lebendige Rahel.
Jedenfalls kam Herr Sommerfeld in jenen Jahren & Tagen mit
Schachteln & Säcken voller Spezialitäten, und jeder, der bei
423
Lindströms vorbeischaute, durfte hereinkommen, sich an den
Tisch setzen & mitessen.
Mit Scheu taten sie es, mit Schüchternheit & Neugier zugleich,
ungläubig, als würden sie träumen, ihren Augen & Ohren nicht
trauen. Dass es so dermaßen reiche Leute überhaupt gab, hier in
Schweden, das hätten sie im Schlaf nicht geglaubt.
Alexander hatte sich von Anfang an gut in der Schule gemacht, in
der Pastorenfamilie, in der Gemeinde, sich schnell eingewöhnt,
sah vollkommen glücklich & zufrieden aus.
Es war sogar in der Ortschaft niemandem entgangen, wie sehr er
& Astrid sich mochten. Sein Vater freute sich besonders darüber,
hatte Alexander doch wieder jemanden gefunden, mit dem er
gerne zusammen war, noch dazu ein so liebreizendes Mädchen.
Die Sorge also, er könne sich, nach allem, was hinter ihm lag,
nicht wieder irgendwo einleben, schien nun unbegründet.
Die Furcht des Vaters, der Junge würde wieder Heimweh haben,
sich vernachlässigt fühlen, verlassen, gar einsam, verflüchtigte
sich allmählich, denn oft hatte Herr Sommerfeld in endlosen &
schlaflosen Nächten diese Gedanken gehabt. Ständig hatten ihn
Fragen über Fragen beschäftigt, verursachten ihm ein schlechtes
Gewissen, einen schweren Kopf, verschlossen seine Augen &
Sinne für andere Dinge. Doch nun schien sich alles zum Guten
gewendet zu haben, und er konnte endlich wieder aufatmen.
Indes bewunderten ihn die Frauen, redeten über ihn, begehrten
ihn, Marie nicht nur, sondern auch viele andere.
Er hätte jede Frau auf der Stelle haben können, war er doch
Witwer, allein erziehender Vater, reich, gut aussehend, ach, was
gab es in aller Welt Besseres, als so einen Mann! Das
Mitleidsmoment schien besonders anziehend zu sein, doch jede
noch so sanfte Annäherung von weiblicher Seite erwies sich als
vergeblich.
Er war resistent, weil gefangen in seiner Welt, lebte privat ein
beinah mönchisches Leben, wie sehr ahnte nicht einmal
Alexander, doch eines Tages würde ihm ein Licht aufgehen, er
424
Zeuge einer Szene werden, die mit einem Schlag das oft seltsame
Verhalten seines Vaters erklärte.
Noch lange jedenfalls und immer wieder redeten die Leute des
Ortes und der Gegend über den unverhofften Segen, der mit dem
mutterlosen Jungen über den Pastor, seine Frau und letztlich sie
alle gekommen war.
Alexander & Astrid sind ein Herz und eine Seele, schrieb der
Pastor wörtlich an Herrn Sommerfeld, uns beide beneidet man um
unsere prächtigen Kinder!
Ich wage mir gar nicht vorzustellen, dass sie eines Tages ein Paar
werden könnten und wir die gemeinsamen Großväter! Was für
eine verwegene Vorstellung, nicht wahr?
Seien Sie einem alten Mann nicht gram über solch‘ senile
Gedanken! Ihr Sohn ist etwas ganz Besonderes, darüber reden
meine Frau und ich oft miteinander, unsere eigenen Jungen waren
nicht so, sie passten weniger zu einem Pastorenehepaar als
Alexander, der uns darum wie ein eigner Bub geworden ist, aber,
was Gott der Herr mit uns Menschen vorhat, ist halt
unergründlich.
Wir sind glücklich, dass wir Alexander bei uns aufnehmen durften
und fühlen uns Ihnen in aller Demut zu großem Dank verpflichtet.
Seien Sie stolz über die außerordentliche Klugheit und
Liebenswürdigkeit dieses Kindes!
Auch, wenn er uns einmal verlassen sollte, wird er immer in
unseren Herzen sein. Seien Sie gegrüßt und gesegnet! Möge allen
Ihren Unternehmungen Erfolg beschieden sein.
Wir freuen uns, wenn Sie wieder zu uns kommen und einige Zeit
mit uns und Alexander verbringen.
Seien Sie unbesorgt, es ist alles in bester Ordnung, dies rufe ich
Ihnen zu, wo immer Sie sein mögen, wann immer Sie diesen Brief
vorfinden, Ihr Sohn ist gut aufgehoben, wir behüten und lieben ihn
wie unsere eigenen Kinder! Und haben Sie in unserem Namen und
im Namen der ganzen Gemeinde den innigsten Dank für ihre
außerordentliche Großzügigkeit, die wir alle genießen dürfen.
425
Ihr ergebener Pastor Gustav Per Lindström mit den herzlichsten
Grüßen und Wünschen auch von der Frau Pastor.
Groß ist die Freude, als Herr Sommerfeld diesen Brief erhält, ihn
überglücklich zu seinen wichtigsten Schriftstücken legt. Doch
eines Tages wird er ihn wieder & wieder lesen, genau wissen, wo
er ihn einst verwahrt hat, denn mit einem Mal ist alles anders
geworden.
Drei Jahre sind vergangen, Astrid ist fünfzehn, Alexander
sechzehn.
Vorbei die gemeinsam gefeierten Feste, die Freude darüber, die
Herrn Sommerfeld überall hin begleitete.
Es hatte damit begonnen, dass Herr & Frau Lindström zu einem
Pastorentreffen in eine, für damalige Verhältnisse, weit entfernte
Ortschaft eingeladen wurden.
Später wird Alexander sich wundern, wie lange & präzise die
Vorbereitungen dafür waren, denn bald wurde über nichts anderes
mehr gesprochen, beratschlagt, diskutiert, man konnte es, wie es
aussah, nicht genau genug damit nehmen.
Alexander & Astrid sollten zum ersten Mal allein das Haus hüten,
auf alles aufpassen, nichts vergessen, eine würdige & adäquate
Vertretung darstellen.
Alexander fand es nicht weiter schwer, freute sich auf die Tage
mit Astrid, wollte alles zur besten Zufriedenheit erledigen, begann
auf seine Weise, sich mit den Anforderungen, die auf ihn
zukamen, auseinander zu setzen.
In Wahrheit dachte er besonders daran, wie sie wohl bis spät in
der Nacht in der Küche, auf der Treppe oder am Gang zwischen
ihren beiden Kammern ungestört sitzen könnten, schier endlos
alles Mögliche besprechen, Karten legen, einander vorlesen, sich
eine Kleinigkeit aus der Vorratskammer holen, später wieder
weiter reden, jede Stunde, ja, jede Viertelstunde genießen dürften.
Wie oft hatte sie, mal lauter, mal leiser, an die gemeinsame Wand
geklopft, ihn damit quasi einzuladen versucht, hinüber zu
kommen.
426
Doch er hat es nicht getan, nie ihr Zimmer betreten, obwohl sie
immer wieder von Neuem damit anfing, sogar tagsüber vielsagend
zwinkerte, Bemerkungen fallen ließ, ihr jeder noch so
fadenscheinige Vorwand recht war, ihn so weit zu bringen, sie
endlich zu besuchen.
Einmal erschreckte sie ihn so sehr, dass er an ihre Tür eilte &
glaubte, es wäre tatsächlich etwas Schlimmes passiert, so wie sie
drüben jammerte & weinte. Dennoch war er nicht hinein
gegangen, vielmehr kam sie auf sein Klopfen hin, selber heraus,
schüttelte sich vor Lachen, musste sich den Bauch halten über
seine Besorgnis, war voller Freude & Übermut darüber.
Ab & zu kam es zu einem flüchtigen Kuss auf die Wangen
während sie, eingehüllt in ihre Decken, auf dem Boden zwischen
den Zimmern saßen & flüsterten & kicherten, was das Zeug hielt.
Alexander wunderte sich später selber, wie sie so viel hatten
schwatzen können, nie wieder in seinem Leben hatte er so viel zu
sagen gehabt.
Sie konnten über alles & jeden reden, über seine Lehrer, ihre
Lehrerinnen, über ihre Eltern, seinen Vater. Sie imitierten die
seltsamen Gestalten der Gemeinde, wetteiferten in ihren
Beobachtungen & Erkenntnissen, wurden zu ansehnlichen
Schauspielern, unterhielten sich hervorragend, verstanden sich
prächtig in jeder Weise. Sie spielten am liebsten „Leute erraten“,
wobei sie diese immer exakter charakterisierten, sich gegenseitig
in der Darstellung zu überbieten versuchten, darüber Wetten
abschlossen, Tränen lachten. Astrid ging so gut wie nicht mehr zu
ihren Freundinnen, welche sie mit ihrem Getue längst zu Tode
langweilten, doch, was ihr besondere Genugtuung verschaffte, sie
zutiefst um Alexander beneideten.
Er erzählte ihr aber auch von seinen Großeltern, die in seinen
Augen einen ähnlichen Haushalt geführt hatten wie ihre eigenen
Eltern, von seinen Reisen und anderen Erlebnissen, davon, was
ihm bisher widerfahren war, von seiner unvergesslichen Adele gar,
die ihm immer noch schmerzlich fehlte, und deren Verlust er ohne
427
Astrid wohl nicht überwunden hätte. Miteinander waren sie lustig
& traurig, schätzten & ehrten sich, so empfand es Alexander.
Sie plauderten über ihre Berufswünsche, ihre Vorstellungen vom
Leben draußen in der Welt, hatten jede Menge Träume für die
Zukunft, der Gesprächsstoff ging ihnen niemals aus.
Doch eigentlich wollte Astrid nach der Schule nur schnell
irgendeine Stelle finden, so bald wie möglich heiraten und Kinder
kriegen, Hausfrau sein und nie mehr etwas lernen müssen. Sie war
nicht der Typ zum Studieren, das wusste sie selbst am besten,
daher bewunderte sie Alexander, für den nichts anderes in Frage
kam.
Am liebsten wollte sie einen Mann wie ihn haben, auf den sie
stolz sein konnte, auch sie würde man in so einem Fall Frau
Doktor, Frau Professor nennen, so war es damals, so gut wie keine
Frau fand es nötig, selbst zu studieren, und üblich war es ohnehin
nicht. Ihre Mutter hieß Frau Pastor, die Frau des Schuldirektors
Frau Direktor und so weiter, soweit musste sie es auch ohne
anstrengende Ausbildung bringen. Und schließlich, was war
verkehrt daran, Hausfrau & Mutter zu sein, es gab Arbeit genug
auf diesem Sektor, und sie ging Tag & Nacht nicht aus.
Die meisten ihrer Mitschülerinnen in der Haushaltungsschule, die
sie besuchte, wollten auch nichts anderes, ließen sich dort dafür
ausbilden, eine Ehe, einen Haushalt zu führen. Sollten sie eine
bessere Partie machen, würden sie wissen, wie man Hausmädchen
beaufsichtigte, was von ihnen erwartet werden durfte, wie man die
Schwiegermutter beeindruckte, Gäste bewirtete.
Alexander hörte von Astrid, was sie in der Schule kochten &
nähten, ja, sie brachte ihn soweit, zu den Schulempfängen &
Ausstellungen zu kommen und von den Leckereien zu kosten, die
auf langen, weiß gedeckten Tischen gezeigt & dargereicht
wurden, die Werkstücke wie gestrickte Babygarnituren, mit
Spitzen umrandete Nachthemden, bestickte Tischdecken, üppige
Torten, selbst gewebte Teppiche, reichlich verzierte Polster,
geflochtene Körbe, selbst kandierte Früchte, gestrickte Pullover &
428
Socken, und all die vielen, handgemachten & nützlichen Dinge zu
bewundern.
Und es war nicht einmal so, dass es Alexander nicht interessiert
oder er es komisch gefunden hätte, im Gegenteil, er genoss diese
Herrlichkeiten. Es wusste ja niemand, wie sehr er das
Handwerkliche schätzte und sich danach sehnte, ebenso geschickt
zu sein.
Dies sollte sich in seinem ganzen Leben nicht ändern. Nie, so
dachte er, könnte er so etwas zustande bringen. So kam er zu der
Ansicht, nur Frauen seien dafür geschaffen, was für einen Mann
unmöglich ist, vom Himmel zu zaubern.
Er war außerstande, einen Unterschied zu erkennen zwischen
dem, was von ihm verlangt war und was Astrid täglich in dieser
Mädchenschule leisten musste.
Seine Gleichungen, sein Latein, sein Altgriechisch, sein
Französisch fand er trocken & spröde dagegen. Kein Vergleich mit
dem Genuss eines duftenden Essens mit Suppe, Hauptspeise und
Dessert. Er kannte keinen Burschen, der ein Knopfloch nähen
oder einen Pfannkuchen hätte irgendwie braten können.
Astrid erklärte ihm tausendmal, wie wenig das mit Hexerei oder
Genialität zu tun hatte, sondern das Einfachste von der Welt war,
wie sie hingegen niemals seine Aufgaben lösen oder auch nur die
Fragestellung begreifen könnte.
Und wirklich war es so, dass seine Schulkameraden nicht den
geringsten Respekt vor diesen fraulichen Tätigkeiten empfanden,
die Mädchen trotzdem für dämlich hielten und lediglich aus
Eigennutz mit ihnen herumknutschten. Wenn sie zu ihren
Schulveranstaltungen überhaupt gingen, dann weil man sich dort
vollfressen konnte, und es gab immer jemanden, der eine
Schwester dort hatte oder sonst jemanden kannte, der ihnen den
freien Eintritt ermöglichte.
Alexander aber trug das Heiligenbild einer Frau im Herzen, wie
sein Vater es ihm dargestellt hatte, die Ikonen seiner Mutter &
seiner Großmutter. Jedes Mädchen war für ihn etwas Besonderes,
429
allen voran Astrid, die im Augenblick zwar noch als freche Göre
auftrat, doch bald werden würde, was alle Mädchen schließlich
wurden: Ehefrau, Hausfrau, Mutter, und eines Tages sogar
Großmutter.
Nein, nein, das sagst du nur aus Bescheidenheit, konnte er
antworten, wenn sie ihm widersprach.
Alexanders Herz schlug jetzt oft wie eine Trommel, sein Blut
strömte durch den Körper wie ein reißender Fluss, nichts in ihm
ließ sich mehr von ihr ablenken. Doch es durfte nichts geschehen,
es musste mehr denn je, alles so bleiben wie es endlich, endlich
geworden war.
Je mehr er seine wilde Verliebtheit gewahrte, umso mehr hielt er
sich von Astrid fern, ging auf Distanz, fürchtete sich vor dem
Funken, der jederzeit überspringen und ihn & sie verbrennen
könnte.
Wenn sie gemeinsam die Hausübungen in Angriff nahmen, rückte
Astrid absichtlich immer öfter ganz nahe an ihn heran, ließ ihre
bereits wohlgeformten Brüste beiläufig seinen Unterarm berühren,
hob sich ein wenig und legte sie ihm wie einen besonderen
Leckerbissen auf das offene Buch, tat, als könnte sie seine
Erklärungen, um die sie ihn so dringend gebeten hatte, um nichts
in der Welt begreifen, ließ ihn immer wieder von vorne beginnen
während sie die Wirkung ihrer Annäherung genau beobachtete.
Sie wusste natürlich, wie sehr sie ihn erregte und damit in
Verlegenheit brachte. Ihrer besten Freundin hatte sie schon alles
Mögliche & Unmögliche über ihre Beziehung zum jungen
Sommerfeld, wie er allgemein genannt wurde, erzählt. Nicht dass
es gestimmt hätte, doch sie machte sich damit unheimlich wichtig
& interessant. Je mehr man ihr zuhörte, umso mutiger wurde sie,
am Ende glaubte sie es schon selber.
Wer konnte schon behaupten, von einem so wunderschönen,
blitzgescheiten jungen Mann wie Alexander verehrt & begehrt zu
werden, imstande zu sein, ihn verrückt zu machen, ihn nach ihren
Küssen lechzen zu lassen, soweit gebracht zu haben, dass er so
430
gut wie alles dafür tun würde. Nicht weniger nämlich hatte sie
dieser Freundin schon öfters berichtet, die mit der heißen
Information nichts Besseres zu tun wusste, als ins nächstbeste
Haus zu rennen und es weiter zu sagen.
Überhaupt redete sie von den angeblichen Erlebnissen mit
Alexander in einer Art Fortsetzungsroman, der sie selbst am
meisten fesselte & unterhielt.
Sie fand Spaß daran, die Reaktionen von Iris zu beobachten,
auszuloten, wie weit sie gehen konnte, was diese ihr noch glauben
würde.
Iris aber, die in solchen Dingen völlig unerfahren & ausgehungert
war, stachelte sie unbewusst sogar zu weiteren Lügengeschichten
über ihre Affäre an, stellte jedes Mal genauere Fragen zu den
Details. Immer verwegener erzählte Astrid, wie sehr er sie
begehre, wie er sie nachts aufsuche und sie bedränge, dass er sie
später heiraten werde, dass sie drauf & dran sei ein Kind von ihm
zu erwarten, es also bereits zum äußersten gekommen war.
Mit offenem Mund starrte die andere sie an, traute ihren Augen &
Ohren kaum, hatte nie etwas Spannenderes gehört, nichts
dergleichen in einem Film gesehen. Und das von einer
Pastorentochter, was schließlich der eigentliche Skandal daran
war!
Gerade noch hatte sie ihr den nackten Bauch als Beweis ihrer,
wenn auch äußerst frühen & sehr wahrscheinlichen
Schwangerschaft gezeigt, betasten & behorchen lassen, und schon
beim nächsten Mal erschien sie mit gut gespielter Verzweiflung
über den plötzlichen Verlust des Babys, das unversehens ins Klo
gefallen war, begleitet von schrecklichen Schmerzen &
Blutungen, die sie allerdings für ihn und seine Liebe ertragen
müsse, wie es das Los jeder Frau sei. Diese Szene gab sie mehr
als einmal zum Besten.
Dennoch wolle sie ihn gleich wieder bei sich liegen lassen, damit
er wiederholen könne, was inzwischen zu seinem Recht gehöre,
denn er schlafe keine Nacht mehr, ohne in sie eingedrungen zu
431
sein.
Mit solchen Kitschigkeiten & Geschmacklosigkeiten hielt sie Iris
in Atem, die naiv & leichtgläubig genug war, um wenigstens
anfangs daran zu glauben.
Doch niemand ist weniger geeignet, derlei für sich zu behalten, als
die beste Freundin, und kein Geheimnis ist schwerer zu verwahren
als dieses.
Nur, was unter dem Siegel der Verschwiegenheit geredet, unter
Schwüren & Versprechungen geflüstert wird, ist von Interesse, es
weiterzutragen. Und so wussten bald auch andere, was Astrid
zusammenphantasiert und selbst verbreitet hatte.
Alexander indes war ohne die leiseste Ahnung, was die Mädchen
hinter seinem Rücken über ihn zu wissen glaubten, was sie
tuschelten, mit welch‘ heißem Eisen, wie sie es nannten, sie sich
die Zeit vertrieben. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, es
könnte etwas nicht stimmen, vor allem lag es außerhalb seiner
Vorstellung, dass Astrid für ihre ganz persönliche Öffentlichkeit,
um sich besonders wichtig zu machen, ein Bild gezeichnet haben
könnte, das auch nur eine Silbe über ihrer beider erste Liebe
verlauten ließ.
Die Verantwortungslosigkeit aber, mit der sie Alexander
missbrauchte und seine ehrliche Verliebtheit verriet, seine Ehre in
den Schmutz zog, war nur ein Vorgeschmack auf das Ende, das sie
mit einer noch dreisteren Behauptung so jäh herbeiführen sollte &
musste.
Auch andere Mädchen schwärmten von ihm, denn er unterschied
sich gänzlich von den normalen Jungen, die entweder abweisend
waren oder fordernd auftraten, keinen Gedanken an Weiberkram
verschwendeten, ja, ihre Männlichkeit in der Ablehnung alles
Weiblichen fast prahlend zur Schau stellten.
In Wahrheit noch nicht in der Lage, in dieser Sache auf einen
grünen Zweig zu kommen, wandten sie sich lieber ab und führten
ein rudel- & rüpelhaftes Betragen vor.
Astrid war die „Jüdischkeit“ Alexanders bekannt, als
432
Pastorentochter war ihr so etwas nicht ganz fremd, darin sah sie
auch den Grund für seine Andersartigkeit, seine Scheu, seine
Poesie, seine Intelligenz, seine Verletztheit & Verletzlichkeit.
Sie wusste, dass er viele Dinge nicht durfte oder nur auf eine
bestimmte Weise. Er hatte ihr außerdem einiges über seine
persönliche Herkunft erzählt, darüber, wie sehr er seinem Vater in
allem verantwortlich war, wie streng dieser ihn bei aller Liebe
erzog und wie allein er sich damit unter den anderen fühlte, die
weder religiösen noch familiären Zwängen dieser Art unterworfen
waren.
Von ihm hatte sie die biblischen Geschichten ganz anders gehört.
Für ihn waren die Juden nicht die Feinde des Christentums. Das,
wovon er wusste, war viel größer & komplizierter als die enge
Auslegung & Auffassung von Religion, die sie kannte, Christus
darin nicht der Mittelpunkt, sondern einer von vielen.
Langsam sah sie mit seinen Augen, begriff, wie das Pastorenhaus,
in dem sie aufgewachsen war, nicht die einzige Wahrheit, die es
gleichwohl beanspruchte, besitzen konnte.
Es machte Alexander nichts aus, auch protestantisch erzogen zu
werden, quasi aus Selbstschutz konvertiert zu sein.
Astrid erkannte, dass sein Kopf und sein Herz in eine weit größere
Dimension reichten, als es ihr & ihren Eltern vorstellbar war.
Auf den Gedanken eines Verrats ihrer unschuldigen Liebe also
wäre er nicht gekommen, vertraute ihr ganz & gar, noch weniger
glaubte er, sie könne etwas Verwerfliches über ihn sagen.
Der Tag der Abreise von Astrids Eltern rückte indes näher.
Es wurden bereits die letzten Instruktionen gegeben, Notizen
aufgeschrieben, Vorräte eingekauft. Die Frau Pastor kochte
Eintöpfe für Astrid & Alexander im voraus, sorgte dafür, dass die
Speisekammer gut gefüllt war.
Endlich begleiteten die beiden das Ehepaar zum Bahnhof, trugen
ihre Taschen, winkten ihnen nach, blieben stehen, bis der Zug
nicht mehr zu sehen, sein Geräusch verklungen war, die
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Rauchspur der Dampfeisenbahn sich langsam in den Tiefen des
Himmels auflöste.
Sonst hatte Alexander manchmal seinen Vater auf diese Weise
verabschiedet, ihm endlos lang nachgeschaut, war traurig &
ängstlich zurückgeblieben.
Zum erstem Mal stand er nicht allein auf dem Bahnsteig, zum
ersten Mal ermahnte ihn jemand, dass es Zeit sei, zu gehen, es
keinen Sinn mehr habe, weiterhin in die Leere zu starren.
Astrid zupfte ihn am Ärmel, zog ihn weg, zerstreute seine
wehmütigen Erinnerungen.
Schon damals versank er leicht in der Vergangenheit, in jenem
großen Bild, das er sich nach & nach gemacht hatte, der
Melancholie über den Verlust, den er immer mit der Abfahrt eines
Zuges in Verbindung brachte.
Jeder Abschied hatte ihn in Verwirrung gestürzt, Tränen ausgelöst,
das Gefühl von Verlassenheit auf unbestimmte Zeit in ihm
zurückgelassen.
Doch diesmal gab es Astrid, dieses süße Mädchen, das er
anhimmelte & bewunderte, mit dem er jetzt ganz allein sein
durfte, welches ihm, Alexander, anvertraut war. Er würde mit
seinem ganzen Herzen auf sie aufpassen, dem Pastorenpaar einen
schönen Empfang bei ihrer Rückkehr bereiten, allem gerecht
werden, sie davon überzeugen, dass sie in Zukunft jederzeit
sorglos verreisen könnten.
Er war sich des Vertrauens, das man ihm insgeheim geschenkt
hatte, wohl bewusst und stolz darauf, wie sehr seine Pflegeeltern,
nichts Geringeres als ein Pastor und seine Frau, auf ihn bauten.
Sie vertrauten ihm sogar ihre Tochter an, auf die er aufpassen
wollte wie ein Adler, mit der er jetzt für ein paar Tage & Nächte
allein sein durfte, sie beschützen, behüten, und er versprach bei
den Sternen, die über ihnen im klaren Herbsthimmel leuchteten,
alles zur besten Zufriedenheit auszuführen.
Doch Astrid zupfte wieder, zog ihn mit sich fort und fing auf der
Stelle an, ihre Version von der, vor ihnen liegenden Zeit,
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darzulegen.
Die ersten Sätze hatte Alexander nicht gehört, doch als sie sich bei
ihm unterhakte und ihren Plan lauter & präziser ausführte, traute
er seinen Ohren nicht.
Was willst du? Leute einladen? Eine Party feiern? Ein Fest
geben?
Ja, genau!
Nein, das geht nicht. Wie kommst du darauf?
Warum nicht?, wann denn sonst, wenn nicht jetzt? So lange will
ich das schon, jetzt ist es endlich soweit.
Das darfst du aber nicht!
Ach was, du hilfst mir dabei, außerdem habe ich es schon den
anderen erzählt!
Den anderen?, was für anderen?
Ja, du weißt schon, den anderen eben!
Deinen Freundinnen?
Ja, aber nicht nur, es kommen natürlich auch Burschen, wir
werden tanzen, essen, trinken, verstehst du? Eine richtige Party
feiern.
Atemlos redete sie drauf los, schien nicht mehr zu bremsen zu
sein.
Alexander blieb schier der Verstand stehen, er traute dem soeben
Gehörten nicht, bekam es mit der Angst zu tun, als er merkte, dass
sie es nicht im Spaß sagte, ihn nicht einfach schrecken wollte, wie
sie es schon manchmal getan hatte, sondern es ernst meinte. Wie
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konnte sie, ohne je mit ihm darüber gesprochen zu haben, ohne
die Erlaubnis ihrer Eltern, plötzlich diese fix & fertige Idee
daherplappern? Wie hatte sie es überhaupt vor ihm verbergen
können, wo sie doch dauernd zusammen waren, miteinander über
alles redeten? Während er angestrengt und immer noch ungläubig
nachdachte, als sich bei ihm im Kopf schon alles drehte, führte sie
parallel die Einzelheiten ihres Planes aus, doch er hörte ihr nicht
wirklich zu, begriff die völlig neue Situation noch nicht, versuchte
recht hilflos, vorerst eine gewisse Ordnung in seine Überlegungen
zu kriegen.
Dennoch beschloss er bei sich, nicht mit ihr zu streiten, hoffte,
dass sie über Nacht wieder Vernunft annehmen würde und morgen
in der Früh diesen Unsinn wieder vergessen hätte.
Sie trennten sich ohne Aufhebens vor ihren Zimmern, blieben
nicht wie sonst, beieinander sitzen, sondern zogen sich einzeln
zurück, Astrid schmollend über Alexanders Ablehnung,
Alexander, um nicht mehr daran denken zu müssen, sie
ausspinnen zu lassen, einen Gegenentwurf zu entwickeln.
Kein trautes Zusammensitzen in der Küche, wie er es sich für den
ersten Abend allein mit Astrid vorgestellt hatte. Natürlich war an
Schlaf jetzt nicht zu denken, zu schwer wog das Gewissen, das er
sich daraus machte. Wie sehr hatte er sich gefreut gehabt, doch
kaum war der Zug außer Sichtweite, waren Freude & Glück
zerstoben, überwogen Sorge & Enttäuschung.
Tatsächlich ging Astrid schon tags darauf daran, ihre gestrigen
Ankündigungen in die Tat umzusetzen, die Vorräte im Keller zu
plündern, Brötchen zu streichen, zu belegen, zu verzieren, Kuchen
zu backen, anzuzuckern, Schritt für Schritt wie sie es in der
Haushaltungsschule gelernt hatte. Endlich kamen ihr die
erworbenen Fertigkeiten zugute, jetzt machte sie Gebrauch davon,
jetzt ergab alles einen praktischen Sinn, jetzt ging es ans
Eingemachte.
Als Alexander von der Schule nach Hause kam, schaffte sie ihm
sogleich an, in den Weinkeller zu gehen und eine Menge Flaschen
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heraufzuschleppen.
Er sah zu seinem Erstaunen das vorbereitete Buffet, war
hingerissen von der fachkundigen Zubereitung, doch gleichzeitig
stockte ihm fast der Atem.
Hatte er nicht Astrids Eltern, seinen lieben Pflegeeltern, hoch &
heilig versprochen, nicht nur auf Astrid aufzupassen, sondern auch
auf das Haus, um alles vorzufinden, wie sie es verlassen hatten, zu
keinerlei Beschwerden Anlass zu geben? Ja, genau das hatte er
getan. Seine bereits ausgeprägte, innere Verzweiflung schlug
angesichts Astrids organisierter Geschäftigkeit & Begeisterung in
äußere Resignation um.
Astrid redete nur noch von ihrem Fest, wen sie aller eingeladen,
wer nicht aller zugesagt hatte, vom Tanzen, der Musik, den
Speisen. Sie war nicht zugänglich für vernünftige Argumente,
schwebte im siebenten Himmel, ging auf Wolken, am Ende schrie
sie den widerstrebenden Alexander sogar an.
Weißt du was, du bist genau wie mein Vater, der die ganze Zeit
jeden Spaß und jede Freude mit seinem Verstand und seiner
Anständigkeit im Keim erstickt, bis kein Mensch mehr atmen
kann.
Nein, Astrid, ich will dir bestimmt nicht den Spaß verderben,
aber...
Aber, was? Was tust du denn gerade, bitte sehr? Genau das sagt
Papa auch immer, er will mir nichts verderben, tut aber nichts
anderes, weiß alles besser, ist immer gescheiter.
Ich frage mich, wie meine Eltern sich je geliebt haben können mit
dieser Einstellung …, da war nie eine Übermütigkeit, verstehst du,
nie etwas anderes, als das, was die Leute verlangen, das Übliche
eben. Immer sind die Augen der anderen entscheidend, auf einen
gerichtet, immer muss man für sie leben & leiden, immer tun, was
andere erwarten. Es ist nicht einmal für Gott, verstehst du,
sondern einfach nur für die Leute. Sich bloß nichts selber
437
ausdenken. Meine Brüder haben deswegen dieses Haus verlassen,
sobald es ging. Damals habe ich es noch nicht verstanden, aber
jetzt, jetzt bin ich alt genug, hörst du!
Ich bin nicht wie die ganzen Kirchgänger und Lektoren und
Vorbeter, die Sänger und Organisten. Ich will leben, noch was
anderes sehen, ich will was mit Männern haben, will …, will was
von der Welt sehen, nicht in einem Pastorenhaus versauern! Sie
nehmen die Bibel wie ein Gesetzbuch, wie eine
Gebrauchsanweisung, sie begreifen nicht, dass sie ein Ersatzleben
führen, ein Ersatzleben predigen, das bestimmt ist von Pflicht und
Sorge.
Astrid, ich verstehe dich ja, aber du musst auch an mich denken.
Schau, ich habe kein Elternpaar wie du, das doch nur das Beste
für dich will, für die Gemeinde, wohl auch nicht immer einer
Meinung ist, was bestimmt schwer ist. Ich stelle mir die
Vorbildfunktion, die sie ein Leben lang einnehmen und annehmen
müssen, sehr, sehr schwer vor, aber sie versuchen alles gut zu
machen, so soll es doch sein. Sie tun, was für sie, für die
Gemeinschaft zu tun ist. Wir müssen im letzten alle so werden,
glaube ich. Ein jeder auf seinem Platz. Schau, im Rabbinerhaus
meiner Großeltern war es letztlich genauso. Ich verstehe dich
zwar, aber ich verstehe auch deine Eltern, wie ich auch meine
Großeltern verstehe. Gewiss ist es oft schwer für die Kinder, für
die Mädchen besonders, aber glaub‘ mir, so oder so ähnlich muss
es auf der ganzen Welt sein, damit es Ausgewogenheit gibt,
Verantwortung füreinander und Frieden im kleinen wie im großen,
denn der Frieden, das Verständnis, das glaube ich ganz fest,
beginnt und endet in jedem einzelnen.
Ach, Alexander, du redest wie ein alter Mann. Du hast einen guten
Vater, der alles für dich tut, dich nicht immer bevormundet, nicht
Tag und Nacht kontrolliert. Bei mir aber ist es anders. Ich kann
nie etwas Verbotenes oder auch nur Verborgenes tun, immer sieht
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es jemand, wenn nicht die Eltern selber, dann jemand anders.
Gleich heißt es wieder: Das Pastorenmädchen, ist eh klar, der
verwöhnte Fratz, bräuchte mal eine Trachtprügel. Ist es das, was
du auch einmal willst?
Ja, wenn du damit meinst, dass ich mich immer nach so einer
Familie gesehnt habe, will ich gern ein alter Mann sein, darfst du
mich gerne so nennen.
Hier bei Euch, bei dir ist es so schön, ich möchte bleiben dürfen,
verstehst du das nicht?
Aber du kannst doch bleiben, warum solltest du, weil ich ein
einziges Mal eine Party gebe, nicht bleiben können?
Ich weiß nicht, es ist nicht erlaubt, man weiß nicht, was dabei
herauskommt, wir dürfen nicht den Wein deiner Eltern trinken,
ihre Vorräte, die nicht für uns bestimmt sind, verbrauchen.
Was heißt „wir“, ich gebe eine Party, ich verantworte es, was
geht das dich an?
Du scheinst vergessen zu haben, dass sie mir die Verantwortung
übertragen haben, ich ihnen versprochen habe, dass sie sich keine
Sorgen während ihrer Abwesenheit machen müssen.
Ja, ja, es ist nichts dabei, glaub` mir, sie werden es überleben, das
mache ich schon.
Lass uns mit anderen zusammen einen schönen Abend verbringen,
das ist alles, es ist nichts Böses, Wein kann man wieder kaufen,
Lebensmittel auch, und es kostet nicht die Welt, oder?
Und das Geld, um alles wieder zu besorgen, wo willst du es
hernehmen, die Zeit?
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Also, Alexander, wirklich, ich denke, dein Vater hat genug übrig,
um eine so harmlose Feier zu bezahlen, oder etwa nicht? Hast du
nicht einmal gesagt, du kannst ihn um alles bitten?
Sie rechnete also bereits mit Alexanders Vater, hatte ihn ganz
selbstverständlich in ihre Berechnungen einbezogen.
Alexander stutzte, das war nicht in Ordnung, denn es suggerierte
ein Übereinkommen mit ihm, welches es nicht gab, Astrid
kalkulierte bereits mit seines Vaters Geld, wie konnte sie nur! Er
hatte sich verschätzt, schon wälzte sie die Abtragung dieser
Schulden auf ihn ab, als hätte es darüber eine Abmachung
gegeben, seine Einwände tat sie als spießig & geizig ab, es ist
doch nur Geld, das doch bei seinem Vater in Hülle & Fülle
vorhanden sei.
Wie Astrid es angekündigt hatte, trudelten bald die Gäste ein, nach
& nach kamen sie daher, Alexander sah mit Bestürzung, dass auch
Burschen aus seiner Klasse darunter waren, aus höheren Stufen
sogar.
Er wunderte sich, wie Astrid an sie herangekommen war. Gewiss
lag es daran, dass sie die Tochter des Pastors war, als die sie
besonderes Ansehen genoss.
Auch viele Mädchen kamen, die eine oder andere brachte
Essbares mit, half in der Küche.
Ein Grammophon wurde aufgestellt, es knisterte & kratzte, Musik
erfüllte bald die Räume, zauberte schnell Stimmung ins Haus.
Zunächst schien alles in sanfter Ordnung, die meisten waren
zurückhaltend, respektvoll, nur langsam begann man zu tanzen, es
wurden Wein & Likör herumgereicht, Brötchen verzehrt, dort &
da ließ man sich in den Sesseln & Sofas nieder, rückte näher
zusammen. Da die jungen Leute keinen Alkohol gewohnt waren,
ihn nicht vertrugen, waren sie bald beschwipst, bewegten sich
schwebend & kichernd durch die Zimmer, verloren langsam ihre
Hemmungen.
Je mehr Zeit verging, umso mehr wurde geknutscht, Alexander
beobachtete jede Einzelheit ganz genau, war angespannt, rührte
440
nichts an, keinen Wein, keinen Likör, um die Übersicht nicht zu
verlieren, die Kontrolle zu behalten, nichts aus den Augen zu
lassen.
Es entging ihm daher nicht, dass Astrid mit dem Sohn des
Rechtsanwalts, der sogar mit Alexander dieselbe Klasse besuchte,
schamlos herumschmuste. Nach dem ersten Schreck dachte er,
Astrid wolle ihn vielleicht nur eifersüchtig machen. Es gefiel ihm
ganz & gar nicht, sie trieb es bereits zu weit, nach kaum zwei
Stunden war jene Harmlosigkeit verflogen, mit der sie ihre Party
dargestellt hatte, schon schien alles vergessen zu sein. Um noch
etwas zu ändern oder aufzuhalten, war es längst zu spät, nicht nur
für Astrid, sondern auch für einige andere. Das Spiel mit Alkohol
& Sex nahm seinen verhängnisvollen Lauf. Alexander überlegte
indes, wie er das, was da vor seinen Augen geschah, später
irgendwie erklären könnte, und es tat ihm unendlich leid, Astrid
nicht entschiedener entgegengetreten zu sein, er machte sich große
Vorwürfe wegen seiner Nachgiebigkeit, seiner Leichtgläubigkeit,
seiner Blindheit.
Er musste jedoch erkennen, wie wenig er verhindern oder Einfluss
nehmen konnte, es blieb ihm nur noch zu hoffen, dieser Tag möge
ohne größere Vorkommnisse und allzu schlimme Folgen zu Ende
gehen.
Doch es wurde nicht einmal richtig Abend, ehe es zum äußersten
kam, denn bald lagen sie durchwegs auf dem Boden, Mädchen &
Jungen dicht nebeneinander, aufeinander am Sofa sitzend oder sie
tanzten eng umschlungen, in jener Zeit ein Skandal, wenn man
nicht verlobt oder verheiratet war, während wieder andere sich in
den ersten Stock verdrückten, einfach irgendwohin verschwanden
oder ins Freie gingen.
Als die leeren Weinflaschen herumrollten, gab es auch kaum mehr
jemanden, der ansprechbar oder halbwegs vernünftig war.
Plötzlich verschwand Astrid mit Gustav, so hieß der Sohn des
Anwalts, oder war er Notar? Es hatte keinen Sinn mehr, hinter
ihr her zu sein oder aufzupassen. Sie waren wie vom Erdboden
441
verschluckt.
Alexander ging in sein Zimmer hinauf, wollte nichts mehr sehen
& hören, hielt es aber nicht aus, verließ es also wieder, ging am
Gang auf & ab, drückte sich herum, war verzweifelt, denn
niemand würde ihm dies hier später glauben. Werden sie nicht
etwa ihm die Schuld an allem geben, würde es wieder ein großes
schweres Ende sein, müsste er womöglich wieder fort von diesem
schönen Ort wie schon so oft? Man würde wohl wieder einen
Sündenbock brauchen, ein Opfer, um sich rein zu waschen.
Warum war er Astrid nicht heftiger entgegen getreten? Warum
hatte er sie nicht daran gehindert? Warum nicht mit ihr diskutiert,
warum, warum… ? Doch wer hätte wissen können, dass es soweit
kommen würde, er war schließlich auch kein alter, ja nicht einmal
ein erwachsener Mann. Auf jeden Fall war es jetzt viel zu spät,
das Unglück nahm seinen Lauf.
Aus Astrids Zimmer drang indes Gekreische, Gelächter, Gekicher,
am Ende Stöhnen, schrille Schreie. Brauchte sie Hilfe, was war
los? Was tat sie, was geschah ihr? Was sollte er tun?
Lange schlich er am Gang, wo er so oft mit ihr gesessen war, auf
& ab, horchte angestrengt durch die Tür, die Wand, während unten
das Durcheinander weiterlief, Lärm heraufdrang, einige an ihm
vorbeieilten, andere sich auf der Treppe amüsierten.
Es war noch nicht einmal wirklich dunkel, dennoch schien die
Welt bereits aus den Fugen geraten zu sein.
Es dröhnte & hämmerte in seinem Kopf, sein Herz raste, er fühlte
sich fiebrig, fror gleichzeitig. Die Geräusche aus Astrids Zimmer
wurden immer eindeutiger, dringlicher, gewaltsamer wie er
meinte.
Er hielt es nicht mehr aus, öffnete langsam & ganz leise die Tür,
wurde im selben Moment Augenzeuge eines schier unglaublichen
Geschehens.
Gustav, der Schnösel, der mit ihm in die Klasse ging, dort so gut
wie nichts kapierte, nur reich & privilegiert war, lag mit seinem
ganzen Körper kerzengerade auf Astrid, während sie ihre nackten
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Schenkel weit auseinanderhielt.
Alexander starrte wie ohne Verstand auf die Szene vor sich. Sie
bemerkten ihn nicht einmal, doch eins wurde ihm sofort klar, dies
hier war keine Vergewaltigung, sondern bestes Einvernehmen.
Nachdem die Schrecksekunde vorüber war, ging er lautlos &
rückwärts hinaus.
Es war deutlich erkennbar gewesen, dass Astrid sich aktiv
beteiligte, nicht einfach überfallen worden war, sondern Spaß
daran fand, denn sie lachte laut & ordinär.
Pass auf, dass du mir kein Kind machst!, waren die Worte, die er
im Hinausgehen zu hören bekam. Sie sagte es unter Kichern &
Stöhnen, so, als wäre es ein Witz.
Alexander achtete auf nichts mehr, sodass ein plötzlicher Luftzug
die Tür hinter ihm laut zufallen ließ, er hatte sie nicht mehr
erwischt, so groß war sein Schock gewesen.
Sie schreckten nun beide auf. Es dauerte einige Minuten, bis sie
begriffen, dass jemand da gewesen war und sie gesehen hatte.
So schnell war Gustav noch nie in seine Kleider gestoßen und aus
einem Zimmer gestürzt wie jetzt.
Draußen traf er auf Alexander, der abwesend am Stiegengeländer
lehnte und in die Tiefe starrte, kein Zweifel, er war der derjenige,
der sie ertappt, schlimmer noch, beobachtet hatte, so der erste
Gedanke Gustavs, der sein schlechtes Gewissen ja irgendwie
beschwichtigen musste, Alexander, der Voyeur, der Spanner, der
wirklich Perverse.
Gustav warf sich, ohne nachzudenken, auf ihn, stieß ihn einfach
die Treppe hinunter. Unten angekommen, rappelte Alexander sich
auf und lief aus dem Haus. Der andere verfolgte ihn, es kam zu
einer Rauferei, in deren Verlauf Gustav, auch für Alexander
erkennbar, den Spieß umdrehte.
Er sah darin seine einzige Chance, sich auf der Stelle
reinzuwaschen, jemandem anderen seine Tat aufzubürden, nicht er
war jetzt der Schuldige, sondern Alexander.
Gustav beschimpfte ihn bestialisch, nannte ihn einen räudigen
443
Hund, einen geilen Judenbock. Alexander konnte sich nicht
vorstellen, wie er darauf kam. Er spürte eine große Leere im Kopf,
seine Arme, seine Beine waren wie gelähmt, er hörte auf, sich zu
wehren, während der andere seine Haut zu retten versuchte, indem
er Alexander das eigene Vergehen anlastete und wie ohne Verstand
auf ihn eindrosch, so übergroß muss sein Schuldgefühl gewesen
sein, dass er sich keinen anderen Ausweg mehr wusste.
