PRELUDE … eine Liebe, eine schicksalsschwere Begegnung, ein Vergehen sogar, unermesslich & maßlos, ein Glück so unsagbar & ungekannt … . Die Niederschrift & Edition dieser Geschichte ist Geständnis & Beichte zugleich, Freude & Leid über bereits Vergangenes noch einmal. Ist ein Bekenntnis vor aller Öffentlichkeit, schuldig zu sein, ja, in einem alten religiösen Sinn gesündigt zu haben, wenn ein Wort wie Sünde heute noch verständlich ist, doch auch in einer modernen Bedeutung, wo die Sitten locker & einfach geworden sind, man sich längst von allem, was Einschränkung mit sich bringt, befreit hat wie von altem Gerümpel, es so weit gekommen ist, dass beinah niemand mehr weiß, was dieser Begriff überhaupt meint, man sich verliebt & trennt, verheiratet & scheiden lässt, kokettiert & betrügt, aufhört und von vorne anfängt; selbst dort mutet eine Geschichte wie diese, außerordentlich & skandalös an, denn in Wahrheit sind wir nicht wie wir glauben zu sein, in Wahrheit sind die meisten bieder & spießig, tragen Ängste & Ängstlichkeiten in sich, von denen sie keinem etwas sagen, welche sie allen verheimlichen, die sie nüchtern nicht zugeben würden, und wer weiß, wenn mir nicht all dies widerfahren wäre, vielleicht würde auch ich kein Verständnis dafür aufbringen. Erzogen in katholischen Klöstern war es mir nicht ohne weiteres möglich, mich über meine Erziehung hinwegzusetzen, sie quasi unter den Tisch fallen zu lassen, mich gleichgültig von dieser, mich immer begleitenden, manchmal auf mir lastenden Prägung, zu distanzieren. Ich habe mich einst gewundert, wie man trotz des recht léger gewordenen Benehmens zwischen den Geschlechtern in diesem alten & modernen Europa, das für seine Freiheit Kriege führte, Revolutionen anzettelte & vollendete, Blut vergoss, vollmundige 1 Manifeste schrieb, in Kerkern für die Gleichheit schmachtete, Menschenleben hingab, wie man da im ersten wie im letzten und im ganz Persönlichen so altmodisch, ja, beinah frömmelnd sein kann und wie sehr das geringste mitunter befremdet. Doch Gegensätze & Widersprüche, Wahrheiten & Unwahrheiten sind vereinbar, ja, dringend vonnöten, sie gehören zusammen wie Pech & Schwefel, wie Tag & Nacht, wie Schatten & Licht, auch wenn sie scheinbar verschieden sind. Doch möchte ich nicht schreiben über meine persönlichen Erfahrungen in dieser Geschichte mit anderen Menschen, nicht über ihr Staunen & Wundern, nicht über Neid & Gehässigkeit, nicht über das Abwenden alter Freunde, über Verleumdung & schlechte Nachrede, sondern einzig über die Liebe und ihre Exklusivität. In Wirklichkeit will niemand über Grenzen gehen, bewährtes Denken aufgeben, in Wirklichkeit ist nichts überwunden, sogar uralte, ungeschriebene Gesetze kommen mehr als gelegen, vor allem, wenn sie gegen andere verwendet werden. In diesem engen & gleichzeitig weiten Kreis, unter den Augen der Öffentlichkeit, in dieser Widersprüchlichkeit, zwischen Zweifel & Verzweiflung spielt sich das Leben ab wie ein gutes & wie ein schlechtes Theaterstück. Dies, wovon ich erzählen werde, wird nichts anderes sein, als was seit Menschengedenken immer geschehen ist, nur musste es ein jeder für sich entdecken, es sich nehmen oder darauf verzichten, und was wäre auch dagegen zu sagen, wenn es im Innersten wahrhaftig bleibt. Ich werde mich bekennen zu allem, wie es auch sei, wie es auch war, ob gut oder schlecht, angreifbar oder unverständlich, verabscheuenswürdig oder grausam, lieblich oder kitschig, ja lächerlich sogar, denn ich habe diese Geschichte geschrieben nicht nur, sondern erlebt & gelebt, über weite & dunkle Strecken durchgestanden, das Spektakuläre daran genauso wie das völlig Normale, das überall & immer vorkommt, habe es angenommen, mich einem ungewöhnlichen & gleichzeitig gewöhnlichen 2 Ereignis gestellt, sodass ich darüber nicht reden und nicht schweigen konnte. Jeder Versuch, jemandem davon zu erzählen, wurde mit Entsetzen & Ablehnung bereits ganz zu Anfang beantwortet, sodass ich schließlich niemanden mehr einweihte, alles verheimlichte und beinah alleine mit wenigen Ausnahmen diesen langen Weg gegangen bin. Unsicher am Beginn, doch immer sichereren Schrittes, je länger ich ging. So ist dieser Roman auch ein inniger Dank geworden, eine solche Leidenschaft, und dieses Wort meine ich allen Ernstes, gekannt zu haben, eine Leidenschaft, die mich zu dem gemacht hat, was ich auch bin, irgendwann ein erstes Mal geworden war, nämlich nichts Geringeres als eine Ehebrecherin im klassischen Sinn, in jeder einzelnen Kultur dieser Welt. Meine längst verstorbene Lehrerin, eine Nonne, hat einmal beiläufig, doch wegen meines Charakters, deutlich an mich gerichtet, den erschütternden Satz geäußert: Leidenschaft schafft Leiden. Damals erschrak ich über diese Interpretation, begriff natürlich nicht, was dieses Wort, dieser Satz in Wahrheit bedeuteten, nun aber, Jahrzehnte später, weiß ich, dass sie nicht zur Gänze recht hatte, obwohl ich es lange, lange glaubte, wie alles, was diese überaus weise Frau gesagt hat, denn die Leidenschaft hält nicht nur Leiden bereit, sondern auch jene Freuden, für die es sich zu leiden lohnt, für die wir bereit sind, alles zu ertragen, alles hinzugeben, Leidenschaft heißt also nicht Leiden allein, sondern bedeutet auch Glück & Freude. Leidenschaft heißt Feurigkeit, heißt, bereit sein, zu leiden, nicht für die Liebe allein, aber auch für die Liebe. Sie bedeutet, alles mit Eifer & Hingabe zu tun, jeden Handgriff: wie wir ihn tun, jeden Gedanken: wie wir ihn fassen, jede Erinnerung: wie wir sie aufheben. Es geht um die Art & Weise, und vor allem darum, das Scheitern in Kauf zu nehmen, es trotz des Scheiterns vor Augen zu tun. 3 Der andere Satz hingegen, den sie mir ganz allein zum Abschied in einem weißen versiegelten Kuvert mit meinem Namen darauf übergab, hat mich durch mein ganzes Leben begleitet & getragen, ja, ist zu ihrem Vermächtnis in mir geworden, jener Satz, an dem ich kein Jota geändert wissen möchte, er ist mir beinahe so heilig geworden, als hätte ihn Moses selbst vom Sinai heruntergebracht und mir persönlich übergeben: Greif tief genug, damit du Perlen greifst und nicht im engen Ring des Alltags schleifst. Ich war jemand, der nicht die Stärke hatte, etwas so außergewöhnlich Großes wie diese Liebe, von der ich erzählen werde, abzulehnen und daher die andere Stärke aufbringen musste, sie anzunehmen, jemand, der am Ende diese Jahre nahm & nehmen musste wie ein Himmelsgeschenk, wie ein letztes, großes & rauschendes Fest auf Erden, sodass ich für mich allein den Mut auf der einen, und die Geschmeidigkeit auf der anderen Seite finden musste, Liebgewordenes, Sicheres ad acta zu legen, um