Die ganze Partygesellschaft oder der Rest, der übrig war, stand
jetzt draußen auf der Straße und war der Meinung, Alexander
hätte mit Astrid etwas Furchtbares angestellt. Später würden sie so
gut wie alle Gustavs Version bestätigen, als Zeugen gegen
Alexander auftreten, ohne etwas anderes als diese Szene gesehen
zu haben. So gut es ging, rannte Alexander davon, stolperte, fiel
hin, stand wieder auf, entfernte sich vom letzten Haus seiner
Kindheit, seiner Jugend sogar, flüchtete von dem Ort, der ihm so
viel bedeutet hatte.
Wie in einen Theater sah er das soeben Geschehene
vorüberziehen, was ihm noch vor Minuten alles bedeutet hatte,
seine Heimat gewesen war, ist abrupt zu Ende gegangen. Astrid,
die Pflegeeltern, wie könnte er ihnen jemals wieder unter die
Augen treten, seinem Vater!, oh Gott, sein Vater!, der ihm schon
jetzt leid tat.
Wie sollte er es anstellen, dass ihm noch jemand zuhörte oder
glaubte? In richtig guter Rechtsanwaltsmanier nämlich hatte
Gustav Zeugen beigeschafft, im Handumdrehen Alexander
angeklagt, verurteilt, zum Schuldigen gemacht, zum Hurensohn
und damit noch an Ort & Stelle seinen eigenen Kopf aus der
Schlinge gezogen.
Würden nicht alle auf Gustavs Seite stehen, so überlegte
Alexander, dem Sohn des Notars? Gehörten sie denn in Wahrheit
nicht zusammen, war nicht vielmehr er der Außenseiter? Wie auch
immer, hierher würde er jedenfalls nicht zurückkommen können,
nicht mehr in dieses Haus, nicht mehr in diese Schule, nicht mehr
in diesen Ort.
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Als ob er mit Astrid tatsächlich geschlafen hätte, fing er an, seinen
Abschied vorzubereiten, es war ihm vollkommen klar, dass ihm
niemand glauben würde, auch wenn er ihnen nichts anderes als die
Wahrheit erzählen konnte während der andere die Anklage
verfasste, untermauerte und eine einwandfreie & glaubhafte
Strategie verfolgte.
Nach einer Weile setzte Alexander sich irgendwo im Wald auf den
Boden, vor ihm lag ein Teich, oder war es ein See? Er musste
unbedingt nachdenken, Ordnung in seine Gedanken bringen, Ruhe
finden, Durchblick gewinnen, eine Analyse anfertigen, eine
Verteidigung ausarbeiten, seine Unschuld nachweisen, im Grunde
musste er vorgehen wie Gustav.
Was war geschehen? Träumte er vielleicht nur? Bestimmt würde
er bald zu sich kommen, und alles wäre wie vorher. Die Sache mit
der Party würde sich früher oder später als eine Art ein Alptraum
herausstellen müssen.
Doch nichts dergleichen geschah, es war zu Ende, es war aus mit
ihm. Er wachte nicht auf, sondern befand sich in der echten rauen
Wirklichkeit. Erbarmungslos.
Zahllose Gedanken zwischen Zuversicht & Resignation gingen
ihm durch den Kopf, doch eine Lösung fiel ihm nicht ein, denn
wenn ihm die Wahrheit keiner glaubte, gab es auch keine
Hoffnung, sie schwand immer mehr, entfernte sich wie eine letzte
sinnlose Illusion.
Er hatte das Vertrauen seiner Pflegeltern, die so gut zu ihm
gewesen waren, verraten, Astrid gewähren lassen, sich ihr nicht
widersetzt, vielleicht hätte er es verhindern können, vielleicht war
auch er schuld. Dies würde unabsehbare Folgen haben. Wieder
ging eine Zeit für ihn zu Ende, wieder war das Schöne vorüber,
wieder musste er einen, ihm lieb gewordenen Ort verlassen.
Doch, was es für ihn tatsächlich bedeuten würde, war ihm nicht
wirklich klar, denn er konnte nicht ohne weiteres fortgehen,
musste sich rechtfertigen, wurde zur Verantwortung gezogen, er
musste sich stellen, früher oder später. Vor ihm lag der
445
schmerzliche Prozess des Abschiednehmens. Angst machte sich in
ihm breit, eine furchtbare, nicht gekannte, eine entsetzliche Angst
vor allem vor dem, was unmittelbar vor ihm lag.
In was war er da hineingeraten, wie konnte das geschehen, warum
war er so nachgiebig gewesen, warum hatte er Astrid bei den
Vorbereitungen zugesehen, warum war er ihr nicht richtig
entgegengetreten, was wäre schon dabei gewesen! Er kannte sich
in Wahrheit selber nicht, war wieder einmal ratlos gewesen wie er
reagieren sollte, wollte Astrid nicht verärgern oder beleidigen trotz
seiner Bedenken. Obwohl er es eigentlich besser wusste, hatte er
gegen seine eigene Einsicht gehandelt, darin lag sein wirkliches
Versagen, der Grund für dieses Geschehen, er hätte wenigstens
versuchen müssen, Astrid zur Vernunft zu bringen, ihr diese Idee
auszureden. Seine Unfähigkeit mit ihr zu streiten, seine Furcht, sie
zu verletzten, zu verlieren, waren der Anfang und die Ursache
dieses Unglücks gewesen.
Doch Astrid wird bestimmt trotz allem zu ihm halten, sie wird ihm
als einzige helfen, so hofft er. Wie wenig er sie doch kannte!
So geht & stolpert er weiter, immer weiter, beginnt zu frieren, zu
zittern, zu niesen, trägt nichts außer Hose & Hemd am Leib.
Er hat keine Ahnung, was er machen soll, ob es nicht das beste
wäre, sich das Leben zu nehmen oder ob es einen anderen,
vielleicht doch besseren & leichteren Ausweg gibt.
Da stößt sein Fuß plötzlich gegen etwas Weiches. In der Finsternis
des Unterholzes liegt jemand auf dem Boden. Zwei große runde
Augen sehen ihn ängstlich & eindringlich an, so deutlich, als
fragten sie ihn etwas. Zuerst denkt er an einen Menschen, doch,
als er die Zweige zur Seite biegt, traut er seinen Augen kaum. Es
ist eine Rehmutter, und neben ihr liegt das tote Neugeborene.
Oh, mein Gott!
Alexander kniet nieder, streichelt vorsichtig das Reh, das sich
nicht rührt, es hat Tränen in den Augen, es atmet angestrengt, es
ist ganz warm, fast heiß. Es scheint vor kurzem ihr Junges
geboren haben, war es eine Totgeburt oder ist es unter der Geburt
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gestorben?
Sogar die Tiere weinen, denkt er, auch sie fühlen Schmerz wie
wir, sind traurig & verzweifelt. Während das Reh sich liebkosen
lässt, tropfen dessen heiße Tränen auf Alexanders Hände, sodass
er selber zu weinen beginnt. Er beschließt, hier fürs erste zu
bleiben und sich nicht umzubringen, seinem Vater nicht anzutun,
was dieses Reh jetzt erlebt. Hat er denn nicht schon Rahel, seine
Frau und Alexanders Mutter, verloren?
Gewiss würde ihm wenigstens sein Vater glauben, außerdem wäre
sein Selbstmord ein Schuldeingeständnis, er könnte sich ja nicht
mehr rechtfertigen, seinem Vater nicht die Wahrheit sagen.
Das Reh ist ganz ohne Scheu, in einer Art Ausnahmezustand, so
gebrochen & gelähmt wie er selber, vielleicht spürt es die
Gemeinsamkeit des Leidens, das sie beide verbindet. Es kann
nicht fort, genau wie er, es möchte lieber trauern, bei seinem
Jungen bleiben, trotz der Gefahr, der es sich aussetzt, trotz der
Gefahr, die selbst dieser Mensch ihm sein könnte, doch es ergeht
ihm wohl genau wie Alexanders Vater in jener Nacht, als Rahel
starb. Es ist eine Welt zerbrochen, der Schmerz so unermesslich
groß, dass alles seine Bedeutung verloren hat.
Alexander spürt die Wärme des Muttertieres und wie das Kleine
dennoch immer kälter wird, wie es auch die Mutter seltener
abschleckt, sich mit der Wirklichkeit langsam abzufinden beginnt.
Er beschließt also, da zu bleiben, es wird ihn hier niemand finden,
ja, es ist sogar recht bequem auf dem weichen Waldboden. An
einen Baum gelehnt, schläft er irgendwann getröstet ein, wie ein
Junge in einem Märchen.
Doch, als er aufwacht, ist der Platz neben ihm leer.
Er deckt die kleine Leiche mit Zweigen & Ästen zu, macht sich
wieder auf den Weg, streift weiter ziellos durch den Wald, später
weiß er nicht, wie lange; zwei oder drei Tage und Nächte?
Dann ist er soweit, zurückzugehen, fühlt sich halbwegs stark
genug, um sich dem Unausweichlichen zu stellen. Er muss es
hinter sich bringen, sein Leben wieder in die Hand nehmen, muss
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tapfer sein, vielleicht sogar den Stier bei den Hörner packen.
Schon von weitem sieht der das Haus erleuchtet, und es steht auf
dem Kopf, das ist leicht zu erkennen. So viel Mut wie er jetzt
braucht, denkt er noch bei sich, gibt es auf der ganzen Welt nicht,
und geht hinein. Es kommt ihm so vor, als würde ihn jemand von
hinten anschieben, und doch gleichzeitig zurückhalten.
Die Familie sitzt in der Küche beisammen, auch Astrids Brüder
sind da, was Alexander völlig aus der Fassung bringt, damit hatte
er nicht gerechnet.
Schon beim ersten Blick ahnt er, dass Astrid nicht die Wahrheit
gesagt hat. Um sich selbst zu retten, hat sie ihn, hat sie ihn!, hat
sie ihn - Alexander, geopfert.
Sie schaut ihn kein einziges Mal an, nicht einmal, als der Pastor
mit dem Lederriemen auf Alexander eindrischt, ihn nicht zu Wort
kommen lässt, seine Wehrlosigkeit ausnutzt & genießt, ihn an den
Ohren, den Haaren reißt, dass sie ihm büschelweise in der Hand
bleiben, ihn gegen den heißen Herd schleudert, er blutend auf dem
Blech vor dem Ofen zu liegen kommt, am Griff der Ofentür
hängenbleibt, und als ob das nicht genug wäre, schlägt Astrids
Vater nun weiter mit dem Schürhaken auf ihn ein.
Zerbrochen an Leib & Seele kann Alexander sich kaum erheben,
es gibt kein Mitleid mit ihm, keinen Menschen hier, der ihm
glauben würde, es ist alles aus, es gibt keine Rettung, sie haben
ihm nicht die geringste Chance gegeben. Sogar ein Verbrecher hat
einen Verteidiger, darf zu Wort kommen, seine Sicht darlegen,
doch nicht Alexander, nicht in diesem Haus, nicht hier und nicht
jetzt, nicht in so einem Fall, nicht wenn Sexualität im Spiel, von
Vergewaltigung die Rede ist.
Noch am selben Abend packt Alexander seine Koffer, übernachtet
im Gasthof des Ortes, wo er schief angeschaut wird, wo man
bereits alles weiß und mit eindeutigen Blicken und beleidigenden
Bemerkungen nicht hinter dem Busch hält.
Er telegraphiert vom Postamt aus seinem Vater, der sich im
Augenblick in Uppsala aufhält. Dieser kommt, so schnell er kann,
448
regelt alles mit dem Pastor, der Schule, ohne vorher mit Alexander
gesprochen zu haben.
Man hat ihm eine schauerliche & unerträgliche Geschichte in
allen Einzelheiten aufgetischt, ihn als Vater eines solchen Bastards
entwürdigend behandelt, ihm zu verstehen gegeben, wie wenig
man darauf aus war, so jemanden in einem anständigen Ort wie
diesem, wohnen zu haben.
Herr Sommerfeld macht sich Selbstvorwürfe, fühlt sich schuldig,
hat seinen Sohn, wie ihm nun selber vorkommt, grob
vernachlässigt.
Er hätte ihn öfter besuchen sollen, ihm ausführlicher schreiben,
hellhöriger sein müssen, ihn nicht allein lassen mit seinen
Problemen, so lange Zeit mit fremden Menschen, hätte ihnen wie
ihm nicht ganz & gar vertrauen dürfen. Er hatte sich sicher
gefühlt, sich einlullen lassen, war träge & unaufmerksam
geworden, wie es zuweilen geschieht, wenn alles so besonders gut
zu sein scheint.
Doch hatte Alexander ihm gerade in letzter Zeit einen ruhigen &
ausgeglichenen Eindruck gemacht, seine Briefe waren so voller
Zuversicht gewesen, seine Schulleistungen besonders gut.
Als sie endlich im Zug sitzen, ganz allein in einem Abteil,
draußen langsam die Landschaft vorbeizieht, da laufen Alexander
zum ersten Mal, seit dies alles geschehen ist, Tränen über die
Wangen, und als sein Vater dies sieht, geht es ihm genauso, er
nimmt ihn bei der Hand und fragt:
Warum hast du ihnen nicht gesagt, dass du es nicht warst? Du
warst es doch nicht, oder?
Nein.
Mehr redeten sie nicht darüber.
Ich werde dich nie wieder irgendwo zurücklassen, das verspreche
ich dir.
449
Ab jetzt bleiben wir zusammen. Ich werde deine Tante Marie
bitten, sie ist jetzt fertige Lehrerin, bei uns zu wohnen, das Haus
ist groß genug. Wir sind jetzt eine eigene Familie.
Wir wollen nicht mehr auf Fremde angewiesen sein. Ich will sie
nicht mehr fürstlich bezahlen, damit sie gut sind zu meinem Sohn.
Die Menschen sind nicht gut, das weiß ich jetzt. Es ist genug.
Du hast genug gelitten, ich habe mich geirrt.
Ich wollte doch nur, dass du eine Mutter hast.
Bist du einverstanden, mein Junge?
Ja. Danke.
Ich danke dir auch und bitte dich gleichzeitig, mir zu verzeihen.
Ja. Nein. Es gibt nichts zu verzeihen, Papa, ich bin nur froh, dass
du mir glaubst, das war meine einzige Sorge, dass auch du mir
nicht glauben könntest.
Als sie in Uppsala ausstiegen, war aus der abgrundtiefen,
aussichtslosen Verzweiflung, die noch vor wenigen Stunden
bestanden hatte, Erleichterung & Zuversicht geworden, das Leid
durch himmelhohe Freude beinah ersetzt.
Zum ersten Mal durfte Alexander ohne wenn & aber, ohne
Einschränkungen, ohne Vorbehalte bei seinem Vater bleiben.
Für immer war jetzt gekommen, für immer, hatte er jedes Mal
gebettelt in den vergangenen Jahren, für immer möchte ich bei dir
bleiben, Papa, einmal nur für immer.
XVII
UPPSALA
450
Für Alexander brach nun eine ganz neue Zeit an. Zum ersten Mal
durfte er bei seinem Vater leben, in seines Vaters Haus wie es so
schön hieß in jenen Tagen, bei seinem eigenen Vater, der nicht
gleich wieder abreisen, sondern seinen Sohn in ein neues Leben
geleiten würde.
Mit Beflissenheit wie Unbeholfenheit in einem war er bemüht, es
ihm so angenehm wie möglich zu machen.
Am Anfang, solange er noch nicht zur Schule musste, war auch
Alexander fast glücklich, wenigstens tagsüber.
Nachts aber konnte er kein Auge zutun, nachts kamen die
vergangenen Tage zurück. Im Traum wie in der Schlaflosigkeit
sah er immer die gleichen Bilder, wieder & wieder die Ereignisse,
die so plötzlich über ihn hereingebrochen waren.
Der Pastor, welcher ihm so vertraut gewesen war, mit dem er all
die tiefgründigen Gespräche geführt hatte, derselbe Pastor, der auf
ihn niederfährt, auf ihn einhaut wie auf einen Ochsen. Nie hätte er
eine derartige Grausamkeit, so viel Hass wie dazu nötig war, und
schon gar nicht die körperliche Kraft in dem so beherrschten &
disziplinierten, manchmal fast zerbrechlich wirkenden Mann
vermutet.
Für einen verständnisvollen Gottesmann hatte er ihn gehalten, für
jemanden, der wenigstens auch den anderen fragt, ihn zu Wort
kommen lässt, ihm wie ein guter Richter die Möglichkeit zur
Verteidigung & Gegendarstellung geben würde, quasi im Sinne
des lateinischen Begriffs „audite ad altera pars“, „höre auch die
andere Seite“, eine Art Grundlage des antiken Römischen
Rechtes, die auch heute noch in aller Welt beachtet wurde, wie der
Professor für alte Sprachen im Unterricht vor kurzem begeistert
erklärt hatte. Doch diese Tugend schien im Pfarrhaus unbekannt
zu sein.
Auch die Pastorin war in ihrer Vertatterung keine Hilfe gewesen,
hatte ihr sonst so ausgeprägtes & vielschichtiges Mitleidsdenken
wie es schien, plötzlich & völlig vergessen gehabt, starrte auf die
Szenen, die sich ihr boten, als ginge es sie nichts an, als hätte sie
451
den Verstand verloren, als wäre sie abwesend oder säße in einem
Theaterstück, dem sie nichts abgewinnen konnte. Auch sie fragte
kein einziges Mal, tat den Mund nicht auf, würdigte niemanden
eines Blickes, schaute meistens nur auf ihren Mann, als hätte sie
nichts Wichtigeres zu tun als ihn nicht aus den Augen zu lassen.
Was waren das im Nachhinein gesehen, überhaupt für Leute?
Für wie einzigartig hatte er sie noch vor einer Woche gehalten!
Wie konnten sie sich alle auf einmal derartig verändern?
Sie glaubten nur Astrid, der Vater legte ihr die Worte der Anklage
gegen Alexander geradezu in den Mund, Worte, welche sie
bereitwillig ohne Zögern bejahte, mit Kopfnicken bestätigte, sich
durch sie zum unschuldigen Opfer machen ließ. Je länger er über
alles nachsann, umso unglaublicher erschien ihm Astrids Rolle,
ihr Charakter, die Enttäuschung & Verletzung, die sie ihm
kaltblütig zukommen hatte lassen. Dieses Mädchen mit seinem
lieblichen Aussehen, in das er so verliebt gewesen war, hatte sich
als eine vollkommen falsche Person entpuppt, die ohne Bedenken
ihre gemeinsamen Geheimnisse verraten hatte, ohne Gewissen
und ohne Regung. Konnte es tatsächlich sein, dass sie glaubte,
damit durchzukommen? Würde es sie nicht später einmal zutiefst
reuen? Was, wenn sie einander eines Tages irgendwo begegneten?
Doch für den Augenblick war alles unvorstellbar, für den
Augenblick hatten sie über ihn gesiegt, äußerlich zwar, aber
immerhin. Sie waren fürs erste durchgekommen, hatten lieber den
Lügen geglaubt als nach der Wahrheit gesucht. Vielleicht, weil sie
geahnt hatten, was wirklich geschehen sein könnte, es darum erst
gar nicht wissen wollten, vielleicht, weil sie meinten, der Schande
durch einen, in Alexander gefundenen Sündenbock entfliehen zu
können, wie es ja auch einst die biblischen Juden getan haben
sollen, als sie ein armes nichtsahnendes Tier beladen mit den
eigenen Vergehen in die Wüste schickten, um es einem grausamen
Sterben zu überlassen und damit ihre Schuld vergeben &
vergessen glaubten.
In der Früh war Alexander meist nicht wach zu kriegen, schlief
452
nächtelang überhaupt nicht oder nur wenige Minuten, in denen ihn
immer dieselben Träume heimsuchten.
Schon in den nächsten Tagen zog Tante Marie zu ihnen. Sie hatte
eine Lehrerinnenstelle in einer Mädchenschule, wo sie
Französisch & Hauswirtschaftlehre unterrichtete, inne.
Alexander hatte sie lange nicht mehr gesehen, und er erschrak fast
über ihre Schönheit, welche ja schon früher beträchtlich gewesen
war, aber nun vollkommen zu sein schien.
Sie kam immer erst am späten Nachmittag oder abends nach
Hause, hatte dann noch Stöße von Heften zu korrigieren, für
nächsten Tag den Unterricht vorzubereiten, vor allem für das Fach
Hauswirtschaftslehre, was mitunter verlangte, dass sie kochte,
Gerichte ausprobierte oder sich bestimmte Details praktisch
überlegte, sodass sie Entwürfe anfertigte, Rezepturen & Menüs
zusammenschrieb, Gewürze mischte, Kalkulationen berechnete,
Telefonate über Lebensmittelbestellungen führte, Servietten
faltete, Dekorationen zeichnete, tausenderlei zeitaufwändige
Dinge tat, von denen Alexander noch nie etwas gehört,
geschweige denn, gesehen hatte.
Alexander war zuinnerst froh über die Liebenswürdigkeit, mit der
sie ihm begegnete, froh auch, dass sie seine wirkliche Tante war
und nicht wieder eine fremde Frau, von der er nicht wusste, als
was sie sich eines Tages offenbaren würde.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Schwester seiner Mutter
ihm etwas Böses wollte, dennoch blieb er vorsichtig und auf der
Hut. Er wollte sie nicht enttäuschen, verschrecken, überfordern,
aber auch nicht falsche Hoffnungen in sie setzen.
Bestimmt war es auch für sie nicht einfach, plötzlich auf einen,
noch dazu männlichen Jugendlichen aufpassen zu müssen.
In ihrer Schule gab es ja nur Mädchen, womöglich mochte sie gar
keine Buben, so hatte er sogar befürchtet. Wer könnte es ihr
verdenken? Er versuchte, ihren Standpunkt zu verstehen, sich in
sie hineinzuversetzen, ihre Gedanken zu lesen, ihren
Gesichts-ausdruck zu deuten, wenn er ihr unter die Augen trat,
453
obwohl davon keine Rede sein konnte, denn er war bereits um
einiges größer als sie.
Nur langsam kamen sie einander näher. Marie ließ es sich nicht
nehmen, für Alexander selbst zu kochen, bereitete gleichzeitig
damit ihren Unterricht für den nächsten Tag vor.
Tagsüber arbeitete eine Haushälterin im Haus, zwischendurch
kam eine Putzfrau, verschwand wieder.
Alexander gefiel seine Tante überaus gut mit ihren blonden
aufgesteckten Haaren, ihrer bescheidenen und zugleich stolzen
Eleganz, ihrer Gewissenhaftigkeit, ihrer gedanklichen wie
praktischen Genauigkeit.
Eines Abends, als sie gemeinsam & allein beim Essen saßen, tat er
etwas, wozu er seinen ganzen Mut brauchte, und was er sich
schon lange vorgenommen hatte; er erzählte ihr aus seiner Sicht
den Vorfall im Pastorenhaus.
Als er noch nicht einmal fertig war, legte sie das Besteck aus der
Hand, stand auf, nahm seinen Kopf in die Hände, küsste seine
Wangen, seine Stirn, seine Augen. Ihre heißen Tränen, so kam es
ihm vor, bedeckten ihn fast ganz, sein Gesicht nicht nur, sondern
seine Haare, seinen Hals, ihre Tränen rannen ihm in den Kragen,
sie schluchzte, sie weinte laut, sie klagte, seufzte, wischte ihren
Rotz in sein Hemd, es war ihr einerlei, wie es aussah.
Er konnte die Worte, die sie zu sagen versuchte, zuerst überhaupt
nicht hören, erst in der ständigen Wiederholung fand er ihren Sinn
heraus.
Mein armer, armer Junge! Wenn Rahel, deine Mutter, das wüsste!
Von da an war das Eis gebrochen, verstanden sie einander ohne
Worte. Sie hatten eine gemeinsame Geschichte der Liebe wie auch
eine des Leidens, keine Heimlichkeiten, keine Vermutungen,
keine Zweifel, keine Verdächtigungen mehr, sondern ein
Geheimnis, das zur Grundlage ihrer Lebensbeziehung werden
sollte.
Sie hatte ihm geglaubt! Sich nicht beeindrucken lassen von den
Reaktionen des Pastors und seiner Familie, genau wie sein Vater.
454
Tante Marie, ich verspreche dir, ich werde dich nie enttäuschen!
Ich verspreche Dir, dass auch ich immer für dich da sein werde,
was immer du brauchst, ich werde kommen, ich will es für dich
tun, ich will dir geben, was immer ich kann, was immer ich habe.
Wer weiß, Alexander, vielleicht gehören wir beide ja zusammen.
Vielleicht komme ich eines Tages zu dir wie du heute zu mir. Wer
kann wissen, wie unser Leben verlaufen wird.
Ich danke dir, dass du mir glaubst. Ich hatte solche Angst, du
könntest auf die anderen hören, zu viel würde in deinen Augen
gegen mich sprechen.
Niemals. Du bist mein einziger Neffe, mein einziges lebendiges
Andenken an meine Schwester, an meine ganze Familie.
Und wirklich, viele, viele Jahre später wird sie es sein, die ihn
bittet, bleiben zu dürfen, ihr ein Zuhause zu geben, eine Heimat,
eine Familie bis ans Ende ihrer Tage.
Wieder wird etwas großes Schweres geschehen sein, wieder
werden sie auf allein kommen, um diesmal für immer beieinander
zu bleiben. Als hätte Marie es schon damals geahnt, versicherte
auch sie sich nun seiner.
Sie erzählte ihm ganz andere Dinge über seine Mutter als sein
Vater, nein, nicht die Dinge waren eigentlich anders, sondern wie
sie diese sah.
Auch wie sie einst als Mädchen zusammen gespielt, gelernt,
gelebt hatten. Wie ihre Eltern, seine Großeltern, gewesen waren.
Von den Streichen & Geheimnissen, den Sorgen & Freuden, die
sie mit Rahel, ihrer Schwester, auch wenn sie viel älter als sie
gewesen war, geteilt hatte. Erzählte von einer Rahel, welche ihr
großes Vorbild geworden war, von ihrer Klugheit, ihrer
Verliebtheit in seinen Vater, den Schwierigkeiten, die dadurch mit
ihren Eltern entstanden waren.
455
Wie mutig sie war und wie arm, als sie dem großen, reichen
Sommerfeld, wie sie ihn zu Beginn genannt hatten, begegnete, wie
er sie in Verlegenheit brachte mit seiner Art, sie auszuführen, ihr
Kleider zu kaufen, damit er sich nicht mehr mit ihr schämen
musste. In Wahrheit hatte er sich ihrer alles andere als geschämt,
es ging ihm nur darum, sie standesgemäß zu sehen, ihre Schönheit
am besten zur Geltung zu bringen.
Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, als unser Vater
aufbrausend wie er war, Rahel anfauchte, als wäre er der Löwe
von Juda:
Meine Rahel, meine Tochter, keine meiner Töchter wird einen
ungebildeten Pelzhändler heiraten!
Marie erzählte so lebendig, dass es Alexander vorkam, als sähe er
seine Mutter leibhaftig vor sich.
Deine Eltern haben sieben Jahre miteinander in Stockholm als
Mann und Frau gelebt, illegal, verstehst du, und es war Rahels
Idee, eine Rabbinertochter und ein Pelzhändler ohne Trauschein
mitten im Lotterbett, wenn das unser Vater gewusst hätte!
Sie wollte unbedingt schwanger werden, damit sie ihren
Alexander auf jeden Fall heiraten konnte, ja, sogar Vater, dein
Großvater noch froh sein musste, wenn sie nicht sitzengelassen
wurde!
Sie hat mir alles erzählt, ich habe sie bedrängt, gezwungen, mir
die Details zu berichten, denn ich sehnte mich wie jedes Mädchen
danach, in einen Mann verliebt zu sein, einmal einen Freund,
nein, einen Geliebten! wie Rahel zu haben, obwohl ich viel jünger
war als sie.
Aber wen sonst hätte ich fragen können? Und wem als mir hätte
sie es anvertrauen dürfen? Sie war ja selbst so voll und musste es
jemandem sagen.
Und, hat sie dir wirklich alles erzählt?
Oh ja.
456
Auch das, wofür es keine Worte gibt?
Auch das, Alexander. Glaub mir, Romeo und Julia waren nichts
dagegen, nichts gegen deinen Vater und meine Schwester.
Wenn sie in den Ferien heimkam, lagen wir wie früher
nebeneinander in ihrem Bett, ich schlüpfte zu ihr unter die Decke,
kuschelte mich an sie, war gierig und ungeduldig nach ihren
Geschichten mit dem herrlichen Sommerfeld, der ein wirklicher
Gentleman war.
War, warum war?
Ja, ich meine, ist, ein richtiger Gentleman ist.
Bist du auch verliebt in ihn?
Ich, nein, wie kommst du darauf?
Na, du könntest ihn doch jetzt haben.
Alexander! Sag so was nie mehr, hörst du!
Nein. Aber, was wäre denn Schlimmes dran? Schließlich bist du
Rahels Schwester, ihr lebt zusammen, mindestens, wenn er da ist.
Wir leben nicht zusammen, um Himmels willen, Alexander!
Sag‘ ja deinem Vater kein Wort von unseren albernen Gesprächen.
Natürlich nicht! Aber schön wär‘s schon. Ich würde dich gerne
als Stiefmutter haben.
Wirklich?
457
Ja, und wenn ihr noch Kinder haben wollt, ich habe nichts
dagegen.
Also, das geht nun wirklich zu weit. Wenn das dein Vater wüsste,
was wir reden, während er unterwegs ist und all das Geld
verdient, das wir in diesem wunderschönen Haus verbrauchen
dürfen oder zum Fenster hinauswerfen!
Tun wir das?
Ja, sicher. Oder glaubst du, eine Anfangslehrerin wie ich, würde
recht viel mehr als das Existenzminimum verdienen?
Weiß ich nicht.
Nein, Alexander, bestimmt nicht. Nur, weil ich auf dich aufpassen
darf, da sein, damit du nicht alleine bist, kann ich diesen Luxus
hier nutzen und genießen. Ich verlange keine Bezahlung und doch
ist es mehr als Geld, was ich dafür bekomme.
Marie war längst rot geworden, verlegen, sie schaute zu Boden,
betrachtete mit übertriebener Aufmerksamkeit ihre Füße. Es war
ihr jetzt peinlich. Wie hatte sie so weit gehen können, sich auf
derartige Abwege locken zu lassen, solche Aussagen zu machen,
was Rahel ihr einst unter dem Siegel der Verschwiegenheit
anvertraut hatte, einfach weiter zu erzählen? War sie denn von
Sinnen, fühlte sie sich nicht mehr an ein Versprechen gebunden?
Wie hatte dieser Bengel erkannt, dass sie in seinen Vater verliebt
war wie eine junge Gans, damals wie heute, besonders heute.
Tatsächlich dachte sie an nichts anderes. Feuer & Flamme war sie
für diesen Mann, und als er ihr den Vorschlag, sich um seinen &
Rahels Sohn zu kümmern, unterbreitete, wäre sie fast zerplatzt vor
Freude, wollte ihm um den Hals fallen, ihn küssen, nein, sich
lieber von ihm küssen lassen. Er würde ihr den jungen Alexander
und damit alles anvertrauen, hatte er gesagt, er hätte viel früher
458
drauf kommen können, aber, na ja, rechtfertigte er sich, sie war
noch nicht mit ihrem Lehramtsstudium fertig gewesen, und am
Ende hatte es Alexander doch so gut bei den Pastoren gefallen und
auch bei der Frau davor.
Maries Hoffnungen wurden größer & konkreter, hatten aufgehört,
einfach Jungmädchenträume zu sein, sondern waren mit ihrem
Einzug ins Haus Sommerfeld quasi wahr geworden, auch wenn
Alexanders Vater sonst keine Anstalten machte, sie nicht hofierte,
nicht sogleich als Frau wahrzunehmen schien, aber dies würde
gewiss noch kommen.
Die kurze Zeit konnte eben nicht ausreichen für alles. Er war ein
bedeutender Geschäftsmann mit tausend Terminen, ging auf
Reisen hinauf in den Norden, mutmaßte sie in ihrer Naivität, ins
Ausland, hatte gerade die Unannehmlichkeiten mit dem
Pastorenhaus durchgestanden, Alexanders Übersiedlung &
Umschulung abgewickelt, das Haus in Uppsala für die neuen
Gegebenheiten umgestaltet, alles in Windeseile.
Sie musste ihm Zeit lassen, auf ihn in Ruhe warten, durfte nicht
ungeduldig werden, sondern musste ihn zunächst mit der
Beaufsichtigung seines Sohnes entlasten, ihm den Kopf, den
Rücken freihalten.
Auf keinen Fall ließ sie sich, wie sie meinte, Alexander gegenüber
etwas anmerken. Weder ihm noch seinem Vater gegenüber.
Doch sie war bis über beide Ohren verliebt, hatte bis dahin, was
aber in jener Zeit nichts Außergewöhnliches war, keinen Freund
gehabt, keine Ahnung von einem wirklichen Mann außer jener,
welche ihr ihre Schwester vor Jahren über exakt diesen hier,
gegeben hatte.
Längst hatte sie sich zurecht gelegt, was sie ihm, wenn es darauf
ankäme, antworten würde. Ohne Trauschein keine Chance, ja Empörung ihrerseits, obwohl sie in Wallung geriet, sobald sie nur
an ihn dachte und erst recht, wenn er zur Tür hereinkam. Sie wäre
ihm am liebsten entgegengestürzt, hätte ihn sofort umarmen,
umhalsen, abschmusen mögen.
459
Doch bisher war es zu keinerlei Zärtlichkeiten zwischen ihnen
gekommen. Er gab vor, die Korrektheit & Distanziertheit in
Person zu sein, so dachte sie jedenfalls.
Daher blieb auch ihr nichts anderes übrig, als sich nichts zu
vergeben. Sie tat auf keinen Fall den ersten Schritt, gab sich in
seiner Anwesenheit besonders dienstlich & beschäftigt.
Er rief zwischendurch an, erkundigte sich nur nach Alexander,
seinen Noten, die allerdings in letzter Zeit zu wünschen übrig
ließen, denn in der Schule verhielt er sich ganz anders als bei
Marie, die er nicht beunruhigen wollte.
In Wirklichkeit verbarg er seinen Kummer, dies, womit er nicht
ohne weiteres fertig wurde, tief in sich.
Er saß teilnahmslos im Unterricht, hing traurigen Gedanken nach,
passte nicht auf, hörte nicht zu, kannte sich zum ersten Mal
nirgends aus, lernte auch zu Hause nichts mehr.
Ständig dachte er an Astrid, was sie wohl jetzt machte, wie es ihr
ging, ob sie auch so allein war wie er.
Dann wieder überkamen ihn Zorn, Rache, Scham. Immer wieder
tauchten die Bilder auf, wie der Pastor ihn vor Astrids Augen
herumgestoßen, beschimpft und schließlich auf ihn eingeschlagen
hatte.
Während der Stunden in der Schule, selbst wenn ein Lehrer genau
vor ihm stand, zogen diese Ereignisse an ihm vorüber, war er
nicht imstande, irgendetwas anderes zu sehen, zu denken, zu
hören.
Seine Leistungen fielen ab, erreichten nicht nur seinen eigenen
persönlichen Tiefpunkt, sondern den Tiefpunkt der Klasse. Er fand
sich plötzlich mit den Schwächsten in einer Reihe, wurde in
einem Atemzug mit ihnen genannt.
Alles lief auf die Wiederholung dieses laufenden Jahres hinaus.
Er war fest davon überzeugt, dass ihm dieser Rückschlag von
Anfang an bestimmt gewesen war, hätte es sonst selbst nicht
verstanden, fühlte sich von allen guten Geistern verlassen, war
nicht mehr imstande, auch nur geringstes Interesse für
460
irgendetwas aufzubringen. Alles erschien ihm sinnlos, nutzlos,
aussichtslos, es gab keinen Ausweg, kein Entrinnen vor dem
Schicksal, dachte er pathetisch. Wie ein gefangengenommener
Fisch hing er an einer Angel, jede Bewegung, jeder Gedanke an
Widerstand, an Kampf, Flucht verursachte ihm nur neue, schier
unerträgliche Schmerzen. Jemand hatte es auf ihn abgesehen, war
hinter ihm her, warum sonst musste er immer wieder fort, weg
von schönen Orten, von liebgewonnenen Menschen, die sich in
Furien verwandelten, immer wieder von vorne anfangen, immer
wieder Enttäuschungen hinnehmen?
Die guten Jahre waren nun vorbei, schnell verflogen wie es eben
nur die besten tun. Wie ein ferner, unendlich schöner Traum
erschienen sie ihm jetzt. Nie mehr würde es die endlosen & tiefen
Abendgespräche mit Astrid geben, ihre kleinen & größeren
Geheimnisse, wo waren sie überhaupt hingekommen?, sie trug
doch die seinen mit sich und er die ihren, die gemeinsamen
Nachmittagsstunden, die Hausarbeiten, die Hausübungen, die
Predigten, vorbei auch seine Zeit als Klassenprimus, als etwas
Besonderes, denn jenen Ort, an dem dies alles geschehen war, gab
es nicht mehr und würde es nie mehr geben.
Er zählte jetzt zu den Dummen, zu denen, die nichts kapierten,
Nachhilfestunden benötigten oder es einfach dabei beließen.
Selbst Gegenstände, die ihn noch vor kurzem gefesselt hatten, in
denen er gewöhnlich glänzte mit Aufzeigen, Referaten, Aufsätzen,
freiwilligen Zusatzarbeiten, waren ihm längst egal.
Er scheiterte an Prüfungen, die er normalerweise leicht bewältigte.
Die Lehrer wunderten sich über seine guten Zeugnisse in den
Vorjahren, manche glaubten an einen Schwindel, sie kannten ihn
ja nicht, oder ein pubertäres Problem vielleicht, etwas
Persönliches, Familiäres, das in seiner Vergangenheit liegen
mochte, womit sie ja auch recht hatten. Es fiel damals niemandem
ein, in einem Schüler etwas anderes als einen Schüler zu sehen,
keinesfalls einen ernst zu nehmenden Menschen mit seinen Nöten
& Ängsten. Und, Gott sei Dank!, wussten sie nichts von den
461
tatsächlichen Gründen des Schulwechsels, denn, wer weiß, ob sie
Alexander überhaupt genommen hätten und unter welchen
Bedingungen & Vorbehalten!
Zu Hause war er meist still, in sich gekehrt, bemühte sich aber
seiner Tante gegenüber einen Anschein von Unbekümmertheit zu
geben. Marie erkundigte sich nach seinen Schularbeiten, doch,
was dies betraf, gab er sich verstockt, gleichgültig, wortkarg.
Als es ihr allzu seltsam vorzukommen begann, sie an seinen
Auskünften zweifelte, weil er ja nie Hefte herzeigte, nichts
unterschreiben ließ, offenbar keine Hausaufgaben hatte, auf keine
Prüfungen lernen musste, beschloss sie in seine Schule zu gehen,
um sich an Ort & Stelle zu erkundigen. Sie ließ sich beherzt einen
Termin beim Direktor geben, war voller Zuversicht, als Lehrerin
einen guten Draht zu ihrem Kollegen zu finden.
Entgegen ihren Erwartungen aber setzte dieser eine besorgte
Miene auf und unterrichtete sie über den traurigen Stand der
Dinge.
Alexander Sommerfeld, liebe Kollegin Goldmann, ist ein
Sorgenkind der schlimmsten Sorte.
So fing er an, während er sich eine Zigarre aus der Kiste, die
mitten vor ihm stand, herausnahm, sie interessiert herumdrehte
und gleichzeitig genervt zu sein schien.
Eine Auskunft wollte diese Frau & Tante über einen dieser
Schüler, welche ihn in ihrer Renitenz nichts als anwiderten, diese
ekelhaften, depperten „Pubertierer“, wie er sie bei sich nannte,
diese Hormonpatzen, diese verzogenen Laffen.
Ach, wie er sie hasste & verachtete, diese Rangen, und jetzt war er
wieder einmal in der Lage, über so einen reden zu müssen, als
hätte er nichts Besseres zu tun, als hätte er dafür studiert, als
würde er dafür bezahlt! Am liebsten hätte er ihr einfach die
Wahrheit ins Gesicht geschleudert, damit wenigstens eine mal
kapierte, worum es ging und wie jede Mühe, solange sie so waren,
die Burschen, vergeblich war. Nichts war zu machen, das wusste
er im Schlaf, hätte es in Bewusstlosigkeit & Ewigkeit nicht
462
vergessen können.
Lange schon war sein Verständnis erschöpft für derlei Nieten, im
Grunde hatte er sie nie mögen, doch jedes Jahr kamen sie aufs
Neue daher, entwickelten sich früher oder später größtenteils in
diese Richtung.
Die nettesten Jungen waren auf einmal so unausstehlich wie
hässlich. Sobald sie sich in dieser Art präsentierten, verlor er das
Interesse an ihnen, gab seinen Lehrerkollegen bei jeder
Gelegenheit die schroffe Antwort, ihn damit in Ruhe zu lassen,
erlaubte ihnen beinah wortlos so gut wie jede Methode, die ihnen
einfiel, gegen diese Schüler anzuwenden, um mit ihnen fertig zu
werden.
Er selbst war ein Herr der alten, der ganz alten Schule, streng von
fremden Menschen und der Gesellschaft erzogen, aus einfachsten
Verhältnissen stammend, tiefreligiös, ohne Verständnis für
Eigenmächtigkeiten, ein Verehrer des absoluten Gehorsams.
Da, wo er herkam, hatte es keinen wie ihn gegeben, nur er hatte es
geschafft, aus dem Stall, in den er hineingeboren worden war,
herauszukommen, hatte für seine Ausbildung einst jede Arbeit
verrichtet, jede Demütigung hingenommen, jede Härte ertragen,
hatte in Buden gehaust, gehungert, gefroren, gedarbt. Ihm konnte
niemand etwas vormachen, er war die falsche Adresse für
Jammereien, für Weichlichkeiten, für den Mütter-, Tanten-,
Weiberkram, für die endlosen Diskussionen über die angeblichen
Nöte der Pubertät, ein Wort übrigens, das es in seiner Jugend nicht
gegeben hatte. Jetzt referierten sie bereits in der Pädagogik, auf
Fortbildungstagungen, zu denen man heutzutage als Direktor
eines Gymnasiums extra nach Stockholm reisen musste, über
dieses Wort, diesen Zustand, als hätte es nicht jeder durchgemacht
und zu unterdrücken gehabt, egal, wie es ihm dabei ergangen war.
Für ihn und viele andere, die es zu etwas gebracht hatten, hatte es
den Luxus einer eigenen Meinung, das Ausleben eines gewissen
Hormonüberschusses nicht gegeben, nicht geben dürfen, nicht für
sie und nicht für ihre Vorfahren, soweit man zurückdenken
463
konnte. Schluss aus. Amen. Diese modernen Ideen hielt er für
Humbug, Rosstäuscherei, für was auch immer, hörte sich die
Vorträge zwar pflichtschuldig an, gönnte sich dann aber ein
üppiges Abendessen, das einzige, worauf er sich freute in diesem
Zusammenhang, mit einer guten Flasche Wein, zusammen mit
einigen anderen Kollegen vor der Rückfahrt nach Uppsala und
ließ die neuen Informationen & Erscheinungen in Stockholm
zurück wie einen alten, schon schäbigen Regenschirm, den man
absichtlich vergisst.