Neues, nie Gekanntes zu gewinnen, denn am Ende glaube ich, am Ende sind Verzicht & Hingabe, Aufgeben & Annehmen einund dasselbe. Ich hätte untergehen können, alles verlieren, es war das berühmte Spiel mit der Glut, der Griff nach den Sternen, die Versuchung der Götter, es war Vermessenheit & Hochmut, Sünde & Gnade zugleich. Wie dem ganzen Leben, dem menschlichen Streben das Scheitern innewohnt, so ist es auch möglich, dass ich an diesem Roman scheitere, dennoch & genau darum will ich versuchen, es niederzuschreiben, versuchen, das Unaussprechliche, das Flüstern & Schreien, das Weinen & Lachen, das schier Unmögliche in einer vielleicht möglichen Form anzugehen und zu einem Abschluss zu führen. UND WIDME DIESEN TEIL MEINES WERKES MEINEN BEIDEN MÄNNERN, denen ich für nichts anderes begegnet bin, als sie zu lieben und von ihnen geliebt zu werden – widme es 4 O. & A. Ottokar & Alexander. Ist mein Dank an Ottokar für seine Größe, mich dies erleben gelassen & keinen Besitzanspruch gestellt zu haben an mich als seine Frau, sondern im innersten Wissen um meine Liebe zu ihm, mir alles gab, was ich verlangte, wonach es mich verlangte, der mich nicht gehen hieß, sondern gehen ließ, mir vertraute zu allen Zeiten, als wären es unsere allerersten, allerliebsten gewesen, der mich niemals fragte, zu dem ich zurückkehrte, zu ihm und unseren Kindern nach den Tagen & Nächten mit Alexander Sommerfeld. Vielleicht gibt es keine weiteren zwei Männer, mit denen dies möglich gewesen wäre, denn ein Teil jener Leistung, anders kann es nicht genannt werden, gehört auch Alexander Sommerfeld, den ich nennen will mit seinem ganzen Namen, welcher so prächtig & feierlich ist wie er selbst, und der einmal gesagt hat: Wir müssen alles mit Liebe tun - und nach kurzem Zögern - auch die Liebe. oder: Was wir können und gekonnt haben, lässt mich hoffen für eine bessere Zukunft. Etwas pathetisch vielleicht, jedoch so war er, so ist er noch immer, still & melancholisch, groß im Geben, geduldig im Warten, voller Verständnis, mehr noch, wie das Verstehen selbst, was ja nur ein anderes Wort für Liebe ist. So sind in O. & A. einander zwei Männer begegnet, die das Unsagbare, das Unaussprechliche, das Skandalöse zugelassen, gefordert & ermöglicht haben. Keiner ist also denkbar ohne den anderen in diesen kleinen & großen Möglichkeiten, welche immer wieder gefunden, ausgelotet & ausgeschritten werden mussten. Nach allem, was geschehen ist und wie es geschehen ist, hätte ich den Verlust von einem der beiden, gleich in welcher Phase, gleich aus welchem Grund, nicht bewältigt, nicht den Mut aufgebracht, über Scheidung oder Trennung nachzudenken, geschweige denn eine Entscheidung zu treffen, weder allein noch gemeinsam. 5 In diesen fernen Jahren sprach ich immer wieder meine Erlebnisse, meine Reisen, mein Glück & meinen Schmerz auf Tonband, lange vor dieser offiziellen Edition also, vollkommen im Geheimen, habe auf diese Weise zu einer Zeit, in der ich nicht darüber schreiben konnte, die Ereignisse für später archiviert, für den Fall, dass mir noch die Jahre bleiben würden, um diese, selbst für mich, schier unglaubliche, persönliche Geschichte in Worte zu fassen, die Gefühle von damals später einmal leichter nachempfinden oder wiederfinden zu können, mich an das eine oder andere besser zu erinnern, vor allem aber, um mich selbst nicht zu verlieren, und weil ich zu mehr damals, als es geschah, nicht im Stande war. Auch wenn oder gerade, weil es niemand wusste, nie jemand diese Bänder hören sollte, auch wenn ich es für mich alleine tat, so voll wie ich war, so schwer wie mir zuweilen das Herz davon wurde, so war es doch bereits der allererste Teil, der Versuch einer Beschreibung, der Beginn dieses, meines vielleicht einzigen Romans, denn, was ich danach noch schreiben werde, so dachte ich damals, würde nur ein leiser Nachhall jener außergewöhnlichen Liebesgeschichte, ja der Liebe als Ganzes, die mir gegeben war, sein. Die einmal, nur für mich besprochenen Bänder also dienten mir als Arbeitsgrundlage für das nun vorliegende Werk, das ich oft & oft bei mir schwedisch GULD, GOLD genannt habe, könnte heißen GOLD DER SPÄTEN JAHRE, GOLD DER LETZTEN JAHRE, wie einst mein erster Gedichtband GOLD DER FRÜHEN JAHRE hieß, oder auch LIEBESGOLD, ALPHA & OMEGA, A & O, ALEXANDER & OTTOKAR, die einander in mir begegnet sind. Alle diese Titel habe ich tausendfach überlegt, durchdacht, erwogen, mit ihnen gespielt & geflirtet, viele andere verworfen & vergessen, doch am Ende, am Ende blieb nicht einmal der geliebte der allererste, den ich das ganze Buch lang wie einen Tabernakel vor mir her getragen, dem ich Räucherstäbchen für 6 Räucherstäbchen geopfert habe, nämlich EWIGKEIT. Nicht zuletzt, weil das Wort EWIGKEIT so schwer wiegt, so unbegreiflich erscheint, so fern, so wahr ist und so unvorstellbar; dann wurde es ein anderes altes, seltenes Wort, eines, welches der EWIGKEIT sogar ein wenig nahe kommt, doch gleichzeitig leicht ist, nicht eisern, nicht bleiern, sondern fedrig, gewichtlos beinah, ein Wörtchen nur im Vergleich zum Gewicht des Wortes EWIGKEIT, doch auch eines, welches nah am Herzen liegt, sanft & still & weich, leise klingend: GLÜCKSELIGKEIT. Doch selbst davon musste ich mich eines Tages trennen. Schwer ist es mir gefallen, mich zu verabschieden vom großen, übergroßen Titel EWIGKEIT, welcher mir Halt gegeben hat in der nächtlichen Einsamkeit des Schreibens, ohne ihn wäre ich hängengeblieben, hätte mich verfangen, verheddert, verlaufen, die Orientierung verloren, denn EWIGKEIT bedeutet in die Sterne zu schauen, einen Traum zu haben, sich von den Gewöhnlichkeiten der Tage zu distanzieren, bedeutet die Sicherheit, nicht allein zu sein, auf das Wesentliche zu achten, nicht kleinlich zu werden, sondern mild & großzügig, versöhnlich & klar im Kopf wie im Herzen zu bleiben. Und weil das eine zu schwer, das andere zu leicht war, musste ich sie beide verwerfen. DENN ICH DURFTE SEIN IHR KOSTBARER DIWAN, DIE EWIGE SEHNSUCHT DES MANNES NACH DEN GOLDENEN NÄCHTEN MIT DER FRAU, der dunkle, rasende Rausch des Vergessens, der Wahnsinn orgiastischer Momente, das Gefäß & das Maß für das Unermessliche des Männlichen in der Welt. Ob ich eine Bajadere, eine Huri, in einer Weise eine Frau also für Stunden war oder eine Liebende, wer könnte es wissen, gewiss war ich immer ein wenig von allem, ich weiß nur, dass ich geliebt habe & geliebt worden bin, denn die Natur sieht dafür keine Einteilung, keine Unterschiede vor. Wenn dies Schuld sein soll, sein muss, ich nehme sie an, aber was 7 wir taten & lebten, schien uns jenseits dieser Messbarkeiten, und was wäre die Tilgung einer solchen Schuld gewesen?, einander nicht mehr lieben zu dürfen, nicht in Worten, nicht in Briefen, nicht in Augenblicken, nicht wie Mann & Frau zu sein? Was für ein Gesetz wäre es, und wo stünde es geschrieben? Die Liebe ist ohne Gesetz, sie steht nicht vor Gericht, sie darf nicht auf ein kleinliches, alltägliches Maß gebracht werden; sie hört auf, Liebe zu sein, wenn sie auf die Verhältnisse & Bedürfnisse zurecht gestutzt wird, die Liebe sprengt in Wahrheit jeden Rahmen, die Liebe ist größer als die Vernunft, die Liebe ist größer als wir selbst. Gewiss kann sie in dieser absoluten Form nicht allgemein empfohlen werden, doch im einzelnen können sich dort & da Menschen in besonderer Weise darauf einlassen. So bin ich über all meinen nachtschweren Gedanken und jahrelangen Erwägungen zu der Anschauung gelangt, dass DIE LIEBE DIE SCHÖPFUNGSKRAFT GOTTES SEIN MUSS, DAS WIRKLICH GÖTTLICHE IN DER WELT, DAS EINZIGE – OHNE MASS. Dies ist der nun letztlich ausgewählte meiner vielen Anfänge, ein erster Einblick, eine Skizzierung des Ganzen, ein Präludium, ein Weniges nur von allem und doch bereits alles beinhaltend, geschrieben mit der ganzen Verzweiflung & Euphorie, die sich in mir nur ab & zu die Waage hielten, der Hoffnung zugleich im Schreiben Ruhe zu finden, Lösung & Erlösung (Absolution & Solution: die Initialen von Alexander Sommerfeld). Voll & übervoll waren meine handgeschriebenen Notizen über die Jahre, welche, als ich zu schreiben begann, beinah vorüber waren, Notizen in gewöhnlichen & ungewöhnlichen Worten, manches erkannte ich erst jetzt, manches ahnte ich nur, anderes musste ich erst im Schreiben finden. Im ersten wie im letzten ist ja alles Biographie, jedes Wort, jeder Satz sogar, zu etwas anderem sind wir nicht imstande, denn was bedeutet schon die Sprache, wenn es uns nicht gelingt, was uns 8 verbrennt, in Worte zu legen, auf weißes Papier zu schreiben, so wie wir es müssen, wie wir es können, auf dass das Große wie das Kleine nicht umsonst gewesen sei und am Ende neben- & übereinanderstehend das ganze Bild ergibt. Ich sehe für mich die beinahe heilige Pflicht, für das geschriebene Wort zu leiden wie Glück zu empfinden, damit es auch wahrhaftig sei. Ein Wort ist ein Wort, einerlei welches, nur wir selbst geben ihm Sinn & Bedeutung, auch kleine, scheinbar unbedeutende Wörtchen wie: und, aber, oder, wenn, auch; sogar sie bringen das Blatt zum Wenden, auch wenn sie allein für sich verloren stehen, können sie doch verbinden oder trennen, Zweifel oder Verzweiflung bringen, Krieg oder Frieden. Wörter atmen ein & aus, sind lebendige Wesen, wenn wir sie lassen. Sie tanzen & springen, singen & klingen, lieben & hassen, sparen & prassen. Ich habe viele gebraucht, bin dankbar für jedes einzelne, welches mir eingefallen ist, denn sie haben meinem Text Feinheit & Rauheit gegeben, ihn aber auch zu einem zarten & zärtlichen Werk werden lassen, gleich einem seidenen Vorhang, der leicht im Sommerwind flattert und sich starr in der Kälte des Winters verhält. Es kommt auf die großen Spuren & Linien an, genauso wie auf die grazilen Konturen und leisen Töne. Erst alles zusammen ergibt das Ganze, so habe ich mich bemüht, das eine wie das andere zu berücksichtigen. Jede Geschichte, die wir schreiben, ist im letzten daher unsere Geschichte, jede Liebesgeschichte die eigene Liebesgeschichte: die, welche wir hatten, ersehnten, nie erlebt haben, doch unsere Geschichte jedes Wort, in jedem Fall. So ist ein Wort alles & nichts, je nachdem, ob wir es lieben oder für gering erachten, gerade wie bei den Menschen, die groß & bedeutend werden, wenn wir sie ehren & lieben, doch klein & unsichtbar, wenn wir es nicht tun. Was nun beginnt, ist mein erster Roman, die Geschichte eines 9 Lebens, die Geschichte einer Liebe. Es wird über viele Menschen erzählt werden, Menschen, die einander nicht gekannt haben und Menschen, die einander gekannt haben, über verschiedene Zeiten & Länder, verschiedene Schicksale, welche zuletzt miteinander verwoben sind, verbunden & eins geworden, zusammengebracht & aufgehoben durch mich. Die kommenden Jahre, die mir hoffentlich gegeben sein werden, will ich verbringen mit der Aufzeichnung einer Vergangenheit, die noch andauert, nun, da ich beginne, sie aufzuschreiben. Meine Freude gilt den weißen Seiten, die vor mir liegen, die ich mit Leben & Erlebtem randvoll anfüllen darf, mit Flüchtigem & Konkretem, mit Aufzeichnungen aller Art, manches werde ich auslöschen, fallen lassen, anderes wieder aufheben & einflechten. Kleinigkeiten werden plötzlich von Wichtigkeit sein, ursprünglich für wichtig gehaltene Dinge vielleicht nicht mehr. Von der Stimmung wird es abhängen, der Verfassung an jenem Tag, in jener Nacht, von kleinen & allerkleinsten Dingen, gesammelten Fragmenten, zahllosen Erinnerungen & Vergesslichkeiten sogar. Am Ende wird vieles Zufall sein, wie es stehenbleibt, dennoch werde ich über alles so rechtschaffen nachdenken wie möglich, abwägen & überlegen und schließlich, schließlich wird es gut sein müssen wie es mir geworden, vielleicht gelungen ist, ja, es wird sogar gut sein müssen, wenn ich scheitern sollte, denn einmal wird alles gleich & gleichgültig sein, weder Anfang noch Ende haben, weder Zukunft noch Vergangenheit. Freude & Leid werden eins sein, Endlichkeit & Unendlichkeit kein Widerspruch, sondern ineinanderfließen, sich auflösen & verschwinden in der Tiefe des Sternenhimmels, jenem letzten zentralen Bezugspunkt, den man nicht oft genug ins Auge fassen kann, um seine Entscheidungen & Einschätzungen richtig zu treffen. Oft schreibt sich etwas von selbst, das Schreiben sozusagen geschieht einem, man kann es gar nicht unterlassen, während 10 anderes derweil verloren geht, nicht mehr aufscheint, einem nicht behagt, denn wie ich an anderer Stelle einmal schrieb: das Gedächtnis ist gedankenlos, ob es etwas aufhebt oder nicht & warum, weiß niemand, es ist eben wie der weite Himmel über uns, dort & da blinkt ein Licht, leuchtet etwas, entschwindet ein Stern, taucht ein neuer auf während im selben Moment ein anderer verglüht. Möge mir also die Ausgewogenheit zwischen Fülle & Sparsamkeit, zwischen Pracht & Schlichtheit gelingen & gelungen sein. *** I Der Anfang Als junge Diplomkrankenschwester hatte ich irgendwann im Jahr 1977 auf der Kinderintensivstation des größten Krankenhauses des Landes Nachtdienst. Zufall oder Bestimmung? Gewiss beides nicht, jedenfalls eine Art von Notfall. Dennoch war etwas vorausgegangen, das man als eine Art Fügung betrachten könnte, etwas, das so nicht gekommen wäre, hätte ich nicht wenigstens eine Entscheidung selbst getroffen. Ich sollte für eine Kollegin einspringen, die