Nach diesen Gedanken & Überlegungen holt er mit einer
schlampigen, etwas herablassenden Handbewegung, einem beinah
unmerklichen & nebensächlichen Lächeln Maries Erlaubnis ein,
in ihrer, einer Dame Gegenwart, rauchen zu dürfen.
Obwohl sie keine Reaktion zeigt, was ihn umso mehr verstimmt,
zündet er in einem längeren Ritual umständlich & langsam, als
wäre es die wichtigste Sache der Welt, sein Räucherwerk an. Paff,
paff ........ .
Mit einem silbernen Schneidegerät kappt er den Verschluss,
zündet die Zigarre mit einem langen Streichholz an, denn alles
liegt am Tablett bereit wie vor einem Opferaltar, sofort glüht die
Zigarre auf, intensive Rauchentwicklung, das Streichholz wird
ausgeblasen, landet nur geringfügig angekohlt in einer silbernen
Schale, und bald liegen zwischen ihnen grauweiße Wolken und
ein scharfer Geruch. Nicht wirklich unangenehm, denkt sogar
Marie, die für derlei männliche Rituale eigentlich nichts übrig hat,
dennoch findet sie es in einer Weise schick, fast verführerisch, auf
jeden Fall zutiefst gebieterisch.
Weiters genehmigt er sich einen weit in die Ferne schauenden, fast
entrückten Blick, bevor er beiläufig fortfährt:
Mein liebes Fräulein Goldmann! Ihr Neffe ist doch nicht der
einzige, der nicht auf diese Schule gehört, verstehen Sie das
nicht? So was kommt in den besten Familien vor.
Marie blieb fast das Herz stehen. Sie spürte, wie ihr plötzlich
schlecht wurde, sah sich außerstande zu sprechen, zu atmen,
464
muss, wie sie später erzählte, mit offenem Mund und starrenden
Augen vor dem Direktor gesessen haben. Sie konnte auch nicht
nachdenken, kämpfte nur noch mit den Tränen, einem Schmerz,
welcher ihr im Halse steckte, sich im Mund & Rachen, in der
Nase breit machte, so, als müsste sie diese unfassbare
Offenbarung erst einmal hinunterschlucken, was ihr aber nicht
gelingen wollte.
Was bedeutete dieser Satz überhaupt? Sie war doch nur
gekommen, um sich die Versicherung abzuholen, dass mit
Alexander alles zum Besten stand, war nicht vorbereitet auf einen
Schicksalsschlag dieser Größenordnung.
Jetzt aber sah es so aus, als sei es höchste Zeit gewesen, in der
Direktion zu erscheinen, als wäre ihr in der Abwesenheit von
Alexanders Vater einiges entglitten. Vor ihr tauchte das
Schreckenswort „Schuld“ auf, Schuld, ja, das war ihre Schuld, sie
hatte bereits von Anfang an zu wenig aufgepasst, ihre
Wahrnehmung nicht überprüft, war nachlässig & leichtfertig
geworden, hatte die, ihr anvertraute Aufgabe unterschätzt,
Alexander vertraut & geglaubt, doch ein wirkliches Schulproblem
war außerhalb ihrer Vorstellung gelegen.
Das, das .........., das darf doch nicht wahr sein, stotterte sie
endlich, wunderte sich noch, wie sie wenigstens diesen geistlosen
Satz herausbrachte.
Nicht wahr sein? Was darf nicht wahr sein, mein liebes Fräulein?
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, oder heißt es
umgekehrt?
Es ärgerte sie seine witzelnde Anrede. Was hieß hier „mein liebes
Fräulein“? Er hielt sich für was Besseres, für einen Mann, für
ihren Vorgesetzten, der es sich leisten konnte, mit ihr zu reden wie
mit einem Dienstmädchen. Fast hätte sie ihn darauf aufmerksam
gemacht und sich darüber mokiert, doch, lieber wollte sie es über
sich ergehen lassen anstatt Alexander womöglich noch mehr zu
465
schaden.
Wie meinen Sie das, Herr Kollege? Er ist ein ausnehmend kluger
Junge, hatte bis jetzt die besten Zeugnisse, hat brav gelernt,
immer ganz allein, tat sich leicht in allem.
Ja - tat, hatte, war! Sie sagen es selber, es ist vorbei. Das alles
war vielleicht einmal - irgendwann in der Vergangenheit, wenn
überhaupt.
Auch muss man wissen, dass die Schulen nicht alle gleich sind.
Dort und da auf dem Land nimmt man es nicht so genau. Aber wir
in Uppsala sind eine traditionelle, eine ehrwürdige Schul- und
Universitätsstadt. Da kann es auch mal ein böses Erwachen
geben. Das ist schon manchem passiert, glauben Sie mir, mein
liebes Fräulein Goldmann! Die Herrschaften wähnen sich oft als
etwas Besseres als sie tatsächlich sind, das ist immerhin die
leichteste und am meisten verbreitete Form des Selbstbetrugs, so
mancher Lebenslüge, aber so leicht geht das nicht.
Man kann gegen das Schulsystem sicher einiges sagen, aber für
eines ist es gut, es trennt den Weizen von der Spreu, es zeigt, wer
was kann und wer nicht, irgendwann, glauben Sie mir, auch wenn
es länger dauern kann, irgendwann kommt es an den Tag. Ginge
es nach Müttern und Großmüttern wären alle Kinder geborene
Genies und wir Lehrer allesamt unfähig, diese Genialität zu
erkennen.
Wir hier haben nur die besten Lehrer, unser Haus zählt zu den
angesehensten Anstalten des ganzen Königreiches. Wir haben
Prinzen und Prinzessinnen unterrichtet, und selbst sie mussten
sich unterordnen, kamen hierher, um es zu lernen. Ich will Ihnen
etwas zeigen.
Er zog eine Mappe aus einer der Schubladen, schlug sie auf,
entnahm eine Liste mit Alexanders Noten.
Hier haben Sie die Zensuren von Alexander Sommerfeld, er steht
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in fast allen Fächern auf Nicht genügend, wie Sie sehen. Wenn er
nicht freiwillig geht, muss er auf jeden Fall die Klasse
wiederholen. Und noch etwas, richten Sie seinem Vater aus, er
möge möglichst sofort bei mir vorsprechen. Es ist nicht unsere
Gepflogenheit an dritte Auskunft zu geben. So gesehen, habe ich
bereits viel zu viel gesagt. Aber immerhin sind wir Kollegen, und
ich bin Ihnen daher entgegen gekommen.
Mit diesen Worten erhob er sich, eine ziemlich spontane Geste,
wie es Marie vorkam, womit er ihr zu verstehen gab, dass er das
Gespräch für beendet betrachtete. Sicher war ihm die Tatsache,
mit einer Frau, eigentlich einem Fräulein, so Schwerwiegendes zu
besprechen, schon schwer genug gefallen. Der abrupte Abbruch,
der keine Antwort, keine Frage von Marie mehr zuließ, keine
Hilfe anbot, keinen Trost beinhaltete, keine Lösung in Aussicht
stellte, war besonders verletzend.
Blass & niedergeschlagen verließ Marie die Direktionskanzlei,
ging wortlos, gedankenverloren an anderen wartenden Eltern
vorüber, nahm sie nur als Ganzes, nicht im einzelnen wahr.
Später erinnerte sie sich daran, dass es ihr damals ein Trost
gewesen war, wenigstens nicht die einzige mit Schulsorgen zu
sein.
Lange dachte sie darüber nach, ging ziellos durch Uppsala. Nicht
nur ihre Gefühle, sondern auch ihr Verstand waren völlig
durcheinander, sie versuchte, Klarheit zu finden, aber ihr Kopf
war dumm & leer, das Denken fiel ihr schwer, sie zitterte, weinte.
Das Kind ihrer toten Schwester machte ihr und überhaupt
jemandem zum ersten Mal begründete Sorgen, jetzt aber trug sie
die Verantwortung für Rahels Sohn, sie allein.
Gleich, wenn sie heimkam, wollte sie mit dem Jungen reden, ihn
auf sein Versagen ansprechen, dann wieder tat er ihr in der Seele
leid, und als sie nach langen hin & her das Haus betrat, in seinem
Zimmer oben nur das Nachtlicht brennen sah, war es ihr nicht
möglich, hinaufzugehen & anzuklopfen.
Als sie später beim gemeinsamen Abendmahl saßen, für das
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Marie sich besondere Mühe gegeben hatte, erkannte Alexander
sofort, dass etwas nicht stimmte.
Tante Marie, was hast du? Sie konnte nicht antworten.
Warst du in meiner Schule?
Ja.
Haben sie über mich geschimpft?
Der Direktor hat mich über den Stand der Dinge informiert.
Hab’ ich mir gedacht. Gut, dass es vorüber ist.
Alexander, was machen wir denn jetzt?
Weiß ich nicht. Bist du mir auch böse?
Nein, natürlich nicht. Aber ich möchte dir gerne helfen, und ich
muss es deinem Vater mitteilen. Ich bin für dich verantwortlich,
dafür bin ich ja da, verstehst du?
Ja, aber ich kann nicht anders. Ich bin so traurig. Ich glaube,
mein Herz ist zerbrochen.
Alexander, Schätzchen, Liebes, Junge, mein großer, kleiner, armer,
gescheiter, dummer Bub!
Sie stand auf, umarmte ihn von hinten und flüsterte ihm ins Ohr
die Worte, die er nie vergessen würde:
Ich werde immer zu dir halten, egal, was geschieht.
Wirklich? Danke, ich danke dir viel tausendmal.
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Wichtig ist, dass du wieder ganz gesund wirst, deine Melancholie
überwindest. Du wiederholst das Jahr, das macht nichts. Ein Jahr
ist nichts auf ein ganzes Leben gerechnet. Ich werde deinen Vater
verständigen und die Erlaubnis einholen, dich den Rest des Jahres
von der Schule zu nehmen, damit du dich erholen kannst. In den
Sommerferien können wir gemeinsam verreisen, alles vergessen
und im Herbst neu anfangen.
Und so geschah es.
Im Herbst 1951 gingen sein Vater, Tante Marie und er auf ihre
erste gemeinsame Reise. Diese führte sie nach Frankreich, wo
Marie ihr Französisch einsetzen konnte, ihnen jeden Weg ebnete,
in den beiden ihre größten Bewunderer fand, obwohl sie überall,
wo sie hinkamen, allein schon durch Maries Schönheit und erst
recht durch ihre Sprachgewandtheit Aufsehen erregten.
Da sie & sein Vater für ein Paar gehalten wurden, gab es, außer
heimlichen Blicken, keine Annäherungsversuche fremder Männer.
Alexander entging es nicht, dass Marie in seinen Vater verliebt
war. Doch sie schlief immer allein in ihrem Einzelzimmer, was ja
auch anders gar nicht möglich gewesen wäre, hielt respektvolle
Distanz zu Herrn Sommerfeld, während sie beide jeweils, wie in
alten Tagen, ein großes Doppelbett in einem eigenen Zimmer
belegten. Freilich war ihm nicht wirklich bewusst, wie sehr Marie
unter diesem Zustand litt, sie Tag & Nacht, jeden Augenblick, auf
ein winziges Zeichen hoffte, während sein Vater nicht im
geringsten eine Veranlassung sah, seine Schwägerin als junge Frau
wahrzunehmen, die vielleicht ganz natürliche Bedürfnisse hatte,
sich nach Liebe & Zärtlichkeit sehnen könnte. Selbst wenn er
soweit gedacht haben sollte, meinte er wohl, dafür sei er nicht
zuständig oder es gehöre sich nicht. Marie müsse einen anderen,
jüngeren Mann finden, nicht jemanden wie ihn, sondern einen
ihrer Wahl, ihres Alters, ihrer Generation. Vielleicht wollte er sie
auch nicht in die Verlegenheit bringen, sich ihm verpflichtet zu
469
fühlen, ihre Freiheit aufzugeben, ihre Jugend unnötig früh zu
beenden. Wie dem auch war, in Wahrheit bewunderte er sie, ihre
Schönheit, ihre Gewandtheit & Klugheit, denn sie erinnerte ihn
schmerzlich an Rahel und daran, wie auch sie genauso gewesen
war.
Sein Vater machte ihm kein einziges Mal Vorwürfe wegen seines
Versagens in der Schule, denn er verstand ihn, vertraute ihm, ja
achtete ihn dafür. Sein Sohn gehörte nicht zu jenen, die ein
solches Ereignis einfach wegsteckten, den Ort wechselten und zur
Tagesordnung übergingen.
Es war nach all den Verlusten, die hinter ihm lagen, der bisher
vielleicht schwerste gewesen. Mit seinen sechzehn Jahren hatte er
bereits seine erste Liebe auf die grausamste Weise verloren. Sein
Vater tat alles zu seiner Aufheiterung, alles, um ihn vergessen zu
lassen, was ihn bedrückte. Er überschüttete Alexander mit
Aufmerksamkeit, verwöhnte ihn mehr denn je, legte beim Gehen
den Arm um seine Schulter, nahm ihn während des Essens bei der
Hand, streichelte sie, kleidete ihn aufs allerfeinste, bedachte ihn
mit Großzügigkeit & Milde, ließ ihn nicht aus den Augen.
Dieser Sommer sollte in die Familiengeschichte eingehen wie
einst die Reise mit Rahel nach Italien, wo bereits alles, was jetzt
erst geschah, seinen Anfang genommen hatte.
Es war in vieler Hinsicht wie damals, denn Marie konnte in ihrer
Art, die Dinge rasch aufzufassen, täuschend nah an Rahel
herankommen, ja nicht darin nur, sondern in allerkleinsten
Bewegungen & Begebenheiten, die Herr Sommerfeld genau
registrierte, auch wenn Marie keine Ahnung davon hatte, nicht
wusste, wie sehr sie ihn erinnerte, ihn anrührte, ihn auf zärtliche,
träumerische Gedanken kommen ließ.
Auch wenn sie sich äußerlich nicht ähnlich gesehen hatten, so fiel
es Alexanders Vater schwer, nicht in beinah jedem Augenblick an
Rahel zu denken. Bedrückend wurden ihm die Erinnerungen
zuweilen und doch so süß, so heimelig, so allerliebst.
In Marie lebte Rahel quasi fort. Nichts an ihr war ihm wirklich
470
fremd, ja, sie sagte manchmal Dinge, die auch ihre Schwester fast
wortwörtlich geäußert hatte.
Marie war unschuldiger als Rahel. Ein jeder konnte leicht
erkennen, dass sie noch mit keinem Mann näher bekannt
geworden war.
Rahel war in diesem Alter anders gewesen, hatte sexuelle
Begierde & Ansprüche gehabt, eine deutliche Vorstellung von
ihrer Zukunft mit Alexander Sommerfeld, stellte sich gegen ihren
Vater, den Rabbiner, was in einer Weise so viel hieß wie gegen
Gott und die Welt, den es war in jenen Tagen weder üblich noch
vorstellbar, als Frau eigene Wünsche zu äußern.
Ohnehin durfte Rahel entgegen den damaligen Gepflogenheit im
Judentum wie in allgemeinen, studieren, fort von daheim, sich
allein in der Öffentlichkeit bewegen, was sie weidlich ausnutzte
und in Form einer geradezu skandalösen Beziehung mit Alexander
Sommerfeld ausgiebig genoss.
Marie hingegen führte sich tadellos auf, fungierte als
Gouvernante, Gesellschafterin, Übersetzerin, war unendlich
dankbar für diese schöne, große Reise, auf der sie wertvolle
Erfahrung als Französischlehrerin sammeln konnte. Nie hätte sie
sich selbst etwas dergleichen leisten können.
Fast mit Ehrfurcht nahm sie dieses Geschenk entgegen. Ihre Liebe
zu Herrn Sommerfeld, ihrem Schwager, hielt sie geheim,
verschlossen in ihrem Herzen, ihrem Sinn. Nachts schmachtete
sie, träumte von ihm, aber das waren derweil Hirngespinste. Er
schlief auf der anderen Seite der Wand, manchmal hörte sie die
beiden lachen, rumoren oder zu später Stunde noch weggehen.
Nie hätte sie, wie ihre große Schwester, gewagt, an mehr zu
denken, zu glauben, schon gar nicht initiativ zu werden.
Ja, Rahel war verwegen gewesen, dies hatte sie ihr mehr als
einmal verdeutlicht. Jetzt dachte sie wieder daran, was sie damals
in den Nächten in Växjö alles geredet hatten, und noch heute nach
all den Jahren, in denen Rahels & Alexanders Sohn, der aus dieser
Verwegenheit hervorgegangen war, heranwuchs, sein Geburtstag 471
zugleich Rahels Sterbetag - wie der junge Alexander alles, alles
in Erinnerung brachte und noch heute, da ihr derselbe Mann, von
dem Rahel gesprochen hatte, gegenübersaß, es ihr nicht möglich
war, ihm ihre tiefe Liebe zu gestehen.
Wenn er nicht selbst auf sie zukäme, sie ihm nichts bedeutete, er
weiterhin nur für Rahel leben sollte oder wollte; sie könnte den
ersten Schritt nicht tun, und schon jetzt ahnte & fürchtete sie die
Tragik, die damit für sie verbunden war.
So kehrten sie nach dem französischen Sommer zurück nach
Schweden. Es war zwischen ihr und ihrem Schwager zu keiner
Annäherung gekommen, zu nichts, was über die üblichen
Höflichkeiten & Gepflogenheiten hinausging.
Freilich war er großzügig & zuvorkommend ihr gegenüber, sie
hatten Spaß gehabt, Wein getrunken, waren redselig gewesen,
doch am Ende eines ausgelassenen Spaziergangs etwa, am Ende
eines unterhaltsamen Abends, am Ende von allem, was immer es
war, am Ende küsste Herr Sommerfeld ihr nur die Hand, brachte
sie bis vor ihre Zimmertür, verabschiedete sich mit einer
Verbeugung und ging mit Alexander.
Marie unterrichtete wieder, Alexander begann mit der
Wiederholung seines verpatzten Schuljahres, Sommerfeld ging
seinen gewohnten Geschäften nach, fuhr fort, Vermögen
anzuhäufen, zu sichern, Alexanders Erbe zu verwalten.
Der junge Alexander hatte sich erholt, sein Schmerz war nicht
mehr frisch, wenn auch unvergessen. Es gelang ihm nun langsam
wieder, sich auf das Lernen zu konzentrieren, seinen Geist zu
sammeln.
In diesem vergangenen Jahr, im vergangenen Sommer hatte er
etwas Klarheit gewonnen über sich, die Liebe, die Zukunft, war
vielleicht erwachsen geworden. Nicht mehr & nicht weniger als
dies, dachte er bei sich selbst, ich bin erwachsen geworden.
Sein Zusammenleben mit Marie gestaltete sich nicht nur
erträglich, sondern erfreulich. Er hatte sie jetzt privat & einfach
erlebt, losgelöst von der Verantwortung, die sie trug für und mit
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ihm, ihren Schmerz gespürt, fühlte sich zu ihr hingezogen,
bewunderte sie für ihre Haltung, ihre Beherrschung, ihre
Sprachkunst. Es fiel leicht, sie zu lieben; ihre Schönheit, ihr
Benehmen, ihre Anständigkeit, alles an ihr nahm einen für sie ein.
Es begannen die Jahre, in denen sie miteinander nicht nur lebten,
sondern auch gemeinsam arbeiteten, Bücher lasen, ins Konzert,
ins Kino, ins Theater gingen, lange Abende miteinander
verbrachten, er mit ihr Französischhefte korrigieren durfte,
Aufsätze lesen, viel von ihr lernte, wo sie Menüpläne
zusammenstellten, sie gemeinsam kochten, probierten, einander
bei allen Vorbereitungen halfen.
Wenn Herr Sommerfeld von der einen oder anderen Reise
zurückkehrte, fühlte er sich zuweilen fehl am Platze.
Er wurde das Gefühl nicht los, in eine äußerst private Sphäre
einzudringen und fremdes Glück zu stören, doch insgeheim war er
voller Freude darüber, legte sich zufrieden zu Bett, reiste
erleichtert wieder ab, hatte gesehen, wie sehr Alexander & Marie
inzwischen zusammengewachsen waren, zusammengehörten,
einander verstanden & ergänzten, er sich keine Sorgen zu machen
brauchte, kein schlechtes Gewissen, sondern jederzeit beruhigt
gehen & wiederkommen konnte.
Beide wussten nichts mehr Rechtes mit ihm anzufangen, zeigten
kaum Interesse an seinen Erfolgen & Misserfolgen. Zwar
empfingen sie ihn überaus herzlich, mit aufrichtiger Freude,
kochten für ihn, umsorgten, verwöhnten ihn, doch sie hatten sich
ein eigenes Leben aufgebaut, waren eine Art Ehepaar geworden,
das sich selbst genügte. Herr Sommerfeld war für sie beide fast so
etwas wie eine Aufgabenstellung, die sie lösen mussten,
geworden, auf die Art wie, was mache ich mit einem plötzlich
auftauchenden Gast? Oder: ein warmer Empfang an einem
bitterkalten Winterabend - wie geht es am schnellsten? So oder so
ähnlich jedenfalls kam es Alexanders Vater manchmal vor.
Im Stillen war Herr Sommerfeld froh über diese Entwicklung,
zumal er feststellte, wie Alexander von der Schule wieder seine
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gewohnten Noten heimbrachte, ohne größere Mühe vorankam,
Zeit & Freude für die Schönen Künste aufbrachte, mit Marie das
kulturelle Leben in der Stadt genoss und wie bei ihm zu Hause
trotz seiner Abwesenheit alles zum Besten stand. Er schmunzelte
über die hektische Arbeitsweise, die sie beide in solchen
Situationen an den Tag legten, wie selbst Alexander in einer
Schürze herumlief, geschäftig in der Küche, in der Speisekammer
verschwand, während er als Gast sie beide beschwor, sich doch
keine Umstände zu machen. Im Handumdrehen war ein hurtiges,
überaus köstliches, ja sogar heißes, dampfendes Abendessen
herbeigezaubert, Wein auf den Tisch gebracht, Kerzen entzündet
und alles zum Feinsten bestellt. Dann das Gejammer darüber, dass
er nicht angerufen hatte, sie nichts hatten vorbereiten können, man
deswegen in Verlegenheit war und so weiter und so fort. Genauso
musste es bei langjährigen Ehepaaren zugehen, dachte der Vater
dann und freute sich über das Glück seines Sohnes und die
Verlässlichkeit Maries, über die ganze Idylle, die sich ihm darbot,
wenn er von weit her nach Hause kam. Es hätte nicht viel gefehlt,
und er hätte sich einsam gefühlt, überflüssig & lästig, wie ein
Störenfried beinah.
Etwas enttäuscht & erleichtert zugleich reiste er wieder ab, froh,
dass alles gut geworden war, traurig, weil man ihn nicht brauchte.
Es konnte geschehen, dass Tränen der Freude wie Tränen der
Wehmut, wenn er dann allein im Zug, im Wagen saß, über seine
Wangen rollten, während er die Bilder des Glücks vorüberziehen
ließ. Ach, was war es doch Seltsames mit dem Leben, Freude &
Leid, Glück & Unglück lagen so nah beieinander, dass er sie fast
nicht zu unterscheiden vermochte.
Dass diese frühe gemeinsame Zeit von Marie & Alexander ein
Omen sein könnte, ein Entwurf, eine Generalprobe für das, was
so viele Jahre später seine Fortsetzung finden würde, wenn auch
unter ganz anderen Umständen, darauf wäre niemand gekommen,
wohl nicht einmal die beiden selbst.
Alexander wurde, wie konnte es anders ein, zum Schwarm von
474
Maries Schülerinnen, denn nicht selten holte er sie von der Schule
ab, brachte ihr etwas vorbei, wurde mit ihr zusammen beobachtet,
beim Einkaufen, Spazierengehen, Eislaufen, auf Veranstaltungen.
Eines Tages jedoch geschah es, dass Marie in die Direktion
gerufen wurde und über ihre Lebensumstände Auskunft zu geben
hatte.
Immerhin unterrichtete sie an einem privaten, religiös orientierten
Mädchenlyzeum, dessen Ruf keine halben oder fadenscheinigen
Verhältnisse duldete.
Fräulein Kollegin Goldmann, wie es aussieht, wie man hören
muss, leben Sie nicht gerade in geordneter Weise mit einem Mann
zusammen?
Wissen Sie nicht, dass Sie entweder ledig oder verheiratet sein
müssen und über jede Änderung Meldung zu erstatten haben?
Gerade wie bei Alexanders Direktor vor nicht allzu langer Zeit,
fiel ihr buchstäblich das Herz in die Schuhe. Diesmal saß ihr zwar
eine Frau gegenüber, doch dies erleichterte die Sache keineswegs.
Als sie sich gefangen hatte, versuchte sie so gelassen wie möglich
zu sagen:
Wenn Sie auf Herrn Sommerfeld, meinen Schwager, anspielen,
kann Ihnen sagen, ich beaufsichtige und betreue an meiner
verstorbenen Schwester statt ihren Sohn, da Herr Sommerfeld
beruflich viel unterwegs ist und es die Umstände nun endlich
erlauben, mich um den jungen Alexander, meinen Neffen, zu
kümmern.
Danach habe ich nicht gefragt, sondern vielmehr danach, welches
Verhältnis Sie zu Herrn Sommerfeld haben. Wenn es stimmt, was
mir zu Ohren gekommen ist, könnten Sie auf keinen Fall an dieser
Schule bleiben.
Darf man vielleicht erfahren, was Ihnen und vor allem von wem
zu Ohren gekommen ist?
475
Von wem nicht, sehr wohl aber, was, doch das dürften Sie längst
selber wissen!
Das also war es. Es ging um die wilde Ehe, die sie in den Augen
und in der Phantasie der anderen mit Alexanders Vater führte,
auch wenn es mitnichten so war. Sie hatte also unter Beobachtung
gestanden die ganze schöne, glückliche Zeit, nicht bemerkt oder
bemerken wollen, wie sehr sie beneidet wurde von so gut wie
allen, die sich leid sahen, die ihr dieses besondere Glück
missgönnten. Was für eine Hybris! Gott strafte sie, Gott drohte ihr
in Gestalt der Gesellschaft, in Gestalt ihrer Vorgesetzten sogar,
ganz konkret und ganz persönlich.
Ich lebe nicht mit Herrn Sommerfeld zusammen, wir sind nicht
Mann und Frau, wenn Sie das meinen, es ist nur dasselbe Haus.
Ich bin die Tante seines Sohnes, des Sohnes meiner Schwester
Rahel, die bei der Geburt ihres ersten, dieses Kindes gestorben
ist.
Nun musste sie sich rechtfertigen, sogar ihre Liebe verraten, denn
tatsächlich wäre ihr nichts lieber gewesen, als diesen stillen feinen
Mann, von dem sie so viel wusste, den sie verehrte & bewunderte,
zu liebkosen, zu heiraten, mit ihm leben zu dürfen auf ganz legale
Weise.
Doch er machte keine Anstalten, nicht den geringsten Versuch, ihr
näher zu kommen, während doch ihr Herz Tag & Nacht für ihn
schlug. Im Augenblick aber verleugnete sie ihn, ihre Verliebtheit,
ihr Geheimnis, platzierte ihn an einen weit entfernten Ort, dichtete
ihm andere Beziehungen an, stellte sich als seine Haushälterin &
Kinderfrau dar.
Als sie dies irgendwie zum Ausdruck gebracht hatte, ohne ihre
wahren Gefühle zu zeigen, so hoffte sie wenigstens, da erhielt sie
den zweiten Schlag ins Gesicht, dieser war noch infamer als der
erste.
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Und wie steht es mit dem Jungen?
Oh, es geht ihm wieder gut, er schreibt die besten Noten, bringt
uns nur Freude ins Haus.
Sie scheinen jede Frage misszuverstehen. Ich fragte Sie nach dem
ganz persönlichen Verhältnis zum jungen Sommerfeld.
Er ist mein Neffe. Meine Schwester starb bei seiner Geburt wie
ich schon gesagt habe. Das ist alles.
Verstehen Sie, ich muss Sie das fragen, es ist auch mir sehr
unangenehm, das dürfen Sie mir glauben, aber gibt es auch zu
ihm keine, wie immer geartete Beziehung, wenn Sie wissen, was
ich meine, können Sie mir das unterschreiben?
Nein, ich weiß überhaupt nicht, was Sie meinen? Auf was für eine
Art von Beziehung, in Gottes Namen!, spielen Sie an?
Na, so etwas wie eine sexuelle Beziehung zum Beispiel?
Marie hätte beinah die Fassung verloren. Sie verstand nichts
mehr, spürte Übelkeit aufsteigen, Brechreiz, Schwindel. Was
wurde da über sie geredet, gedacht? Wie konnte es soweit
kommen? Wer setzte solche Fragen, solche Verdächtigungen oder
gar Anschuldigungen in die Welt? Jetzt erst sah sie Alexander zum
ersten Mal als jungen und vielleicht für andere sogar bereits
begehrenswerten jungen Mann. Es fiel ihr plötzlich wie Schuppen
von den Augen, ja, es war, als zöge man einen Vorhang beiseite.
Wie hatte sie das übersehen können? Für sie war er ihr Neffe, ihr
Kind, das Kind ihrer Schwester gewesen, ihre Familie. Es war ihr
nicht möglich, etwas anderes in ihm zu sehen, auch jetzt nicht. Sie
war doch seine Tante. Tante Marie, wie er sie liebevoll nannte,
477
worauf sie so stolz war, auch wenn sie versuchte, es nicht zu
zeigen. Es war ihr gelungen, einen Faden zu ihm zu finden, eine
persönliche Bindung aufzubauen. Wessen man sie verdächtigte,
die Art wie man sie fragte, deutete doch darauf hin, dass man ihr
Inzest unterstellte. Was fiel den Leuten ein? Was erlaubten sie
sich? Wie konnten sie sich das trauen?
Es gibt Gerüchte, fuhr die andere fort, denen wir nachgehen
müssen, wir sehen uns unangenehmen Fragen seitens der Eltern
unserer Schülerinnen ausgesetzt, Ich bitte Sie wirklich, Fräulein
Kollegin, mich zu verstehen und nicht zuletzt um Ihrer selbst
willen aufrichtig zu sein, Verantwortung zu übernehmen, ganz
persönlich Ihr Gewissen zu erforschen, um mit sich ins reine zu
kommen und letztendlich die Konsequenzen zu ziehen. Niemand
zahlt das hohe Schulgeld, wenn er nicht sicher sein kann, dafür
das beste für sein Kind zu bekommen. Es geht um den Ruf einer
religiös orientierten und hochangesehenen Mädchenschule, im
letzten um Ihre wie auch meine Existenz. Die Zöglinge kommen
aus dem ganzen Land zu uns, ihre Eltern sind Pastoren, Ärzte,
Geschäftsleute, Beamte, aber auch einfache Bürger, die sich die
Ausbildung ihrer Kinder mitunter vom Munde absparen. Es darf
nicht den leisesten Zweifel an der Integrität unserer Lehrpersonen
geben, begreifen Sie das?
Das Verhör, wie sie es später nannte, ging endlich damit zu Ende,
dass Marie zwei Texte unterzeichnete, welche die Direktorin der
herbeigerufenen Sekretärin in die Maschine diktierte. Sogar sie
erfuhr nun brühwarm diese unsagbare Geschichte. Sobald sie
mitbekam, worum es ging, lief sie bis zu den Ohren rot an, starrte
auf das Papier, schien den Wörtern, die sie hörte, nicht zu trauen,
verschrieb sich mehrmals, musste daher öfters eine neue Seite
einspannen. Man war nicht einmal um die geringste Diskretion
bemüht, eine Taktlosigkeit seitens der Direktorin, welche die paar
Zeilen mit Leichtigkeit selbst hätte tippen können, sodass es
wenigstens unter vier Augen geblieben wäre. Gewiss hatte sie
diese Demütigung beabsichtigt, indem sie tat, als wäre es eine
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selbstverständliche amtliche Handlung oder eine schriftliche &
hochoffizielle Gesprächsnotiz für die Akten der Schule. In
Wahrheit unterschrieb Marie eine Erklärung, wonach sie lediglich
als Dienstmagd im Hause Sommerfeld angestellt war, doch
wenigstens, so dachte sie, war nicht von ihr verlangt worden, eine
Unterschrift ihres „Dienstherrn“ beizuschaffen.
Marie überflog das Papier, denn während des Diktats des Textes
durch ihre Vorgesetzte, hatte sie so gut wie nichts verstanden, und
so unterfertigte sie, um an der Schule weiter unterrichten zu
dürfen, die, ihr vorgelegten Zeilen. Sie musste durch ihre
Unterschrift bestätigen, dass sie zu beiden Sommerfelds keine wie
immer geartete unsittliche Beziehung unterhielt, sondern lediglich
gegen Bezahlung den Haushalt führte, den Jugendlichen
beaufsichtigte & bediente. Danach erhob Marie sich zitternd,
verließ ohne ein weiteres Wort die Direktion. Man rief ihr noch
etwas hinterher, sie hörte es nicht mehr. Später meinte sie, es wäre
um eine Durchschrift gegangen.
Draußen vor dem Schultor wartete Alexander, der nichts wusste
von dem, was vorgefallen war.
Warum bist du so bleich, Tante Marie, geht es dir nicht gut? Ist
etwas passiert?
Sie war nicht sofort imstande, zu reden. Er knöpfte ihr den Mantel
zu, schlang ihr den Schal, der ganz gegen ihre Art aus ihrer Tasche
hing, um den Hals, nahm ihr Schultasche & Handtasche ab, stellte
alles in den Schnee, umarmte sie.
Am besten, wir gehen jetzt eislaufen, sagte er, das wird dich
aufmuntern.
Sie wurden indes beobachtet, aus der Direktion, aus anderen
Fenstern heraus, das spürte Marie, doch ergab sie sich einfach
dem Halt, den Alexander ihr bot und den sie jetzt dringend
brauchte, selbst um den Preis, erneut unter Verdacht zu geraten. Er
hielt sie ganz fest, fragte nicht weiter, doch spürte er wie schlaff &
schwach sie war und dass etwas ganz Schwerwiegendes
geschehen sein musste.
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Wie sein Vater, konnte er einem mit Stille Sicherheit geben, das
ganze Verständnis, dessen er fähig war, damit zum Ausdruck
bringen. Sie genoss seine Kraft, seine Zärtlichkeit und das unter
den Augen der Lehrerinnen, die Marie & Alexander in dieser
Umarmung durch die Scheiben über ihnen, sehen konnten. War es
nicht das Gegenteil von dem, was sie gerade unterschrieben hatte,
sah es etwa nicht genauso aus?
Später zu Hause wollte sie ihm erklären, was vorgefallen war,
doch, als er sah, wie schwer es ihr fiel, meinte er:
Ich kann mir ungefähr vorstellen, worum es ging. Sie beneiden
dich und mich und meinen Vater, uns alle zusammen.
Wir wissen, was wir einander bedeuten, sie denken und reden nur
schlecht, genau wie bei mir und Astrid damals. Weil sie es sich
nicht anders erklären können. Vergessen wir sie. Lassen wir sie
nicht herein in unser Haus, in unsere Gedanken, in unser Leben.
Es geht sie nichts an. Es gehört nur uns.
Lade niemanden von der Schule mehr ein. Sie spionieren dich aus.
Zeigen wir ihnen nicht mehr, wie schön es bei uns ist. Versprich es
mir! Sie können es nicht verstehen, sie sind nicht glücklich genug,
nicht glücklich wie wir. Sie sind nur traurig, nur neidisch.
Aber Alexander, ich liebe deinen Vater wirklich, ich kann nicht
anders.
Ich weiß.
Bitte, du darfst es ihm nie sagen, hörst du?
Wirklich nicht?
Alexander! Bitte, bitte!
Nein, ich sage nichts. Ich glaube, er lebt in einem Traum mit
meiner Mutter, er ist in ihm verloren gegangen, verstehst du?
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Vielleicht ist er nicht einmal mehr ganz normal. Vielleicht sieht
oder glaubt er nichts anderes mehr.
Alexanders damalige Ahnung sollte sich viel später bestätigen,
jetzt war es nur ein Verdacht, ein Trost.
So vergingen die Jahre, die sie beide in ihrer Weise genossen.
Wenn sein Vater zurückkam, verwöhnten sie ihn nach Kräften,
sodass er sich zuweilen selber wie ein Kranker vorkam und
einmal sogar danach fragte.
Auch er brachte seine ganze Liebe mit, die väterliche für
Alexander, die besondere für Marie, nannte sie beide seine
Heimat, seine Freude, seinen Schatz, seinen Hausaltar, seine
Familie, hinterließ ihnen reichlich Geld, wenn er ging, fragte nie
nach dessen Verbleib, mokierte sich über nichts, befand alles für
rechtens & gut.
In der Schule indes war Marie eine strenge Lehrerin, sie
unterrichtete mit Französisch & Hauswirtschaft zwei zutiefst
bürgerliche Fächer.
Sie saß oft bis spät in die Nacht über den Heften, stöhnte,
korrigierte, ärgerte sich, machte Notizen, lächelte, wenn etwas gut
gemacht war, doch oft & oft musste sie zufrieden sein mit den
bescheidenen Ergebnissen, die ihr vorlagen.
Manchmal setzte sich Alexander zu ihr, ermahnte sie, zeitiger zu
Bett zu gehen, es für heute gut sein zu lassen, endlich zu schlafen.
Du wirst alt werden vor der Zeit, Tante Marie, wenn du so
weitermachst, konnte er sagen, komm jetzt, sei vernünftig, du
frierst, bist noch nicht einmal gewaschen!
Ja, Alexander brachte sie manchmal sogar in ihr Zimmer, legte sie
aufs Bett, deckte sie zu, löschte das Licht. Doch ihre Abende
waren auch ausgefüllt mit langen Gesprächen, mit gegenseitigem
Vorlesen, mit Musik. Alexander bekam sein erstes Klavier, nahm
Stunden bei einer Kollegin von Marie.
Sie verlebten vollkommen glückliche Jahre miteinander, bis
Alexander nach Stockholm ging, um Medizin zu studieren.
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Der einzige Wermutstropfen, den es gab, war Maries vergebliche
Liebe zu Alexanders Vater - Alexander dem Älteren.
Alexander den Ersten, den Großen, titulierte sie ihn zuweilen, um
die beiden Alexander zu unterscheiden, und dennoch hätte sie
nicht sagen können, welcher ihr mehr bedeutete, der kleine oder
der große, der alte oder der junge.
Doch auch, als Alexander der Zweite an der Universität studierte,
besuchte Marie ihn so oft es ihr möglich war, in Stockholm, oder
er fuhr übers Wochenende zu ihr, und sie machten es sich so
bequem & fein wie früher, ja es kam sogar vor, dass er auf seinen
Schlittschuhen von Stockholm nach Uppsala reiste, so als wären
sie Niels Holgersons Gänse oder Aladins fliegender Teppich,
etwas, das er später mit seiner jungen Frau Sonja in Erinnerung an
jene Zeit, wiederholen sollte.
Viele Jahre später, wenn Alexander den Schmerz, der ihm
bestimmt war, den Schmerz seines Lebens überstanden haben
wird, wenigstens äußerlich, wird wieder Marie es sein, die wartet,
wartet auf ihn mit treuer Verlässlichkeit, wartet darauf, dass er sie
bittet, bei ihm zu bleiben, zu ihm zu ziehen, bei ihm zu wohnen,
mit ihm zu leben für immer.
Und sie wird da sein, ja, sie wird nichts anderes getan haben, als
diese Stunde abzuwarten, Alexander kommen zu lassen, ihr
Versprechen, immer & immer für ihn da zu sein, einzulösen, ihn
zu empfangen wie ihren eigenen, endlich heimgekehrten Sohn,
um ihn nie wieder herzugeben, nie wieder zu teilen, seine Herrin
wie seine Dienerin zu sein, die einzige Frau seines Hauses zu
werden, allerliebste Tante & Mutter zugleich. Genau wie damals,
und alles, was eine Frau imstande ist, darzustellen, wird sie ihm
sein.
Die Liebe, die sie dem, inzwischen verstorbenen Alexander
Sommerfeld, Alexanders Vater, nicht geben durfte, hatte sie für
seinen Sohn aufgehoben, geläutert, veredelt, gleichsam vergoldet
war sie während dessen langer Abwesenheit in aller Stille auf ihn
übergegangen.
482
So brannte Marie, als er eines Tages bei ihr erschien, sie stand in
Flammen als ganzes, traute ihren Augen & Ohren nicht, konnte
sich nicht satt sehen an Alexander, der sie erschaudern ließ ob der
Ähnlichkeit mit seinem Vater, ob der Größe des Geschehens, ihrer
tiefsten Sehnsucht, die nun in Erfüllung ging.
Sie war bereit, bereit für alles, was es auch wäre, bereit ihr Leben
vollkommen zu ändern, es hatte in einem einzigen Augenblick
seinen Sinn zurückbekommen, ihre Tränen, ihre einsamen Nächte
waren nicht vergeblich gewesen, denn sie, Marie! war es, und nur
sie durfte es sein in aller Welt, niemand sonst. Ihre Träume, ihre
Gebete, ihre geheimsten Wünsche, alles, was sie entbehrt, so heiß,
so innig begehrt hatte, war nicht umsonst gewesen.
Sie, die kinderlos geblieben, deren Jugend vergangen war, ohne
einen einzigen Geliebten in all den Jahren gehabt zu haben, keine
noch so kleine Zerstreuung genossen, sich nur auf ihre Arbeit
konzentriert, in Bescheidenheit von ihrem Lehrerinnengehalt
gelebt hatte, sie war jetzt die Person der Stunde, auf sie kam es
nun an, es hatte keine Vergeblichkeit gehabt mit der Geduld, denn
Alexander, Alexander! Alexander war zurückgekommen - zu ihr!
Doch war diese lange, schier endlose Zeit, nicht einmal das
Schlimmste gewesen, das Schlimmste war, dass sie ihre Jugend
vergangen wähnte, in ihren eigenen Augen alt geworden war, alt
ohne Sinn & Zweck, ohne Freude, ohne Liebe, ohne Zukunft.
Eine Frau, die sich zwar selbst durchbrachte, ihre Arbeit mit
Anstand tat, aber was zählte das schon vor der Gesellschaft, und
was zählte es vor Gott dem Herrn. Niemand fand etwas dabei,
denn für die anderen, die Kolleginnen, die Nachbarn war sie
nichts weiter als ein lediges, alterndes Fräulein, das keinen Mann
gefunden, die Zeit übersehen hatte, eine halt, für die alles so gut
wie zu spät kam. Sie war schließlich nicht die einzige, denn es
kam nicht selten vor, dass gerade Lehrerinnen übrig blieben, sei
es, weil sie nichts außer gescheit waren, ihr Äußeres zu wünschen
übrig ließ, allein in der Stadt lebten, also von niemandem
ausgeführt wurden oder auch, weil sie sich als etwas Besseres
483
vorkamen, nichts für gewöhnliche Männer waren, diese gar
verachteten oder weil sich keiner an sie herantraute. Tausenderlei
Gründe konnte geben, doch für Marie gab es nur den einen: der
Mann, den sie geliebt hatte, war bereits vergeben gewesen, er
hatte nicht genug Gefühl aufgebracht, wenigstens einmal, ein
einziges Mal in ihr nicht seine Schwägerin, sondern eine verliebte
Frau zu sehen.
Sie hätte, das wusste sie, genau so gut nicht existieren können.
Längst hatte sie sich aus allem zurückgezogen, wusste selbst am
besten wie es mit ihr stand, dass sie ihre Zeit vergeudet hatte, ihre
Liebe verschwendet, ihre Schönheit für nichts gewesen war. Sie
war nicht imstande, ihren Stolz zu überwinden, um sich ein
anderes Leben vorzustellen, sich zu öffnen für andere Männer, die
sie gewiss bewundert hatten, begehrt sogar, doch sie zeigte ihnen
nicht das geringste Entgegenkommen. Sie brachte Sommerfeld
nicht aus ihrem Kopf, was wussten die anderen, die einen solchen
Menschen nie gekannt haben, was wussten sie! Auch wollte sie
niemanden unglücklich machen, niemanden mit ihm vergleichen,
an ihm messen, und das hätte sie gewiss eines Tages getan, denn
zu märchenhaft war es gewesen, zu märchenhaft.
Anders war es nicht einzusehen, nicht zu verstehen, warum
ausgerechnet diese, so überaus schöne & gebildete Frau alleine
lebte. Sie wurde bewundert, immer noch, wohin sie kam, wohin
sie ging, denn sie war nicht nachlässig geworden, ihre Schönheit
war tief & ernst, ihr Gesicht madonnengleich.
Oh, ja, sie hatte sich unendlich gesehnt, in den vielen leeren
Stunden, jemandem zu haben, für jemanden da zu sein.
Alexander, ihr Pflegekind, der Sohn ihrer lieben verstorbenen
Schwester Rahel, hatte flott studiert, bald geheiratet, so als gäbe
es seine Tante nicht mehr, nicht einmal gefragt hatte er sie,
obwohl, … obwohl er einmal da gewesen war mit Silvia, und sie
war so enttäuscht gewesen über dieses naive Mädchen, das ihren
Alexander bekommen sollte, so sehr, dass sie es wohl nicht ganz
verbergen hatte können. Wie oft hatte ihr das seither leid getan!
484
Wie gerne hätte sie diese, ihre damalige Kälte zurückgenommen!
Wie sehr bereute sie es! Wieviel musste sie dafür leiden! Was
hätte sie gegeben, um ihre leise Herablassung, ihre Enttäuschung,
die sie nicht verborgen hatte, ungeschehen zu machen. Sie hatte
keine Gelegenheit mehr gehabt, sie um Verzeihung zu bitten,
Silvia war nicht mehr, Silvia, Alexanders Frau, die sein Kind
getragen hat, Silvia, die so tragisch zu Tode gekommen war, lebte
nicht mehr, und sie hatte von ihr ein schlechtes Bild mit in die
Ewigkeit genommen. In Wahrheit war die eifersüchtig gewesen,
verbittert, enttäuscht, so voller Trauer über den Verlust.
Manchmal, manchmal, sollte sie später sagen, manchmal muss ein
Mensch leiden, weil er ist, wie er ist, nicht, weil Gott ihm
Schweres widerfahren lässt. Der Mensch leidet an sich selbst, das
ist sein Schicksal.
XVIII
Marie, immer wieder Marie
Als ich zum ersten Mal, zum zweiten Mal und viele weitere Male
zu Anfang meiner Beziehung zu Alexander komme, ist da immer
seine Tante Marie, die ich nicht einschätzen kann, die mir nicht
wohl gesonnen ist, die Alexander gegen mich zu verteidigen
scheint, in Schutz zu nehmen versucht, mit der es zu
beunruhigenden Szenen, schließlich zu Auseinandersetzungen
kommt.
Ich weiß ja zu dieser Zeit, in diesen wenigen gemeinsamen &
eiligen Stunden zu Beginn jener außergewöhnlichen Beziehung,
die mir bevorsteht, nicht, was die beiden miteinander erlebt haben,
welch‘ unzerreißbares Band sie verbindet, bin nervös, unsicher,
unglücklich. Die ganze Weite & Schwere wird sich erst nach &
nach erschließen, auftun wie ein Abgrund.
485
Marie glaubt, Alexander ein weiteres Mal zu verlieren, befürchtet
das Äußerste, unternimmt so gut wie alles, um mich loszuwerden,
rauszuekeln, fühlt sich von mir angegriffen, verdrängt. Plötzlich
scheint ihr, das in allen Einzelheiten wohlgeordnete Leben mit
Alexander, ihrem Neffen, aus den Fugen zu geraten.
Nichts aber lag mir ferner, als irgendetwas in jemandes anderen
Leben zu ändern, und wenn es mir möglich gewesen wäre, ihr
diese Furcht auszureden, ich hätte dieses Projekt in Angriff
genommen, doch es musste sich alles langsam lösen, ergeben,
entwickeln.
Es gab Momente, wo sie eigens so weit Deutsch gelernt hatte, um
mich als „Hure“ zu beschimpfen. Sie tat es nach einer Liebesnacht
mit ihm, als er mich zurückgelassen hatte in seinem eigenen Bett,
um auf Visite ins Krankenhaus zu fahren, tat es, wenn wir von
einem Spaziergang, einer Fahrt ins Sommerhaus zurückkamen.
Während er kurz wegging, zischte sie mir dieses Wort ins Ohr.
Als sie nicht & nicht davon abließ, kam es soweit, dass ich mich
in meiner Verzweiflung einmal in Alexanders Anwesenheit vor ihr
niederkniete, ihn bat zu übersetzen und ihr die Hand, beide Hände
küsste.
Ich kam nicht auf die Idee, diesem Widerstand zu begegnen, ihm
irgendwie, wenigstens teilweise, ein Ende zu setzen, mir fehlte die
Kraft, denn ich hatte momentan zuviel zu bewältigen. Jemandem
wie Marie, dieser alten feinen Dame, entschieden entgegen zu
treten, wäre das letzte gewesen, was für mich in Frage kam. Wir
waren aus meiner wie aus ihrer Sicht, nicht auf Augenhöhe.
Es sollte aber eines Tages eine Zeit anbrechen, in der sie mich auf
Händen tragen, nichts mehr über mich kommen lassen würde,
aber so war es nicht von Beginn an gewesen, und so weit war es
jetzt noch lange nicht.
Denn der Anfang war schwer, für mich, für Alexander, für sie,
besonders für sie, nein, der allererste Anfang war ganz leicht,
nichts könnte leichter sein, doch dann, wenn er vorüber ist, eine
Weile vergangen, erkennt man, dass es mit dem ersten Anfang
486
nicht zu Ende ist, man will nicht wahrhaben, dass man noch
umkehren könnte, vielleicht sogar rasch umkehren & vergessen
sollte, erkennt nicht diese letzte Chance, fängt bereits an zu
konservieren, zu konvertieren, versucht den ersten Funken
hinüberzuretten in etwas, das man nicht einmal kennt, kann nicht
loslassen, konstruiert, beginnt sich einzurichten, ist mit allem
einverstanden, Hauptsache man verliert es nicht, erwartet, hofft
und weil man nicht aufhören kann, sich keine Vergeblichkeit
eingesteht, weil die Dummheit, die Wehleidigkeit, die der
Verliebtheit innewohnen die Oberhand gewinnen, lässt man sich
ein, lässt man sich ein. Es gibt aber kein Glück ohne Preis, kein
Glück ohne Unglück, kein Licht ohne Schatten.
Sie glaubte, fürchtete Alexander zu verlieren, sah ihr Lebenswerk
in Gefahr, alles, was sie aufgebaut hatte, die Macht, die sie besaß
über ihn, sein Haus, seine Angestellten, sogar über Niels, seinen
Chauffeur & Privatsekretär, der gewiss kein leichtes Leben neben
ihr hatte, denn immer & immer verdächtigte sie jeden, der mit
Alexander zu tun hatte, auch, wenn er ihn brauchte, ihn ihr, Marie,
persönlich wegzunehmen.
Freundlichkeit wie Reserviertheit Alexander gegenüber waren
falsch, beides kreidete sie an. Es war schlicht unmöglich, mit
Alexander richtig zu verkehren, denn sie konnte & wollte ihn
nicht teilen. Wir wussten nicht mehr, wie wir uns verhalten sollten
oder durften, und dies einte uns von Anfang an, ja, es war sogar
so, dass Niels richtig froh über mein Auftauchen in Stockholm
war.
Niels, der mir, schon, als er mich zum ersten Mal sah, wie er es
weit später selbst ausdrückte, aus der Hand fraß, in mir eine
Verbündete sah, Niels, der liebe Niels, der so alt war wie ich, eine
ähnliche Geschichte hatte, mitnichten in diese Schicht geboren
war, auf Niels hatte Marie es besonders abgesehen.
Niels, der meinetwegen bald einen Deutschkurs besuchte, jedes
Mal mehr Wörter & Sätze zu mir sagen konnte, mich mit seiner
Gelehrsamkeit in Verlegenheit brachte, in gewissen Zugzwang
487
sogar, Niels, der noch so viel für mich tun sollte, für Alexander,
seinen Dienstgeber, für uns als Paar, Niels, der liebe,
unentbehrliche Niels hatte es besonders schwer. Ich kann nicht
sagen, wie oft er mir unendlich leid tat, wie oft er uns rettete, in
Schwierigkeiten unseretwegen steckte und wie ritterlich er sich
immer verhielt.
Niels war unter schwierigen Umständen eine Art Adoptivkind
Alexanders geworden, aber das ist eine andere Geschichte. Ich
hoffe wirklich, dass mir innerhalb dieses Romans noch ein Kapitel
bleibt, das ich nur ihm widmen kann, denn ohne ihn wäre diese
außerordentliche und in vieler Hinsicht skandalöse Beziehung
nicht möglich gewesen oder noch sehr viel komplizierter
verlaufen. Er war es, er uns tausendmal den Sand aus dem
Getriebe holte, uns aus peinlichen Situationen half, Diskretion
wahrte, die Augen verschloss vor so vielem, uns mit
einfallsreichen Ausreden entschuldigte, Treffen erst ermöglichte,
auch Alexander mit seiner persönlichen Hilfsbereitschaft
entlastete, manchmal sogar ersetzte. Bis auf ein einziges Mal gab
es nie eine Beschwerde von uns, bis auf dies einzige Mal keinen
Fehler von seiner Seite.
Als Alexander begann nach Wien zu reisen, um sich mit mir zu
treffen, war in Stockholm die Hölle los. Ihm gegenüber blieb
Marie lammfromm, unterwürfig, verständnisvoll, gelassen. Wie
eh & je packte sie seine Koffer, bereitete alles für ihn vor, ließ
sich nicht das Geringste anmerken. Dass es irgendwo etwas gab,
geben könnte, was sie bedrohte, von dem sie nicht wusste, wie es
enden würde, wenn es auf sie zukäme, war ihre immerwährende
Angst gewesen, und jetzt spürte sie ein Wanken, das bis in die
Mauern des Hauses, bis in Innerste ihres Herzens drang.
Als ich dann eines Tages in Stockholm erschien, verlor sie ihre
gewohnte Haltung & Ruhe. Auch Alexander musste sich auf
einmal hysterische Szenen gefallen lassen, hässliche Vorwürfe,
Beschimpfungen, und zum ersten Mal gab es Streit im Hause
Sommerfeld, meinetwegen, seinetwegen, wegen meiner Liebe zu
488
ihm, seiner Liebe zu mir, die mich doch selbst getroffen hatte wie
ein Hammerschlag.
Denn, was konnte im letzten ich dafür, dass ich aussah wie seine
verstorbene Frau, wie Silvia, die nicht mehr lebte. Was konnte ich
dafür, dass Alexander seither mit keiner Frau mehr schlafen
konnte oder besser gesagt, dass es ihm plötzlich wieder möglich
war. Was konnte ich dafür, dass dies geschehen war? Was konnte
ich dafür, dass wir uns begegnet waren, vor so vielen Jahren, und
dass er nun auf wundersame Weise zurückkam, mich suchte &
fand, was konnte ich dafür, dass mir, ausgerechnet mir, dies
widerfuhr? Wer könnte einen Hengst davon abhalten einer Stute
zu folgen, die er sich in den Kopf gesetzt hat, ein Kamel
aufhalten, das die Koppel niedertrampelt, durch eisige
Schneestürme rast, einen Kater stoppen, einen Stier bändigen,
nicht einmal ein Marienkäfer würde sich davon abbringen lassen
und koste es sein Leben.
Gewiss, ich war ihm freudig & willig auf den Tanzboden gefolgt,
später mit ihm durch den Schnee gestapft, hatte seinen Charme
genossen, mich einwickeln lassen von seiner Prominenz, seinem
Auftreten, seiner Eleganz, seiner vornehmen Reife, seinem
Begehren, seiner Leidenschaft, seiner Ruhe.
Auch nach Wien hätte ich nicht kommen dürfen, jedenfalls kein
zweites Mal, ihn nicht einladen sollen, ich war selber längst zu
weit gegangen, es war ein Fehler, eine völlige Absenz meines
Verstandes gewesen, doch konnte ich beim besten Willen keine
Ahnung davon gehabt haben, was in ihm vor sich ging, woran er
wirklich dachte, warum er mir nachlief, mich nicht mehr aus den
Augen ließ, ja, von der Idee, mich wieder zu sehen, besessen war.
Ich indes spielte nur, denn wann würde mir so ein besonderer
Mann je wieder begegnen? Ich wähnte mich in meinen eigenen
Verhältnissen in absoluter Sicherheit, mein Ehering, meine
Kinder, mein kleines, aber schnuckeliges Zuhause, ich hatte doch
alles, es fehlte mir nichts, ich war zufrieden, glücklich, äußerst
bescheiden in materiellen Dingen, was ich nicht einmal wusste,
489
denn für mich war nur mein Leben mit Ottokar von Bedeutung,
diese Liebe ertrug wohl einen kleinen Flirt, eine Aufregung, war
ja nichts Gefährliches, Bedrohliches, so dachte ich. Ich bekam oft
bewundernde Blicke, es war nichts Außergewöhnliches daran,
auch Komplimente, Blumen sogar von fremden Männern. Als ich
einmal, nicht lange nach der Geburt meines zweiten Sohnes,
abends ins Kino ging, schenkte mir mitten auf der Straße ein
Afrikaner, mir nichts dir nichts, eine einzelne rote Rose, einfach
so. Als ich sie nicht nehmen wollte, sagte er in makellosem
Deutsch: Es ist für Ihre Schönheit. Nehmen Sie sie, ich will nichts
von Ihnen, glauben Sie mir, ich bin homosexuell. Er war den
Sommer über in der Stadt, arbeitete für Künstler der
Sommerakademie als Aktmodell. Solche Szenen gab es durchaus,
weswegen ich auch jetzt nicht völlig überrascht war. Wie hätte ich
annehmen können, dass dieser ältere Herr nicht selbst verheiratet
war, keine Kinder hatte, über kein privates Liebesleben verfügte?
Natürlich dachte ich daran, er könnte vielleicht geschieden sein, in
seinem Alter heutzutage nichts Außergewöhnliches, aber da ich
mich ohnehin mit keinem ernsten Gedanken dahingehend
auseinandersetzte, sah ich nur den glückseligen Augenblick, der
mir gegeben war, sog die Wonne, welche seine kurze Gegenwart
für mich barg, gierig ein, ließ sie mir auf der Zunge zergehen, in
mich hineinfließen wie süßen aber leichten Wein. Doch der Betrug
schleicht auf leisen Sohlen einher, nimmt einen in Besitz. Zu
willkommen ist die Schmeichelei, die Verführung, das Glück,
schließlich die Hybris, der Übermut.
Und doch, viel später, eines gar nicht fernen Tages in Wien auf
einer ganz normalen Parkbank, einer von tausenden gesichtslosen,
abgenützten, angekritzelten, öffentlichen Sitzgelegenheiten die
Folgen dieses Leichtsinns, denn nichts geschieht ohne Grund: das
Gebot der Stunde, der Augenblick der Entscheidung, eine
Angelegenheit von wenigen Sekunden vielleicht, eine Schwäche
nur und doch bereits Sünde, Todsünde, aber auch Opfer,
Barmherzigkeit, Angst sogar & Schande, Scham wie
490
Schamlosigkeit, das große Wort, das Ehebruch heißt, welches
bisher in weiter Ferne lag, plötzlich ist es da; alles, was ich
wusste, gelernt, gesehen, gelesen hatte, in diesem Moment war es
gegenstandslos, nicht auffindbar, vollkommen in Vergessenheit
geraten, ohne Bedeutung und doch in aller Gewaltsamkeit
gegenwärtig, aber das Schlimmste, das Schlimmste, es sollte erst
kommen. Zuerst gab es keinen anderen Gedanken, als dies hier
hinter mich zu bringen, doch dann erhob sich ein anderes
Problem, ein schier unlösbares. Was hatte ich getan? Es erging mir
wie Kain, der plötzlich erkannte, was er angerichtet hatte, was
geschehen war.
Es war für mich & Alexander ungeheuerlich, unvorstellbar, ich
hatte meinen Mann betrogen, vielleicht meine Ehe zerstört, würde
von nun an gezwungen sein zu lügen oder mein altes Leben zu
verlassen, und vor allem, wir konnten nicht mehr zurück, es war
etwas Irreversibles. Dieser heimliche Liebesakt machte uns zu
Komplizen, zu Sündern, zu etwas ganz Gewöhnlichem.
Als Marie begriff, worum es ging, wie viel bereits geschehen sein
musste, war sie nicht in der Lage, etwas für sie so Schweres,
Unbegreifliches anzunehmen.
Ein Geschehen dieser Größenordnung war an und für sich
inakzeptabel. Es lag nicht mehr auf ihrer Linie, sich Alexander mit
einer anderen Frau vorzustellen, egal, was es für mich bedeutete,
egal, dass meine Ehe daran scheitern konnte, egal, wie es mir
ging, wie sehr ich litt, denn Leute, so dachte sie wohl, lassen sich
wegen viel weniger, vor allem aber deswegen, scheiden. Die
Tatsache, dass ich verheiratet war, brachte das Fass zum
Überlaufen und war gleichzeitig der Punkt ihres Ansatzes.
Obwohl sie ja Silvia gekannt hatte, sah sie nicht sogleich meine
außerordentliche Ähnlichkeit mit ihr, zu weit lag alles zurück, zu
wenig hatte sie mit so etwas noch gerechnet, zu fern lag ihr eine
solche Vorstellung. Mir und sogar Alexander warf sie
Skrupellosigkeit vor, doch natürlich gab sie in Wahrheit nur mir
die Schuld, vor allem für mein dreistes Erscheinen in Stockholm.
491
Wie hatte Alexander sich so weit von Anstand & Sittlichkeit
entfernen können, um sich an eine verheiratete Frau
heranzumachen? Sie konnte nicht allein mich verantwortlich
machen, auch, wenn sie es äußerlich tat, die wahre Enttäuschung
& Entrüstung aber galt Alexander, der ihr ein & alles war und nun
so tief gestürzt vor ihr stand, dass sie ihn nicht mehr ertrug.
Ich aber lebte in keiner desolaten Partnerschaft, wie sie meinte, sei
drauf & dran, mich scheiden zu lassen, sondern liebte meinen
Mann wie am ersten Tag, und dennoch hatte ich aus Mitleid, aus
Verständnis und aus allen Gründen, die man selbst nicht versteht,
mit einem fremden Mann geschlafen.
Ja, es hatte eine kleine Verliebtheit, eine wehmütige Erinnerung,
eine winzige Szene gegeben zwischen uns, aber es lag doch alles
noch im Rahmen dessen, was eine Frau in diesen modernen
Zeiten hier im Westen, in Schweden zumal, dürfen sollte, leicht
wieder unter Kontrolle bekommt, bestimmt noch als Flirt oder
halbwegs verzeihlicher Seitensprung durchgehen konnte. Täglich
kam so etwas irgendwo in Europa vor, obwohl es für mich bis
dahin völlig undenkbar gewesen war.
Doch es war schließlich eine große & unerwartete Freude, eine
Überraschung für mich nach zwei Geburten, nach vierzehn Jahren
Ehe, noch immer begehrt zu sein von einem Fremden, eine
Dummheit zwar, doch immerhin, eine Affäre vielleicht, weiter
nichts. Ich wollte mich selbst glauben machen, es sei nichts dabei,
bagatellisierte, was mich bereits gefangen nahm, so übermäßig
stolz machte, sank zurück in eine Zeit, in der ich von einem
Prinzen genau dieser Art geträumt hatte, welches Mädchen
schließlich hat es nicht getan! Infantil, gerade wie die Leute zu
Weihnachten zurückfallen in eine Art Märchenwelt, doch ich
konnte nichts dagegen tun.
Dass zwanzig Jahre zwischen uns lagen, störte mich nicht, ich
reagierte nicht anders als eine Durchschnittsfrau, eine
Illustriertenleserin. Alexander, der er für mich war, Professor
Sommerfeld für alle anderen, Alexander war im besten
492
Mannesalter, hatte alles, was ein Frauenherz begehrt, den ganzen
Kitsch, das Klischee mit Schönheit, Eleganz, Reichtum,
Gelehrtheit; der Traummann, der Fernsehdoktor. Von außen
gesehen, wirklich nichts weiter als eine einzige Peinlichkeit, ich
selbst hätte eine andere, die in meine Lage gekommen wäre, mit
Verachtung belegt, keinerlei Verständnis aufgebracht, und ich
wusste, mir würde es nicht anders gehen, doch was kümmerte
mich das!
In Wahrheit aber kämpften Gott & Teufel in mir, hatten längst
damit angefangen, mich zu zermürben, entzogen mir die
Möglichkeit zu entscheiden, zu verzichten, zuzustimmen,
abzulehnen. Ich spürte, dass sich etwas ereignete, auf das ich
keinen Einfluss hatte, das Platz griff in mir, bereits mein Herz,
wenn nicht gar meinen Verstand tangierte.
Ich hätte Alexander nicht zu meiner Buchpräsentation einladen
dürfen, das wusste ich eigentlich im Augenblick, als ich es tat. Ich
spielte mit meiner plötzlichen Besonderheit, als wäre es nicht
genug, als, eben noch einfache Kinderkrankenschwester, ein Buch
zu veröffentlichen. Als bräuchte es dazu illustre Gäste wie einen
schwedischen Medizinprofessor, während ich meinen Mann
Ottokar babysitten ließ. Dieser eigene & eigentliche, sehr wohl
beabsichtigte Schritt war mein Zutun gewesen, mein ganz
persönliches Grenzgängertum. Ich gefiel mir in dieser Rolle, sie
schmeichelte mir. Nach langer braver Ehezeit, nach Wochenbett &
Hausfrausein schnupperte ich den Geruch der Freiheit, einer Welt,
die ganz anders lief als bei mir, bei uns daheim. Da gab es
erfolgreiche Männer & Frauen, die es sich aussuchen konnten, mit
wem sie zu Abend speisten, mit wem sie die Nacht verbrachten, in
welches Auto sie stiegen, welche Klamotten sie trugen, eine Welt,
in der Geld keine Rolle spielte, man allenthalben unter sich war,
egal, ob diskret zu zweit, allein oder offiziell in großer
Gesellschaft. Und obwohl mir nie daran gelegen hatte, ja, es das
war, was ich im Innersten verachtete, sah ich plötzlich doch diese
Seite des Lebens vor mir. Ein ganz anderes Buch schlug sich auf,
493
Dinge, die ich schon für versäumt hielt, schienen wieder möglich
zu werden, ich sehnte mich nach Öffentlichkeit, nach
Abwechslung, Zerstreuung. Hatte ich denn in den letzten vierzehn
Jahren nicht alles für meine Familie, meine Ehe getan? War ich
etwa
nicht
Sekretärin,
Kindermädchen,
Hausfrau,
Kranken-schwester, Schwiegertochter gewesen? Hatte ich denn
nicht alles angenommen & durchgestanden, hinuntergeschluckt &
akzeptiert, ohne Rücksicht auf mich selbst? Mehr oder weniger
bewusst wog ich bereits Einnahmen & Ausgaben ab, fing an zu
überlegen, aufzurechnen, gegenüberzustellen, und auf einmal sah
ich alles mit anderen Augen, Augen zwar, mit denen man es
durchaus betrachten konnte, Augen aber, die Ottokar gegenüber
nicht erlaubt waren, denn was, wie, warum es geschehen war, lag
in der Natur dessen, was es heißt, eine Familie zu haben und nicht
darin, was außerhalb einer einmal getroffenen Entscheidung, die
auf nichts als Liebe beruht, gedacht, getan oder entschieden
werden darf. Unsere Gesellschaft unterstützt die Ehe nicht, auf
keinen Fall die Treue, das Biedere & Naive, das damit zu tun hat,
die Geduld, die Demut, das Verständnis, das man in dieser
ziemlich schweren Zeit bräuchte, findet sich nirgends. Dem
anderen zu dienen, ist abgekommen, längst keine Tugend mehr,
sondern eine Sache von Klosterschwestern und anderen
Zurückgebliebenen.
Solche Anschauungen wirken tagtäglich auf jeden ein, werden
einem vor Augen geführt, entmutigen uns, es sei denn, es gelingt,
sich möglichst nahtlos einzureihen in den Klub der Moderne, sich
von alten Moralvorstellungen loszusagen, die Frechheit
aufzubringen, sich darüber hinwegzusetzen, oberflächlich genug
zu sein, sich zu nehmen, was sich einem gerade bietet.
Genau an dieser Stelle lag meine Schuld, genau an dieser Stelle
hieß es, zu büßen, und das wusste ich von Anfang an. Es hätte hier
noch die Möglichkeit gegeben, nein zu sagen, zu widerstehen,
aufzuhören. Alles andere hätte nicht geschehen können, hätte ich
diesen verlockenden Anfang nicht zugelassen. Ich selbst hatte mir
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dieses Abenteuer genehmigt, in aller Heimlichkeit und weiblichen
Verwegenheit herausgenommen. Was für eine Hybris!
Aber ich war schwach & verantwortungslos, bedachte nicht die
Folgen für andere, war nicht bei Verstand genug, denn ich genoss
es, von einem Mann wie Alexander bewundert zu werden, und die
Rechnung schien aufzugehen. Ich gefiel mir bereits darin, alles für
diese Liebe auf mich zu nehmen, für sie zu kämpfen, Verständnis
zu erwarten, ja, zu verlangen fast, für diese Sündhaftigkeit.
Wie auf Befehl beinah erschien er zu meiner Lesung. Ich hatte,
wie es aussah, schon Macht über ihn. Er musste wirklich in mich
verknallt sein, wenn er denn an einem gewöhnlichen Wochentag
nichts Gescheiteres zu tun hatte als sich ins Flugzeug zu setzen,
eine Menge Geld dafür auf den Tisch zu legen und zu kommen,
weil ich es wollte.
Mein Selbstbewusstsein war längst nicht mehr auf dem höchsten
Stand gewesen, ich hatte mit den täglichen Anforderungen als
Mutter von zwei Kindern genug zu kämpfen, und doch gelang mir
jetzt etwas dieser Größe, ich schwebte im siebten Himmel.
Nicht einmal schlank war ich mehr, hatte die Höhen & Tiefen der
Ehe kennengelernt, Leidenschaft wie Streit & Ärger, fühlte mich
zwar noch jung & geliebt von einem Mann, der nichts Geringeres
als Künstler war und doch auch vernachlässigt, zu wenig
gewürdigt oder geschätzt, obwohl ich wusste, dass es nicht so sein
konnte. In jenen Tagen überkam mich oft das Gefühl, meine
Jugend,
meine
besten
Jahre
zu
vergeuden
mit
Neben-sächlichkeiten, mit Kinderkram, denn auch dies gibt es, die
Ratlosigkeit als Mutter, die Verzweiflung, den Zorn, das
Zurückgelassenwerden von den anderen, die stattdessen &
inzwischen Karrieredamen geworden sind, immer noch begehrt
und allabendlich unterwegs, in meiner Phantasie jedenfalls, die
ihre Augen überall hatten & haben durften, Bewunderung
einheimsten, flirten konnten ganz ungeniert bei vollem Genuss &
Verstand. Unsereins aber war gebunden, verloren, in einer Weise
einsam. Mein Hunger nach Erlebnissen, nach Abenteuern wuchs
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zeitweise ins Unermessliche, und es gelang mir kaum, der
Sehnsüchte und geheimen Gedanken Herrin zu werden.
Mein Mann vergötterte mich, war nach der Geburt unseres
kleinsten Sohnes mehr denn je in mich verliebt. Dieses Kind, das
so schwer erkämpft war, für das ich Operationen hingenommen
hatte, Hormonbehandlungen, jahrelange Enttäuschungen, dieses
Kind sollte unser Glück vollenden, und genauso war es, wir hatten
zwei Buben, einen größeren, der schon ins Gymnasium kam und
einen kleineren, ja, einen ganz kleinen. Vom ersten Augenblick an
gab es nur Freude & Fröhlichkeit mit diesem Kerl, der so
besonders hübsch war, so besonders klug zu werden versprach.
Für die anderen ist man verheiratet, vergeben, und es gehört sich
so, denn du sollst ja nicht begehren deines Nächsten Frau. Keiner
kommt mehr auf die Idee, einem schöne Augen zu machen, selbst
sieht man davon ab, hält es für unzulässig. Gewisse Dinge sind
um diese Zeit erledigt, müssen vorbei sein und sind es doch nicht,
werden es niemals sein.
Just in diesem Augenblick taucht jemand aus der Vergangenheit
auf, Erinnerungen werden wach, unerfüllte Wünsche trotz allem,
es ist wie leichte Musik, noch einmal wie die erste Verliebtheit,
eine Art Liebelei, die zwar nichts ist als nur die Tändelei mit der
Liebe, ohne Tiefe, ohne Schwere, und doch etwas, das wir das
ganze Leben suchen und nie wieder finden, das wie bittersüße
Schokolade ist, Sehnsucht eben, die niemals endet, denn kaum ist
sie erfüllt, fliehen wir sie oder ist sie verschwunden. Die Tiefe der
Liebe sehnt sich nach der Leichtigkeit, die Leichtigkeit nach der
Tiefe, nach Verlangen ohne Ende, Verlangen dort wie da, und im
letzten ist es nichts als die Flucht, die Furcht vor dem Tod, die
Suche nach der Ablenkung, Ausdruck der Verzweiflung, der
Ausweglosigkeit im Gefängnis unseres Lebens, das uns von Tag
zu Tag mehr entgleitet, zurast auf die letzten Jahre, die letzten
Stunden, den Tod, mit dem wir uns nicht abfinden wollen, den wir
noch in weiter Ferne wähnen, und doch hat er Besitz von uns
ergriffen, Platz genommen mitten in uns und sich breit gemacht.
496
Die Liebe hat ihn uns kurz vergessen lassen für eine kleine,
inzwischen vergangene Weile.
Da kommt Alexander aus dem Norden, und er ist auch nicht
gerade irgendwer, kein dahergelaufener Dandy, sondern jemand,
den man getrost einen Gebrochenen, einen Geprüften nennen
könnte. Einer, welcher den uralten Schmerz der Einsamkeit, der
Verlassenheit in sich trägt, sodass davon zu reden, klingen muss
nach einem Groschenroman, und doch sind aus dieser Wolle
Ereignisse gestrickt, die ein, zwei, mehrere Leben verändern
können, eine andere Liebe, eine Ehe sogar zu zerstören imstande
ist.
Von Anfang an wusste ich, dass ich nie, niemals meine Ehe
gefährden oder gar aufgeben würde, sie war heilig, in Stein
gemeißelt, vor einem Altar geschlossen & gesegnet, mit Brief &
Siegel vor Gott und den Menschen, vor staatlichen & kirchlichen
Zeugen wie es geschah seit Anbeginn, und so musste es bleiben in
Ewigkeit, darüber gab es keine Diskussion.
Wie das gehen könnte, war mir selber schleierhaft, denn als ich
mit Alexander auf der Parkbank saß, konnte ich einfach nichts
anderes tun, als mit ihm zu gehen, mit ihm zu schlafen trotz
Herzklopfens bis zum Hals, trotz meines allerheiligsten
Ehegelöbnisses, mit kalten Füßen zwar, heißen Ohren, dem
stechenden Blindarm dazu, und wer weiß, was mich sonst noch
plagte in jener Nacht der Entscheidung.
Diese Verwegenheit hätte mir gewiss niemand zugetraut, am
wenigsten ich selbst, doch haben wir keine Ahnung, wozu wir
fähig sind, und so war es mir möglich, mit diesem fremden Mann
zu gehen und Ottokar zu betrügen, weil er mir eine rührselige
Geschichte erzählte und ich für rührselige Geschichten anfällig
war. Erbarmen hatte für alles & jeden, seit ich mich erinnern
konnte, das Mitleid schien mir in die Wiege gelegt worden zu
sein, denn wo andere nicht einmal, wie es so schön heißt, mit
einer Wimper zuckten, geschweige denn sich ein Gewissen draus
machten oder wenigstens kurz innehielten, flossen bei mir bereits
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reichlich die Tränen.
Die Geschichte, die sich Jahrzehnte früher in Afrika zugetragen
hatte, war bestens dazu angetan, in mir so gut wie alles
auszulösen, mich aufzumachen, denn das Mitleid ist ja kein
rationales Moment, sondern ein zutiefst emotionales, das erst gar
nicht den langen harten Weg über den Verstand nimmt, obwohl
man auch aus Vernunft warmherzig handeln kann.
Die genauen Ereignisse, die vorangegangen waren, sollte ich
freilich erst nach & nach & viel später erfahren, denn sie werden
über weite Strecken unsere Abende, unser zukünftiges &
spärliches Beisammensein besetzen & einnehmen, verschönern &
vertraurigen.
Für jene Stunde in Wien aber war ich bereits zu weit gegangen,
hatte ihm zu lange zugehört, ihn zu viel erzählen lassen, mich
schon zu tief eingelassen, um noch Distanz oder Flucht als
Auswege zu sehen.
Langsam veränderte sich etwas in mir, gewann die Oberhand, ich
konnte nicht mehr zurück, denn ich war sitzengeblieben, hatte die
Zeit verstreichen lassen, war nicht imstande gewesen,
aufzustehen, die Linie zwischen hier & dort, ihm & mir, damals &
jetzt zu ziehen; der seidene Faden, die unsichtbare Grenze war
überschritten, es gab keine zweite Möglichkeit mehr.
Noch ein Satz, ein Detail, und es war geschehen, dem Zuhören
musste nun etwas von meiner Seite folgen, jetzt konnten wir uns
nicht einfach wieder trennen, es war zu spät.
…. seither kann ich mit keiner Frau mehr schlafen, war nur das
letzte, was ich deutlich hörte, während alles andere bereits
verschwommen war. Dauernd hatte ich mich gefragt, warum er
mir das erzählt, was es damit auf sich hat, was mich das angeht,
was ich da gehört und was genau er wirklich gesagt hatte.
Bis, ja, bis er sagte, dass ich seiner Frau aufs Haar gleiche, dass er
darum verrückt nach mir sei, längst die Kontrolle verloren habe,
nicht anders gekonnt hätte, es seit unserer allerersten Begegnung
in sich trug - dieses ungeheure Geheimnis.
498
Das Geheimnis nämlich, dass es jemanden gab, eine Frau, mit der
ich vielleicht, vielleicht schlafen könnte. Wie er selbst nicht
glauben, nicht begreifen konnte, dass er Silvia in mir noch einmal
begegnete, wie es über ihn gekommen war, groß & schwer, leicht
& süß, unglaublich, unbegreiflich.
Es ist mir nicht möglich, die tatsächlichen Worte, die er in diesen
Minuten verwendete, wiederzugeben. Sie verlieren sich in einem
Nebel wie schon damals, und dennoch erfuhr & begriff ich
augenblicklich, dass dies etwas mit Schicksal, mit Fügung zu tun
hatte, mit etwas Besonderem, ganz Außergewöhnlichem, in einer
Größenordnung von geradezu antiken Ausmaßen lag.
Was er wirklich sagte, darüber habe ich mir später wieder &
wieder den Kopf zerbrochen, denn obwohl ich gut verstand, was
er meinte, könnte ich bis auf den heutigen Tag, gleichwohl ich mir
Sätze & Texte ohne weiteres zu merken vermag, nichts davon
wiedergeben. Es war, als kämen sie aus einer Sphäre von weit
außerhalb, von einem anderen Stern vielleicht, so, als hätten sie
gar nichts mit dieser Welt zu tun.
Sein zweites Leben seit unserer allerersten Begegnung in jener
Nacht auf der Intensivstation, dieses Leben auf einmal, es warf
ihn aus der Bahn, brachte ihn an den Rand seiner Existenz, des
Wahnsinns, wie er es nannte.
Seine Beschäftigung mit Phänomenen wie Wiedergeburt,
Seelenwanderung, Wiedergängertum, Aberglauben, Täuschung,
Halluzination gehörte seither zu seinem Alltag.
Es kam die Zeit, in der er seine Sommer in spanischen Klöstern
verbrachte, als Namenloser unter anderen Namenlosen, unter
Männern, die sich zeitweise oder für ganz von der Welt
abgewandt hatten.
Die einen, um Ruhe zu finden, andere, um Schuld zu tilgen, sich
über etwas klar zu werden, sich dem Jenseits zuzuwenden, alles
hinter sich zu lassen, über das Wesentliche nachzudenken, einen
Schmerz zu ertragen, zu vergessen, als Person, als Individuum zu
verschwinden.
499
Alexander aber, der Jude, der Protestant, der Agnostiker, der er
längst zu sein glaubte, Alexander suchte hinter diesen dicken
kalten Mauern eine Antwort auf dieses beunruhigende Geheimnis,
diese, ihn nun zermürbende Frage, eine Antwort auf die
Verlockung, die Versuchung par excellence.
Gab es einen Teufel, der seine Seele dafür wollte, einen Gott, der
ihn prüfte, ging es um ihn ganz allein, seine brennende Sehnsucht,
seine verinnerlichte Schuld, die ihn einer gewaltigen Einbildung
aufsitzen ließ, lief er einem Trugbild hinterher, hatte er den
Verstand verloren?
Die klösterliche Einsamkeit, die Versenkung in biblische Texte,
das Fasten, die Kasteiung, die meditativen Chorgesänge der
Mönche, nichts war stark genug, ihn wirklich abzulenken,
seine, ihn verzehrende Sehnsucht, seine Verlust, seinen Schmerz
zu überlagern, zu verdrängen.
In Wahrheit gab es für ihn nur das Eine, das immer & einzig Eine,
das gleichermaßen im Menschlichen wie im Göttlichen mündet.
Es blieb am Ende, am Ende aller noch so hohen Erkenntnis nichts
anderes, nichts anderes, wofür sich alles, alles lohnte, man alles
auf sich nahm, wohin alles lief & strebte. Nichts anderes als die
Liebe, die Vereinigung von Mann & Frau, Körper & Seele im
Unendlichen & Ewigen, jene großen Worte, die keiner versteht,
und doch existieren keine anderen dafür! Es ist immer am selben
Ort, derselben Stelle die Grenze, die letzte Frage, der seidene
Faden. Einst hatte er sie besessen diese Liebe, seine Sehnsucht
war nicht allgemein, sie hatte ein Bild, einen Namen. Nichts kam
& wurde dieser Liebe gleich, nie & nimmer, seine Gedanken
kreisten unablässig um diese Frage. Die größten und zugleich
hilflosesten Menschenworte sind Gott & Universum, denn sie
stehen für Anfang & Ende, Geburt & Tod, Liebe & Ewigkeit, Zeit
& Raum, Sinn & Sinnlosigkeit, vor allem aber für die Liebe und
die Ewigkeit, denn diese beiden hängen zusammen zuinnerst, so
sehr wie Leben & Sterben, Freude & Leid, Weinen & Lachen ja
ein- & dasselbe sind.
500
War denn das Suchen all der Männer in der Klausur einer
schattigen, beinah frostigen und dennoch selbst gewählten
Abgeschiedenheit eines Klosters etwas anderes als die Suche nach
Liebe, ausgelöst durch den Verlust der Liebe? Die Konfrontation
mit der menschlichen Einsamkeit, die Hinwendung zu etwas
Größerem, die Abkehr von allem Äußeren, von sich selbst sogar,
die Kontemplation & Konzentration, nichts anderes als ein
endloses Gebet um Erlösung?
Die Nacktheit, die Armut, die Strenge, das Fasten führten
Alexander schmerzlich und doch im letzten glücklich zu einer
bisher nicht gekannten Gelassenheit, brachten ihm am Ende des
ersten Sommers bereits die Erkenntnis, in Demut sein Schicksal
annehmen zu müssen, zu dürfen, die Erkenntnis aller
Erkenntnisse: was nicht zu ändern ist, hinzunehmen, sich zu
unterwerfen, wenn es sein muss, für einen inzwischen Gläubigen
aber wie ihn, musste es vor allem bedeuten: Gottes Willen zu
akzeptieren, sein ganz persönliches Schicksal zu tragen in
Tapferkeit, ohne Groll & Zorn, ohne Hader & Neid, ohne
Vergleiche anzustellen, ohne Jammern & Bitterkeit.
Später im kalten Herbst & Winter Schwedens holten ihn
Depression & Zweifel wieder ein, denn ein Mann bleibt ein Mann,
ein Mann sehnt sich nach nichts anderem, als mit einer Frau zu
leben, dafür wurde er geschaffen, in die Welt geworfen, dafür hat
er Kriege geführt, seine Gegner getötet, dafür ging er durch Feuer
& Eis, brandschatzte, mordete, schändete, raubte, rackerte in
grenzenloser Verzweiflung, dafür, dafür, für nichts anderes.
Niemals.
Was sonst wäre es denn wert, Schuld auf sich zu laden, seine
Hände mit Blut zu beflecken, seine Gedanken zu beschmutzen,
was sonst?
Es sind alle geistlichen Praktiken, Exerzitien, Entbehrungen
zugunsten höherer Erleuchtung nicht der Liebe gleich geworden,
sind im letzten ein schwacher Trost nur, ein vorübergehender
Ersatz, eine Illusion. Die Verzückung der Heiligen, ihre Glorie,
501
die vergöttlichte Jungfräulichkeit Mariens, die Gottesliebe sind
nichts anderes als der Schrei nach der Vereinigung mit einer Frau,
mit einem Mann.
Der Respekt vor dem Geist, ja allem Geistlichen ist zuweilen
unermesslich, aber die Liebe zwischen Mann & Frau, jene Nächte,
jene wenigen Minuten, Sekunden sind nicht erreichbar, nicht auf
Erden.
Gewiss kann man die Sehnsucht, das Begehren abtöten, quasi ad
acta legen, verleugnen, verlieren, ja vergessen, nicht aber die
Liebe.
Die Liebe ist unvergleichlich, die Liebe ist das einzige
Himmlische, das wir haben, denn sie verbindet uns mit dem
Universum, sie ist der Himmel auf Erden, der Himmel im
Himmel, nur die Liebe erreicht die Unendlichkeit.
Diese Erkenntnis, diese Kraft, diese Sehnsucht hat Alexander zu
mir geführt, ihn verrückt werden lassen nach dieser Möglichkeit,
denn vergeblich hatte er durch die Jahre versucht, seine Frau,
seine Silvia zu vergessen, um nicht mit dem Verlust leben zu
müssen, doch plötzlich stand sie in meiner Gestalt noch einmal
vor ihm, und er konnte nicht anders, nicht Verstand noch Gefühle
betrügen, noch vergessen, was ihm widerfahren war.
Wenn es noch einmal möglich wäre, noch einmal… , dann wäre
das Leben noch nicht zu Ende, gäbe es noch Hoffnung auf Glück
& Glückseligkeit. Dies & nichts anderes brachte uns zusammen,
dies & nichts anderes ist die Erklärung.
XIXX
Alexanders Frau
Silvia
Die Tochter eines Landarztes in Nordschweden. Ihre Mutter war
502
an Krebs gestorben, als sie nicht einmal dreizehn Jahre zählte. Ein
Schock, der, wie sich herausstellte, das ganze Leben des
Mädchens beeinflussen sollte.