ziemlich knapp die für uns alle äußerst ungenehme Neuigkeit, diese Nacht auf keinen Fall arbeiten zu können, telefonisch durchgab. Wie es ab & zu vorkam, hatte aber dieses Mal ein ausländischer Arzt Dienst im Haus, doch nicht etwa eine dieser namenlosen, gleichförmigen & ehrgeizigen Figuren in weißer Aufmachung, sondern ein anspruchsvoller Forscher, ein Spezialist auf dem Gebiet der Neonatologie (Neugeborenenlehre), der pränatalen 11 Diagnostik, der Behandlung Frühgeborener und kranker Neugeborener. Er hatte einst, so hieß es, eine neue Beatmungstechnik erfunden, eine, die im Prinzip keine aufwändigen, hoch entwickelten Apparate erforderte. Gleichwohl war inzwischen diese Erfindung, seine Idee also, bereits in die modernsten Maschinen wie auch wir sie auf der Station hatten, integriert worden. Als jemand, der jahrelang in den Tropen gearbeitet hatte, war es ihm wichtig gewesen, eine Methode für die armen Länder zu entwickeln, die in der Regel nicht über moderne & hypermoderne Einrichtungen verfügen. Zwar hat es bereits früh im zwanzigsten Jahrhundert Inkubatoren oder Brutkästen, wie sie im Volksmund genannt wurden, gegeben, auch wurde schon relativ früh Sauerstoff verabreicht, doch die Frühgeborenenmedizin steckte zumindest im Europa der frühen 1970iger Jahre immer noch in den Kinderschuhen. Es handelte sich dabei um etwas, das wohl in Ansätzen & Ideen in medizinischen Zeitschriften publiziert & gelesen worden war, doch selbst jene Ärzte, die sich damit befassten, dafür überhaupt als Fachgebiet interessierten oder es als solches erkannten, waren immer noch rar und einstweilen ziemlich auf sich allein gestellt. Schon das Intubieren, das Einführen eines kleinen Kunststoffschlauches in die Luftröhre des Säuglings, damit beatmet werden konnte, brachte so gut wie jeden Arzt um seine Nerven, in heftiges Schwitzen, wenn er sich überhaupt darüber traute und nicht gleich um den Anästhesisten schicken ließ, der an vergleichsweise riesige Geräte & Körpermaße gewöhnt, die Intubation bei den winzigen Verhältnissen der Frühgeborenen zwar meist routinierter & mutiger, aber auch nur mit viel Glück mehr oder weniger rechtzeitig, das heißt, hoffentlich ohne drohenden Hirnschaden des Kindes, über die Bühne brachte. Natürlich standen sie bereits auf den Stationen herum, die teuren Beatmungsmaschinen, welche all das Wissen & Können voraussetzten, das hier & jetzt noch nicht oder kaum vorhanden war, 12 denn in Wahrheit fürchteten sich Ärzte & Schwestern vor ihnen, und sie machten, solange und wann immer es ging, einen großen Bogen um sie. In diesem magischen Moment, da beinah alles noch in sich ruhte, sich nur einige strebsamere, hauseigene Ärzte mehr oder weniger privat & hinterrücks informierten, im Vordergrund aber argwöhnisch schwiegen, sich keinesfalls mit Kollegen berieten, ja gleichgültig taten, sich nur ab & zu einer Oberschwester gegenüber kryptisch äußerten, üblicherweise von ihr dafür bewundern ließen, mit einer Wertschätzung umgeben, mit welcher sie in Wirklichkeit nirgends rechnen durften, in diesem fast statischen Moment also, da kam einer, ein Weitgereister auf dem Gebiet der Medizin, ein richtiger Wissenschaftler, und es sah ganz danach aus, als wollte er sich für länger einrichten, dies wurde ihm jedenfalls unterstellt oder besser gesagt, so ging das Gerücht. Dass er sich in der Kinderheilkunde mit etwas genauer beschäftigte, hieß es, denn unser Chef, der Professor, habe ihn eingeladen, aber auch nichts Richtiges gesagt, kaum was verlauten lassen, sei es, dass dieses etwas auch ihm neu war oder er selber in wissenschaftlichem Ehrgeiz Kapital aus dieser Einladung schlagen wollte, oder ob er ihn einfach auf einem illustren Kongress aufgegabelt hatte, um sich niveauvoll unterhalten zu lassen. Dieses etwas jedenfalls, wie sich später herausstellte, womit sich der Neue also beschäftigte, war das Spezialgebiet der Beatmung von unreifen Neugeborenen. Unser Professor, dem öfter mal etwas, das ihm geboten wurde, zu niedrig, zu minder vorkam, war ohnehin nicht dafür bekannt, Kollegen oder ihm unterstehenden Ärzten gegenüber, besonders offen oder nachsichtig zu sein. Leicht konnte er das Interesse an den Alltäglichkeiten des klinischen Betriebes verlieren, lieber schaute er darüber hinweg, setzte bestenfalls einen gelangweilten Blick auf, ließ sich nicht auf, für ihn erledigte Diskussionen, ein. Wie oft hatte er sogar Stationsärzte, ausgebildete Fachärzte, die er durchwegs für ungebildet hielt, lediglich medizinische Streber in 13 ihnen sah, die seiner Meinung nach genauso gut etwas anderes hätten studieren können, bloßgestellt! Herablassend angeredet wie jene Assistenzärztin, die angeblich mit ‚summa cum laude’ ihr Studium beendet hatte, was ständig von gewissen, offenbar von ihr in diese intimen Geheimnisse eingeweihten & untertänigen Schwestern flüsternd & ehrfurchtsvoll bei jeder passenden & unpassenden Gelegenheit, falls es noch jemand nicht wissen sollte, in einem Ton erzählt wurde, als handelte es sich um ein unbekanntes Detail aus der Heiligen Schrift der Medizin. Freilich reichte diese Tatsache, die so huldvoll kolportiert wurde, nur für das höchste Ansehen in Schwesternkreisen, doch nicht darüber hinaus, und schon gar nicht beeindruckte sie den Professor. Wie er eben diese Ärztin eines Tages bei einer seiner Chefvisiten aus heiterem Himmel, nachdem sie einen viertelstündigen Vortrag über einen komplizierten Fall gehalten hatte, aufs Äußerste demütigte. Die ihm auf eine Fangfrage seinerseits, eine ihrer & anderer Meinung nach überkorrekte Antwort gab, er sie hingegen mit seinem süffisantesten Lächeln konfrontierte und meinte: Sehen Sie, hoch verehrte Frau Kollegin, die Anrede in diesem Augenblick in diesem Zusammenhang schon so etwas wie eine Frechheit, eine Anmaßung an & für sich, sehen Sie, Frau Kollegin, wenn ich die Wahl hätte zwischen Ihnen und einer Koryphäe, für wen glauben Sie, würde ich mich entscheiden? Als er endlich gegangen war, brach sie weinend zusammen, denn was der Professor schätzte, waren nicht Frauen wie sie, die mit ihrer Arbeit voll & ganz ausgefüllt waren, sondern solche mit Mut, Verstand, Leidenschaft, Leute, die etwas Außergewöhnliches taten, über weitere Interessen und freie Kapazitäten verfügten, vielleicht sogar ein Schicksal hatten. Er wollte nicht nur Korrektheit & Können, was er für selbstverständlich hielt, sondern bewunderte Kolleginnen von der Sorte, die, obwohl er ihnen alles abverlangte, die Welt umsegelten, Ärztinnen, die einen Stall voller Kinder zu Hause hatten, zwanzig Katzen oder dreizehn Hunde, etwas der 14 außergewöhnlichen Art eben und wie quasi nebenbei auf Herzchirurgie spezialisiert waren, in den Ferien archäologische Reisen unternahmen oder sich für Paläontologie interessierten, dringend & plötzlich unter der Woche frei haben mussten, um in eine Höhle zu steigen, wo es Hinweise auf dieses oder jenes Erdzeitalter gab, die Kunst sammelten oder selber malten, Ausstellungen bestückten, diesbezüglich in der Zeitung standen oder sich mit gewissen Plastiken der Antike auskannten. Mit anderen Worten, er mochte nicht die durchschnittliche Vorzugsschülerin, sondern die Kollegin, die aussah wie eine Tussi, in der Früh eine Handtasche voller Lippenstifte anschleppte, nachts mit Lockenwicklern den Dienst versah, während der Visite in ihrem Handspiegel den Lidschatten begutachtete, über ihre neuen Stöckelschuhe jammerte und immer noch im Stande war, eine unversehens an sie gerichtete Frage ordentlich zu beantworten, obwohl sie soeben Chinesisch oder Suaheli inskribiert hatte und in Aussicht stellte, in Zukunft bitteschön, nicht mehr so oft Nachtdienst machen zu können, da sie ja bald Prüfungen habe und irgendein völlig unbekanntes & unaussprechliches Werk übersetzen müsse. In dieses vergiftete, neidische, oft genug niederträchtige Milieu schneite nun einer, dem nichts ferner lag als Personalintrigen, gegenseitige Beleidigungen, Verschmähungen, Anmaßungen. Wie Parzival bewegte er sich völlig unbehelligt, ja ahnungslos zwischen allen, von überall & jedem wehten ihm Freundlichkeit, Unterwürfigkeit, Wohlwollen, Neugierde entgegen. Sogar, wenn er nicht einmal zu sehen war, wurde über ihn respektvoll & geheimnisvoll geredet. Als hätten sie auf ihn gewartet, fragten sie nur noch ihn, vertrauten ihm alles an, ein jeder für sich war plötzlich die höchstpersönliche Höflichkeit & Interessiertheit. Zwar wusste ich nicht, wo die anderen all diese Dinge herbekamen, wie sie über derart Unsichtbares Bescheid wissen konnten, aber das war schon früher so gewesen, was die Spatzen 15 vom Dach zwitscherten, blieb mir verborgen, hingegen sah ich, was andere nicht bemerkten. Ich begriff & erfuhr die Sachen erst, als alle es längst und noch viel genauer wussten oder gar bereits ad acta gelegt hatten. Gesehen war er worden, eingeladen gewesen mit einem Schwarm von Ärzten bei einem Frühstück auf der Station, einige Schwesternkolleginnen hatten die Ehre und das Glück zugleich gehabt, zugegen zu sein, einen Blick auf ihn zu werfen, wieder andere hatten seine Stimme am Telefon gehört, wussten dafür sonst nichts, jedenfalls nichts Näheres, und so hatte alles zwischen Gerüchten & Vermutungen, Behauptungen und mehr oder weniger schlüssigen Kombinationen, was die Person von Professor Sommerfeld betraf, angefangen. Unnahbar & arrogant war er wiederum anderen Schwestern erschienen, sie lehnten es glattweg ab, mit diesem Arzt Dienst zu machen, ihm ausgeliefert zu sein, womöglich ungeahnten Anforderungen gegenüber zu stehen, ihn hinten & vorne zu bedienen, doch das sagten sie nur unter sich, ihm gegenüber gaben sie sich geschmeidig, bewundernd, bescheiden, nett wie es netter nicht denkbar wäre. Die Frage, ob er, der aus Schweden kam, überhaupt Deutsch verstand oder gar Englisch oder Französisch verlangte, wunderte mich später, denn er beherrschte die deutsche Sprache ziemlich gut. Seine feine Aussprache von ST & SP amüsierte mich bereits bei der ersten Begegnung, vor allem aber, was niemand zu bemerken schien, beeindruckte mich sein schöner, fast königlicher Name: Alexander Sommerfeld. Dieser flößte mir Vertrauen ein, klang nach Freude & Glück im hohen Gras, projizierte ein helles, sonniges Bild an die verkabelten & sterilen Wände der Station, brachte mit einem Mal wogende Ähren, blaue Kornblumen, roten Mohn, Heu & Grashüpfer in die angespannte Atmosphäre des Krankenhausbetriebes. Wie konnte ich überhaupt damals an so etwas denken? Was ging 16 er mich an? Auch wenn es noch lange nicht so weit war, dass ich ihm privat begegnen sollte, ja, kein Gedanke daran existieren konnte, gefiel mir doch der Klang seines Namens, als läge eine Ahnung darin, eine Erinnerung, eine Sehnsucht. Vielleicht, so dachte ich später, weil ich auf Feldern & Wiesen aufgewachsen war, damit meine glücklichsten Kinderjahre verband? Und doch war es für den Augenblick nur ein schönes Wort gewesen, das zufällig ein Familienname war, mich plötzlich an etwas Vergangenes denken ließ, nichts Persönliches also, das ich tatsächlich mit ihm gemeinsam hatte, denn bisher kannte ich niemanden dieses Namens, was eigentlich seltsam war. Zunächst aber ging er nur tagsüber bei den Visiten mit, keine Rede von einem Dienst ganz allein im Haus oder gar nachts über zwölf oder vierundzwanzig Stunden. Ich hatte zufällig jedes Mal frei gehabt, wenn er gekommen war, sodass ich ihn das erste Mal in der Stresssituation einer turbulenten Nacht zu sehen bekam. Im Augenblick aber will ich zurückgehen in die ferne Zeit, über die er mir erst anderthalb Jahrzehnte später erzählen wird, die er selbst nur vom Hörensagen kannte und doch in vielen Episoden & Geschichten, so lebendig heraufbeschwor. *** II Woher sie kamen: Die ganz alten Sommerfelds Verschiedener hätten die Lebensläufe von uns beiden nicht sein können, unterschiedlicher nicht unser Werdegang, denn ganze zwanzig Jahre lagen zwischen uns, entscheidende Jahre, die uns trennten wie verbanden, aber auch eine Entfernung, die irgendwo 17 zwischen tausend & zweitausend Kilometern lag und vor allem eine gesellschaftliche Unterschiedlichkeit wie sie größer nicht sein könnte. Beginnen wir im Jahr 1935, als Alexander im südschwedischen Växjö unter dramatischen Umständen zur Welt kam, zu einem Zeitpunkt, als meine Mutter nicht einmal zwei Jahre alt war. Später sollte ich mich wundern, dass sie nur zwei Jahre älter war als mein Geliebter. In einer Winternacht des Jahres 1995, am Tag seines sechzigsten Geburtstages wird mir Alexander Sommerfeld in seinem Haus in Stockholm die folgende Geschichte erzählen: Sein Vater Alexander war der jüngere Sohn deutsch-schwedisch-jüdischer Eltern gewesen, nicht das einzige Kind also, er hatte noch einen Bruder gehabt, der wenig älter war als er, sich aber als junger Mann von der Familie distanziert und als Anwalt & Junggeselle in Göteborg gelebt hatte. Die Mutter, Alexanders Großmutter Hilda, eine geborene Weizmann aus Hamburg - Bankiers seit alters her - unermesslich reich, sodass sie, wie es häufig vorkam, in einem zwar toleranten aber familiär & emotional unterkühltem Elternhaus aufwuchs. Ihre eigentlichen Erzieher waren die Dienstboten gewesen, englische & französische Gouvernanten, aber auch Stallburschen & Droschkenkutscher, Köchinnen, Mamsellen aller Art & Herkunft. Man verfügte