Das lange Sterben der noch jungen Frau war qualvoll gewesen,
zog sich über viele Jahre. Silvias Vater, ein verbitterter, stur
gewordener Herr, der sie bis in den Tod begleitet hatte, war nicht
mehr im Stande, sich etwas anderes vorzustellen, als dass die
einzige Tochter für immer bei ihm bleiben musste, sozusagen als
Erinnerung, als Entschädigung für die verlorene Ehefrau. Diese
einzige Rolle hatte er seiner Tochter nun zuerkannt, eine andere
brauchte sie nicht auszufüllen, dafür schien sie ihm geboren
worden zu sein, sein eigenes Fleisch & Blut, das einzige Kind, das
ihm & seiner Frau geschenkt worden war. Da kam es ihm nur
natürlich vor, wenn sie bei ihm im Hause blieb, auf ihn wartete,
für ihn kochte, ihm in der Ordination half. Er würde ohnehin
nichts dagegen haben, wenn sie eines Tages heiraten wollte,
Enkelkinder zur Welt kämen, das so lang so stille Haus wieder mit
Lachen & Lärm erfüllt wäre.
Die letzten Jahre waren bestimmt gewesen von Tränen &
Schmerz, von immer geringer werdender Hoffnung, von Angst &
Traurigkeit. Doch, nun, da es vorüber war, eine langsame
Erholung & Erleichterung eintrat, wurde er mit einem anderen,
vielleicht noch größeren Leid konfrontiert, dem drohenden Verlust
seines Kindes, das nicht & nicht davon abzubringen war, fort zu
wollen, in den Süden des Landes zu gehen, um noch etwas
anderes kennenzulernen als dies hier, wie es, das Kind, das sie
einst Silvia genannt hatten, meinte.
Nach vielen langen, ja endlosen Diskussionen, Bedenken,
Erwägungen & Streitereien erklärte er sich zum äußerst für ihn
Denkbaren bereit, Silvia, in Gottes Namen! nach Stockholm gehen
zu lassen, um Krankenschwester zu werden. Für dies und nichts
anderes, nichts anderes, hörst du, und dass du mir nicht mit noch
irgendetwas anderem daherkommst!
Die Zeit, in der sie fort sein würde, sah er als Leiden an, als
503
einen letzten harten & schweren, persönlichen Weg, den er zu
gehen hatte, als etwas, das sich nicht umgehen ließ, aber nur von
kurzer Dauer war, solang, bis sie ihre Ausbildung beendet haben
würde und zu ihm zurückkehren konnte. Was er im Geheimen
fürchtete, trat ein, Silvia kam nicht einfach mehr zurück, es war
unmöglich, zurückzukommen, so, wie sie fortgegangen war.
Es wurde, basierend auf diesem Ereignis eines Tages alles anders,
es ließ sich der einmal verlorene Faden nicht wieder finden, ein
unterbrochenes Gespräch nicht Jahre später fortsetzen, Silvia fand
den Ort, den sie verlassen hatte, nicht mehr, obwohl er für ihren
Vater der alte, immer gleiche, geblieben war. Es war nicht ihre
Schuld, denn sie hatte sich verändert, verändern müssen, ihre
Augen sahen nun etwas anderes in den alten Dingen, den
vergangenen Zeiten, sie war erwachsen geworden, hatte Schweres
ganz allein bewältigt, dem Vater keine Sorgen machen, ihn nicht
belasten wollen, also nichts davon in ihren Briefen erwähnt. Sie
wusste jetzt, was es hieß, von daheim wegzugehen, wusste auch,
was der Vater gemeint hatte und wovor er sie so innig hatte
bewahren wollen.
Es war unerträglich für den alternden Mann, schier unmöglich
einzusehen, auch noch diesen Kelch austrinken zu müssen, daher
flüchtete er sich während Silvias Abwesenheit wider besseres
Wissen & Ahnen in die Illusion einer bedingungslosen Rückkehr,
ließ keinen anderen Gedanken zu, lebte quasi von ihm, gab ihm
willig statt von Tag zu Tag, nährte Hoffnungen, schmiedete Pläne,
produzierte Seifenblasen, Luftgeschichten, Zukunftsträumereien.
Zwischen den Extremen tiefer Sorge & Depression, froher
Erwartung & Freude lebte er seine Tage, füllte sie randvoll aus,
um sie schneller vergehen zu machen, riss Blatt für Blatt vom
Kalender, schrieb für Silvia vieles auf, damit sie es einmal lesen
konnte: wann das Gimpelpärchen wieder zum ersten Mal
gekommen, die Schwalben aus dem Schuppen verschwunden, das
gescheckte Eichhörnchen wieder frech gewesen war, wie es
diesen & jenen, auch ihr bekannten Patienten, Freundinnen,
504
Nachbarn erging, wer geboren und wer wann verstorben, wann
der erste, der letzte Schnee gefallen war. Wer nach ihr gefragt
hatte, Besuche, die gekommen waren, wie viele Junge die Katze
bekommen hatte, die Hündin von Jokke dem Nachdenklichen, wie
listig die Hasen wieder einmal gewesen waren, um sich die Rüben
aus dem Keller zu holen oder die sorgfältig vergitterten
Jungbäumchen trotz aller Mühe zernagt hatten… .
Kleine Dorf- & Alltagsgeschichten, Zeichnungen, Notizen,
aufgehobene Zettelchen, Eintrittskarten, Zeitungsausschnitte, die
am Ende eine hübsche, ansehnliche Sammlung von Kuriositäten
ergaben, alles hob er auf, nichts war zu klein, zu gering, zu
unwichtig, aber auch große Ereignisse, wie als der König in den
Norden gekommen war und jemand Photographien davon
angefertigt hatte, eingepackt wie ein Eskimo war Seine Majestät
darauf zu sehen, gerade wie jedermann, wenn er Eisfischen ging.
Er wartete in dieser Weise auf seine Tochter, vertrieb sich die Zeit
der schier endlosen Abende damit, diesen Tüttelkram zu sortieren,
mit Ort & Datum zu versehen, einzukleben, aufzustapeln, wartete
auf sein Mädchen, das er jedem neidete, auch wenn oder gerade,
weil es für andere womöglich nichts Außergewöhnliches war,
wohl aber für ihn.
Seine einsamen Abende vergingen am Kamin in einem
inzwischen heruntergekommenen Haus bei kaltem Essen und der
Art von männlicher Gemütlichkeit, die selbst ihm nicht behagen
konnte, auch wenn es über weite Strecken nicht einmal dazu kam,
denn noch immer fuhr er Tag & Nacht zu seinen Patienten, war
rund um die Uhr in Bereitschaft, ja, es war sogar so, dass er nicht
wie andere Ärzte, das Klingeln des Telefons fürchtete, sondern
darauf wartete, es herbeisehnte, um sich die Stunden zu
verkürzen, das Alleinsein ohne Silvia, seine einzige, allerliebste
Tochter, zu bewältigen.
Silvia war zwar ein schwieriges, einzelgängerisches, aber auch
normales Mädchen, welches bald nach den ersten Schrecknissen
der Großstadt begann, sich nach Burschen umzusehen und abends
505
schon
einmal
die
strengen
Ausgehzeiten
des
Schwestern-schülerinneninternats ohne besondere Gewissensbisse
überzog.
Zum ersten Mal sah sie, dass es noch etwas anderes gab als
drängelnde, fordernde, jammernde Patienten, späte abendliche
Visiten wie sie es von zu Hause kannte, wenn der Vater nach
einem langen Tag neuerlich gerufen wurde und nicht zurückkam,
bevor sie irgendwann, in Sorge auf ihn wartend, eingeschlafen
war.
Wenn sie anderntags aufwachte, war er meistens bereits wieder
fort oder ein weiteres Mal fort gewesen, im Winter sogar. Die
Kranken gingen ihm nicht aus, wurden nie einfach und endlich
gesund, sie verlangten nach ihm, ob es wichtig war oder nicht, ob
er ihnen helfen konnte oder nicht. Er hätte nie einen Besuch
abgelehnt, auch nicht, als seine Frau schon schwer krank gewesen
war, auch nicht, wenn es aussichtslos war, sein Gewissen, sein
ärztliches Ethos ließen es nicht zu, es hätte ihm keine Ruhe
gelassen, er wollte immer alles versucht haben, sich nichts leicht
machen, alles geben, dafür war er Arzt geworden, in den rauen
Norden gegangen, dorthin, wo keiner seiner Kollegen jemals
hinwollte, dafür hatte er studiert & dafür würde er gelebt haben.
Alle wussten das, alle brauchten ihn, dachten nicht lange nach,
ließen ihn ins Haus kommen, auch, wenn es nicht immer um
Leben & Tod ging, fühlten sich sicher in seiner Obhut, genossen
diesen Luxus mitten auf dem abgeschiedenen Land in vollen
Zügen. Selbst wenn offensichtlich hysterische Leute zum
wiederholten Mal anriefen, verlor er nicht die Contenance, setzte
sich auf sein Motorrad und fuhr los.
Jedes Mal, wenn er von einer Visite zurückkam, betankte er es
wieder, ging, bevor er sich endlich hinlegen konnte, in sein
Arbeitszimmer, schrieb die Namen, die Diagnosen, die
Bemerkungen, die Medikation, die Daten in ein großes schwarzes
Buch, begab sich in die Ordination, bestückte seine Arzttasche
neu, kontrollierte alles zwei Mal, machte sich noch Notizen für
506
den nächsten Tag, steckte Zettel für Zettel auf einen Spieß oder
tat sie ordentlich in eine Schachtel neben dem Telefon, hängte
Mantel & Hut auf den Haken an der Haustür, legte die
Handschuhe über die Tasche, sodass für den nächsten Einsatz alles
bereit stand und er aus dem Schlaf heraus blind nach den Dingen
greifen konnte, die er brauchte.
Silvia hatte immer seine Professionalität & Disziplin bewundert,
seine Geistesgegenwart, seine Genauigkeit, seine Korrektheit.
Tausendmal hatte sie diese Vorgänge beobachtet, manchmal
übermüdet, manchmal aufgekratzt, ungeduldig & geduldig in
einem, aber es hatte keinen Sinn, den Vater zu drängen, endlich
ins Bett zu kommen, sich zu waschen, es gut sein zu lassen, auf
die späte Uhrzeit hinzuweisen, den längst vergangenen letzten,
den bereits angebrochenen nächsten Tag, denn die Dinge, so hatte
er ihr jedes Mal erklärt, die Dinge mussten ganz & genau getan
werden; das kleinste Detail zu vergessen, konnte jemandes Tod
bedeuten, ein Aufschub, eine Gedankenlosigkeit seine eigene
Existenz. Später erst, als sie bereits Schwesternschülerin war,
wusste sie, dass es Liebe gewesen sein musste, die ihn alles auf
diese feine & besondere Art machen ließ, eine Liebe, die sie selber
für fremde Menschen nicht aufbringen konnte. Eigentlich mochte
sie den Krankenhausbetrieb überhaupt nicht, die Nachtdienste, die
Bereitschaftsdienste, die grantigen, oft launischen & falschen
Oberschwestern, das Gehaben der Ärzte bei den Visiten oder in
der Nacht, wenn sie gerufen wurden, das ständige Rennen, die
Strenge und den Ernst, welche die Atmosphäre des Spitals als
ganzes ausmachten.
Kein einziges Mal hatte sie ihren Vater über eine Arbeit jammern
gehört, denn seine Patienten betrachtete er als seine Dienstgeber,
sodass er mehr als einmal darauf angesprochen, sagen konnte, was
täte ich ohne sie, hat sich das einmal jemand gefragt? Ist es denn
nicht das, wofür ich auf dieser Erde bin?
Eine bequeme Facharztstelle in der Stadt kam für ihn nicht in
Frage, geregelte Ordinationszeiten, abends Gesellschaften,
507
bürgerliche Allüren, dafür hatte er nichts übrig, verachtete es,
lehnte zuinnerst & zuäußerst ab, wofür nicht wenige Kollegen,
mit denen er studiert hatte, so gut wie alles gaben.
Manche mochten ihn seltsam & kratzbürstig finden, doch er
wollte schon immer der Arzt einfacher Menschen sein, kleiner
Leute, um die sich niemand kümmerte, in einer Gegend, wohin
sich keiner verirrte. Geld & Ansehen, die sich in den größeren &
kleineren Städten gewinnen ließen, waren bestimmt nicht seine
Sache. Lieber lebte er bescheiden in der Einschicht einer
ländlichen Gegend als in einem verzierten Stadthaus, wo er sich
wie im Glaskasten vorgekommen wäre, ausgestellt wie eine
Schaufensterpuppe in einer sich besser dünkenden Gesellschaft.
Der verpflichtende Umgang mit den Honoratioren dieser Orte
wäre ihm ein Graus gewesen, Balltänze mit Kollegen-,
Apothekers-, Anwaltsgattinnen mochte er sich erst gar nicht
vorstellen. So war er gelandet, wohin er gehörte, wo es ihm gefiel,
er wusste, woran er war, welchen Schatz er sich gesichert hatte.
Den Respekt, den er genoss, verdiente er sich tagtäglich selber,
wie ein Schauspieler auf der Bühne gab er bei jeder Visite sein
Bestes, hörte nicht auf, sich zu bilden, Erfahrungen zu sammeln,
eigene Aufzeichnungen & Studien anzufertigen, ein Archiv
anzulegen und immer weiter auszubauen. Er war nicht einfach
jemand gewesen, der eine Ordination übernommen hatte, er
musste sie sich selbst aus dem nichts erarbeiten, kam aus keiner
Ärztefamilie wie viele andere, die mit ihm studiert hatten, aber er
war jetzt der Herr des Nordens, so nannten ihn seine Patienten,
und darauf war er richtig stolz wie ein Bauer, der seinen Hof mit
eigenen Händen erschaffen hat, anstatt ihn vom Vater zu
übernehmen, wie dieser ihn bereits übernommen hatte und nur
noch seine Geschwister hinauszuwerfen brauchte. Wie in einer
gewaltigen Islandsaga konnte er aufstehen, das Glas erheben und
scherzhaft sagen: Ich, der Herr des Nordens, so nennt man mich,
ich sage euch also…..
Ach, Silvia dachte oft an ihn, öfter, als er sich vorstellen konnte,
508
voller Rührung & Traurigkeit, mit Bangen & Liebe, was er im
Augenblick wohl tat, was für Dinge ihn beschäftigen mochten, ob
er es alleine schaffte, ihm ab & zu jemand zur Hand ging, sich
auch seiner erbarmte. Ob sie es wahrnahmen die anderen, die
Nachbarn, die Kranken, wie es ihm ging?
Später erinnerte sie sich an keinen einzigen gemeinsamen &
ungestörten Abend. Vielleicht hatte es den einen oder anderen
gegeben, aber sie dürften so rar gewesen sein, dass das Mädchen
sie unter die anderen rechnete.
Am schlimmsten war es nach dem Tod der Mutter. Sie blieb nun
vollkommen allein daheim, fürchtete sich vor der Dunkelheit,
jedem Geräusch im einsamen Holzhaus, ängstigte sich vor
scharrenden & piepsenden Mäusen genauso wie vor der
knatternden Fahne auf dem Dach, dem heulenden Wind, den
knarrenden Balken, hörte bald Stimmen & Flüstern, Kratzen &
Kichern, sah Schatten & Gespenster. Oft schrien die läufigen
Katzen, dass sie meinte, es würde da draußen jemand umgebracht.
Sie fürchtete sich vor dem Geist der Mutter, den sie überall
vermutete, getraute sich nicht aufs Klo. Sie erschien ihr unzählige
Male im Traum, in der Dämmerung, im langen kalten, dunklen
Winter des Nordens. Sie sehnte sich nach ihr genauso wie sie
diese befremdliche Welt verabscheute.
Sie hätte ab & zu bei Freundinnen übernachten können, war
eingeladen, doch ihr Vater ließ es nicht zu. Sie durfte das Haus
weder in seiner Abwesenheit noch während seiner Anwesenheit
verlassen.
Er hielt sie wie eine seltene chinesische Porzellanpuppe, die sein
alleiniger Besitz war, deren Wert nur er kannte, stilisierte sie zu
einer Art Reinkarnation ihrer Mutter, die er so innig geliebt hatte
und in seiner Tochter wieder zu finden hoffte.
Nie würde er zulassen, dass sie ihn verließ, womöglich mit einem
Mann fortzog, woanders eigene Kinder haben wollte, ein Glück
ohne ihn. Dieser ungeheuerliche Gedanke war für ihn undenkbar
& ungedacht, denn er konnte nichts mehr tragen, auch, wenn es
509
normal war, naturgegeben, auch, wenn er immer ihr Vater bleiben
würde, die erste Stelle einnähme, er glaubte es nicht, konnte
darauf nicht vertrauen. Als Meister der Verdrängung vermied er,
daran zu denken, was aus Silvia werden sollte, wenn er einmal
nicht mehr war. Solange sie bei ihm blieb, mochte sie alles haben,
sogar einen Mann heiraten, Kinder bekommen, doch nur hier bei
ihm, vor und unter seinen Augen, nirgendwo anders, er selbst
konnte nicht mehr fort, denn alles, was ihm etwas bedeutete, lag
an diesem Ort, seine Arbeit, das Grab seiner Frau, die Menschen,
die er liebte & brauchte, nicht weniger als sie ihn, die sein täglich
Brot waren, aber auch & vor allem seine Erinnerungen, sein
Leben, sein Glück wie sein Unglück.
Diese letzte Bastion gab er nicht auf, sie brach ihm das Herz. Auf
Knien hatte er Silvia angefleht, zu bleiben, nicht zu gehen, hatte
geweint wie ein kleines Kind, immer wieder, auch, wenn alles
längst und wiederholt beschlossen war, gerade wegen seiner
Rückfälle.
Er ließ unendlich lang nicht locker, tat jedes Mal wieder, als
hätten sie nichts ausgemacht. Szenen, die das Mädchen nie
vergaß, ihr das Leben schwer machten, den Abschied und letztlich
alles, was auf sie zukam. Nie konnte sie auf jemanden einfach
zugehen, auf etwas sofort reagieren, denn sie wusste nicht, wie
man sich verhielt, was normal war, wie die anderen Mädchen
tickten.
Sie hatte sich nach dem Tod der Mutter selbst erzogen, deren
Aufgaben, so gut es ging, übernommen, wollte ein braves Kind
sein, liebte, ja, vergötterte den Vater, der nun beides für sie war,
Mama & Papa, Papa & Mama.
Silvia dachte mit vierzehn, fünfzehn Jahren nicht an dieselben
Dinge wie ihre Schulfreundinnen, dafür war es bei ihnen zu Hause
zu einsam & seltsam, etwas anderes als ihr Vater lag außerhalb
des Hauses, in einem anderen Land.
Es war ihnen zu vieles gemeinsam, die persönliche Geschichte &
Sicht auf die Dinge, die Erinnerungen, die seltenen, doch
510
einzigartigen Gespräche abends am Kamin über Gott und die
Welt, über Anfang & Ende, Freude & Leid, ja, sie sahen sich als
Einheit, unzertrennlich, obwohl beide wussten, dass Silvia einmal
Erfahrungen außerhalb dieser geschlossenen privaten Welt
sammeln, andere Menschen & Dinge kennen lernen musste, wenn
sie nicht Schaden nehmen und irgendwann vereinsamen sollte.
Dennoch taten sie so, als existierte dieser, über allem liegende
Gedanke nicht, und je dringlicher er wurde, umso mehr wandten
sie sich von ihm ab. Er wurde eines Tages kein einziges Mal mehr
erwähnt, obwohl der Abschied Jahr um Jahr, Monat um Monat
näher rückte. Mit dem Älterwerden Silvias begleitete &
beobachtete er sie zusehends, folgte ihr auf Schritt & Tritt, hütete
sie wie ein neugeborenes Entlein.
Tausendmal hatte ihr der Vater das Versprechen abgenommen, ihn
nicht zu verlassen, und tausendmal hatte sie es ihm in aller
Unschuld zugesichert. Er sah in Wirklichkeit keine Notwendigkeit
mehr für ein Fortgehen, denn was sie brauchen würde, könnte sie
bei ihm lernen. Wer besaß schließlich mehr Erfahrung im Umgang
mit Kranken & Sterbenden als er? Was konnte sie schon lernen
dort in Stockholm, was er ihr nicht beibringen konnte, was nützte
ein Diplom draußen in der Wildnis, wo man sein Bestes geben
musste oder es bleiben ließ und unterging, was war denn schon so
ein papierenes Dokument in Wirklichkeit? Er kannte doch die
Ärzte, die dort jetzt die Professoren & Vorstände waren, hatte mit
ihnen studiert, kannte ihre Verhältnisse, ihre Bequemlichkeit,
ihren wissenschaftlichen Ehrgeiz, ihre gegenseitige Eifersucht,
ihre Selbstüberschätzung, mit der sie sich über seinesgleichen
erhoben, die Nasen rümpften, sich grinsend Wichtigerem, wie sie
meinten, zuwandten. Sie saßen an den fetten Töpfen der Medizin,
dort, wo es Ruhm & Geld zu holen gab.
Doch seine und damit Silvias Aufgabe lag hier draußen, hier oben
im Norden, wo jede Hilfe gebraucht wurde. Würde sie nicht
womöglich in einem Krankenhaus verschwinden, einen
eintönigen Dienst verrichten, den jede andere Krankenschwester
511
ebenso tun konnte? Was hatten sie drunten in Stockholm, im
verwöhnten Süden schon für eine Ahnung von den Anforderungen
eines Landarztes, einer Gemeindeschwester? Dort gab es genug
von allem, war alles im Handumdrehen zu haben. Sie wussten ja
nicht einmal, dass es keine geregelten Dienstzeiten gibt und geben
kann, so dachte er; und würde Silvia nicht am Ende Gefallen
finden am faulen & bequemen Leben in der Hauptstadt und ihr
Versprechen vergessen? Wie in alten Zeiten, so fand er, sollte man
ohnehin bei den Altvorderen studieren, immerhin die beste aller
Schulen, bei verständigen Leuten wie damals, als das Wissen noch
von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Mehr &
mehr verherrlichte er in sich diese längst vergangene Zeit, liebte
die alten Geschichten, versetzte sich in sie hinein, bereute, Silvia
gehen gelassen zu haben.
Er hatte ja selbst studiert, wusste, wie sich altes & neues Wissen
zueinander verhielten und dass er so gut wie alles bereits gelernt
& begriffen hatte, bevor er in einer Vorlesung davon quasi offiziell
in Kenntnis gesetzt wurde, vor allem wie die Dinge viel einfacher
und gleichzeitig komplizierter waren, denn das Wesentliche, dies,
was ihn ausmachte, hatte er beinah schon immer, ja, bereits als
kleiner Junge gewusst, beobachtet, notiert, in Heften
aufgeschrieben. Vieles hatte er später gar nicht mehr lernen
müssen, denn der Liebe zu den Bäumen, den Kühen, den Vögeln,
den Hasen, jedem einzelnen Lebewesen verdankte er sein
umfassendes und ihn ganz einnehmendes Interesse an der Natur,
seine Empfindsamkeit, seinen genauen Blick auf das große Ganze
wie auf das kleinste Detail. Dabei verachtete er die Wissenschaft
keineswegs, schätzte sie zuinnerst, hatte Respekt vor den großen
lateinischen Wörtern, den fachlich korrekten Bezeichnungen, sie
beeindruckten ihn, er lernte sich richtig auszudrücken, war auch
jetzt alles andere als ein Naturdoktor. Dennoch gab er seinen
Patienten immer mehr als das rein Medizinische, kümmerte sich
auch um die Verhältnisse, nahm sich Zeit, hörte zu, und nicht
selten genügte es schon, mit einem Kranken ein Gläschen Tee zu
512
trinken, ein wenig zu reden, nach der Visite noch eine Weile
sitzenzubleiben anstatt Tabletten hinzulegen, ein Rezept
auszustellen und weiterzueilen. Über die Jahrzehnte war er auf
diese Weise eins geworden mit den Orten, die er kannte, den
Menschen, ihren Tieren sogar, ihren Sorgen & Freuden. Die
Menschen liebten & achteten ihn dafür, waren ihm dankbar, und
doch profitierte er von ihnen genauso viel wie sie von ihm. Er
behandelte sie nicht von oben herab, gab ihnen nicht das Gefühl
arm & unwissend zu sein, sondern war selber dankbar, ihnen
helfen zu dürfen und helfen zu können.
Was sprach dagegen, war es denn nicht das Vernünftigste? Hier
oben im Norden würde sich das Leben nicht so schnell ändern wie
im Süden oder gar in Stockholm, wo alles selbstverständlich &
international war, jeder einer Mode nachlief, wo die Arbeit mit
Kranken lediglich eine Verdienstmöglichkeit darstellte, nicht aber
mit Leidenschaft getan wurde. Also war es doch besser, wenn
alles, wenigstens hier oben, noch lange, lange beim Alten blieb.
Schließlich zogen ja die Samojeden immer noch wie in früheren
Jahrhunderten herum, hatten ihre Rentiere, ihre alten Wege &
Bräuche.
Sie waren in seinen Augen angewiesen auf verständnisvolle
Menschen, die nicht nur medizinisches Wissen hatten und nach
der Visite wieder verschwanden, und sogar die vollkommen
sesshaft Gewordenen konnten auf einen Arzt, eine
Kranken-pflegerin, eine Hebamme nicht verzichten.
Es war eine ruhige, einschichtige Welt mit einer Kirche in der
Mitte einer jeden Ansiedlung. Daneben ein Pastorenhaus mit
Spitzenvorhängen & Rüschen an den Scheiben, ein wenig zu
putzig vielleicht, doch im Grunde genau das richtige mit einem
Pastor darin, der ein großes Gebiet betreute, dessen stiller Frau,
der freitäglichen Pfarrgemeindeversammlung, wo die Bibel
gelesen & erklärt wurde. Danach gab es Brötchen & Tee, am
Samstag Nachmittag Kaffee & Kuchen für die Senioren,
Limonade für die Kinder. Was war verkehrt daran? Gab es
513
irgendwo etwas Besseres, Richtigeres?
Alle kamen sie: der Krämer mit seiner blinden Gattin, der
Schuldirektor und sein behinderter Sohn, ab & zu gab es Musik &
Tanz, das alte Grammophon des Doktors sorgte für Stimmung &
Zerstreuung. Der Kirschenschnaps, der Walderdbeerlikör, der
Hollersekt, je nach Jahreszeit, taten ein Übriges, und so wurde
gekichert, getanzt, schließlich gesungen, sich umarmt & weinselig
geküsst. Für wenige Stunden waren die Sorgen vergessen &
verloren in der Unendlichkeit des Winters und seiner Kälte, den
verregneten Frühlingen, den kurzen hellen Sommern des hohen
Nordens.
Am Sonntag lud man sich gerne gegenseitig zum Essen ein,
sodass ein ständiges Kommen & Gehen herrschte, man immer in
verschiedenen Häusern eingeladen war, aber sich auch reihum,
wenn es an der Zeit war, revanchieren musste.
Die Damen wetteiferten mit ihren Gerichten, Kuchen & Säften,
mit bunten Tischgedecken, üppig bestickten Vorhängen wie
Polstern, mit blumigen Tapeten, phantasievoll gestrichenen
Fenstern & fruchtigen Desserts. Jede Beere musste schließlich erst
gefunden, gesammelt, eingekocht, eingeweckt, bezuckert werden.
Der Doktor hatte schon recht, wenn er sagte: Hier gibt es doch
alles, ich weiß nicht, was wo anders schöner, besser, wahrhaftiger
sein könnte!
Wusste vielleicht einer, wie lange es dauern würde, bis man all
diese Seligkeit anderswo fände!
Silvia war selbst lange dieser Meinung, doch beinah alle ihre
Schulfreundinnen gingen fort, um zu studieren, einen Beruf zu
erlernen, sodass sie ins Sinnieren kam und ihren Vater eines Tages
um die Erlaubnis fragte, nach Stockholm gehen zu dürfen, um
Krankenschwester zu werden. Etwas anderes, das wusste sie,
könnte sie ihm ohnehin nicht vorschlagen. Wenn er überhaupt
etwas dieser Art einsähe, dann vielleicht dies.
Oh je! Großer Auftritt, Türenzuschlagen, aus dem Haus laufen,
Weinen & Händeringen, Schluchzen die ganze Nacht. Völlige
514
Stille am nächsten Morgen, keine Antwort, keine Spur vom Vortag
mehr.
Es vergehen Wochen, Monate, Silvia führt weiterhin den Haushalt,
hilft in der Ordination, traut sich nichts mehr davon zu erwähnen.
Dennoch gelingt es ihr irgendwann, den Vater dazu zu überreden,
noch einmal darüber nachzudenken und ihr zu erlauben, einzig
zum Zweck, den Krankenschwesternberuf ordentlich zu erlernen,
nach Stockholm gehen zu dürfen. Er sieht schließlich doch ein,
dass es für später besser so ist, wenn er tot sein wird, tot!, und
Silvia sich unter Fremden und eigenständig behaupten muss.
Aber was, wenn Du einen Mann kennen lernst, der dich heiraten
will, dir ein Kind anhängt und dich sitzen lässt?
Also, was jetzt, er kann ja nicht gut beides tun!
Sei nicht so frech!
Doch die Vernarrtheit ihres Vaters in sie war grenzenlos, die Sorge
um sein kleines Mädchen, das sie immer bleiben musste, soweit
war er gegangen, sich dies versprechen zu lassen, grenzenlos aber
auch die Furcht vor der Einsamkeit, der langen Zeit ohne sie, die
Angst vor dem Näherkommen des Todes, der ganzen
verschiedenen Trauer um seine beiden Frauen. Den Schmerz, den
er mit einem Mal vor sich liegen sah wie ein weites trostloses
Feld, wie sollte er ihn allein & verlassen, ertragen können? Wie
um Himmel Willen, wie?
Als sie das erste Mal gehen sollte, täuschte er einen Herzinfarkt
vor, das zweite Mal einen Erstickungsanfall, das dritte Mal eine
schlecht gespielte Verwirrtheit mit lallender Rede. Es war ein
langer qualvoller Abschied, mit bitteren Vorhaltungen und
schlechtem Gewissen, mit Eimern voller Tränen wie in einem
alten Märchen, für Silvia, aber auch für den Vater, der längst
wusste, dass er verloren hatte.
Doch als sie endlich & wirklich fort war, erlitt er seinen ersten
515
Schlaganfall, den niemand mehr bemerkte.
Als Silvia im Jahr darauf zu Mittsommer heimkam, fand sie einen
alten abgemagerten Mann vor, der sein bestes tat, um seinen
kläglichen Zustand zu verschleiern, sich lieber beschwerte &
jammerte, warum sie nicht geschrieben hatte, als wäre einzig die
Langeweile in all der Zeit sein größtes Problem gewesen.
Aber, Papa, ich habe dir geschrieben, sooft ich konnte.
Angerufen hast du auch nicht.
Papa, du weißt, wie teuer das kommt, ich habe nicht so viel Geld.
Bezahlen sie euch denn für all das nicht einmal? Ich frage mich,
wozu dieser Stuss gut sein soll! Warum bist du fort gegangen,
mein gutes Mädchen?
Silvia hatte die ganze Zeit geschuftet, keinen einzigen Feiertag
gehabt, kaum einen Sonntag, einzig dafür, um im Sommer länger
daheim bleiben zu dürfen, und nicht einmal dies war leicht
gewesen, kämpfen hatte sie müssen mit den Vorgesetzten, die
keinen Verstand für Extrawünsche aufbrachten, ihr Steine in den
Weg legten, und wo immer es ging, nichts als Schwierigkeiten
sahen & machten. Dabei wollte sie sich nur um ihren Vater
kümmern, wieder bei ihm sein, ihn trösten, ihm endlich alles
erzählen, es aussehen lassen wie früher, wenigstens für einige
Zeit, allein dafür hatte sie alles getan und auf sich genommen. Sie
hat ihn, Gott weiß es, wie schmerzlich vermisst, so heiß & süß an
ihn gedacht, die Kissen voll geweint in manchen Nächten, die für
sie genau so einsam waren wie für den Vater. Sie hatte die
Gedanken an ihn schier nicht ausgehalten, stellte sich die Küche,
die Zimmer, jeden Gegenstand beinah vor, den Vater in seiner
häuslichen Unbeholfenheit. Wie oft war sie seither im Kopf
durchs Haus, den Garten gegangen, hatte gewartet, bis er
zurückkam, sich zuweilen sogar vorgestellt, wo er so lange blieb.
516
Bei allem, was sie zu bewältigen hatte, flogen ihre Gedanken zu
ihm, weit hinauf in den Norden, in das kleine Doktorhaus. Die
Sorge um ihren Vater, dass er ihr erhalten blieb, während sie von
ihm fort war, die übergroße Angst, sie könnte zurückkehren und
alles hätte sich verändert, waren ihre ständige Befürchtung, um
die sich alles drehte.
Es gelang ihnen recht & schlecht, die Zeit miteinander so gut wie
eben möglich zu nützen, für einige Stunden sogar zu genießen,
sich genügend zusammenzunehmen, über vieles hinwegzusehen.
Als sie zum Mittsommerfest gemeinsam im Pfarrhaus erschienen,
sahen alle, wie alt beide geworden waren in einem knappen
einzigen Jahr.
Silvia gereift, kein kleines unwissendes Mädchen mehr, Doktor
Winterblom gebeugt, schlohweiß. Einem Fremden wäre er
verwahrlost vorgekommen, doch die Anwesenden kannten ihn seit
Jahrzehnten, sie achteten & ehrten ihn, es war ihnen egal wie er
aussah, sie kannten keinen Unterschied, denn wenn man einen
Menschen immer sieht, ihn schätzt & liebgewonnen hat, sind
seine Veränderungen unsichtbar.
Jeder einzelne war ihm für etwas Besonderes dankbar, auch wenn
es Jahre zurückliegen mochte. Nie war er nicht gekommen, auch
wenn es sich nur um eine hysterische Hausfrau handelte, die,
obwohl sie am selben Tag noch bei ihm in der Ordination gewesen
war, nachts wieder anläutete für ein- & dieselbe Sache.
Sie alle hatten hilflos und mit aufgerissenen Augen miterlebt, wie
des Doktors Frau zugrunde ging, ohne dass er ihr helfen konnte,
obwohl er doch immer Rat wusste, jeden mit Erfolg behandelte,
ihm aber bei ihr, bei seiner eigenen Frau, alles versagte.
Er hatte sie selbst nach Uppsala gebracht, von berühmten Leuten
untersuchen lassen, sie war in Stockholm operiert worden, doch
niemand konnte die Krankheit aufhalten oder gar heilen.
Der Unterleibkrebs schritt unbarmherzig fort, zerstörte die schöne
junge Frau, die vor Schmerzen schrie, in ihrem Zustand seine
Hände umklammerte, bis ihre wie seine blau & gefühllos waren.
517
Der um zwanzig Jahre ältere Mann tat Buße für alles, litt unter
den Selbstvorwürfen, ihre Krankheit zu spät erkannt zu haben.
Er, der für alle da war, Tag & Nacht, fand keinen, der ihm half.
Diese Bilder waren in seinen Patienten allgegenwärtig, das
tragische Wissen um sein Schicksal verband sie für die Ewigkeit.
Sie fühlten mit ihm, als wäre es ihnen selbst geschehen, wortlos
teilte sich die Gruppe, als sie kamen, an jenem Abend zu
Mittsommer ins Pfarrhaus, weit oben in Schweden, wo sich Fuchs
& Hase, Wolf & Rentier gute Nacht sagen.
Silvia war heimgekommen, endlich! Man war froh darüber,
hoffentlich blieb sie für länger, so dachten jetzt alle, hoffentlich
gelang es ihr, ihn aufzurichten, bis sie wieder kommen konnte,
und hoffentlich kehrte sie eines Tages wieder für immer hierher
zurück!
Es sollte ein selten heiterer Abend werden. Bei Likör und gutem
Essen vergaßen sie beide und alle anderen die vergangenen
Monate, das letzte schwere Jahr, aber auch die Zukunft. Solche
Feste musste es geben, solche Nächte & Tage, so war es wohl seit
Menschengedenken gewesen, ob im kalten Norden oder im tiefen
Süden.
XX
Silvias Kinderleben
Silvia kannte bald nach dem ersten Schultag nichts anderes mehr
als die weinende, wimmernde Mutter, die fragte, fragte nach dem
Sinn dieser Krankheit, des Leidens, das ihr, warum ihr!, so
plötzlich auferlegt worden war, ein Leiden, das alles zerstörte, ihre
Schönheit, ihre Reize, ihre Lieblichkeit, ihr Glück mit sich riss.
Zur Einschulung waren Silvias Eltern mit ihr zum letzten Mal
gemeinsam in der Öffentlichkeit gesehen worden. Dieses
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glückliche Foto, welches eine Nachbarin beinahe zufällig gemacht
hatte, sollte die einzige sichtbare Erinnerung bleiben, die sie
später immer bei sich trug, das einzige Bild, das sie mit ihren
Eltern als Familie zeigte. Die strahlende Mutter, so besonders
herausgeputzt für den großen Tag ihrer Tochter, im Kreise der
anderen Mütter, die alle viel einfacher, aber nicht weniger
sorgfältig gekleidet waren.
Silvia sogar spürte, wie ihre Mama angeschaut & bewundert
wurde, sie, die Frau des Arztes, die Frau Doktor, wie man sie
respektvoll nannte, sah, wie ihre Mutter es genoss, im Mittelpunkt
zu stehen, an der Seite ihres Mannes zu glänzen. Silvias Mutter
liebte die Leichtigkeit des Lebens, das, was einem zufiel ohne
Mühe, anders war sie es nicht gewohnt, sie stammte aus einem
guten, einem besseren Haus, wie es hieß, war in der
wohlhabenden Schicht Schwedens aufgewachsen, hatte das
verwöhnte Mädchenleben einer höheren Tochter geführt. Sie
gehörte zu Leuten, die Sommerhäuser besaßen, über Bedienstete
verfügten.
Der einzige Luxus, den ihr Vater sich leistete, so sagte er zuweilen
selbst im Scherz, war sie, vielleicht als Ausgleich für seine Arbeit
mit dem Elend, das ihm in den bescheidenen Hütten &
Bauernhäusern begegnete, als Lohn & Freude quasi, wenn er nach
Hause kam. Dort wartete sie auf ihn, fragte lieber nicht nach
seinem Tag, wie er gewesen war, seinen Patienten, sondern spielte
am Klavier die eine oder andere leichte Weise oder legte eine
Platte auf, kam ihm tänzelnd entgegen, umarmte & küsste ihn,
und schon hatte er alle Mühsal, alle Sorgen vergessen.
Schon von weitem hörte man im Sommer die Klänge des Klaviers
durchs offene Fenster, leicht flatterten die Vorhänge im Wind, es
ging heiter zu wie auf einem Familienbild von Carl Larsson
beinah, dem schwedischen Maler ländlicher Idylle. Dieses
Heimkommen bedeutete ihm alles, darauf freute er sich, seit er
verheiratet war. Sie kam ihm bald mit einem Kind auf dem Arm
entgegen, die Kleine glich ihrer hübschen Mutter, wie man so
519
sagt, aufs Haar.
Sie leisteten sich ein Hausmädchen, denn Frau Winterblom sollte
nur die Frau des Hauses sein, auch eine Kinderfrau war anwesend,
wenn auch nicht immer, doch wurden die pflegerischen
Tätigkeiten von dieser übernommen, sodass sie sich weder mit
dem Windelwaschen noch mit verklebten Töpfen in der Küche
plagen musste und stattdessen all ihren Neigungen &
Zerstreuungen nachgehen konnte wie in jungen Mädchentagen.
Immerhin hatte sie aus Liebe die Einsamkeit des Nordens
gewählt, einen einfachen Landarzt geheiratet, weshalb man
eigentlich nicht noch mehr von ihr verlangen konnte. Für ihre
Verhältnisse war sie bereits recht weit entgegengekommen, hatte
sich wirklich herabgelassen, aber was konnte sie dafür, dass sie
sich in diesen Mann verliebt hatte. Seufzend & bedauernd hatte
sogar ihre Familie dies anerkennen müssen.
Was nicht lange nach dem allerersten Schuljahr im Hause
Winterblom geschah, ließ das Mädchen bald verstummen, es hörte
nach & nach zu reden auf. Unter den vielen Wörtern, die es schon
gelernt hatte, gab es keine mehr dafür.
Silvia, das Plappermäulchen, welches es schon gewesen war,
verschloss sich mehr & mehr, wandte den Blick nach innen.
Über ihre Kindheit begann sich nun ein Schatten zu senken, und
die kommenden Jahre legten wohl den Grundstein für den
schwierigen Charakter, der Silvia immer nachgesagt wurde.
Dagegen waren die Abende mit dem Vater ganz allein, später, als
die Zeit des Leidens vorüber war, die Zeit, von der sie meinten,
sie würde nie mehr vergehen, das reine Vergnügen.
Denn vor dem Schulkind, das Silvia nun geworden war, lagen
Jahre der Verzweiflung, der absoluten Dunkelheit, der glühenden
Hoffnung am Anfang, der zunehmenden Hoffnungslosigkeit
gegen Ende.
Während die anderen Kinder ihrer Klasse sich mit dem Alphabet
beschäftigten, den Rechenaufgaben, den Hausübungen, dem
Lesen von kleinen Gedichten bereits, überall Fortschritte machten,
520
alleine wie gemeinsam lernten, Steinchen für Steinchen die
Grundlagen der Bildung erwarben, konnte Silvia sich keinen
Augenblick auf die Schule konzentrieren. Sie war gefangen von
dem, was sich bei ihnen zu Hause abzuspielen begann. Zuerst
begriff sie nicht, was mit den Eltern plötzlich los war, sie schienen
schlecht gelaunt zu sein in einem fort, fuhren einander an,
schliefen jetzt in verschiedenen Zimmern. Der Vater kam nicht
eilig wie früher nach Hause, sondern immer später. Bald
verreisten ihre Eltern für Tage und Wochen nach Stockholm, nach
Uppsala, nach Göteborg, nach Malmö, sogar nach Deutschland,
um Ärzte zu konsultieren, dann wieder kamen welche ins Haus,
von Geld war die Rede, von Krediten und weiteren Reisen. Nichts
davon half. Es wurde mit Mama immer schlimmer.
Wenn sie nur endlich zu schreien aufhört!, war in diesen Jahren
häufig Silvias einziger Gedanke, die Erleichterung dann, wenn die
Mutter endlich einschlief, genug unter Morphium gesetzt, das
schlechte Gewissen des Vaters darüber, den sie wiederholt
anflehte, doch dem unerträglichen Lärm ein Ende zu machen. Die
Leere danach, die unnatürliche Stille im Raum, das langsam
beginnende leise Weinen des Vaters, das überging in Schluchzen,
dieses Schluchzen eines erwachsenen Mannes, es machte ihr
Angst, seine Verzweiflung, sein Wachbleiben am Bett, auch wenn
ihm die Augen zufielen, er aus schweren Träumen hochschreckte,
plötzlich zusammenfuhr, gar nicht mehr schlafen konnte, seine
Treue, seine Aufopferung, seine Demut im Annehmen des
Schmerzes, der ihm auferlegt war, alles sah Silvia mit an,
erinnerte sich ihr ganzes Leben daran, an Dinge sogar, die der
Vater nicht wahrgenommen oder vergessen hatte. Kinder besitzen
ein eigenes, ein besonderes Gedächtnis, eine ganz andere
Auffassung als Erwachsene, sie sehen noch mit dem Herzen, nicht
mit dem Verstand.
Das Schlimmste, sollte sie später sagen, das Schlimmste ist nicht
der Tod, sondern, dass man sich diesen Tod gewünscht hat, den
Tod der eigenen Mutter, obwohl man damit alles verliert.
521
Das Mädchen sehnte sich anfangs noch danach, mit den anderen
zu spielen, wenigstens eine kleine Weile, doch wenn der Vater
unterwegs oder in der Ordination war, musste jemand bei der
Kranken bleiben. Man konnte schließlich nicht dauernd die
Nachbarinnen und Freiwilligen in Anspruch nehmen. Silvia ahnte,
nein, wusste bald, dass die Mutter früher oder später sterben
musste und ihre letzte gemeinsame Zeit miteinander angebrochen
war. Die entsetzliche & abgrundtiefe Angst vor diesem Verlust
nahm Besitz von ihr, die Frage, was ohne Mama, was aus ihr
werden würde. Ununterbrochen quälte sie dieser Gedanke, den sie
sich freilich nicht vorstellen konnte, sie ging mit ihm zu Bett, sie
stand damit auf. Silvia war abwesend von allem, was immer es
war, in der Schule, im Garten, auf der Straße, von ihrem achten
Geburtstag, oder war es der siebte, der neunte, nicht ansprechbar
für anderes als für diese eine, sie ganz einnehmende & ausfüllende
Frage: Was mache ich ohne Mama?
Die Zeit musste dringend genutzt werden, denn das Datum, wo sie
tatsächlich nicht mehr da war, kam mit jedem Tag, jeder Nacht, ja,
jedem Atemzug näher, der Tag also, wo dieses Bett leer steht und
alles noch unerträglicher & einsamer sein würde als jetzt.
Irgendwo existierte bereits jener Tag, jene Stunde, welche die
letzte sein würde, unaufhaltsam näherte sie sich der Erde, stürzte
wie ein Komet herab auf dieses zerwühlte, verschwitzte, blutige
Bett ihrer ärmsten Mutter. Niemand hatte ihr jemals gesagt, dass
Mama sterben könnte, doch für Silvia war diese Erkenntnis, diese
Wahrheit glasklar zu sehen, denn ein Leben unter diesen
Umständen konnte nicht möglich sein, auch wenn sie es noch so
gerne geglaubt hätte.
Silvia war zwar ein unwissendes Kind, das sahen alle, was die
Schule, das gewöhnliche Wissen anbetraf, doch von
außerordentlicher Reife, was ihre persönliche Entwicklung
anging.
Solange sich der Brustkorb hob & senkte, sie nach Wasser &
Tabletten verlangte, nach Suppe, Obst & Tee, solange war noch
522
nicht alle Hoffnung vorüber, solange gab es noch das Glück, eine
Mutter zu haben, Glück, von dem die anderen Kinder nichts
wussten, denn für sie war, eine gesunde Mutter daheim, nichts
weiter als normal.
Silvia aber erkannte, obwohl sie noch so klein & schmächtig war,
so unwissend & abwesend, die Unendlichkeit des Glücks in einer
winzig kleinen Zeitspanne bereits, sah die Zeit mit ihrer Mutter
trotz des Leidens als Geschenk, als Gnade und zum größten,
allergrößten Teil, als schon vergangen an.
Die wenigen Stunden, in denen so etwas wie Schmerzfreiheit
bestand, waren überhaupt die vollkommensten, und niemand
ahnte die Freude, welche dann im Doktorhaus herrschte. Wenn sie
und Papa bei Mama im Bett hockten, obwohl sie kaum Platz
hatten, lachten & scherzten sie, als gäbe es nichts sonst. Diese
Momente wurden immer seltener, immer kostbarer, je seltener sie
wurden.
Diese Tiefe der Freude sollte Silvia ihr ganzes Leben suchen und
wohl nicht wieder finden.
Sieben lange & sieben kurze Jahre vergingen mit dem Sterben der
Mutter. Danach gab es keine Zeit mehr. Danach war alles wie
erloschen. Silvia konnte mit dreizehn weder richtig schreiben noch
lesen, verstand die einfachsten Rechnungen nicht, hatte keine
Ahnung vom großen Einmaleins oder gar vom Dividieren, aber
sie verstand etwas von Krankenpflege, von Medizin, vom Sterben
und also vom Leben.
Die Atemnot, die Silvia erfasst hatte, als der letzte Atemzug, das
letzte Aufbäumen, der letzte Kampf vorüber, der Tod endlich &
wirklich gekommen war, ihre Augen, ihrer Mutter! Augen für
immer geschlossen wurden, für immer geschlossen blieben, ließ
sie fast ersticken, auch noch, als sie später immer wieder daran
dachte.
Es war ein Krampf tief hinten im Kehlkopf, der sich kaum lösen
ließ. Der Doktor war mit der Feststellung des Todes, den damit
zusammenhängenden Formalitäten beschäftigt, und es dauerte
523
lange, bis er gewahrte, dass jetzt Silvia um Luft rang. Er hatte sich
auf die Ebene des Arztes begeben, um diese Minuten, diese
Sekunden, die letzte Sekunde oder was es war, ertragen zu
können, hatte sich in die altbewährte Routine geflüchtet, die ihm,
doch nur ihm offenstand, nicht aber seiner Tochter, welche nicht
über einen derartigen Ausweg verfügte.
Da erfasste ihn plötzlich Panik, er verstand nicht, sein Kopf war
leer, seine Kraft am Ende. Er wusste absolut nichts mehr, hätte
ebenso gut ein herbeigerufener, ahnungsloser Installateur oder
sonst ein Fremder sein können.
Er stürzte sich auf das Mädchen, konnte nichts tun, als es von
Mund zu Mund beatmen, Herzmassage zu machen, zu beten, zu
weinen, zu schreien.
Um Himmelswillen, Herrgott, nimm mir nicht alles, nicht alles,
hörst Du! Oh mein Gott! Verlass mich nicht!
Endlich, endlich sah es aus, als kehre das Kind zurück, es
begann sich ganz leicht zu regen, hörte wieder auf, ließ den Kopf
zur Seite sinken, atmete keineswegs. Der Arzt, der Ehemann, der
Vater, was war er in diesen Minuten, oder waren es Stunden gar,
war ratlos, verzweifelt, wusste nicht mehr, was er tat, was er tun
sollte, tun müsste.
Silvia reagierte schließlich doch noch das auf das Zwicken,
Schütteln, Ohrfeigen, Schlagen, und ganz, ganz langsam, zunächst
fast unmerklich, verschwand die dunkle Cyanose, die bläuliche
Verfärbung des Gesichtes, es wurde zuerst fleckig, dann hellblau,
schließlich leicht rosig, ging über in eine Art helle Cyanose, eine
helle, doch auch rosige Bläue. Sie atmete nach & nach wieder von
selbst, zögerlich zwar, ruckartig, als überlege sie noch, ja, als hätte
sie durchaus die Möglichkeit, sich anders entscheiden, dort zu
bleiben, der Mutter zu folgen, ihr hinterher zu sterben. Doch etwas
muss den Ausschlag für das Leben auf Erden gegeben haben,
vielleicht die entsetzlichen Schreie des Vaters, vielleicht die
Foltergriffe, mit denen er sie sowohl vom Tode erwecken als auch
ins Jenseits befördern konnte. Zwischen diesen beiden Extremen
524
lag wohl irgendwo der legendäre zarte Faden, an dem zuweilen
alles hängt, die Linie zwischen Leben & Tod, zwischen Rettung &
Abgrund. Hauptsache Puls, welcher auch immer, etwas Tastbares,
Hörbares, eine Amplitude, eine Regung, irgendeine, und sei sie
noch so klein, so unscheinbar, so außerirdisch.
Unhörbare, doch spürbare, oberflächliche Herzschläge, ein, wie
verrückt flatternder, gänzlich unregelmäßiger Puls zwar, aber das
war jetzt egal. Man war bescheiden geworden, Hauptsache, sie
lebte, erlangte das Bewusstsein bald wieder.
Es war vielleicht nichts gewesen, als dass sie die Mutter noch ein
Stück auf ihrem Weg in die Ewigkeit begleiten, sich ein letztes
Mal verabschieden wollte, da draußen in der Dunkelheit & Ferne
des Himmels oder wie immer es genannt wird, das eine eben, das
alles eben, das Nichts, das niemand kennt.
Gott der Herr aber hatte ihn, den stolzen Agnostiker, den Witwer,
der er nun war, so empfand er es selbst, erhört, nicht vollkommen
zu Hiob gemacht, sondern wahrhaft göttliches Erbarmen gezeigt.
Nicht dass er je zu einem wirklich gläubigen Mann geworden
wäre, nicht einmal während der schlimmsten Zeiten der letzten
Jahre, doch etwas hatte Doktor Winterblom verändert, so sehr,
dass auch er nicht anders konnte, ihm nichts Moderneres in den
Sinn kam angesichts der Größe des Schicksals, als jedem anderen
Menschen in ähnlicher Lage, und so fiel er in aller Form auf die
Knie und betete, betete wie ein kleiner Bub, erinnerte sich der
großen Worte seiner Religion, die er einst gelernt hatte, hielt Silvia
fest im Arm; gab ihn nicht mehr her, den kleinen, erschöpften
Körper seiner einzigen Tochter, versprach ihr und dem Herrgott,
nur noch für sie da zu sein.
Der Stolz auf seinen Intellekt, die Klarheit seines Denkens, sein,
nur in der Vernunft begründetes Mitleid mit den Menschen, die
trotz aller Aussichtslosigkeit glaubten, denn dies war es gewesen,
was er so oft empfunden & gesehen hatte, wenn er in die Häuser
trat, wo gebetet & gekniet, alle Hoffnung an einen Gott, ein
unsichtbares, nicht existentes Wesen gehängt wurde, während sie
525
auf ihn, den Doktor, der ihnen wirklich helfen konnte, warteten;
dieser Stolz in ihm, der Stolz, den er wie eine Krone auf dem
Kopf getragen hatte, er war nicht mehr.
Heiße Tränen der Dankbarkeit, der Einsicht, des Verstehens
rannen nun auch über seine Wangen, seinen Bart. Wo kam nur all
das Wasser plötzlich her, denn seit er kein Kind mehr war, hatte er
nicht mehr geweint. Es mochte an die vierzig Jahre zurückliegen,
er erinnerte sich nicht. Jetzt erst verstand er, was Verlust, was
Leben & Sterben bedeuteten, jetzt erst wusste er, was die
Menschen bewegt hatte, wenn er gekommen war, um den Tod
festzustellen oder eben noch einmal helfen konnte.
Jetzt erst war er wirklich gleich & eins mit ihnen, jetzt erst trennte
Arzt & Patienten nichts mehr, weder dicke Woll- noch feine
Seidenfäden.
Die Zerbrechlichkeit der menschlichen Verfassung, die
Zufälligkeit des Glücks wie des Unglücks, die Nutzlosigkeit der
Intelligenz bei einem Schicksalsschlag von solcher Größe, die
Heilsamkeit des Scheiterns waren ihm klar geworden, dafür hatte
er durch die Hölle gehen müssen, einzig, um zu begreifen, wie
klein & hilflos ein jeder Mensch ist, wie verloren & aufgehoben in
etwas, das nun sogar er Gott den Herrn nannte.
Die nachtschwarze Verzweiflung aber, die nie stattgefundene
unbeschwerte Kinderzeit, die frühe persönliche Reifung führten
wohl zu dem schwierigen Charakter, der Silvia später oft
nachgesagt wurde.
Der Umgang mit ihr war so kompliziert wie einfach, jedenfalls so,
dass niemand sich diese Strapaze antat, obwohl sie nichts lieber
wollte, als Freundinnen zu haben, endlich normal zu sein, sich
wirklich um die anderen bemühte, die indes in ihr eine
irrlichternde, verwirrte, hysterische Person sahen, die ihnen
zuweilen Angst machte, nur weil sie nicht ohne weiteres sein
konnte wie sie.
Sie wusste selbst, dass sie sich nicht richtig entwickelt hatte, aber,
526
was bitte, was wäre unter ihren Umständen richtig gewesen? Hätte
sie so tun sollen, als wäre dies alles nicht geschehen? Nie war sie
in der Lage zu erkennen, was andere von ihr erwarteten, nie
wusste sie, wann etwas genug war, was verlangt wurde, wie man
sein sollte. Mitunter reagierte sie zu extrem, wobei es in alle
Richtungen gehen konnte, einmal war sie zu gleichgültig, ein
anderes Mal zu dramatisch, zu mitfühlend. Manches nahm sie zu
ernst, anderes zu leicht, es fehlte ihr das rechte Maß der Gefühle,
der Einschätzung.
Ganz im Rahmen liegende Vorkommnisse, vor allem später als
Schwesternschülerin, konnten sie übermäßig ängstigen, sie zu
Fehlurteilen
verleiten,
während
sie
oft
wirkliche
Verschlechte-rungen oder Auffälligkeiten bei Patienten nicht
bemerkte oder falsch deutete.
Mit ihr Dienst zu haben, war gewiss nicht leicht, obwohl man
meistens vollkommen zufrieden mit ihr sein konnte, denn sie tat
die Dinge mit Genauigkeit, mit Freude & Innigkeit, doch konnte
man ihr nie ganz trauen. Möglich, dass alles gut ging, sie sich in
nichts von anderen unterschied, doch wusste man nie, wann diese
Phase wieder zu Ende war. Dann nämlich übersah sie wichtige
Signale, löschte das Licht im Zimmer, ohne sich noch ein letztes
Bild gemacht zu haben, vergaß ein Medikament zu geben, eine
Infusion umzustecken, eine Spritze einzutragen.
Es war, als hätte sie partielle Ausfälle, Erinnerungslücken, sie
wechselte zwischen Aufmerksamkeit & Abwesenheit, zwischen
Präsenz & Vergesslichkeit.
Sie konnte am Morgen unausgeschlafen & niedergeschlagen auf
der Station erscheinen, genauso aber hellwach, ja, glücklich &
beseelt durch die Zimmer tanzen. Manchmal wieder wandte sich
die Stationsschwester, ihre unmittelbare Vorgesetzte, oder gar ein
Arzt während der Visite an sie, weil sie völlig unbeteiligt beim
Fenster hinausschaute, während wichtige Dinge besprochen
wurden.
Dann fiel sie aus allen Wolken, hatte nichts gehört und nichts
527
verstanden, sodass zwischen den anderen misstrauische Blicke
getauscht Blicke wurden, welche sie sich nicht erklären konnte,
Blicke, die sie fürchtete. Und obwohl sie ahnte, was sie meinten,
vermochte sie es doch nicht zu ändern, war es ihr nicht möglich
zu begreifen, was im Moment genau vor sich ging.
Dabei konnte es angenehm sein, mit ihr Dienst zu haben, sie tat
alles ganz allein, beklagte sich nie, wollte nicht früher gehen, war
nicht ungeduldig oder schlampig, weder desinteressiert noch
ungehalten, sich nicht zu gut für die ekeligen Dinge, vor denen
sich andere drückten, die Nase rümpften, sich schier übergaben.
Wenn Silvia wieder ihre Probleme bekam, sah es jeder sogleich,
denn es war nichts, was sie beeinflussen konnte, dessen man sie
beschuldigen durfte, und doch waren ihre Kolleginnen gerade
dann widerspenstig, spreizten & sperrten sich, mit ihr eingeteilt zu
werden.
Auf diese Weise verbreitete sich wie im Flug die Information, mit
Silvia sei es wieder einmal so weit, es eilten ihr bei jeder
Versetzung die Vorurteile voraus, jede Stationsschwester, jede
Oberschwester war durch das Verhalten der anderen Schülerinnen,
die sich weigerten, mit ihr zusammengespannt zu werden,
vorgewarnt. Man nahm sie also besonders genau unter die Lupe,
behandelte sie von vornherein herablassend, misstrauisch
beobachtend, sagte ihr lieber die Dinge gleich zwei, drei Mal,
auch wenn Silvia alles gehört und richtig aufgefasst hatte und sich
offensichtlich die größte Mühe gab. Nie konnte sie von vorne
anfangen wie die anderen, die als unbeschriebenes Blatt auf die
neuen Stationen kamen, egal wie sie sich auf der letzten bewährt
hatten. Die Kontrollen ihr gegenüber waren äußerst pingelig, oft
unverschämt, peinlich für Silvia, denn sie geschahen regelmäßig
vor den Augen der Patienten, der Kolleginnen, der
Diplom-schwestern, vor den Ärzten sogar, was der Kränkung
noch die Krone aufsetzte.
Sie bemühte sich wie niemand sonst, diese Zweifel zu beseitigen,
es war ja ihr Leiden, um das sie zuinnerst wusste, dem sie sich
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fügte, denn sie hatte bei sich beschlossen, was immer ihr
widerfahren würde, anzunehmen. Wie es keinen Sinn gehabt hätte,
die Krankheit ihrer Mutter nicht zu akzeptieren, das Schicksal,
welches ihr damit gegeben worden war, so sah sie auch jetzt keine
Möglichkeit, diese Behandlung abzulehnen. Sie hatte nicht
gelernt, sich zu wehren, war ans Krankenbett der Mutter über so
viele Jahre Tag für Tag, Nacht für Nacht gebunden gewesen; diese
totale Bestimmung ihres Daseins hatte sie einsam gemacht und
hilflos im Umgang mit anderen.
Wenn sie diese Schwesternschule eines Tages hinter sich und das
Diplom in der Tasche haben würde, wollte sie zurück in den
Norden gehen, zu ihrem lieben Vater, der auf sie wartete, sich
nach ihr sehnte, um ihm assistieren zu können, diesmal mit Sinn
& Verständigkeit, richtig ausgebildet, um ihn auf seine alten Tage
zu entlasten, ihm Hilfe & Stütze zu sein. Er hatte recht gehabt, als
er sie nicht gehen lassen wollte, das sah sie jetzt, er wusste so viel
mehr als sie, er liebte sie wie niemanden sonst, er wollte sie nicht
der rauen Welt eines Krankenhauses aussetzen, sondern sie in
seiner Obhut, seinem Schutze wissen.
Sie würde Gemeindeschwester sein, die pflegerische Seite seiner
Arbeit übernehmen, ach, mit ihm zusammen würde sie alles
schaffen, sie waren ja ein Herz und eine Seele, nicht so wie hier in
Stockholm, wo die Menschen nicht wirklich gut zu ihr und
zueinander waren. In den Jahren am Bett ihrer Mutter hatte sie für
sich ganz allein begriffen, freilich ohne es zu wissen, dass es
besser war, sich zu fügen, nicht zu kämpfen, wogegen kein Kampf
bestehen konnte.
Wenngleich es damals das Wort Mobbing noch nicht gab,
niemand einen Verstand für das besaß, was später von
Psychologen & Psychiatern beschrieben und untersucht werden
sollte, so war es doch genau das, was Silvia als junges Mädchen
erleben und aushalten musste.
So wurde sie denn auch von den Kolleginnen & Nachbarinnen im
Schwesternschülerinnenheim gemieden, umgangen, mehr oder
529
weniger sichtbar ausgeschlossen, nie richtig miteinbezogen, das
Wichtigste ging an ihr vorüber, sie erfuhr es zu spät, sie streuten
ihr Sand in die Augen, hielten sich mit Ausreden über Wasser.
Silvia war hübsch wie keine andere, hatte eine besondere Aura,
wusste aber nicht, dass auch sie etwas besaß, worum sie beneidet
wurde. Sie verfügte über keine Erfahrungen außerhalb des kleinen
Ortes, aus dem sie stammte und die Erinnerung an das unendlich
lange Sterben ihrer Mutter, etwas, wovon die anderen erst
Jahrzehnte später Kenntnis haben würden, wenn auch dies
unaufhaltsam auf sie zukam: das Leiden, der Tod, das Persönliche
daran, wenn man die Eltern verliert, die, welche jetzt noch in Amt
& Würden waren, bei bester Gesundheit, voller Lust & Freude, all
das, sie kannte es, und sie hatte es ihnen voraus.
Sie sorgte sich um ihren Vater, der in der Einschicht lebte,
gewissenhaft & ununterbrochen seiner Arbeit nachging, um zu
vergessen, zu verdrängen, was hinter ihm lag, gefangen in seiner
Unbeholfenheit, seiner Trauer, seiner Bitterkeit.
Ein Mann, der nicht fertig wurde mit dem Verlust seiner Frau und
nun in Silvia bereits das zweite Mal jemanden verloren zu haben
glaubte, schwer trug an seiner Sehnsucht nach seinem einzigen
Kind. Manchmal glaubte sie seine Gedanken, seine Verzweiflung
körperlich zu spüren, denn hatte er nicht einst und immer wieder
gesagt, der Mensch tue alles nur, um den Gedanken an das Ende
zu verscheuchen, halse sich die absurdesten Dinge auf, um den
Tod hinauszuschieben, als ließe dieser sich täuschen, aus seinem
Kopf und also aus der Welt verbannen. Ein sinnloses Unterfangen
zwar, so sinnlos wie so zu tun, als hätte man kein Herz, doch die
scheinbar einzige, wenn auch nur vorübergehende Lösung.
Der Druck, der auf Silvia lastete, das Wissen um seine
Verlassenheit, den Schmerz seiner Einsamkeit, die Enttäuschung
darüber, dass auch seine Tochter fortgegangen war, gehen hatte
müssen, letztlich für immer, wie er sich einbildete, wie sie mit
ihrem Weggang schließlich seiner Angst vor dem eigenen Tod
wieder Raum gegeben hatte.
530
Silvia drunten in Stockholm war also nicht weniger zerrissen,
dachte & fühlte kaum anders. Unentwegt flogen ihre Gedanken zu
ihm, sogar, wenn sie nicht konkret an ihn dachte, war ihr Vater
immer in ihr und bei ihr.
Silvia hatte das Schwerste bereits hinter sich, als kleines Mädchen
schon erfahren, getragen, durchgestanden, doch was wussten ihre
Kolleginnen, die bisher verschont worden waren, noch keine
Ahnung vom Leid des Lebens hatten, sie aber wegen ihrer
Andersartigkeit nicht dabei haben wollten. Vielleicht, weil Silvia
sie daran erinnern könnte, dass Krankheit & Tod nicht nur
Patienten und fremde Menschen betraf, sondern jeder einzelnen
Schwesternschülerin eines Tages, eines Nachts ganz persönlich
begegnen und auch in ihnen Spuren der Verwirrung hinterlassen
würden. Nicht dass Silvia damit jemanden belästigt hätte, doch
wie auch immer, ihre Geschichte war langsam bekannt geworden,
jemand musste sie erfahren & weitererzählt haben. Vielleicht war
es nur Unsicherheit, Verlegenheit, Ratlosigkeit, aber niemand
wollte sich die Laune verderben lassen, sich noch in der Freizeit
mit einem Schicksal wie diesem befassen müssen. Es war genug,
was jeden Tag auf den Stationen vor sich ging, ohnehin nicht
leicht und deprimierend sowieso, was brauchte man also die
Beobachtung durch eine Person, die, wie die Kolleginnen
meinten, ihre Scherze, ihre Ausgelassenheit, ihre Unreife für
dumm & unnütz, vielleicht sogar verletzend halten musste.
Silvia konnte nichts dagegen tun, dass sie oft anders reagierte, sich
mit einfachen, auch ganz praktischen Dingen schwerer tat, fast nie
ein ‚Sehr gut‘ bekam, obwohl sie jedes Mal unheimlich viel
gelernt hatte, während die anderen noch am Vorabend der Prüfung
ausgingen, doch mit Nervenstärke & Glück leichtfüßig
durchkamen. Sie redeten offen über ihre Schwindeleien, kamen
gut damit zurecht, wussten sich herauszureden, zwinkerten mit
den Wimpern, schlugen die Augen auf & nieder, und meistens
funktionierte es. Sie beherrschten die Geheimnisse des Flirtens,
des Schmollens, des Liebäugelns, wussten um ihre weiblichen
531
Stärken und darum, sie als Schwächen darzustellen.
Silvia hatte keine Methode beim Lernen, von Anfang an schon in
der Pflichtschule viel zu viel versäumt, glaubte nicht an sich, an
ihr Wissen, ihre Merkfähigkeit, war in ihren eigenen Augen
talentlos, fühlte sich begriffsstützig & dumm. Weil sie aber ihre
Mutter gepflegt hatte, war über ihre schulischen Schwächen von
den Lehrern barmherzig hinweggesehen, dem Mädchen die
bessere Note gegeben worden, um der verlorenen Schul- &
Kinderzeit Rechnung zu tragen, dem Vater einen Gefallen zu tun,
und genau dies rächte sich nun.
Wenn sie jetzt in der Schwesternschule etwas nicht wusste, hatte
sie keine Möglichkeit, es trotzdem zu schaffen, sie verzweifelte
schon bei der ersten Frage, die sie nicht zur Gänze beantworten
konnte, doch mit ein wenig Raten wie die anderen, ebenso leicht
geschafft hätte. Sie erinnerte sich augenblicklich an nichts mehr,
redete sich um Kopf & Kragen, erkannte nicht, wenn der Prüfer
ihr zu helfen versuchte. Es tat dem einen oder anderen Professor
in der Seele weh, sie durchfallen lassen zu müssen. Wie ein
Häufchen Elend saß sie dann vor der Kommission, sagte keinen
Pieps mehr, traute sich auch die nächste & übernächste Frage
nicht mehr zu, gab vorzeitig auf, verließ den Saal.
Die anderen wurden besucht & abgeholt, von ihren Eltern &
Geschwistern, Onkeln & Tanten, zum Essen ausgeführt, zum
Einkaufen, ins Konzert, ins Kino, ins Theater eingeladen.
Silvias Vater kam nie nach Stockholm, und sie wusste auch
warum: er war beleidigt, wartete, grollte, erstickte seinen
Schmerz, sein Selbstmitleid in Arbeit & Beschäftigung, manchmal
wohl auch in Schnaps.
Silvia ging, während die Kolleginnen sich vielfältig vergnügten,
abends, ja sogar nachts, spazieren, gefährliche Wege, in Bars,
lachte sich Männer an, die ihren Augen nicht trauten und die
nichts von ihr wollten als schnelle Befriedigung, billig aber gut.
Sie wusste sich in der Stadt nicht zu benehmen, hatte keine
Ahnung von deren Gefahren, dem anderen Geschlecht, ging in die
532
Höhle des Löwen, ohne sich darüber im klaren zu sein. Sie hatte
zwar fürchterliche Angst vor den Männern, dem Fremden an sich,
war schüchtern & naiv, doch meinte sie, den Anfang machen zu
müssen, nicht im Schwesternheim hocken bleiben zu dürfen,
schließlich wollte sie jemanden kennenlernen, sich verlieben, sie
sehnte sich nach Zärtlichkeit, träumte von Liebe & Zerstreuung.
Sie wollte die Niederlagen des Tages, der Woche vergessen, die
Sorgen überhaupt, die Vergangenheit, die allgegenwärtige Angst,
was gestern war, was morgen sein wird.
Krankenschwestern waren dafür bekannt, leicht zu haben zu sein,
aber das wusste Silvia nicht, ahnte nichts davon, dachte, es müsse
halt so sein, es wäre vielleicht normal, sammelte ihre Erfahrungen
auf brutale Weise mit rohen Männern, die sie hinter dem nächsten
Busch zu nehmen versuchten oder mit freizügigen Studenten, die
sie in irgendeine Wohngemeinschaftswohnung abschleppten, wo
sie mit anderen Mädchen zusammen, die offenbar weiter nichts
dabei fanden, auf einer Matte landete.
Junge Männer, die sie vor nicht einmal einer Stunde honigsüß
bezirzt hatten, sie abgeschmust, ihr den Himmel auf Erden
versprochen, warfen sie wie eine läufige Hündin hinaus, wenn sie
es gehabt hatten. Sofort musste man anscheinend kapieren, dass es
vorüber war, es gab keinen Dank, keine Begleitung zur
Bushaltestelle, höchstens noch eine gemeinsame Zigarette mit
dem letzten Typen, und das war‘s auch schon.
Da, zieh‘ dich an, verschwinde!, konnte er jetzt sagen, während er
sich die zweite Zigarette anzündete, dringend aufs Klo musste,
sich ungeniert bei offener Tür entleerte oder völlig übermüdet zur
Seite sackte.
Aus der Gemeinschaftsküche qualmte für gewöhnlich Rauch, es
ging um heiße politische & gesellschaftliche Diskussionen, Dinge,
von denen Silvia kein Wort verstand. Auch die anwesenden oder
sogar hier wohnenden Mädchen, normalerweise Studierende aller
möglichen Fächer, Töchter aus besseren Häusern, die keine
Ahnung von Arbeit hatten und hier die Sau raus ließen, es
533
gewohnt waren, das Wort zu führen, auch sie waren lautstark zu
hören. Andere Frauen, als Silvia sie kannte, Intellektuelle, wie sie
jetzt modern waren, die wirklich Intelligenten eben, denen sie
nicht das Wasser reichen konnte, die eine wie sie nicht einmal
beachteten.
Krankenschwester bist du?
Warum denn das?
Warum gibst du dich für diesen alten Weiberkram her?
Müssen die nicht den Leuten den Arsch abwischen?
Was sie darauf hätte antworten sollen? Am Anfang versuchte sie
stammelnd, ihre Arbeit, ihre Position zu erklären, doch es ging in
Desinteresse & Lärm, sogar Gelächter unter. Nicht einmal das
Rauchen unterbrachen sie, um sich über so etwas Absurdes oder
Abgestandenes wie den Schwesternberuf zu informieren.
Diese Fräuleins hier studierten Dinge, die hießen Byzantinistik,
Romanistik, Kunstgeschichte, Wirtschaftswissenschaften, Sprachwissenschaften, Afrikanistik, Soziologie, Politologie oder
Psychologie, sogar Medizin. Silvia verstand nicht einmal die
Wörter, doch bei aller Gelehrtheit verfügten sie augenscheinlich
über keinerlei Benehmen.
Einmal hatte sie ein Turnusarzt, den sie von der Station kannte,
unter dem Vorwand, krank zu sein, in seine Wohnung gebeten,
oder sollte man besser sagen, gelockt?
Als sie ihm beim Aufstehen half, versuchte er, sie zu sich
herunterzuziehen, entwickelte riesige Kräfte, schnaufte wie ein
Hund, fuhr ihr unter den Rock. Sie riss sich los, wehrte sich,
schlug ihn, drohte damit, es zu erzählen.
Wo und wem willst du es erzählen, ha! du dumme Gans du!
Niemand wird dir glauben, ich werde alles abstreiten, da kannst
du dir sicher sein, ich werde dich für verrückt erklären, und du
wirst aus der Schule fliegen, verstehst du, so läuft das, nicht
andersrum! Du kannst froh sein, wenn ich eine Entschuldigung
von dir annehme, wenn es drauf ankommt!
Du bist nichts als ein kleines Luder, eine dumme Schlampe wie
534
alle anderen, ihr wollt es doch nicht anders. Ihr macht doch für
jeden Medizinstudenten, jeden Assistenten die Beine auseinander,
stimmt’s? Hab‘ dich bloß nicht. Denk ja nicht, du bist etwas
Besonderes, etwas Besseres. Zuerst machst du mich an, dann
kneifst du, das ist wieder typisch für euch Landpomeranzen.
Dies hörte sie das erste Mal. Dieser Text schien ihr so
ungeheuerlich, so skandalös, dass ihr die Worte fehlten. Niemand
hatte sie gelehrt, vorsichtig mit Männern zu sein, niemand ihr
gesagt, dass es für ein Mädchen etwas ganz anderes war als für
einen jungen Mann, einen Mann überhaupt, wie sehr eine Frau auf
sich achten musste, ein Mann sich aber alles erlauben konnte,
genug Kraft besaß, sie praktisch überall auf den Boden zu werfen,
aufs Kreuz zu legen, wie sie es locker nannten, ein Ausdruck, den
sie freilich erst nach und nach verstand.
Auch wurde ihr nun bewusst, dass sie bisher kein einziges Mal
aufgepasst hatte, sie hätte schwanger werden können, ohne den
Burschen überhaupt zu kennen. Was hatte sie doch für ein
besonderes Glück im Unglück gehabt!
Silvia erkannte & erfuhr, wie es war, ohne Schutz zu sein, sie hatte
diesen Schutz ja selber verlassen, dem Vater nicht geglaubt, seine
Ängste für Hirngespinste gehalten, für veraltete Vorstellungen &
Vorwände einer anderen Generation, weiter nichts.
Sie sehnte sich jetzt nach ihm, bedauerte längst ihre Entscheidung,
nach Stockholm gegangen zu sein.
Tagsüber, während der ganzen Woche, hatte sie die schwere Zeit
einer Schwesternschülerin zu überstehen: die Stationen, die sie
durchlaufen musste, eine nach der anderen, unter gestrengen
Vorgesetzten, oft bösartigen Stations- & Oberschwestern, die
selbst frustriert und im Grunde einsam waren, aber nun, im
Augenblick eben das Sagen hatten, über die Station, die Patienten,
die Schwestern und vor allem die Schülerinnen.
Allmächtige Herrinnen waren sie, allwissend, scheinbar perfekt,
allgegenwärtig,
gefürchtet,
gehasst,
umschwärmt,
befehls-gewaltig, in Stockholm genauso wie anderswo in der
535
Welt.
Sie hatten nichts als dies, aber sie hatten es, und sie nützten es
weidlich aus, denn, wenn das hier vorüber war, nicht mehr
existierte, würden sie verschwinden, versinken, zu Nullen werden,
aber dies waren jetzt ihre Jahre, ihre Stunden, ihre Tage, sie hatten
es geschafft, wie auch immer, sie übten Macht aus über die jungen
Mädchen, die ihnen anvertraut, in Wahrheit zuäußerst ausgeliefert
waren, die aus Idealismus, aus Not, aus, was für Gründen auch
immer, sich für diesen Beruf entschieden hatten und nun
fordernden Personen und eisernen Strukturen gegenüberstanden.
Langsam begriff sie wie es lief, schmerzlich wurde ihr bewusst,
was sie ihrem Vater nicht geglaubt hatte.
Silvia musste alles schmerzlich lernen, ganz allein, wusste meist
nicht, wie damit anfangen oder jemals fertig werden, vieles wuchs
ihr über den Kopf, die praktische Ausbildung nicht nur, sondern
auch die Schule mit dem immensen Stoff, die
Bereitschafts-dienste, die Nachtdienste. Besonders die
Lehrschwester, welche die praktische Ausbildung leitete, saß ihr
auf, holte sie willkürlich zu quasi persönlichen Prüfungen von der
Station, obwohl sie keinerlei Recht dazu hatte, doch wen
interessierte das. Bei wem hätte sie sich beschweren sollen? Mit
ihren über Jahrzehnte krankenpflegerisch geschulten Argusaugen
hatte sie Silvias Unbeholfenheit entdeckt, ihre Unsicherheit, ihre
Verlorenheit punktgenau erkannt, nahm sie sozusagen auf die
Nadelspitze, ließ sie dort tanzen & bluten, gefiel sich in der Rolle
der von oben herab Lehrenden, konnte der Verlockung des
leichten Spiels nicht widerstehen. Eine Frau, welche im Zweiten
Weltkrieg freiwillig in Lazaretten gearbeitet hatte, vielfach
vergewaltigt worden war, die Hölle gesehen hatte, wusste, wozu
Menschen, Männer vor allem, fähig sind, eine Frau, die ihre
Jugend im Dreck des Krieges verloren, ihre Mädchenträume
begraben hatte müssen, eine solche Frau besaß kein Verständnis
für ein Mädchen wie Silvia, eine Arzttochter, die es nicht bis zum
Studium schaffte, davon kannte sie unzählige. Sie hatte keine
536
Lust, genauer zu recherchieren, genügend höhere Töchter dieser
Art waren durch ihre Hände gegangen, doch je älter sie wurde, je
weiter alles zurücklag, je unverständlicher anderen ihre
Vergangenheit sein musste, um so mehr klaubte sie sich diese
Mädels heraus und ließ sie leiden, damit sie wenigstens einmal
fühlten, was es heißt, nicht alles mit Leichtigkeit zu kriegen. Für
sie waren es Lächerlichkeiten, Faulheit, Desinteresse,
Wehleidigkeit, was sie gewisse Dinge nicht können ließ, und es
mag wohl das eine oder andere Mal so gewesen sein, doch nicht
in Silvias Fall.
Wenn sie auch nach landläufiger Ansicht kein bisschen verwöhnt
war, nicht im Sinne von Besitz & Material, so war sie es sehr
wohl, was die Freiheit ihres privaten Lebens anging. Also machte
ihr, die in jeder Hinsicht eingeengte aktuelle Lage, derart zu
schaffen, dass sie mehr als einmal davonlaufen, alles liegen &
stehen lassen, heimfahren, irgendwohin verschwinden, dann
wieder sich am liebsten umbringen wollte, am Ende aber
vernünftig genug war, ins Schwesternheim zurückzukehren, sich
ausweinte, irgendwann einschlief und am nächsten Morgen wieder
tapfer aufstand und das Erforderliche tat.
Es belasteten sie die Prüfungen, die praktischen wie die
theoretischen, die ständige Kontrolle, das überpünktliche
Zurückseinmüssen aus der Stadt, von einem Ausflug, einem
Spaziergang. Den hauseigenen Geheimdienst aber unter den
Mädchen, den vorgesetzten Schwestern & Heimvorsteherinnen
empfand sie als das Ärgste, den Tratsch, das Cliquenwesen
sowieso. Wie es zu einem derart genauen Wissen über einen
kommen konnte, blieb ihr auch später, als alles vorüber war,
schleierhaft, die anderen wussten, wie es aussah, beinah mehr
über Silvia als sie selbst.
Sie lebte anfangs mit fünf Kolleginnen im Zimmer, welche
rauchten, redeten, lachten, sich Gebratenes von auswärts holten,
es im Bett verzehrten, Alkohol tranken, Unmengen Kaffee in sich
hineinschütteten, durcheinander schrien, oft die ganze Nacht, sich
537
keinen Deut darum scherten, dass sie schlafen wollte, lernen
musste, Ruhe brauchte. Woher sie selber diese immense Kraft
nahmen, konnte Silvia sich nicht erklären.
Sie vergaß darüber beinah, wie frei sie einst gewesen war, nach
einem halben Jahr schon lebte sie wie in Trance, war weder wach
noch schlief sie, bereute nicht einmal mehr, dass sie den Norden
verlassen hatte, stumpfte ab, absolvierte ihre Prüfungen,
manchmal besser, manchmal schlechter, fiel durch, lernte aufs
Neue, trat wieder an, schaffte es schließlich, meistens nach
mehreren Anläufen.
Dem Vater schrieb sie heiße Briefe, aber nichts von ihrem
Kummer, erzählte darin von Dingen, die so nicht wirklich
geschehen waren oder geschehen konnten, illustrierte ihr
bescheidenes Leben, setzte kleine Glanzpunkte drauf, kaschierte
ihre Enttäuschungen, erwähnte sie mit keinem Wort, verzierte
hingegen die Blätter mit Zeichnungen, Blumen & Sternen, wie
damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, und im
Grunde war sie es noch immer, was sonst hätte sie denn sein
sollen? Wie schnell wird man erwachsen, oder wird man es etwa
jemals oder gar in allem?
Der Vater indes erkannte genau, wie es mit ihr stand, so weit weg
von der beschaulichen Welt des Nordens, die er nun allein
bewohnte, wo er vor dem Kamin saß, wieder & wieder ihre Zeilen
las, immer neue Facetten erkannte, während Silvia in ihrem
chaotischen, lauten Zimmer durchzukommen versuchte, keine
einzige Stunde der Besinnlichkeit mehr kannte, sondern aus
Verzweiflung flüchtete in die Lokale ringsum, wo sie wieder
Schwesternschülerinnen traf, aber auch junge Burschen auf der
Suche nach schneller Befriedigung, geile ältere Männer, die auf
hereinkommende Mädchen Wetten abschlossen, wie schnell sie
diese & jene ins Bett kriegen würden, des weiteren freche Kellner,
anmaßende, herablassende Turnusärzte, die, wie sie meinten, nur
darauf warten mussten, bis ihnen die Mädels ins Netz gingen.
Sie suchte aus Verzweiflung, aus Lebensgier, wovor sie sich
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fürchtete, doch in Wahrheit war sie das unschuldige, arglose
Mädchen vom Land, das sie auf ihre Weise bis zu ihrem Tode
bleiben sollte.
Die Männer zogen sie an & stießen sie ab, dennoch suchte sie
wieder & wieder Vergessen bei ihnen, Ablenkung, Abwechslung,
bevor am nächsten Morgen der Wahnsinn dieser, in weiten Teilen
schier unerträglichen Ausbildung, mir nichts dir nichts, einfach
weiterging.
Schmerzlich vermisste sie eine Freundin, eine Tante, irgendein
nettes Fräulein, bei dem sie hätte ab & zu vorbeischauen, um eine
Tasse Tee bitten, sich ausreden oder weinen können. Nie hatte sie
so jemanden gekannt. Viele besaßen, auch, wenn sie vom Land
kamen wie sie, Verwandte oder befreundete Familien in
Stockholm, nahmen Silvia aber nie zu solchen Treffen oder
Festlichkeiten mit, hüteten ihre Verbindungen, ihre Orte wie
Geheimnisse, verschwanden in der Unerreichbarkeit, in der
Anonymität fremder Familien & Kreise, um später von speziellen
Einladungen, Bekanntschaften, Erlebnissen zu erzählen, mit ihnen
zu prahlen, sie übermütig & stolz vor ihr und anderen
auszubreiten. So konnte sie lernen, dass ein Ereignis erst
Bedeutung & Wert errang, wenn man es Ahnungslosen &
Unbeteiligten erzählte, ja, erzählte überhaupt und dies sogar von
eigentlicher Wichtigkeit war; denn was bitte, war eine noch so
tolle Geschichte, wenn niemand sie kannte, sie bewunderte, sich
daran leid sah?
Eine
gewöhnliche
Schwesterschülerin
bekam
weder
Unterstü-tzung noch Rückhalt, hatte keine Lobby, konnte nicht
auf das geringste Verständnis hoffen, sie wurde hineingeworfen in
eine Welt, die nicht einmal ein älterer & erfahrener Mensch ohne
weiteres verkraftet hätte. Niemand machte sich Gedanken darüber,
welche Zumutungen und welche Schrecken die Konfrontation mit
Tod & Schmerz & Leid für ein junges Mädchen tagaus tagein mit
sich brachte.
Die schwersten Dinge so vieler Menschenleben sah Silvia täglich
539
auf den Stationen, niemand erklärte ihr, wie damit offiziell oder
mit gewissem Abstand umzugehen war.
Das Stöhnen, das Schreien und Angeschrienwerden, das
überraschende wie das in die Länge gezogene Sterben, das Leiden
in jeder erdenklichen & unerdenklichen Form, die oft genug
hilflosen
Linderungsversuche,
die
Gleichgültigkeit
&
Abge-stumpftheit, die ebenso viel Raum einnahmen, verfolgten
sie bis in den Schlaf hinein, trieben sie aus dem Haus, brachten oft
schwere Angstattacken mit sich.
Wusste sie das nicht alles bereits? Lag es denn nicht längst hinter
ihr? Und dennoch, in diesem Ausmaß, dieser Menge, war es ihr
unbekannt gewesen. Vielen erging es wie ihr, ihrer Mutter, ihrem
Vater damals, das sah sie nun.
Tag für Tag wurden tödliche Diagnosen gestellt, den Patienten
mitgeteilt, deren Welt zusammenbrach in einer einzigen Minute.