über Personal von großer Zahl wie es damals in den vornehmen Häusern gang & gäbe war. Ihre Eltern hielten große Gesellschaften ab, etwas, das im neunzehnten Jahrhundert in höheren Kreisen durchaus üblich war; es wurde getanzt, musiziert, studiert, gelesen, gereist. Man sammelte große & teure Bilder, Statuen sogar, ließ sich malen, bewegte sich in abgehobenen Zirkeln, erging sich in elitären Diskussionen über Kunst & Philosophie. Die Kinder wuchsen wohl luxuriös, doch einsam und abgesondert von anderen heran, ohne die geringste Ahnung von gewöhnlichen 18 Verhältnissen, Hilda und ihre drei Schwestern, Lea, Liltih & Leila. Ruben Sommerfeld, Alexanders Großvater väterlicherseits war in jungen Jahren ein umschwärmter Dandy gewesen, einziger Spross eines weltbekannten schwedischen Handelshauses, hatte aufgrund des ungeheuren Reichtums seines Vaters alles Mögliche studiert, Hauslehrer in Anspruch genommen, Professoren & Tutoren beschäftigt, die Welt bereist, war in Indien & Japan gewesen. Später musste er das elterliche Imperium übernehmen, was ihn nicht weiter absorbierte, denn dafür gab es Angestellte, Verwalter, Leute, die das Metier beherrschten, die eingearbeitet und froh waren, wenn sie Arbeit hatten. Sein Leben änderte sich aufgrund der Betriebsübernahme nur insofern, als er sich just um dieselbe Zeit in eine der besten Partien weit & breit, verliebte. In keine Geringere als die schöne Hilda Weizmann aus jener alten Hamburger Bankiersfamilie, welche mindestens ebenso berühmt war wie die Sommerfelds, die im großen Stil Überseegeschäfte betrieben, wohl auch an gewissen Punkten miteinander zu tun gehabt hatten, sich also Hilda angelte, sozusagen einen dicken Walfisch an Land zog, die Meerjungfrau persönlich gefangen nahm oder wie immer er jenen Vorgang später in seinen theatralischen, oft seemännischen Ausdrücken beschrieb, wozu andere Leute einfach ‚Heiraten‘ gesagt hätten. Trotzdem war es nicht im geringsten eine Vernunftehe, sondern gleichzeitig seine große Liebe, worauf er sich etwas zugute hielt, denn nichts schien ihm weniger nötig als nach einer reichen Frau Ausschau zu halten, womit er sogar recht hatte. Hilda war ein temperamentvolles, gebildetes Mädchen, extrem verwöhnt, anspruchsvoll, musikalisch, Mittelpunkt jeder Dinnerparty, jedes Balls, zusammen mit ihren drei ebenso schönen wie interessanten Schwestern. Wo sie aufkreuzten, hielt man den Atem an, war gefesselt von ihrem Äußeren, ihrem Betragen, ihrer Gewandtheit, ihrem 19 Liebreiz. Hilda war eine besonders begabte Pianistin, und wenn es darauf ankam, konnte sie einem beliebigen Musikanten die Violine abnehmen und wie der Teufel selber darauf spielen. Ihre drei Schwestern heirateten Deutsche, hatten Kinder & Enkelkinder, die später entweder auswanderten oder deportiert & ermordet wurden. Hildas Glück war Ruben Sommerfeld, der ein Auge auf sie geworfen hatte, sie nach Schweden holte und in seiner überaus charmanten & außergewöhnlichen Art zur Frau nahm. Die frühen Jahre ihrer Ehe lebten sie abgehoben von Politik & Wirklichkeit, gingen auf Reisen, weilten oft Jahre im Ausland, vergnügten sich in Paris, in Wien, in Budapest, in Sankt Petersburg, verkehrten in der europäischen Aristokratie & Bourgeoisie, gingen in den besten Häusern ein & aus. Als Hilda schwanger wurde, kehrten sie zurück in ihre Heimat, wurden sesshaft, bauten sich eine Villa, hatten bald Sommerhäuser an schönen Orten, verfügten über Personal und jede nur denkbare Annehmlichkeit, jede Einzelheit aus ihrem Leben klang nach einem Märchen. Den Knaben, der im Sommer 1890 zur Welt kam, nannten sie Ariel, seinen Bruder, der 1895 geboren wurde - Alexander. Beide Söhne schlugen scheinbar vollkommen aus der Art, denn sie waren stille Kinder, nachdenklich, versonnen, verträumt. Alexander sollte der Vater des späteren Nobelpreisträgers für Medizin, Alexander Sommerfeld, werden, während Ariel ein kurzes tragisches Leben bestimmt war. Er verliebte sich später in die einzige Tochter einer Witwe, die im Hause Sommerfeld diente, dort die Wäsche wusch & bügelte. Niemand kannte sie anders als mit vollen Körben schmutziger oder vollen Körben sauberer Wäsche den oft vereisten Weg zur oder von der Villa zurücklegend, rutschend im Winter, eiligen Schrittes im Sommer. Mehr als einmal war sie hingefallen, hatte sich Beine & Hände 20 gebrochen, war wochenlang danieder gelegen. Dann schickte sie ihr kleines Mädchen zur Herrschaft, diese um Verständnis bittend, mit unbeholfenen Briefen, sie später um Himmels Willen wieder zu nehmen, nicht fallen & ersetzen zu lassen, ein Hilferuf der besonderen Art, ein leises Ersuchen um Geld, denn wovon hätte sie mit dem Kind denn leben sollen in einer Gegend, wo es für arme Leute wie sie, nichts anderes gab als für die Reichen zu arbeiten oder sich als Bauernmagd zu verdingen. Im Hause Sommerfeld zeigte man indes wohlwollendes Verständnis, verfügte über genug Geld, um derweil ein anderes Weib zu beschäftigen und gleichzeitig Amalie mit Anhang zu bezahlen. Großzügigkeit war in der Regel keine Tugend der Handelsherren des Nordens, was das Geben von Almosen betraf schon gar nicht; ihr meist enormer Reichtum hatte oft nicht zuletzt damit zu tun. Nicht so bei Sommerfelds, vielleicht auch, weil so viel von allem vorhanden war, dass ein bisschen mehr oder weniger keiner Menschenseele dieses Hauses aufgefallen wäre. Ariel & Ilse, die Tochter der Witwe, wurden später ein Pärchen, das sich heimlich traf. Als er zuerst nach Uppsala, später nach Stockholm studieren ging, schrieben sie sich lange & innige Briefe. Ilse verließ früh die Schule und übernahm langsam dieselben Arbeiten wie ihre Mutter, wusch bei fremden Leuten die Wäsche, putzte die Salons, half in den herrschaftlichen Küchen, sprang, wenn ihre Mutter krank war, bei Sommerfelds ein. Ihre Affäre mit dem jungen Sommerfeld blieb niemandem verborgen, dennoch taten die Eltern Ariels so, als wäre & könnte nichts geschehen. Das Mädchen durfte bei Abendgesellschaften bedienen, wurde von der Hausherrin entsprechend eingeführt & erzogen, hatte aber, wie es sich für Leute niederer Herkunft gehörte, die Augen gesenkt zu halten. 21 Frau Hilda Sommerfeld-Weizmann wusste ganz genau über die Zuneigung ihres Sohnes zu Ilse Bescheid, hielt es aber für nichts Außergewöhnliches, dass Söhne aus guten & betuchten Häusern sich mit Mädchen aus dem Volk vergnügten. Ob er dann & wann in Bordelle ging oder lieber unschuldige Fräulein bevorzugte, war ihr ziemlich einerlei. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass es auch anders sein könnte und ihr Sohn womöglich so naiv oder ehrlich war, eine ungebildete Landpomeranze ernst zu nehmen, oder gar so weit gehen könnte, eine spätere Heirat in Betracht zu ziehen. Sie gab sich sorglos ihren Vergnügungen hin, ging auf Reisen, kaufte sich Pferde & Hunde, veranstaltete große & kleine Bankette, musizierte, tanzte, gönnte sich jeden Luxus. Sie besaß das erste Automobil in der Gegend, das sie bald selber steuerte. Das Bild wie Hilda mit einem Wagen voller Freundinnen herumkurvte, war bekannt in ganz Smaland & Gotaland, zwischen Södermanland & Schonen. Chauffeure gehörten nicht zu den Bediensteten, die sie brauchte, auch wenn ihr selbstverständlich einer zur Verfügung stand. Später wurde sie dreister, fuhr sogar hinauf in den Norden an die schwedisch-finnische Grenze, war nicht selten ganz allein unterwegs. Sie liebte das Autofahren genau wie das Reiten, das Klavierspiel, ihre Gesellschaften, genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, Herrin zu sein über Familie & Personal, über Hunde & Pferde. Ruben trug sie auf Händen, denn nie leistete sie sich auch nur einen Seitenblick auf andere Männer, ihre zahlreichen Bewunderer. Sie ließ sich von ihnen beim Tanz führen, oberflächlich unterhalten, mit Komplimenten versehen, ja anbeten, doch keiner wäre ihr einen Fehltritt wert gewesen. Nachdem sie Ruben zwei Söhne geboren hatte, verlor sie jedes Interesse an Sex, was übrigens gar nicht so selten vorkam, ging vollkommen in ihren familiären & gesellschaftlichen Pflichten & 22 Freuden auf. Sie wurde nicht wie andere von Jahr zu Jahr runzliger, vergrämter, kränklicher, langsamer, sondern blühte auf, war quicklebendig wie ein junges Reh, noch als sie längst über die fünfzig hinausging. Später sollte Alexanders Vater oft von seiner Mutter erzählen, die trotz allem viel zu früh gestorben war, ums Leben gekommen bei einem spektakulären Autounfall irgendwo zwischen Sundsvall & Grnsköldsvik. Damals, als es noch kaum nennenswerte Straßen gab, war sie in den Sund gestürzt, im Bottnischen Meerbusen der Ostsee mit ihrem Wagen versunken. Das war im Jahr 1933 gewesen, als ihre drei Schwestern mit ihren Familien in Deutschland schon nicht mehr in Sicherheit lebten, der Nationalsozialismus die Zeit seiner Morgendämmerung hinter sich gelassen und Adolf Hitler bereits die Macht übernommen hatte. Als Ariel Sommerfeld 1918 sein Studium der Rechts-wissenschaften abgeschlossen hatte, kehrte er, wie einst versprochen, zurück nach Haus, um sich weiterhin, wenn auch noch immer heimlich, mit dem Wäschermädchen zu treffen. Während der Zeit seiner Abwesenheit hatte sie mit ihrer Mutter, später auch allein, für die Sommerfelds gearbeitet. Auch wenn er in den Ferien immer wieder daheim gewesen war, ihr, wie früher den Hof gemacht hatte, so hätte sie doch nicht gedacht, dass er sein Versprechen wahr machen würde und ernstlich erwäge, sie zu ehelichen. Zwar hatte er bestimmt in Stockholm, in Uppsala und teilweise im Ausland Erfahrungen, auch auf dem Gebiet der Sexualität, gesammelt, doch sah er darin wohl keinen Zusammenhang mit Ilse. Er wartete wie früher im Garten auf sie, damit er sie abfing, wenn sie sein Elternhaus verließ, oft spät am Abend, nachdem die Gäste 23 fort waren, die Herrschaft zu Bett gegangen war oder sich vor dem Kamin niedergelassen hatte, um sich noch kurz oder unendlich lang bei Wein & Zigarren über den vergangenen Abend zu unterhalten. Gerne behielten sie Ilse noch bei sich, damit sie sich um das Feuer kümmerte, die Gläser nachschenkte, um dieses & jenes geschickt werden konnte. Du kannst morgen daheim bleiben, Ilse, pflegte etwa die Hausfrau zu sagen, geh’ und brüh’ uns noch einen Tee auf und decke den Frühstückstisch in der Orangerie! Und Ilse, vergiss nicht, uns die Decken zu bringen, der Herr friert sonst! Bitte sehr, gnädige Frau. Ariel stieg derweil vor dem Fenster von einem Bein aufs andere, trat beiläufig in den Salon und bemängelte die Arbeitszeiten von Bediensteten. Es ist durchaus nicht einfach erlaubt, schlichtweg ungesetzlich, Nachtarbeit nach der Tagesarbeit durch ein- und dieselbe Person verrichten zu lassen! Natürlich mein Junge, wie recht du wieder hast, du bist ja schließlich Rechtsgelehrter, es ist dein Beruf und dein Pläsier, sich damit zu beschäftigen, wir, dein alter Vater & ich, sind, Gott weiß es, deswegen ja so stolz auf dich – nicht nur deswegen, nein, überhaupt und als ganzes! Mamaaaaaaa, lass’ Ilse endlich gehen, sie ist müde, schon den ganzen Tag auf den Füßen! Ilse, bist du müde, weil du den ganzen Tag auf den Füßen bist? 24 Nein, gnädige Frau, ganz bestimmt nicht! Hilda, lass’ sie gehen, wir können uns schließlich selbst einschenken!, lenkte ihr Mann ein, bedenke doch, was Ariel gesagt hat, er hat recht, er ist gescheit und in das Mädchen verliebt, lass sie noch ein wenig bussieren, darum wird’s wohl gehen, wir waren ja auch einmal jung, meine Liebe! Ah, willst du mich belehren & beschuldigen in einem? Nein, wie käme ich dazu, .......... die sozialistischen Ideen, über die jetzt überall geredet wird, spuken ihm halt im Kopf herum! Nun gut, geh heim, Ilse, und du, Ariel, bleibst da! Hilda, er ist fast dreißig! Na, und, deswegen kann er genau so dumm sein wie ein junger Spund! Ariel folgt Ilse in die Küche, hilft ihr noch den Tee servieren, verabschiedet sich von seinen Eltern und verlässt mit ihr das Haus. Weil es nicht weit nach Mittsommer ist, lieben sie sich im Gras des Obstgartens, wie schon früher. Ariel, ich habe Angst! Du hast immer Angst, mein Mädchen, warum? Dass ich schwanger werde, was sonst? Na und, was ist so schlimm daran, so heiraten wir endlich und aus, meine Mutter kann sich dann nicht mehr anstellen und aufregen, wir werden ein eigenes Haus haben und eigene Kinder, 25 die dasselbe tun werden wie wir, wenn sie alt genug dafür sind! Und wovon sollen wir leben, dass ich bei deinen Eltern putze und bediene? Ich werde in Göteborg eine Anwaltskanzlei aufbauen und dich zu mir holen........... ! So ging es den ganzen kurzen schwedischen Sommer, im Herbst kehrte Ariel nach Göteborg zurück, um seine Praxis in Sachen Recht fortzusetzen. Im ausgehenden Winter dann erhielt er einen rätselhaften Brief von Ilses Mutter. Sofort fuhr er nach Hause. Mit seinem jüngeren Bruder Alexander besuchte er die alte Frau, die an der Gicht litt und die meiste Zeit daniederlag. Obwohl das Häuschen nicht weit vom Anwesen der Sommerfelds entfernt lag, war Alexander noch nie dort gewesen. Eine bescheidene Behausung zwar, doch geschmackvoll & sauber. Die Brüder fühlten sich wie in einem Märchen, als sie die Hütte betraten, denn nichts anderes war es für sie. Ein Bett, eine Bettbank, gestampfter Boden, ein Tisch, zwei Stühle, Eiseskälte. Ilses Mutter saß mit erloschenem Blick beim