Gestern waren sie vielleicht noch hoffnungsvoll eingeliefert
worden, selbst mit dem Bus, der Straßenbahn gekommen, eine
Tasche bei sich mit recht magerem Inhalt, für eine Woche oder
höchstens zwei, etwas Rasierzeug, eine Seife, Hauspatschen, was
man halt so braucht, Nachthemden bekam man, hieß es, doch für
den Notfall oder die Besuchszeit brachten sie ein hübsches mit,
hatten keine Angst gehabt, man würde wieder hergestellt, in Kürze
die Anstalt verlassen. Wie oft lagen diese zuversichtlichen
Annahmen weit neben der Wirklichkeit! Es war als würde mit der
Ahnung von der Aussichtslosigkeit, mit der Tragik des
unaufhaltsamen Verlaufs die Hoffnung gleich mitgeliefert, jene
Vorstellung, die so gut wie nicht umzubringen war, auch dann
nicht, wenn es bereits dem Ende zuging.
Hinter diesen gesichtslosen Krankenhausfenstern spielten sich die
wahren Tragödien ab, nicht im Theater oder im Kino, wo alles
unecht war, nur der Unterhaltung, dem Zeitvertreib, der Rührung
diente. Kritiker äußersten sich am nächsten Tag in der Zeitung, im
Radio über die lebensnahe Darstellung von gespieltem Leben &
Leiden, als ginge es dabei auch nur im Entferntesten um etwas,
540
das sich mit einem Krankenhausbetrieb vergleichen ließe, so
jedenfalls sah Silvia es und wohl noch etliche andere, die quasi in
der gleichen Haut steckten. Was hatte die Wirklichkeit schon mit
der Kunst zu tun oder die Kunst mit der Wirklichkeit? Freilich
konnte sie hören, wie sich Ärzte und gewitzte Oberschwestern
über die letzte Opernaufführung anscheinend fachkundig
unterhielten, gleich in der Früh, bei den allerersten Visiten sogar,
während sie eine Schwesternschülerin anfahren konnten oder auch
für Luft hielten. Neben einem Tschapperl ließ sich ja alles sagen.
Silvia ging ab & zu ins Kino, um für eineinhalb, zwei Stunden
Ruhe zu finden vor den echten Dramen, die Zeit zu vergessen, das
Elend der Wirklichkeit, doch nie hätte sie diese Geschichten
geglaubt oder auch nur von ihnen geträumt. Zu offensichtlich war
ihre Flachheit, zu platt, um wahrhaftig zu sein. Sie kannte solche
Leute nicht, sie war zu klug, zu reif, um sich wie manche ihrer
Kolleginnen Illusionen zu machen, die Liebe, um die es in den
Filmen meistens ging oder auch nur die Verliebtheit, für bare
Münze zu nehmen.
Manche Patienten nahmen das Urteil, das eine schwere Diagnose
immer ist, gleichmütig entgegen, schweigend sogar. Andere liefen
Amok, sprangen dem Arzt an den Hals, wieder andere knieten vor
ihm nieder, bettelten um ihr Leben oder nur um ein paar Jahre, so,
als ließe sich darüber verhandeln hier & jetzt, als wäre der Mann
in Weiß vor ihnen kein Geringerer als Gott der Herr. Manche
nahmen es nicht zur Kenntnis, glaubten kein Wort, behaupteten, es
handle sich um eine Verwechslung, das beweisende Röntgenbild,
die Blutwerte gehörten einer anderen Person, gewiss nicht ihnen,
liefen davon, suchten lieber Quacksalber auf, Kräuterhexen,
Kurpfuscher, zogen sich in sich zurück, gingen in die Wälder.
Viele aber glaubten tatsächlich, ein Arzt sei eine Art Jesus in
modernen Kleidern, der ihnen doch helfen können musste, dafür
war er ja da, deswegen hatte er studiert, dafür gehörte er
schließlich zu den Angesehenen & Allwissenden der Gesellschaft,
dafür bekam er Geld, wurde reich und was sonst noch an
541
Annahmen & Vorstellungen in den Köpfen herumgeisterte.
In Filmen gab es das nicht, am Ende musste die Kussszene her,
die große Musik, das Happy End. Wie sehr sehnte Silvia sich
manchmal nach so einer Einstellung im wirklichen Leben! Ob es
irgendwo auch einen Mann für sie gab, den sie lieben konnte, der
sich in sie verlieben könnte, nicht nur diese Krankenpflege, wo
man so viel falsch machen konnte, so viel lernen musste und wo
doch nie jemand zufrieden mit ihr war? Er musste ja schließlich
schon geboren sein, jener junge Mann, der sie einmal genauso
liebevoll in den Arm nehmen und endlos küssen würde wie der
Schauspieler die Schauspielerin?
Die Gespräche ihrer Kolleginnen drehten sich um nichts anderes
als die jungen Ärzte, die älteren Assistenten, die Ehen der
Primare, ihre Liebschaften, um, wer mit wem ein Verhältnis hatte.
Jede einzelne Schwesternschülerin spitzte wie in einem
Groschenroman oder einem Samstagabendfilm auf eine
Liebesgeschichte mit einen Arzt, einem Herrn über Leben & Tod,
über Freude & Leid.
Silvia hatte in ihrem Vater nie den Arzt als Liebhaber, als
Ehemann gesehen, nur ihren allerliebsten & besten Papa.
Vielleicht war ihre Mutter auch einmal so ein verrücktes junges
Mädchen gewesen, eine dumme Gans, die sich nichts Größeres
vorstellen konnte, als quasi per Heirat Frau Doktor zu werden?
Sie würde es nicht mehr erfahren, und es war auch einerlei. Die
Liebe ihrer Eltern war tief & schön gewesen, das wusste sie
zuinnerst, ein Ort, wo Eitelkeiten & Äußerlichkeiten keine
Bedeutung besaßen. Sie selbst, das Kind dieser Liebe, war der
Beweis dafür, dass alles nicht so sein musste, wie es sich hier in
der Großstadt darstellte. Darum vielleicht hatte ihr Vater diese
Gesellschaft geflohen, war in die Einschicht gegangen, um das
Wesentliche zu tun, zu erfahren, sich nicht zu verzetteln in
Oberflächlichkeiten oder Nichtigkeiten, Zerstreuungen oder
Ablenkungen wie sie hier gang & gäbe waren.
Je enttäuschender und trauriger ihre Tage verliefen, umso mehr
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sehnte sie sich nach wirklicher Liebe oder wenigstens irgendeiner
Art von Nähe zu einem Menschen, der ihr eine Perspektive
eröffnen könnte und ihre einsamen Gedanken nicht vollends ins
Leere gehen ließ.
Doch die Wirklichkeit sah trist & leer aus, um sie herum wie in
ihrem Inneren. Die wenigen Turnusärzte, die in Frage kamen,
hatten überall ihre Gspusi, konnten jede Schwesternschülerin auf
der Stelle haben, nützten ihre Stellung in dieser Hinsicht
genüsslich aus, ergriffen jede Chance, fühlten sich keiner
Enthaltsamkeit oder gar Treue verpflichtet.
Es kam darüber höchstens unter den Schülerinnen zu Zank &
Streit, sie beschuldigten sich gegenseitig der Falschheit, der
Hurerei, der Verführung, der Ausspannung eines Geliebten oder
straften einander mit Schweigen & Verachtung.
Ständig gab es deswegen Spannungen & Ärger. Bis spät in die
Nacht erzählten sie ihre Abenteuer; beschrieben die Mahlzeiten,
die sie für Sex, nicht selten den Verlust ihrer Jungfräulichkeit,
genossen hatten. Alles wurde genau besprochen: die Lokale, die
Komplimente, die Blumen, die Vorspeise, die Hauptspeise, das
Dessert, eine Art Ouvertüre auf das folgende Geschehen im Bett,
an einem Baum, in einem Hauseingang, auf einer Treppe oder
einfach die Abfuhren, die Schäbigkeiten, die Knausrigkeit, die
Brutalität, die Kaltschnäuzigkeit, welche ihnen zuteil geworden
war für das geringste Zögern im Nachgeben. Wie die Männer
reagierten, wenn sie befürchteten, nicht auf ihre Rechnung zu
kommen, der Abend nicht nach ihrer Vorstellung verlief.
Die daher allgegenwärtige Angst vor Schwangerschaften lag
sowieso immer in der Luft. Nachts wurde gelaufen, gekotzt, laut
& leise am Gang, in der Dusche, auf dem Klo geredet, geflüstert,
gezischt, geheult, aufgeatmet, vor Freude über die endlich
gekommene Regel geweint, geschrien, die Stiegen rauf & runter
getrampelt. Begierde & Abscheu in einem, was für eine schwere
& würdelose Mädchenzeit, dachte Silvia oft, was für eine Jugend,
und was hatte dies hier mit den Filmen, der Liebe, dem Leben, das
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ihr & ihnen beschieden war, zu tun? Wie & wann kam sie hier
wieder heraus, weg von der tagtäglichen Sinnlosigkeit, den
Anforderungen dieses Berufes, den sie erst lernte und doch schon
satt hatte, ihn zuweilen bereits hasste, weil er kaum Freude
brachte, weil sich niemand um sie selber scherte, niemand die
Schülerin Silvia, das Mädchen Silvia ernst- oder wenigstens
wahrnahm.
Und doch lernten die meisten anderen das Spital auf eine ganz
andere Weise kennen als Silvia, es verbanden sie die
mannigfaltigsten Erlebnisse mit den schon vollwertig
Bediensteten, sie gingen nicht wie Silvia völlig extra bei den
Visiten neben- & hintereinander her, sondern hatten heimlich
miteinander zu tun und zu schaffen.
Das erleichterte vielen ihrer Kolleginnen die Arbeit, sie duzten
manche Ärzte, waren in der Lage, sie beim Vornamen zu nennen,
zwei-, dreideutige Blicke zu tauschen, mit Entgegenkommen &
Nachsicht rechnen zu können.
Wenn ihnen Fehler passierten, wurden sie vertraulich behandelt,
vertuscht, einer anderen in die Schuhe geschoben oder vergessen.
Wer hier nicht mithalten konnte, war arm dran, durfte sich keinen
Ausrutscher
erlauben,
keine
Vergesslichkeit
oder
Gedanken-losigkeit. Die geringste Unaufmerksamkeit konnte eine
Lawine auslösen, eine Kettenreaktion, die kaum noch irgendwo
aufzuhalten war, es sei denn einer dieser weißen Götterlehrlinge
legte sich für einen ins Zeug.
Silvia vereinsamte mitten unter den anderen, obwohl sie nie allein
war, nicht einmal nachts im Zimmer, das sie mit den anderen
teilen musste.
Wieder & wieder hörte sie die Erzählungen der anderen, die
Abenteuer, welche sie in der Stadt erlebten, in den Bars, weiters
die Bekanntschaften, die sie gerade hatten oder beendeten, Interna
über die Ärzte: ihre Beziehungen & Seitensprünge, ihre Kinder,
die ehelichen, die unehelichen.
Sie konnte es nicht mehr ertragen, floh davor, streifte manchmal
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nachts allein durch die Stadt, die Parks, vorbei an Gärten und
Häusern, bekam auch dort Dinge zu sehen, die sie nicht sehen
wollte, doch wenigstens konnte sie das vollkommen verrückte
Zimmer verlassen, in dem sie sich weder konzentrieren noch
ausruhen konnte, nicht lernen, nicht lesen, nichts Privates tun.
Wenn es wieder endlich wärmer & heller wurde, saß sie gerne auf
einer Parkbank im Krankenhausgelände, allein unter einem Baum
mit ihren Heften & Büchern, schrieb dort ihre Briefe nach Hause,
ihr Tagebuch, dem sie ihre ganze Verzweiflung anvertraute.
Doch in der langen kalten Jahreszeit Schwedens war sie auf die
Bibliothek angewiesen, die nicht immer aufgesperrt war, dann
ging sie in die geheizten, erleuchteten Gänge im Keller, was
natürlich nicht erlaubt war. Mit Herumtreibern & Obdachlosen
teilte sie sich nun die dicken warmen Rohre, das grelle Licht und
den Schatten, die Stille, das Rauschen & Knistern der Leitungen,
die Namenlosigkeit, im letzten das Erbarmen einer großen
Einrichtung, die in ihren schier unendlichen und auch
unübersichtlichen Eingeweiden Platz für so manches & manchen
bot. Zwar kam von Zeit zu Zeit ein Nachtwächter, ein
Hausmeister vorbei, doch sie drückten ihre Augen zu, gingen für
gewöhnlich weiter, taten, als hätten sie nichts bemerkt. Sogar die
Hunde, die sie begleiteten, wussten, wie es aussah, Bescheid, sie
erfassten blitzschnell die Lage, vergewisserten sich mit einem
Seitenblick der Stimmung & Haltung ihres Herrn und machten
keinen Mucks. Sowieso kannten sie jeden einzelnen am Geruch,
schon von weitem, lediglich bei Silvia blieben sie anfangs noch
stehen, stutzten kurz, schauten ihr in die Augen, senkten den
Blick, entfernten sich lautlos. Die Hunde hatten ein feines Gespür,
nie griffen sie von sich aus jemanden an, nie machten sie sich über
Gebühr an jemandem oder etwas zu schaffen, sie strahlten
Gleichmut aus, Verständnis, ließen den Menschen ihre Würde,
ihren Ort zum Ausruhen, einen Platz zum Schlafen, gerade, als
wären sie Sozialarbeiter.
Nach dem ersten nächtlichen Rundgang normalisierte sich
545
langsam das Leben in diesen Gängen der Unterwelt, man kroch
vorsichtig etwas hervor, wagte wieder zu atmen, zu rascheln, zu
essen, sich auszubreiten & einzuschlafen.
Wenn Silvia Nachtdienst hatte, lernte sie, wann immer es ging,
zwischendurch, meistens nach Mitternacht, wenn selbst auf einer
Krankenstation Ruhe einkehrt, zwischen eins und vier etwa,
unterbrochen durch einige Rundgänge zwar, bevor das große
Waschen losging, das Spritzenaufziehen, das Vorbereiten der
Infusionen, der Dienstübergabe am Morgen, das Laufen &
Rennen, das Schüsselaustragen, das Desinfizieren, das
Sterilisieren, das Wegräumen & Herräumen. Gab es keine akuten
Aufnahmen in der Nacht, keine besonders schweren Fälle,
verrannen die Stunden ruhig, tickte der Zeiger stetig, von einem
schwarzen Strich zum nächsten, Viertelstunde um Viertelstunde,
nach einer jeden, Zeit, das Buch, die Mappe hinzulegen und leise
nachschauen zu gehen, dies waren die Stunden, in denen sich
Stoff zum Auswendiglernen weiterbringen ließ.
Am Morgen, auf den sie sich wie jede Nachtschwester die ganze
Nacht freute, hatte sie dann viel gelernt, konnte sich also später
leichten Gewissens hinlegen, es durfte nur nicht noch in der Früh
während der Morgenarbeit etwas Unvorhergesehenes passieren,
eine Verschlechterung etwa oder eine plötzliche Aufnahme.
In jedem Nachtdienst wieder, wenn alle weg waren, wünschte sie
sich nichts sehnlicher, als dass alles gut vorübergehen möge, sie
nichts vergessen, keinen Fehler machen, nichts übersehen würde,
die Nacht schnell und ohne Zwischenfall vergehen sollte und sie
die Verantwortung bald an die Kolleginnen des Tages übergeben
konnte, denn was gab es Schöneres, und wer, außerhalb des
Krankenhauses, konnte dies überhaupt verstehen?
Doch irgendwann in ihrem bereits letzten Lehrjahr kam es zu
einem tragischen Ereignis für Silvia. Sie beging jenen schweren
Irrtum, der ihr ganzes folgendes Leben entscheidend verändern
sollte, denn in einem Krankenhaus bedeutet ein scheinbar
geringes Versehen, eine Gedankenlosigkeit nicht etwa den Verlust
546
von Geld oder Material wie im Geschäftsleben, es handelt sich ja
nicht um Büroarbeiten mit Zetteln & Schreibmaschinen nur.
Krankenschwestern, sogar Schwesternschülerinnen bereits, tragen
Verantwortung für menschliches Leben, und ein Fehler kann über
nichts Geringeres als Leben & Tod entscheiden. Mit diesem
Wissen, dieser Vorstellung gehen sie jeden Tag in den Dienst, ein
Leben lang, und dies ist es, was sie so verschieden von anderen,
so schwierig als ganzes, macht.
Seit etwa einem Monat ist Silvia auf einer chirurgischen
Frauenstation, als sie zum ersten Mal zum Nachtdienst eingeteilt
wird.
Die Zimmer sind überfüllt, viele komplizierte Fälle gibt es im
Moment, eine belastende Aufgabe für eine Lernschwester ohne
Routine, die mit nichts anderem beschäftigt ist, als wenigstens
nichts Gravierendes zu vergessen, sich alles zu merken,
seitenweise zu notieren, zu erkennen, worauf es hier ankommt und
das Wesentliche wie das scheinbar Unwesentliche im Auge zu
behalten.
Silvia ist dementsprechend nervös, sehnt schon jetzt den Morgen
herbei, hat keine Ahnung, wie sie diese Nacht mit den vielen
schwerkranken Patienten ganz allein überstehen soll.
Die Dienstübergabe am Abend war bereits mehr als chaotisch
gewesen, die Abendschwestern sind erschöpft von einem langen
Tag, das meiste wird ihr nicht einmal gesagt, lediglich auf die
umfangreichen Aufzeichnungen und die Krankenblätter
verwiesen.
Neuaufnahmen,
Verschlechterungen,
akute
Schmerz-anfälle, unzusammenhängende Berichte, ausständige
oder eben eingetroffene Befunde, Namen & Diagnosen ihr noch
völlig unbekannter Patientinnen stürzen durcheinander auf sie ein,
doch für die Verhältnisse eines Krankenhauses im allgemeinen
und einer chirurgischen Station im besonderen ist daran nichts
Ungewöhnliches. Alle wollen endlich Schluss machen, nach
Hause gehen, sind bereits verspätet, müssen den Bus, den Zug
erwischen, haben noch Verpflichtungen. Die hauptverantwortliche
547
Schwester gibt ihr knappe Anweisungen, läuft von einem Zimmer
ins andere, redet von diesem & jenem, manches versteht Silvia
nicht, anderes hört sie nicht.
Später geht sie ganz allein in jedes Zimmer, von Patientin zu
Patientin, liest alles durch, macht sich Notizen, versucht Ruhe zu
bewahren, beginnt bereits mit Vorbereitungen, für die es noch viel
zu früh ist. Eigentlich ist sie jetzt froh, dass erst einmal alle weg
sind, denn es herrscht kein freundliches Klima auf dieser Station.
Das Verhältnis unter den Schwestern ist kompliziert & distanziert,
schwankt zwischen übertriebener Betulichkeit und barschem
Umgangston.
Silvia hat viel Arbeit die ganze Nacht, kommt kaum dazu, sich
hinzusetzen, einen Tee zu trinken, ihre Jause zu essen. Dauernd
wird geläutet, das Telefon klingelt, es gibt Neuzugänge,
Angehörigenanrufe, außerdem muss sie Krankengeschichten
ordnen, Befunde einkleben, Infusionen umstecken, Medikamente
spritzen, sie ist immer auf den Beinen.
Doch richtig dicht wird es in den Morgenstunden, wenn die
unmittelbar vor der Operation stehenden Patientinnen für den
Eingriff konkret vorbereitet werden müssen. Silvia muss sie
wecken, waschen, in frische Hemden kleiden, bevor sie noch ein
wenig weiterschlafen dürfen.
Das oberste Gebot aber lautet: weder Essen noch Trinken. Schon
am Abend hatte die Hauptabendschwester aus diesem Grund die
Schilder mit dem gedruckten Wort „Nüchtern“ ausgehängt, in
übergroßen Lettern stand es rot auf weiß darauf, über den Betten
der betreffenden Patientinnen angebracht, auch bei einer Frau, die
seit langem auf ihre Operation vorbereitet worden war. Ein
komplizierter, verworrener Fall, an dem seit Jahren von
verschiedenen Ärzten in verschiedenen Anstalten gearbeitet &
gerätselt wurde. Es dürfte wie es ab & zu bei Krankengeschichten
vorkam, schon einiges schief gelaufen gewesen sein, es stand, wie
es aussah, kein guter Stern über ihr.
Sie lag genau genommen nicht einmal in jenem Trakt, den Silvia
548
zu betreuen hatte, und dies war auch die Ursache des
Verhängnisses.
Der Nachtdienst neigt sich bereits dem Ende zu, es ist bald sieben
Uhr früh, die Morgenarbeit seit halb vier Uhr fast vollständig
getan, die bettlägrigen & präoperativen Patientinnen sind
gewaschen, haben ihre Infusionen, ihre Spritzen, die anderen ihr
Frühstück erhalten.
Es werden die letzten Dinge überprüft, die Dienstübergabe
geschrieben, die ersten Lernschwestern kommen bereits, um die
Betten zu machen, als es in einem Zimmer plötzlich einen Alarm
gibt.
Eben jene Frau, die endlich zu ihrer, so lange geplanten
Operation, gebracht werden soll, läutet. Die Stationsschwester, die
bereits eingetroffen ist, sich ein erstes Bild des Morgens, der
vergangenen Nacht zu machen versucht, bittet Silvia,
nachzusehen.
Sie geht sofort, macht kein Licht, will die anderen noch schlafen
lassen, geht zum einzigen Bett, das mit einer kleinen
Nachttischlampe beleuchtet ist.
Die Dame bittet sie um etwas zu trinken, behauptet, sie habe nicht
wie die anderen ihr Frühstück bekommen, sei einfach vergessen
worden.
Silvia ist übermüdet, in Gedanken bereits weg von der Station,
will endlich schlafen, diese Nacht hinter sich lassen, die
Verantwortung abgeben, übersieht daher das im Dunklen
hängende Nüchternschild, geht hinaus und organisiert für Frau
Lundvall, nie im Leben wird sie diesen Namen vergessen, nie
mehr ohne Gänsehaut sagen oder denken können, organisiert also
ein Tablett mit Kaffee & Milch, ein, zwei Butterbroten,
Marmelade, einem Glas Wasser. Das Hausmädchen, welches
heute für das Frühstück zuständig ist, wird beauftragt, ins Zimmer
zu gehen und zu servieren.
Frau Lundvall ist bereits sediert, das heißt, sie hat
Beruhigungsmittel bekommen, auch dies übersieht Silvia.
549
Bedenkenlos lässt sich die Patientin das verspätete Frühstück wie
sie meint, schmecken, hat vergessen, dass man sie am Vorabend
noch über ihre Operation am nächsten Morgen informiert hatte.
Eine dreiviertel Stunde später liegt sie auf dem Operationstisch,
und als der Anästhesist sie intubiert, beginnt sie endlos zu
erbrechen.
Ein Albtraum beginnt, nimmt seinen Lauf, die Patientin ringt mit
dem Tod, Ärzte & Schwestern schreien wild durcheinander, die
Botschaft verbreitet sich wie ein Lauffeuer.
Keine Atmung, bald auch keine Herzfrequenz mehr. Es ist nicht
schwer, herauszufinden, was passiert war, Silvia wird auf der
Stelle überführt, wie eine Kriminelle zuerst ins Schwestern-, dann
ins Ärztedienstzimmer gebracht. Sie erzählte später nie
jemandem, was sie dort zu hören bekam, am Ende hätte sie es
wohl selber nicht sagen können.
Während im Operationssaal noch um das Leben der Patientin
gekämpft wird, bricht die Lernschwester zusammen. Sie hat
niemanden und nichts mehr, findet keinen Trost, kein Verständnis
weit & breit, ist zu einem Häufchen Elend geworden von einer
Minute auf die andere.
Der Primar, der als letzter kommt, weiß schon Bescheid, läuft
aufgebracht durch den Korridor, während vor und neben ihm die
Türen auf- und zufliegen, in wenigen Minuten hat sich alles
verändert, liegt kein Stein mehr auf dem anderen.
Danach läuft Silvia leichenblass & panisch durch die
Hauptglastür, stößt mit einem jungen, noch ahnungslosen Arzt
zusammen, und, als existiere er nicht, läuft sie ihn schier über den
Haufen.
Was ist geschehen?, fragt er sie und mustert sie misstrauisch,
während er sie mit Nachdruck aufhält. So ein Zusammenstoß in
einem Krankenhaus kann nichts Gutes bedeuten, denkt er. Das
Mädchen ist vollkommen von Sinnen, schreit, tobt, weint. Jeder,
der dort arbeitet, hat immer wieder einen Traum, eine Ahnung,
eine Angst dieser Art, ist jedes Mal aufs Neue froh, wenn ein Tag
550
ohne Zwischenfall, ohne sich am Leben eines Patienten schuldig
gemacht zu haben, vorübergeht.
Jeder Handgriff, jede Gedankenlosigkeit, jedes Missverständnis
birgt die Gefahr des Todes, der Schuld am Sterben eines
Menschen in sich.
Ich, ich, ich habe etwas falsch gemacht!, ist schließlich zu
vernehmen, kaum, dass er es versteht.
Was ist los? Was hast du falsch gemacht?
Frau Lundvall, ich, ich!
Was ist mit ihr?
Sie sollte heute operiert werden!
Ja, und?
Ich, ich hhhhabe......., ich habe ihr etwas zu essen gegeben!
Man kann sie immer noch morgen drannehmen, versucht er sie zu
beruhigen, das macht doch nichts, es wird bestimmt alles wieder
gut!
Nein, nichts wird gut, sie ist erstickt!
Oh Gott!
Er lässt sie los. Stille, absolute Stille. Auch ihm stockt der Atem,
er fängt sich aber schnell, um sie zu trösten:
Man wird sie reanimieren, beatmen, alles versuchen, bestimmt!,
sie wird gewiss überleben!, antwortet er beschwörend und
mechanisch, ohne seinen Schrecken verbergen zu können.
551
Ja, aber.........
Dies war wie in einem kitschigen Groschenroman Silvias erste
Begegnung mit dem jungen Doktor Sommerfeld.
Ein Unglück hat sie zusammengeführt, Jahre später sollte ein
ebenso großes Unglück sie trennen.
Frau Lundvall konnte lebend vom Tisch gebracht werden, was
dem Ehrgeiz der Ärzte zu verdanken war, die niemanden im
Operationssaal sterben lassen wollen. Auch wurde sie tatsächlich
nach langer Behandlung und sorgfältigster Vorbereitung noch
einmal operiert, doch nicht lange darauf, wenige Tage nach ihrer
Entlassung, starb sie.
Nach allgemeiner Ansicht war dieser erste dramatische Vorfall
aber die Ursache für den späteren, so schlechten körperlichen &
geistigen Zustand, von dem sich die Patientin nicht mehr erholte.
Silvia kehrte auf diese Station nicht mehr zurück, beendete
anderswo das vorgeschriebene Praktikum, musste unangenehme
Befragungen und sogar alle möglichen Tests über sich ergehen
lassen.
Es gab Untersuchungen, Gespräche, Besprechungen mit anderen
Bediensteten, mit Silvias Schulkolleginnen. Silvia wurde zunächst
von Schule & Dienst suspendiert, ihr Geistes- & Nervenzustand
unter die Lupe genommen, ihr Vater kontaktiert, der schließlich,
wohl weil er Arzt war, bewirken konnte, dass sie ihre Ausbildung
abschließen durfte.
Dem jungen Doktor Sommerfeld aber ging dieses Mädchen nicht
mehr aus dem Sinn, es beschäftigte ihn, sie tat ihm in der Seele
leid. Er war ja selbst jemand, gegen den sich die anderen oft
gewandt hatten, jemand der also wusste, was es bedeutete, mit
Schmerz & Verzweiflung allein zu sein.
Dazu war Silvia in ihrem Schwesternschülerinnengewandl ein
allerliebstes Geschöpf, hübsch, unschuldig, voller Idealismus,
guten Absichten, und es gab eigentlich nichts, was ihm an ihr
552
nicht gefiel, abgesehen von dem schicksalhaften Fehler, den sie
begangen hatte, doch wer, wenn nicht er, verstand ihre Lage, wer,
wenn nicht er, wusste um die Gefahr des Schwesternberufes, hatte
er sich doch, seit er seinen Turnusdienst versah, oft gewundert,
wie unheimlich viel die Schwesternschülerinnen lernen mussten
ohne die dicke Grundlage eines Medizinstudiums und wie sie im
letzten genauso viel zu verantworten hatten wie ein Arzt; die
Zumutung, die darin lag, die Vermessenheit, ja Verwegenheit
seitens derer, die es doch verstehen mussten, die jungen Mädchen
eine Verantwortung aufbürdeten, von deren Ausmaß sie zunächst
keine Ahnung hatten und über welches man sie im Unklaren ließ.
Silvias kleines viereckiges Häubchen saß gerne etwas schief
hinten im lockigen, dunklen Haar, ihre Wangen waren rot wie bei
allen Landmädchen, sie wurde leicht verlegen und wusste
dennoch genau, was sie wollte.
Auf der Nase gab es die letzten Sommersprossen, die noch an ihre
Kindheit erinnerten, sie war bummelig, alles andere als raffiniert,
ehrlich.
Alexander schaffte es nicht, sich nicht um sie zu kümmern,
besuchte sie im Schwesternschülerinnenheim, was genau
genommen verboten war, sorgte sich um sie während der langen
ungewissen Zeit, in der über ihr Schicksal entschieden wurde.
Schließlich konnte sie doch noch ihre letzten Prüfungen ablegen,
ihre ausständigen Stationen absolvieren und erhielt ihr Diplom,
wenn auch ein halbes Jahr später als ihre Jahrgangskolleginnen,
mit recht guten Noten.
Langsam gewann sie, nicht zuletzt durch Alexanders Hilfe, ihr
Selbstvertrauen wieder und kehrte, begleitet von Rückschlägen,
Alpträumen, Depressionen schließlich in ein halbwegs normales
Leben zurück. Abends kam Alexander vorbei, ging mit ihr
spazieren, ließ sie nicht fallen, was sie zuerst gar nicht verstehen
konnte, denn ihr Selbstwertgefühl hatte unendlich gelitten, war
auf den Boden geplumpst, und er war & blieb der einzige, der sich
so fürsorglich & verständnisvoll verhielt. Alle anderen zogen sich
553
zurück, sorgten für Distanz, schauten weg, gingen ihr aus dem
Weg, wo immer sie konnten. Sie sehnte sich nach ihrem Vater und
durfte doch nicht zu ihm, musste hier & jetzt zu ihrem Fehler
stehen, die Verantwortung tragen, wurde hin- & hergerissen
zwischen Zuversicht & Hoffnungslosigkeit. Doch wie ein Engel
tauchte Abend für Abend, außer, wenn er Nachtdienst hatte,
Alexander bei ihr auf. Lange schon spähte sie hinaus, hielt
Ausschau, freute sich bereits den ganzen Tag auf den Augenblick,
wenn er in seinem roten Jackett um die Ecke bog, auf den kleinen
Gartenweg, der zum Schwesternheim führte, näher & näher kam,
seinen Blick schon von weitem in ihr Fenster, an dem sie stand,
lenkte und zu ihr hinaufwinkte, obwohl er sie hinter den
Vorhängen doch nur erahnen konnte.
Sie lief an den Türöffner, ohne auf das Klingeln zu warten,
drückte wie verrückt auf den Knopf, sodass es in allen Gängen zu
hören war und ließ ihn herein. Warum dies niemand unterband?,
vielleicht gab es im Hintergrund eine barmherzige Seele, die
wegschaute, die Lage verstand und nichts unternahm. Auch durch
Unterlassung geschehen Dinge, nicht nur durch Zulassung, sollte
Alexander später sagen.
Alexander brachte allerlei Essen mit, Gebäck, Getränke, die eine
oder andere Flasche Wein sogar, schließlich führte er sie aus, sie
gingen tanzen, umarmten sich, küssten sich, am Ende, am Ende
machte er ihr einen Heiratsantrag. Längst kannte er ihre
Geschichte, ihr Schicksal und sie das seine. Sie schienen, wie es
so schön heißt, füreinander bestimmt zu sein.
Die Zeit der Verliebtheit ließ Silvia gesund werden, Zuversicht
gewinnen. Sie wurde beneidet um diesen besonderen jungen Arzt
namens Alexander Sommerfeld, der so ganz anders war, so still
und doch so einflussreich, so anerkannt, so bewundert, so begabt.
Die älteren Ärzte, die allesamt seine Vorgesetzten waren,
beobachteten ihn, sie mochten seine andächtige Art, an die Dinge
heranzugehen, bezogen ihn in ihre Entscheidungen ein, fragten
ihn nach seiner Meinung, obwohl sie noch kaum medizinisch
554
fundiert sein konnte. Die Stille, die ihn schon damals umgab,
sollte er immer ausstrahlen, die Kraft dieser Stille, ihre schier
unendliche Tiefe.
Auch, als er mir das erste Mal gegenübertrat, ging etwas von ihm
aus, das ich kein einziges Mal zuvor in solchen Situationen erlebt
hatte, nämlich eben diese Stille, diese Ruhe trotz der Hektik, die
plötzlich keine mehr war, gegenstandslos wurde vor dem
Augenblick, der jene höchste Konzentration verlangte, in der er
die Entscheidungen traf ohne äußere Anzeichen von Aufregung,
ohne zu schreien, zu fuchteln wie ich es sonst von Ärzten gewohnt
war. Auch ich hielt inne vor dieser Aura, diesem Moment, der
einer heiligen, fast priesterlichen Handlung glich.
Als Krankenschwester muss man allerhand gewohnt werden,
vieles ausgleichen, aushalten, verstehen, verdrängen. Ärzte sind
oft anmaßend, arrogant, etliche sogar dumm, beschränkt,
bestimmend, und doch haben sie das Sagen, so meinen sie,
besonders über die Schwestern.
So musste es auch Silvia einst ergangen sein, genau wie mir in
jener Nacht, als ich zum ersten Mal Alexander sah und meinen
Augen & Ohren nicht traute, nicht zu trauen wagte. Wer hatte
jemals einen solchen Arzt, einen solchen Menschen gesehen?
Die, für ihn verblüffende Ähnlichkeit zwischen seiner, lange toten
Frau Silvia & mir, hatte zur Folge, dass er zwar in vielen Jahren
erst, doch umso sicherer zurückkehrte in mein Leben. Obwohl ich
nichts davon wusste, es unvorstellbar & skandalös anmuten
musste, kam er zurück, denn es war, als stünde es geschrieben
irgendwo, und als gäbe es nichts anderes als diesen Weg zu gehen,
als müsse sich eine Schrift, ein Schicksal, eine Prophezeiung
erfüllen.
Was bestimmt ist, muss geschehen, sollte er eines Tages zu mir
sagen, und es geschah. Selbst damals ahnte ich nicht, wie gläubig
er war; er, der Jude, der Seinem Gott anhing, einem Gott, der ihm
Sinn & Halt gab, der ihn so besonders, so außergewöhnlich
555
machte.
Er traf jede Entscheidung im Einklang, in Absprache mit Seinem
Herrn in der Unendlichkeit, ganz gleich wie groß oder klein sie
war. Daraus schöpfte er den Mut, der getrost eine ungeheure
Dreistigkeit genannt werden darf, brachte ihn auf die Idee,
zurückzukehren und mein Leben genau wie das seine, bis in die
Grundfesten zu erschüttern und zu verändern, ja sogar jenes von
Ottokar, meinem Mann und unseren Kindern, das von diesem
Moment an nicht nur nicht mehr das unsere, das uns vertraute,
sondern ein vollkommen anderes war. Alles konnte zerbrechen
sogar, zerfallen, sich aufhören, und doch sollte es, sollten wir alle
zusammengehören, wie es uns bestimmt war von Anbeginn der
Welt, so wie es geschrieben stand vielleicht in den Sternen, im
dunklen Himmel der Nacht, im grellen Licht des Tages, in den
Tiefen des Meeres, den Weiten, den Bergen, dem Schnee, dem
Sand, irgendwo in der Ewigkeit von Raum & Zeit.
XXI
Silvias & Alexanders Hochzeit
Als die familiären Formalitäten mit der Hochzeitserlaubnis seitens
Silvias Vater endlich vorüber waren, und nachdem Silvia ihr
Schwesterndiplom in der Tasche hatte, wurde alsbald geheiratet.
Alexanders Vater, als er es erfuhr, war zu gleichen Teilen besorgt
& erfreut, besorgt, weil er seinen einzigen Sohn noch lieber länger
in Freiheit gesehen hätte, erfreut, weil Alexander wohl sehr
556
glücklich sein musste, wenn er diesen Schritt jetzt tat und seinen
Vater um seinen Segen bat.
Es lag ja noch nicht allzu lange zurück, dass er ihn wegen seiner
Promotion nach Stockholm eingeladen hatte. Gerade, dass er es
noch geschafft hatte, der Verleihung des Doktortitels
beizu-wohnen.
Der Brief hatte ihn erreicht, als er gerade so gut wie eingeschneit
gewesen war und ein heftiger Wettereinbruch drohte, die Reise in
den Süden Schwedens unmöglich zu machen. Die Zeit drängte
ungeheuer, doch es war ihm sogar gelungen, Alexander in
Stockholm anzurufen, dieser hatte ihm dann versichert, er müsse
nicht kommen, erwarte es auf keinen Fall, er solle sich nicht in
Gefahr begeben, es sei nichts Besonderes, eine rein universitäre
Veranstaltung, bei der die meisten Eltern überhaupt nicht
anwesend seien, was natürlich mitnichten der Wahrheit entsprach.
Alles war viel zu knapp, doch für Herrn Sommerfeld wäre das
Versäumen der Promotion seines Sohnes eine persönliche
Katastrophe gewesen, ein Versagen, welches er sich nicht
verziehen hätte.
Mein Gott, wie hatte er sich beeilt, während Alexander allen
Ernstes hoffte, sein Vater möge nicht kommen, die Feier schnell
vorübergehen. Er wünschte sich nur ein paar freie Tage, vielleicht
Wochen zu bekommen, bevor er seinen Turnus antreten musste,
und wer weiß, wann er wieder aus dem Krankenhaus herauskam.
Doch Herr Sommerfeld ließ nichts unversucht, er eilte, hetzte,
setzte alles daran, pünktlich zu sein, bewegte sich langsam &
hurtig zugleich, also sicher zu auf Stockholm.
Am Tag der Promotion hatte Alexander noch immer keine
Nachricht von seinem Vater. Beim Betreten der großen Aula sah er
eine Menge Menschen, Eltern, Familienangehörige anderer
Studenten, es gab sogar schreiende Säuglinge unter ihnen,
einfache Bäuerinnen, elegante Damen mit Hüten, Herren in
dunklen Anzügen, angereist von überall, doch sein Vater war nicht
darunter.
557
Alexander war erleichtert, ein bisschen aber auch traurig. Sein
Vater hatte es nicht geschafft. Doch immerhin, es war Januar, was
konnte man erwarten, es waren die denkbar widrigsten Umstände
für eine Reise. Er war einer von zwölf Medizinern, die heute ihre
Doktorwürde erhalten sollten, und wenn sein Vater auch verspätet
kam, würden sie gewiss dieses Ereignis bald privat feiern und für
wenige Augenblicke alles vergessen und zusammen sein wie
früher, und hatte er ihm schließlich nicht selbst geschrieben, er
müsse nicht kommen, es sei nicht nötig, ja, gar nichts Besonderes,
doch nun, als es soweit war, wurde es Alexander doch etwas
bange, denn die Angehörigen aller anderen waren ja gekommen,
hatten sich gewiss auch nicht ganz einfach durchgeschlagen,
außerdem gab es noch den Gedanken, die Sorge, ob seinem Vater
wohl nichts zugestoßen war.
Es fingen schon die gesalbten Reden an, der Dekan, der erste
Professor, der zweite Professor, ein weiterer Professor, ein
Doktorant. Ein Kollege nach dem anderen erhielt seine Urkunde,
Alexander war an vorletzter Stelle, nach ihm kam nur noch einer
namens Zanthorst.
Plötzlich öffnete sich quietschend wie im Theater die schwere Tür
und Alexander sah sofort, dass es sein Vater war, der eintrat und
sich verbeugend & schleichend & entschuldigend in den vorderen
Bereich des Saales arbeitete. Just als Alexander aufgerufen wurde,
stand auch er ganz vorne, und als ob das nicht genug wäre, blieb
er nicht etwa stehen, um das Geschehen aus geringer Entfernung
zu beobachten, sondern stieg auf das Podium und richtete aus dem
Stand das Wort an den Vorsitzenden.
Entschuldigen Sie bitte vielmals meine Verspätung, ich bin so
schnell ich konnte, gekommen, denn sehen Sie, dies ist mein
einziger Sohn, der heute Doktor wird. Sie müssen wissen, er ist
ohne Mutter aufgewachsen, sie kann heute nicht hier sein, sie ist
bei Alexanders Geburt gestorben, weil der Arzt wegen eines
Schneesturms damals nicht gekommen ist.
Seinem Vater rannen die Tränen über die Wangen, er konnte nicht
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mehr weiterreden. Er hatte sich so überaus schön & sorgfältig
gekleidet, trug einen schwarzen Gehrock mit weißem Hemd &
weißer Fliege, und doch genierte sich Alexander, was ihm
gleichzeitig sehr leid tat, denn er liebte seinen Vater über alles,
doch hier vor seinen Kollegen, dem ganzen Auditorium, der
ehrwürdigen Universität, den Eltern der anderen, war es ihm
peinlich, seinen Vater das Privateste, beinah Allerheiligste
offenbaren zu hören.
Der Professor aber war sehr beeindruckt, lobte Alexander, denn er
promovierte als einziger mit Auszeichnung, gratulierte gerührt
dem eleganten Herrn, der da vor ihm stand und vor Stolz &
Demut zitterte. Dem Dekan kamen solche Szenen durchaus öfters
unter, er wusste um die Opfer, welche die Familien der
Absolventen mitunter brachten, auf wie viel sie verzichten hatten
müssen, was ein Tag wie dieser vor allem, vor allem für die Eltern
und sogar für die Geschwister, Onkeln, Tanten, Großeltern, die
alle mitgeholfen hatten, eine Promotion wahr werden zu lassen,
bedeutete und auch ihrer Ehre genüge getan werden musste, dass
sie Dank & Anerkennung erwarteten, mit feuchten Augen im
Publikum saßen und ihre ganz persönlichen Entbehrungen im
Hintergrund belobigt wissen wollten.
Vater, bitte!, hatte Alexander ihn zu unterbrechen versucht, aber er
hatte sich nicht beirren lassen, sondern weitererzählt, wie schwer
es für Alexander gewesen war in all den Jahren, und wie übergroß
daher die Freude in diesem großen Augenblick. Sein Vater wählte
die Worte mit Bedacht und doch mochten sie auf die Leute
befremdlich wirken, so dachte Alexander, doch in Wahrheit waren
alle betroffen, still, manche weinten sogar, vielen sprach er aus
dem Herzen.
Er hätte zerspringen mögen vor Stolz auf seinen Sohn, auf Rahel,
die Mutter, seine geliebte, seine tote Frau, die jetzt, jetzt in dieser
Stunde ganz nah und ganz bei ihnen war.
Danach gingen sie in ein Restaurant, und es stellte sich heraus,
dass Herr Sommerfeld dort einen Tisch reserviert hatte, um mit
559
seinem Sohn stilvoll zu dinieren. Es kamen nach & nach noch
einige Freunde, Bekannte, die Haushälterin, und alle überreichten
dem Doktoranten Geschenke, Blumen, Glückwünsche. Sie
tranken Champagner, feierten bis in den Abend hinein, brachen
schließlich vollgegessen, vollgetrunken & überglücklich auf.
Und nun, nach weniger als einem Jahr nach diesem Ereignis ging
es bereits um Alexanders Hochzeit.
Als der erste Schreck vorüber war, freute sich Herr Sommerfeld
darüber, wollte nicht mehr länger eifersüchtig & griesgrämig sein,
ließ sich nichts anmerken und begann, Alexanders Heirat zu
planen, zu finanzieren.
Nicht ahnen konnte er, welch‘ schwieriges Gegenüber er in Silvias
Vater bekommen würde.
Als seine zukünftige Schwiegertochter ihm vorgestellt wurde,
wunderte er sich über die Einfachheit und natürliche Schönheit
des Mädchens, auch er, so dachte er, hätte sie sich ausgesucht. Er
konnte Alexander verstehen, und doch ging von ihr etwas aus, das
Herrn Sommerfeld beunruhigte, denn Silvia erschien ihm fahrig,
ungeduldig, etwas desinteressiert im allgemeinen, zuweilen sogar
abwesend. Vielleicht ignorierte sie gar Alexanders Sensibilität,
seine tiefe Gescheitheit, seine Feinheit, stellte selbstsüchtig nur
sich in den Mittelpunkt, solche Frauen gab es, und jetzt zu Anfang
merkte Alexander es noch nicht, er war verliebt, gewissermaßen
nicht zurechnungsfähig. Und doch, war es nicht richtig so,
wenigstens für den Anfang? Später würde sie an Alexanders Seite
womöglich kein ganz einfaches Leben haben, denn er würde viel
Zeit mit seiner Arbeit verbringen, überlegte er, würde sich der
Forschung widmen, doch Silvia war ja selbst Krankenschwester,
die Tochter eines Landarztes, sie würde gewiss alles verstehen,
und Alexander konnte am Ende wohl nichts Besseres als eine Frau
wie Silvia passieren. Wenigstens hatte er sich keine höhere
Tochter genommen, der er nur zu dienen hätte, die sich ständig in
der Gesellschaft herumtreiben wollte, von Haus aus verwöhnt war,
Erwartungen hatte, ständig Ansprüche stellte, sich vernachlässigt
560
fühlte und im Grunde nur an sich dachte. Doch ihm wäre
schließlich jedes Fräulein recht gewesen, er durfte sich nicht
einmischen, war nur besorgt um seinen einzigen Sohn, aber die
Hauptsache blieb doch, dass Alexander glücklich war und mit ihr
zurecht kam, es war seine Frau, sein Glück, und die
Schwiegertochter konnte man sich nicht aussuchen. Er gewann
Silvia lieb, sie war ihrem zukünftigen Schwiegervater gegenüber
schweigsam, schüchtern, wäre am liebsten davongelaufen, das sah
er sogleich, doch ließ sie tapfer die Zeremonie des Vorstellens &
Befragens über sich ergehen, und was durfte er mehr erwarten.
Geheiratet wurde ohne Frage nach evangelischem Ritus in
Stockholm, man war nicht gefragt worden, es wurde bestimmt,
und Alexander nahm es an, sein Vater verlor darüber kein Wort,
schließlich konnte er nicht auf einer jüdischen Hochzeit bestehen,
doch schmerzte es ihn, obwohl er kaum ein gläubiger Jude
genannt werden durfte, schmerzte es ihn, dass es für Alexander
keinen Tag unter der Chupa geben sollte.
Vielleicht hatte Alexander Silvia gegenüber sein Judentum nicht
erwähnt, gewiss war sie ohne Ahnung davon, ebenso ihr Vater,
aber man musste sich fügen, man musste still sein, dachte er
traurig, sein Innerstes in sich verschließen und es auf diese Weise
retten. Wer weiß, wie es aufgenommen worden wäre, wer weiß?
Vielleicht war es besser so, vielleicht sicherer, es war so viel
geschehen seit aller Zeit, seit der Diaspora, seit man einem Volk
auf Wanderschaft angehörte. Was wussten die Gojim, was
interessierte es sie? Und war schließlich nicht, nicht einmal Rahel
eine ganze Jüdin, obwohl Tochter eines Rabbiners, gewesen? Ach,
was war es doch mit diesen Dingen, sollte man sie nicht endlich
begraben, ad acta legen und sich vollkommen assimilieren?
Alexander, sein Sohn, hatte wohl recht, man sollte nicht länger auf
dem Alten bestehen, sondern froh sein, dass man dazu gehörte und
nicht länger ausgegrenzt wurde. Und dennoch dachte er in diesen
Wochen & Monaten oft an Rahel, wie gläubig sie gewesen war,
ihre Familie, Alexanders verstorbene Großeltern, und was sie
561
wohl alle dazu sagen würden.
Der Tod löst manche Komplikation, so schmerzlich er ist, er
schafft klare Verhältnisse, lässt keine Zweideutigkeit mehr zu,
jene Menschen, an die er so oft denken musste, sie waren nicht
mehr, all dies war nicht mehr, Alexander jetzt Bräutigam, Silvia
seine auserwählte Braut, in ihr hatte Herr Sommerfeld nun eine
Tochter, und es war gut. Eine neue Familie würde entstehen auf
einer neuen Grundlage, nichts sonst zählte, nur die Liebe, genau
wie es einst für ihn & Rahel gewesen war.
Nun konnte die Zeit der Vorbereitungen beginnen, sich mit Silvias
Vater zu treffen, war ihm wichtig, der indes kam kein einziges
Mal aus dem Norden herunter, beantwortete keine Briefe, traf
keinerlei Vorkehrungen, sondern arbeitete, wie es aussah, wohl
einfach weiter, scherte sich um nichts, gerade so, als ginge es ihn
nichts an. Man musste kein Hellseher sein, um sich einen Reim
darauf zu machen, einfach würde es gewiss nicht werden,
vielleicht schmollte sein Gegenüber, vielleicht wollte er gar dem
ganzen fern bleiben.
Herr Sommerfeld ließ sich nichts anmerken, lief von hier nach
dort, ging ganz in den Tätigkeiten, die ein solches Fest erforderte,
auf, bezahlte die tausend Dinge, um die es nun ging, ob es Silvias
Brautkleid oder Alexanders Frack war, die Blumengestecke, der
Brautstrauß, das Menü, die Einladungskarten, das Hotel oder die
Hochzeitsmesse im Stockholmer Dom. Es machte ihm gar nichts
aus, für seinen prächtigen Sohn mit Geld um sich zu werfen, er
wollte nur, dass alles so schön wie möglich war. Alexander
versuchte ihn einzubremsen, war gar nicht der Ansicht, man
müsse diesen Aufwand treiben, doch Silvia, die zum ersten Mal
einen solchen Luxus sah, war hellauf begeistert. Und schließlich
hatten beide keine Mutter, das Mädchen einen Vater, welcher
vollkommen ausließ, so musste er doch alles ersetzen &
ausgleichen, so gut es ging.
Doch je näher das Hochzeitsdatum rückte, umso nervöser &
unberechenbarer wurde Silvia. Bald fing sie an, an Alexander
562
herumzumeckern, war launisch, unausgeglichen, es kam zu Streit,
sogar heftigen Auseinandersetzungen wegen Kleinigkeiten, die sie
später meistens vergessen hatte, zuvor aber wichtig genug
gewesen waren, um Alexander schwere Vorhaltungen zu machen.
Der Dienst im Krankenhaus setzte ihr zu, wegen Alexander wurde
sie, so behauptete sie jedenfalls, gemoppt, weil man sie beneidete.
Sie begann damit, ihm Eifersuchtsszenen zu machen, auch wenn
er nur dienstlich mit einer ihrer Kolleginnen sprach. Natürlich war
der fesche junge Arzt ein besonderer Anziehungspunkt für
Schwestern & Schwesternschülerinnen, er hätte leichtes Spiel
gehabt, was er dennoch nicht ausnutzte. Immer wieder geriet er in
kleine Fettnäpfchen, welche man um ihn herum aufstellte, und in
die er arglos hineintappte. Silvia, die ohnehin alles mit Adleraugen
betrachtete, fand in jeder noch so kleinen Begebenheit einen
Grund, um mit Alexander zu streiten, sich auf die unsinnigste
Weise seiner Liebe versichern zu lassen. Alexander indes hoffte,
es würde nach der Hochzeit damit vorbei sein und versuchte, ein
wenig Abstand zu gewinnen, ihre Launen nicht allzu ernst zu
nehmen. Auch wenn es Silvia nach diesen Streitereien aufrichtig
leid tat, sich hysterisch aufgeführt zu haben, sie sich dramatisch
entschuldigte, steinerweichend weinte, konnte sie doch im
Augenblick nicht anders.
Weil Alexander ihre Kindheitsgeschichte inzwischen kannte, das
Leid, welches sie tragen hatte müssen, brachte er unendlich viel
Geduld & Verständnis auf, sagte seinem Vater nichts von seiner
Sorge, es könnte womöglich auch nach der Hochzeit so bleiben,
obwohl er gerne mit jemandem darüber gesprochen hätte.
Einmal gab es ein Treffen mit Tante Marie, die sofort Silvias
schwierigen Charakter erkannte und Alexander mit strengen
Augen ansah, darauf bestand, ihn bald, also vor der Hochzeit,
allein zu sprechen.
Sie warnte ihn, sie beschwor ihn, es sich noch einmal zu
überlegen. Ganz offen meinte sie, Silvia sei nicht gut genug, nicht
gut genug für einen Sommerfeld, und Alexander erschrak über die
563
Ehrlichkeit, nein, die Überheblichkeit seiner Tante, die zwar das
beste für ihn wollte, doch gegen seine zukünftige Frau
herablassend & abweisend war. Wie konnte sie so etwas sagen,
war er selber blind oder war sie es? Ließ ihre Eifersucht sie so
unangemessen reagieren? Das Gespräch ließ ihn nachdenklich &
verunsichert zurück, seine Tante hatte ihm ins Gewissen geredet,
ihm eine Seite gezeigt, die er bisher weder an Silvia noch an
Marie zu erkennen vermochte, und doch hatte sie irgendwie recht,
denn seit er mit Silvia zusammen war, lebte er ständig in Furcht,
etwas falsch zu machen, zu wenig für sie zu tun, zu viel zu
arbeiten, alles brachte ihn seither aus dem Konzept. Doch wenn
die Hochzeit erst vorüber wäre, würde es sich einrenken, würden
sich seine Sorgen erübrigen, dies war die einzige Antwort, die
einzige Hoffnung, welche ihm einfiel. Wie einen Rosenkranz
wiederholte er für sich immer wieder diesen einfältigen Satz.
Doch niemand wusste es, die Tage vergingen schnell, sie waren
schon leicht abzählbar, es blieb keine Zeit mehr für einen
Aufschub, für irgendwelche Überlegungen, jedes Innehalten
seinerseits würde Silvia falsch auslegen, alles wäre auf eine Flucht
hinausgelaufen, doch Alexander war sogar trotz seiner
grundsätzlichen Verliebtheit dieser Gedanke bereits gekommen,
vor allem da Silvia fortfuhr, ihre Launen an ihm auszulassen und
kaum ein Treffen verging, an dem sie sich nicht stritten. Er
versuchte, keine Anlässe zu liefern, jede noch so kleine Frage zu
umgehen, doch jedes Wort, jede Geste konnte das Fass zum
Überlaufen bringen, und wenn er alles richtig zu machen schien,
kam sie mit völlig unvorhersehbaren Behauptungen, mit
irrwitzigen Konstruktionen, die auf ihre bereits krankhafte
Eifersucht hindeuteten. Alexander wusste längst, dass es ihr
lediglich an Selbstvertrauen fehlte, an Bewusstsein überhaupt,
fand aber keine Möglichkeit, ihr das zu sagen oder ihr zu helfen
außer durch Geduld & Liebe, die er ihr immer & immer beteuern
& beweisen musste. Sie brauchte eben noch Zeit, und daran hing
er seine Hoffnung.
564
Der Hochzeitstag verging schneller als erwartet, alles lief nach
Plan, sein Vater hatte die Organisation in die Hand genommen und
ein wunderbares Fest ausgerichtet. Sogar Silvias Vater war
rechtzeitig da gewesen, die Väter hatten sich bekannt gemacht und
artig nebeneinander gesetzt, es war eine kleine doch allerfeinste
Hochzeitgesellschaft, die Gäste sahen zufrieden aus, waren guter
Dinge, und die Braut war so bezaubernd wie eine Märchenfee.
Tante Marie ließ sich nichts anmerken, sie lächelte in jedem
Augenblick, trug einen hübschen Hut, ein seidenes hellblaues
Kostüm und bewegte sich sicher neben Alexanders Vater, beinah,
als wäre sie die Mutter des Bräutigams. Sie war es schließlich, die
ihre Schwester Rahel vertrat an diesem Tag aller Tage, und auch
Herr Sommerfeld genoss sichtbar ihre Nähe, ihre Schönheit, ihre
Eleganz. Ihre Augen ruhten nur auf Alexander, ihr Herz weinte
um ihn, während ihre Lippen lächelten, ihre Sorge galt nur ihm,
ihr Segen, ihre Sehnsucht, ihre Wünsche für seine Zukunft, sie
mochte sich nicht ausdenken wie nun alles werden würde,
welches Schicksal auf Alexander wartete, was ihm sein Leben an
der Seite dieser Frau bringen würde. Doch sein Herz hatte sich für
sie entschieden, und diese Entscheidung musste sogar Marie
hinnehmen. Doch zuinnerst wusste sie, dass diese Ehe unter
keinem guten Stern stand, dafür war Silvia viel zu seltsam, zu
ungebildet, sie schätzte in Maries Augen Alexander nicht, hatte
keine Ahnung, wer er war und würde es auch nie begreifen.
Maries Urteil über sie war gesprochen, ein hartes unveränderbares
Urteil, das wie ein böses Orakel über ihr hing und keinen Segen
für die Braut bereit hielt. Silvia freilich hatte keine Ahnung von
den tatsächlichen Gedanken Maries, und doch ging auch sie ihr
aus dem Weg.
Alexander war nun einmal verliebt in Silvia, das verstand sogar
Marie, und bei aller Schwierigkeit war er doch auch
zuversichtlich und freute sich auf sein neues Leben als Ehemann.
Die Hochzeitsnacht verbrachten sie in einem Hotel in Stockholm,
später im Sommer würden sie ihre Hochzeitsreise nach Venedig
565
angehen, darauf freuten sie sich, anders und schneller war es
wegen Silvias Dienstplan nicht möglich gewesen.
Bereits in dieser ersten Nacht kam es wieder zu Streit, Alexander
fand, dass Silvia & er viel zu müde & erschöpft waren nach
diesem anstrengenden Tag, nach all den Tagen davor, um
unbedingt miteinander zu schlafen. Er schlug vor aus Rücksicht
auf ihre und seine Müdigkeit und da ohnehin unendlich viel Zeit,
wie er meinte, vor ihnen lag, lieber zu schlafen und nicht
krampfhaft alles durchzuziehen. Doch Silvia drehte durch, war
weder bereit, mit ihm ins Bett zu gehen noch es bleiben zu lassen,
fand das eine wie das andere roh & rücksichtslos. Aus Furcht, die
anderen Gäste könnten von ihrem Streit aufwachen und weil er
diese Nacht nicht entweihen wollte, zog Alexander seinen Mantel
an und ging aus dem Haus. Hinunter zum Hafen wie schon früher
manchmal, um nachzudenken, Klarheit zu gewinnen, auszulüften,
den Kopf frei zu bekommen von den ängstlichen Gedanken, die
ihn besonders jetzt bedrückten. Er war auch verletzt, er wollte
allein sein, keine Ausflüchte, keine Entschuldigungen suchen,
sondern einfach ans Wasser gehen, in den Himmel schauen,
niemanden sehen, und er spürte wie heiße Tränen über seine
Wangen zu rinnen begannen, ließ ihnen endlich freien Lauf, ergab
sich dem Weinen, vielleicht wurde sein Herz davon leichter, denn
sein Glück hatte sich bereits in Unglück verwandelt.
Als er ein enges Gässchen entlanggeht, kommen ihm just sein
Vater und sein Schwiegervater entgegen. Alexander kann nicht
weg, ein Zusammentreffen lässt sich nicht verhindern, und dies zu
einer Stunde, da wohl alle denken, das Brautpaar würde sich
miteinander vergnügen, die Hochzeitsnacht in Glück & Freude
verbringen, all die romantischen Vorstellungen bedienen, welche
gewöhnlich um dieses Ereignis kreisen. Doch nun stand
Alexander den beiden Männern gegenüber. Alexanders Vater
erkannte sofort, was los war, während der andere den Bräutigam
scharf zur Rede stellte. Wo es das gäbe, dass eine Braut in der
Hochzeitsnacht alleine wäre, wo um Himmels Willen seine
566
Tochter sei. Alexander konnte sich später an nichts erinnern, sein
Vater erzählte es ihm nach Jahren erst, sodass er eine Idee davon
bekam, was dieser damals für ihn getan hatte.
Wie schwer musste es für seinen Vater gewesen sein, für diese
Situation eine Erklärung zu finden, seinem Sohn in diesem
Moment zu helfen. Gerade hatten sich die beiden Väter etwas
angenähert, waren ein klein wenig weinselig & angeheitert
unterwegs, da kam ihnen mir nichts dir nichts ein verzweifelter
Bräutigam entgegen. Alles andere hätten sie jetzt erwartet, nur
nicht dies, selbst eine königliche Limousine, welche vor ihnen
gehalten hätte, um nach dem Weg zum Palast zu fragen, wäre
normaler gewesen.
Herr Sommerfeld konnte nichts tun als seinen Sohn in die Arme zu
nehmen und mit ihm zu weinen. Silvias Vater dachte zunächst, er
hätte zwei Irre vor sich, doch für die beiden war es
selbstverständlich, Freude & Leid miteinander zu teilen, und sie
schämten sich nicht, es zu zeigen. Und doch, in diesem
Augenblick muss auch dem anderen klar geworden sein, dass
seine Tochter vielleicht nicht ganz bei Trost war, es womöglich
an ihr lag, an ihrer Kindheit, der Abgeschiedenheit, in der er sie
nach dem Tod seiner Frau erzogen hatte, und dies vielleicht die
Gründe sein mochten, warum es nun mit Silvia nicht klappte und
auch er nicht anders konnte als andere in Schwierigkeiten zu
bringen. Ein jeder schließlich sah, Alexander und sein Vater, sie
waren gute Leute, großzügig, verständnisvoll, bestimmt nicht
hochmütig oder herablassend. Man sah ihnen ihre Bildung, auch
ihre Herzensbildung an, sie hatten Charakter, waren zwar reich
aber dennoch einfach im Umgang. Alexander hatte sich in seine
Tochter Silvia verliebt, obwohl sie nichts darstellte, ein schlecht
ausgebildetes Mädchen vom Land war, dennoch war er bereit
gewesen, sie zu heiraten. Für den Augenblick beschämten sie ihn
sogar, doch später bei Tageslicht betrachtet, fiel auch er wieder
zurück in seine alten misstrauischen Ansichten.
Alexander & Silvia zogen in eine eigene Altbauwohnung, und
567
zunächst arbeiteten sie beide am selben Krankenhaus, wenn auch
auf verschiedenen Abteilungen. Wer jeweils früher vom Dienst
nach Hause kam, heizte den eisernen Ofen ein, bereitete das Essen
zu.
Silvia hatte große Schwierigkeiten mit dem Einheizen, das Feuer
ging ihr meistens aus, einmal war das Holz zu nass, einmal stopfte
sie zu viel Papier hinein, ein andermal zu wenig, und wenn sie
sich inzwischen seelisch auch etwas stabilisiert hatte, konnte sie
doch immer wieder wegen Kleinigkeiten oder aus Gründen, die
außerhalb ihres gemeinsamen Lebens mit Alexander liegen
mussten, die Nerven verlieren.
Alexander absolvierte seinen Turnus, war bald Assistenzarzt,
entschied sich für die Ausbildung als Kinderfacharzt, durchlief
fast mühelos die Jahre seiner Spezialisierung, denn die Arbeit
machte ihm Spaß, und eines Tages kam er mit einer Idee nach
Hause, die ihrer beider Leben mit einem Schlag verändern sollte.
Er breitete auf dem Küchentisch ein buntes Dossier aus, eigentlich
eine Werbebroschüre, die Ärzte animieren & ermuntern sollte, in
armen Ländern Entwicklungshilfe zu leisten.
Dritte Welt, Erfahrung im Ausland, Unterstützung für Afrika,
Asien, Lateinamerika. Vom Amazonas bis zum Mekong. Der
Idealismus wurde angesprochen, die Humanitas, die Caritas, die
Verantwortung, die Nächstenliebe, die Forschung, große Wörter,
große Möglichkeiten, ein Traum von Freiheit, unterlegt mit
Fotographien, welche Ärzte & Schwestern in den entlegendsten
Gebieten der Erde zeigten, umringt von kleinen schwarzen
Kindern, ganz nackt oder kaum bekleidet, dankbaren Müttern, die
ohne solche Projekte der Armut, dem Hunger, dem Tod
preisgegeben wären, so die logische Erklärung.
Werden auch Sie Mitglied in unserer Vereinigung, die sich den
Kampf für eine bessere Welt zum Ziel gesetzt hat, welche die
Linderung der Not, die Heilung von Krankheiten und ein Leben in
Würde auch in den ärmsten Ländern unseres Planeten ermöglicht.
Widmen Sie einige Jahre ihres Lebens einer wirklich guten Sache!
568
Investieren Sie in die Zukunft, helfen Sie uns helfen… .
Es
handelte
sich
konkret
um
ein
medizinisches
Entwicklungs-hilfeprojekt in Zentralafrika. Alexander wollte das
Prospekt Silvia nur zeigen, er hatte nicht vorgehabt, sie zu
überreden, nicht im Traum daran gedacht, sie zu einer
Zustimmung zu bewegen. Doch sie war sofort begeistert,
verdrehte die Augen, seufzte und meinte lapidar, dann brauchen
wir wenigstens nicht mehr einheizen und uns darüber streiten, wer
es tut.
Alexanders Vater war zwar besorgt, doch nicht dagegen während
Silvias Vater darauf bestand, persönlich unterrichtet zu werden. So
machten sie sich eines Tages auf den Weg hinauf in den Norden,
wo sie nach einer langen beschwerlichen Reise bei Wind & Wetter
wieder abweisend empfangen wurden. Silvias Vater war strikt
dagegen, er wollte seine Tochter nicht nach Afrika! Afrika! fliegen
lassen, war es doch schlimm genug, dass er sie nach Stockholm
verloren hatte. Hörte es denn nie auf, war sie denn noch immer
nicht weit genug fort von ihm, hatte sie ganz vergessen, dass er
sterben könnte, nicht mehr unendlich viel Zeit auf Erden hätte,
dass es eines Tages für alles zu spät sein könnte! Ohnehin würde
sie nicht zurückkommen wie anfangs vereinbart, ohnehin hätte er
keine Enkelkinder bei sich, ohnehin war er längst der Einsamkeit
anheim gegeben. Jetzt konnte er nicht einmal mehr nach
Stockholm reisen, um sie zu sehen. Er hatte also recht behalten,
hatte es gewusst, es war soweit, seine Tochter hatte vor, ihn
vollkommen & endgültig zu verlassen.
Du bringst sie mir persönlich hierher zurück, hörst du,
Alexander!, Schwiegersohn, persönlich! Ich werde hier sein und
warten, die drei Jahre werden vergehen, ich werde mir etwas
ausdenken, um sie zu überstehen, aber du musst mir versprechen,
sie zurückzubringen. Und es ist das letzte Mal, es wird keine
weiteren Jahre außerhalb Schwedens für sie geben.
Alexander versprach es, auch ihm war es ernst, er hatte Mitleid
mit Silvias Vater, verstand ihn nur zu gut, wusste, was es bedeutet,
569
vom einzig geliebten Menschen getrennt zu sein, kannte das Wort
„Warten“ in seiner innersten, seiner schwersten, seiner
hauptwörtlichen Bedeutung.
Mit diesem Versprechen verließen sie ihn.
Die nächste Zeit war geprägt von umfangreichen fachlichen &
persönlichen Vorbereitungen, Sprachkursen, Spezialausbildungen,
Informationsabenden.
Herr Sommerfeld verabschiedete die beiden schließlich auf dem
Flughafen von Stockholm, auch ihm musste heilig versprochen
werden, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, regelmäßig, also
mindestens alle zwei Wochen zu schreiben, damit wenigstens ab
& zu etwas Post ankam. Er wollte sich mit Silvias Vater
kurzschließen, ihn nach Möglichkeit besuchen, eine eigene
Korrespondenz mit ihm pflegen.
Dennoch schmerzte es, Alexander gehen zu lassen, seine junge
Frau Silvia, die Herr Sommerfeld liebgewonnen hatte, auch er
sorgte sich, er gab nur vor, guter Dinge und voller Zuversicht zu
sein, während sein Herz rasend klopfte und gegen seine Brust
hämmerte, als wollte es demnächst herausspringen. Als sie außer
Sichtweite waren, rannen ihm die Tränen die Wangen hinunter,
wischte er sich mit Tüchern & Ärmeln das Wasser aus den Augen,
dem Gesicht. Zitternd drehte er sich um, verließ, ohne sich noch
einmal umzuwenden, die Halle. Ein schwerer Abschied für alle,
voller Bedrückung & Sorge.
Aber so ist es, dachte er, man muss die Kinder eines Tages gehen
lassen, man darf sie nicht zurückhalten, so schwer es auch fällt, so
weh es auch tut, sie gehören einem nicht, auch nicht, wenn es nur
ein einziges ist. Und er begann mit Rahel zu reden, mit Rahele,
und sie gab ihm recht, sie verstand ja alles, sie war ja im Himmel
gleichermaßen wie auf Erden, ach, was täte er ohne sie!
Wie gut, dass er seiner Arbeit nachgehen konnte, so verging die
Zeit, schon war der erste Tag vorüber, morgen der zweite, bald die
ganze Woche und so weiter und so weiter.
Die Tage würden sich aneinander reihen, Woche an Woche, ein
570
Monat ist fast nichts, zwölf davon gibt es pro Jahr,
vierundzwanzig mal Post, das ganze wiederum drei mal.
Ach, es war schon nicht mehr aussichtslos, er würde den beiden
ein hübsches Häuschen kaufen, vielleicht gar bauen lassen, was
insofern besser wäre, als es Zeit bräuchte, die wiederum gerade
darum schneller verrinnen würde. Er nahm sich so viel vor, dass
er beinahe Eile hatte, sich sputen musste, um alles planmäßig &
rechtzeitig zu ihrer Rückkehr fertig zu haben.
Herr Sommerfeld wartete quasi professionell, arbeitete viel &
effektiv, wenn sie, er & sein Sohn, etwas konnten, dann dies,
Alexander würde gewiss wie er ihn kannte, dasselbe tun und auf
diese Weise seine Zeit, sein Heimweh verkürzen. Über die
längsten Strecken & Entfernungen hinweg konnten sie so einander
nahe sein, waren es immer gewesen, jetzt gereichten ihnen die
Ereignisse der Vergangenheit zum Trost, ließ sie alles durchstehen
& erträglich werden.
Doch auch der junge Alexander war schließlich nicht leicht
gegangen, sorgte sich nicht weniger um seinen Vater, wusste wie
es um ihn, um sie beide stand, auch er weinte, auch er wischte
sich die Tränen aus den Augen während Schweden unter ihm &
Silvia in der Ferne verschwand. Das Flugzeug brachte sie weit
fort, unvorstellbar weit, und doch, er würde zurückkehren; würde
in Afrika Gutes tun, viel lernen, um letztlich auch in seinem Land
besser helfen zu können. Seine Gedanken waren idealistisch,
Gedanken wie diese gehörten zur Jugend, Gedanken wie diese
mussten nun in die Wirklichkeit umgesetzt werden, auf dass er
später einmal seinen Kindern vielleicht, seinen Enkelkindern
davon erzählen konnte. Er gehörte zu keiner Generation, von der
verlangt wurde, in den Krieg zu ziehen, sein Land war neutral, der
geographisch so nahe Holocaust war an ihm vorüber gegangen, er
kannte nur Frieden, hatte immer alles gehabt außer einer Mutter,
und war er es nicht gerade ihr und gerade deswegen schuldig, aus
seinem Leben etwas besonderes zu machen! Nein, nicht
kleinmütig & engstirnig wollte er werden, sondern großherzig &
571
mutig, auch wenn er in Wahrheit Angst hatte zu versagen. Auch
gab ihm seine Ehe einiges Kopfzerbrechen auf, Silvia hatte sich
als schwierig herausgestellt, als unsicher, und doch, sie war jetzt
seine Frau, mit der er alles meistern konnte, mit seiner
Entscheidung für sie war sie auch sein Schicksal geworden, seine
Zukunft, seine Familie, sein Leben.
Er trug nun auch private Verantwortung, eine Verantwortung, an
die er nicht dauernd erinnert sein wollte, auch wenn sie zu ihm
gehörte, er sich dafür freiwillig & bewusst entschieden hatte. Die
berufliche Seite seines Lebens würde ihn halten, ihm Sicherheit
geben, schließlich Sinn. Es war ihm bereits klar, dass er daraus
seine Stärke ableiten würde, dort seine Ziele liegen mussten, denn
nach allem, was zwischen ihm & Silvia bereits geschehen war,
hatte sich eine gewisse Ernüchterung in ihm breit gemacht, ihm
Wind aus den Segeln genommen, auch ein wenig die Zuversicht,
welche ihm sein erfolgreiches Studium gegeben hatte.
Alexander wusste schon jetzt, dass seine Ehe nicht unkompliziert
verlaufen würde, Silvia viel zu viel Schweres, Vergangenes,
Unbewältigtes mit sich trug, was sich wahrscheinlich nicht
übergehen ließ, nicht lösen, ohne es aufzulösen, nicht
überspringen, sondern immer wieder zu Tage treten würde,
vielleicht gerade dann, wenn genug anderes seine ganze Kraft
erforderte.
Er war guten Willens, sein Bestes zu geben, Silvia, so schwer es
ihm manchmal erschien, zu lieben, ihr in allem beizustehen, über
vieles hinwegzusehen, ohne es zu übersehen. Noch hatte er keine
Ahnung, wie es in Afrika laufen würde, welche Aufgaben auf ihn
warteten, es war ein Schritt ins Ungewisse, und doch, wie könnte
es anders sein? Zu allen Zeiten war es so gewesen, niemand weiß
schließlich, niemand wusste es jemals, und war es nicht gut so!?
Was jetzt & ferner auch vor ihm liegt, was die Zukunft bringt, er
muss zuversichtlich bleiben, Vertrauen haben, mutig sein.
Alexander lenkte den Blick auf Silvia, die neben ihm saß, verloren
zum Fernster hinausschaute, bald einschlief. Ihr Kopf sank an
572
seine Schulter. Er war es, der jetzt stark sein, ihr Halt geben
musste, in seinen Händen lag ihr Glück, und wenn er es schaffte,
würden sie beide es gut haben. Er war jetzt nicht nur fertiger Arzt,
sondern auch Ehemann, vielleicht bald Vater, wer weiß, es war
sein Leben, das nun begonnen hatte, und er war allein, auch wenn
die guten Gedanken seines Vaters ihn immer & überall hin
begleiteten, doch jetzt ließ er ihn zurück, seinen lieben Vater.
Doch war es nicht immer so gewesen, und ist es nicht einerlei, ob
tausend oder zehntausend Kilometer zwischen ihnen liegen? Sie
gehören zusammen auf immer, und ihre Gedanken & Wünsche
weilen verlässlich beieinander. Das einzige, was fähig wäre, sie zu
trennen, bleibt der Tod, und doch ist die Entfernung von seinem
Vater bereits die Vorbereitung darauf, die Generalprobe für seine
wirkliche Einsamkeit auf Erden, für jene, hoffentlich späte Zeit,
wenn er einmal niemanden mehr hinter sich haben wird, die letzte
Katastrophe vor dem eigenen Sterben. Sein Vater hatte ihn gehen
lassen & gehen lassen müssen, und zum ersten Mal fühlte er sich
erwachsen, wusste er, was es mit diesem Wort für eine
Bewandtnis hatte. Es war nun mit allem ernst geworden, und
doch, war es nicht so gut wie allen Männern, ganz gleich, welcher
Zeit, welchem Volk sie angehörten, vor ihm ähnlich ergangen? Er
fühlte sich eins mit ihnen, ob in Schweden, in Russland, in China,
wo auch immer. Sein eigener Weg führte ihn nun nach
Schwarzafrika, sein Beruf, den er gewählt hatte, gab ihm die
Möglichkeit, dies zu tun, und zum ersten Mal vielleicht in der
ungeschriebenen Geschichte seiner Familie, betrat jemand die
Mitte dieses, des Schwarzen Kontinents.
Doch er war auch glücklich, jetzt in diesem Augenblick, er wollte
ihn genießen, sich immer seiner erinnern, ihn nie vergessen, eines
Tages davon erzählen können, auch wenn noch alles vor ihm und
in weiter, weiter Ferne lag. Sich merken, welch‘ bange Gedanken
ihn bewegt hatten, welche Schüchternheit trotz allen Mutes, aller
Hybris in ihm gewesen war, doch jetzt musste er erst einmal seine
Aufgaben bewältigen, seine und vor allem die Erwartungen
573
anderer erfüllen. Über diesen Gedanken überkam ihn die
Müdigkeit, sodass er einschlief, genau wie Silvia, und schlafend
erreichten sie nach vielen, vielen Stunden die Zentralafrikanische
Republik, das Ziel ihrer Reise, den Ort ihrer Arbeit.
Sie bekamen eine jener kleinen Hütten zugeteilt, die dem Personal
vorbehalten waren, und es gab kein Ehepaar außer ihnen, alle
anderen
waren
allein
gekommen,
wohnten
in
Gemeinschafts-unterkünften oder mit einem Freund, einer
Freundin zusammen, selbstverständlich streng nach Geschlechtern
getrennt.
Es gefiel ihnen allen sofort, alles war einfach, doch zweckmäßig,
klein, aber ausreichend.
Silvia & Alexander verfügten sogar über eine kleine Küche, eine
Schlafnische mit einer großen durchhängenden Pritsche aus
geflochtenen Lianen, eine Bank mit einem Kuhfell darauf, alles
auf gestampftem Boden, elektrisches Licht gab es keines. Einige
Truhen, die wohl von auswärts oder früheren Bewohnern
stammten, standen herum, die Tür verschloss man mit einem
Holzgitter, Kerzen & Streichhölzer konnte man sich zuteilen
lassen.
Zuerst erhielten sie eine Führung durch die Wohnanlage, bekamen
die wichtigsten Dinge erklärt, welche das private Leben und die
Organisation des Lagers betrafen, anders konnte diese
Hütten-Ansammlung ja nicht genannt werden. Jeder begriff sofort,
dass es mit Feierabend oder Unterhaltung, wenn es denn so etwas
geben sollte, nicht weit her war. Dennoch war man guter Dinge,
durfte sich wenigstens nach den Strapazen der Anreise und der
Einführung einmal eine Woche lang akklimatisieren, dann erst
würde die letzte Mannschaft, welche bisher hier tätig gewesen
war, abreisen, und für den Augenblick waren alle erschöpft &
zufrieden.
Die ersten drei Tage & Nächte schliefen Silvia & Alexander,
brauchten weder Nahrung noch Wasser. Die schier außerirdische
Hitze weckte sie schließlich, die Kleider klebten an ihrer Haut,
574
ihre Schleimhäute sogar waren ausgetrocknet. Als sie die Augen
aufschlugen, sahen sie ein schwarzes, spärlich bekleidetes
Mädchen in der Tür stehen, das ihnen scheinbar zugeteilt war und
auf Anordnungen wartete.
Als diese nicht daherkamen, sondern die beiden auf der Pritsche
sie nur anstarrten, ging sie hinaus und brachte zwei Tongefäße mit
Wasser. Sie stürzten sich darauf, tranken alles in einem Zug aus
und übergaben sich auf der Stelle mitten auf den Boden. Das
Mädchen wischte stoisch alles mit einem struppigen Besen aus
dem Häuschen hinaus vor die Tür, wo die Flüssigkeit im Nu
verschwunden war. Als es zurückkam, schlief das Ehepaar bereits
wieder. Silvia & Alexander sollten mehr als vier Wochen
brauchen, ehe sie einsatzbereit, also sicher auf zwei Beinen stehen
konnten und gleichzeitig bei Verstand waren. Das ständige hin &
her zwischen Trinken & Erbrechen hatte sich so lange fortgesetzt,
hinzu kamen Durchfall, Fieber, Zittrigkeit, abgrundtiefer Schlaf,
hektisches Aufwachen, Schwindel, Schwäche, und nur
schemenhaft nahmen sie in einigen wacheren Momenten ihre
Bedienstete war, die andauernd damit beschäftigt zu sein schien,
sie irgendwie zu tränken und mit Not am Leben zu erhalten.
Ab & zu kam ein weißer Mann, wahrscheinlich ein Arzt, legte
ihnen eine Infusion, gab jedem eine Spritze, später schüttete das
Mädchen eimerweise Wasser über sie, entfernte sich wieder.
Irgendwann, eines Nachts dann, standen sie auf, traten aus der
Behausung und sahen über sich einen Sternenhimmel, der so hell
war, dass sie in der Dunkelheit einander erkennen konnten. Die
Hitze in ihren Körpern war vorüber, sie fühlten sich hohl & leer,
doch gesund, endlich wieder wach und klar im Kopf.
Der Weg aus der Kälte Skandinaviens in die Hitze Afrikas hatte
erst nach der Landung begonnen, denn ihre Körper ließen sich
nicht überlisten, nicht betrügen. Noch lange kämpften sie gegen
das Klima, denn nicht nur die Seele war noch in Schweden.
Langsam nur betraten sie den fernen Kontinent, langsam nur
wurden sie brauchbar, langsam nur erlangten sie den Punkt, ab
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dem sie selber helfen konnten und ihnen nicht mehr geholfen
werden musste.
Die meisten anderen waren bereits in den Dschungel, die Dörfer
gefahren, hatten sich schlau gemacht über alles Mögliche, das
zentrale Krankenhaus, die kleinen Stationen & Camps außerhalb,
kannten sich längst aus, nicht so das Ehepaar Sommerfeld.
So in etwa schilderte Alexander mir im Jahr 1993 seine erste
Ankunft in Afrika vor inzwischen beinahe dreißig Jahren.
Als Silvia nicht mehr lebte, kam er noch mehrmals zurück nach
Afrika, blieb für Jahre, ließ sogar seinen Vater kommen, der auf
die Idee kam, draußen in der Wildnis, wo es bisher nur wandernde
Lazarette gab, ein Krankenhaus zu bauen.
Auch Alexander war dieser Gedanke schon gekommen, doch sah
er derweil keine Möglichkeit, ein Projekt dieser Größenordnung
in Angriff zu nehmen, war noch viel zu beschäftigt mit der
aktuellen Arbeit, hatte für sich ein Forschungsgebiet entdeckt und
verfolgte zunächst neben den eigentlichen Aufgaben, vor allem
diese Idee. Auch hatte Alexander keine Ahnung, dass sein Vater
auf der Suche nach etwas war, das seinem Reichtum einen Sinn zu
geben vermochte.
Während Herr Sommerfeld seinen Sohn besuchte, im
Zentralkrankenhaus oder auch einer Dschungelstation auf ihn
wartete, gingen ihm ununterbrochen diese Überlegungen durch
den Kopf. Wie es inzwischen seine selbstverständliche Art war,
unterhielt er sich mit Rahel über alles, überredete sie, und mit
ganz konkreten Vorstellungen fuhr er eines Tages zurück nach
Schweden, um nach einem halben Jahr mit einem Architekten
wiederzukommen, der bereits die fertigen Pläne in der Tasche mit
sich führte und einem verdutzten Alexander vorlegte.
Ein klassizistisches Haus sollte es nach seines Vaters Vorstellung
werden mit einem antiken griechischen Portikus, mit weißen
Säulen und im dreieckigen Giebel des Eingangsbereichs musste
stehen in Stein gemeißelt: VON RAHEL & ALEXANDER.
Fast konnte man meinen, es wäre ihm nur darauf angekommen, so
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wichtig war ihm dieses Detail.
Als Alexander die Pläne zum ersten Mal sah, sogar ein kleines
papierenes Modell wurde auseinandergefaltet, hielt er seinen Vater
zwar für übergeschnappt, doch freute er sich auch über diese
Geste, erkannte zum ersten Mal, dass er wohl aus einem wirklich
reichen Hause stammte, denn, wie es aussah, spielte Geld keine
besondere Rolle, wie sonst wäre kein einziges Mal ein Wort
darüber verloren worden, doch gleichzeitig tat es ihm leid, dass es
so mühelos ging.
Während Alexander arbeitete & forschte, wuchs das Haus. Sein
Vater stellte alles Nötige auf die Beine, ließ einen schwedischen
Baumeister mit seinen Männern einfliegen, die nicht eher heimdurften, als bis alles fertig war. Wie ein antiker europäischer
Tempel stand es da, das Krankenhaus, umringt von uralten
Bäumen. Jedes Mal, wenn Alexander vorbeischaute, um sich mit
seinem Vater zu treffen, konnte er sich vom Fortgang des Baus
überzeugen. Bald fehlte nur noch die Inneneinrichtung.
Nach weniger als zwei Jahren wurde das neue Gebäude in
Anwesenheit des Präsidenten sowie der Stammeshäuptlinge in
aller gebotenen Feierlichkeit eingeweiht. Aus nah & fern kamen
die Leute, schwarze & weiße, vor allem schwarze, Frauen &
Kinder, sogar uralte Männer & Medizinmänner, christliche wie
muslimische Priester, Magiere, und alle feierten & segneten sie
die Errichtung dieses Hauses, Herrn Sommerfeld und seinen Sohn,
und Alexander sollte es mir so erzählen:
Es gab Schwarze darunter, die hell waren wie ein Milchkaffee und
andere blauschwarz wie Heidelbeeren im schwedischen
Spätsommer, Frauen mit verstümmelten Nasen & Ohren,
tätowierten Gliedmaßen & Gesichtern mit feuerroten
Entzündungen, und doch, es hatte wohl alles seine Richtigkeit, es
war ein Fest wie es noch keines in dieser Gegend oder sonst wo
gegeben hatte. Es wurde die ganze Nacht getrommelt, getanzt,
gegrillt, gegessen, getrunken, und mein Vater war der glücklichste
von allen, er saß ganz still unter den Menschen, verwundert,
577
entzückt, zwischen Ungläubigkeit & Stolz, zwischen Freude &
Leid, zwischen Lachen & Tränen, zwischen Zeit & Ewigkeit, ja,
zwischen Himmel & Erde.
Und wer hätte es ihm verdenken können, denn seine Augen ruhten
auf mir, glänzten wie zwei Sterne, und als er mich zu sich rief, war
er nicht imstande, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen.
Tränen der Freude, der Stille inmitten des Lärms ringsherum,
Tränen der Sehnsucht nach Mutter rannen ihm die Wangen
hinunter, und heute weiß ich, dass sich für ihn der Kreis nun
geschlossen hatte und er angelangt war am Ende seines irdischen
Weges, am Beginn der Ewigkeit.
Und als hätte ich es geahnt, sagte ich zu ihm: Vater, Mutter wäre
stolz auf Dich, sodass er antworten konnte, sie ist es, sie ist es,
mein Sohn, auf mich und auf Dich, ich glaube, wir haben ihr
entsprochen, ich glaube, sie ist zufrieden mit uns, ja, vielleicht
sogar stolz!
Als wir dieses Zwiegespräch am