Fenster und traute ihren Augen nicht, weil gleich zwei Sommerfelds bei der Tür hereinkamen. Ilse lebte nicht mehr, war begraben worden nach der Jahreswende. Sie hatte einen Brief zurückgelassen an Ariel, in dem sie ihm ihre Schwangerschaft mitteilte. Jetzt nahm er ihn zitternd entgegen, las & las, ohne etwas zu verstehen. Mein allerliebster Ariel! Wenn Du diese Zeilen lesen wirst, werde ich nicht mehr am Leben 26 sein. Ich sehe keinen anderen Ausweg. Deine Mutter hat mir zu verstehen gegeben, dass wir beide nicht heiraten können und ein Kind gewiss nicht der Grund dafür sein kann, Deine Zukunft zu zerstören. Nun ist es doch so gekommen, wie ich immer gefürchtet habe, Du bist eben aus einem feinen Haus und ich nur eine Magd. Ich weiß, dass Du anders bist, aber Du gehörst zu Deiner Familie. Das Kind nehme ich mit, es soll nicht so aufwachsen wie ich. Wir werden immer über Dich wachen und bei Dir sein. Denk an mich, wenn Du glücklich bist. Leb wohl, in ewiger Liebe, Deine Ilse. In ihrer Verzweiflung hatte sie es seiner Mutter erzählt, die ihr sogleich klar gemacht hatte, dass sie aus ihren Augen und ihrer Familie zu verschwinden habe, weil es ein Mädchen wie sie nicht für einen ihrer Söhne geben werde. Sie solle es nicht persönlich nehmen, denn es sei ein rein gesellschaftliches Problem, das auch eine Frau Sommerfeld nicht lösen könne. Diesen Brief nun überreichte Amalie Ariel, eine Szene, die Alexander später seinem Sohn Alexander nicht nur einmal erzählen sollte. Auch Ariel überlebte das Jahr nicht, er erschoss sich kurz darauf. Es lag nun ein schwerer Schatten auch über dem Hause Sommerfeld, das erste Leid überhaupt. Wie ernst Ariel es gemeint hatte, bewies er mit seinem Tod, auch für ihn gab es keinen anderen Ausweg mehr. Er hatte sie begehrt, nicht auf ihr Flehen, ihre Angst Rücksicht genommen, ihren Leib wieder & wieder begehrt, in Übermut & Lust genossen, keine Vorstellung davon besessen, was er anrichtete. Er hatte keine Dünkel, wollte nur dieses Mädchen haben, das er liebte, das ihn liebte und nicht eins, das er aus wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Gründen nehmen & heiraten sollte. Alexander erinnerte sich, als kleiner Junge mit seinem Vater, Ariels Bruder, einmal bei einer sehr betagten Frau gewesen zu sein, welcher sein Vater ein dickes Kuvert mit Geldscheinen 27 überreicht hatte. Später erfuhr er, dass sein Vater regelmäßig einen größeren Betrag an eben jene Frau schickte. Alexander war beeindruckt von der Alten, die ihnen Kekse & Tee servierte, ihm über den Kopf strich, nach seinem Befinden fragte. Beide Fotos, eins von Ilse, eins von Ariel standen bei ihr auf der Kredenz, sie waren mit grünen Blättern umkränzt. Sie wären ein schönes Paar gewesen, meine Ilse und Euer Ariel, aber es hat nicht sein dürfen, es war ihnen und mir diese Freude nicht gegönnt. Ilse ist ins Wasser gegangen, sie hat ja oft am Bach die Wäsche gewaschen, und eines Tages ist sie nicht mehr heimgekommen. Viel später haben fremde Menschen ihre Leiche gebracht. Nicht einmal ich habe sie wieder erkannt. Nur die Kleider waren ihre, die blonden Haare, die genau so schön waren wie Ariels schwarze Locken. Dein Bruder war ein guter Junge, genau wie du, auch euer Vater selig war ein feiner Herr, nur die Madam war anders, ein verwöhntes reiches Mädchen, das nichts wusste von einfachen Menschen und dass auch sie Gefühle haben. Und wie geht es dir, Alexander, du hast einen Sohn wie ich sehe, wer ist seine Mutter? Meine Frau Rahel lebt nicht mehr, sie ist bei Alexanders Geburt gestorben. Sie wollte, dass er meinen Namen trägt, falls es ein Junge wird. Oh, du armes Kind. Wer kümmert sich um dich, wenn dein Vater unterwegs ist? Bestimmt hast du eine gute Kinderfrau und alles, was du brauchst. Nein, er lebt bei einer Pflegefamilie. Ich möchte, dass er bei gewöhnlichen Menschen, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aufwächst, nicht wie mein Bruder und ich. Er soll so etwas wie 28 eine Mutter haben, nicht in Heimen leben oder Internaten. Und gefällt es Dir in Deiner Pflegefamilie? Ja, schon, nein, nicht immer. Hast du Heimweh nach deinem Papa? Ja. Oft. Alexander hatte das Gefühl, dieser Frau alles sagen zu dürfen, ja über seine Fragen & Antworten auch seinem Vater etwas mitteilen zu können. War sie eine besondere Frau?, wandte sie sich an Alexander den Älteren. Oh ja, das war sie, die Tochter eines Rabbiners aus Smaland. Das muss allerdings jemand ganz Besonderer sein, und wie hast du sie gefunden? Ich habe sie eines Tages gesehen, wie sie die Stufen zur Universität hinauflief, sie sah anders aus als alle anderen, sie war bescheiden gekleidet, fast wie ein Dienstmädchen. Beide lachten. Auch der kleine Alexander lachte, seine Mutter ein Dienstmädchen, das gefiel ihm, dabei hatte sie Deutsch & Hebräisch studiert, später ihre Doktorarbeit über Goethe geschrieben. Und hast du sie leicht bekommen? Nein, der Rabbiner wollte sie mir nicht geben, es gelang uns nur 29 durch eine List, die sie selbst erfunden hat, denn er sagte: ich gebe mein gescheites Rahele doch keinem ungebildeten Pelzhändler! Du bist doch kein ungebildeter Pelzhändler, ein Pelzhändler vielleicht, aber du hast doch auch studiert, Wirtschaft, wenn ich es recht verstanden habe. Natürlich war ich ungebildet gegen sie und erst gegen ihn! Ich verstehe vielleicht etwas von Pelzen, von Geld, von Termingeschäften, von Spekulation, aber Rahel konnte die alten Sprachen, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Deutsch, kannte sich aus im Judentum, in der Philosophie. Ich kam mir daneben vor wie der letzte Trottel. Und sie soll ausgesehen haben wie unsereins, wie ein Dienstmädchen? Genauso war’s! Aber nach & nach habe ich sie mir hergerichtet, sie neu gekleidet. Immer wenn ich aus dem Norden zurück nach Stockholm kam, führten wir ein flottes Leben, gingen in feine Restaurants, tanzen, spazieren, auf Reisen sogar, und bald sah sie aus wie eine richtige Dame, wie eine Sommerfeld! Ach, Alexander, Du erinnerst mich so sehr an Ariel, der auch aus meiner Tochter einen ganz andren Menschen gemacht hat, sie auf Händen trug, sie vieles lehrte, was unsereins nie zu hören oder zu sehen bekommt. Er kannte keine Unterschiede zwischen den Leuten, er behandelte alle gut, war immer freundlich. Er hat bei mir, als ihr noch Kinder ward, einmal sogar Spiegeleier gegessen, aus unserer uralten einzigen Eisenpfanne, einmal ist er sogar hier über Nacht geblieben, seine Mutter hatte Gesellschaft bei sich, ihr war es nicht aufgefallen, dass Ariel nicht daheim war, verließ sich auf die Kindermädchen, die aber nicht alle gleich 30 streng waren. Auf jeden Fall hat Ariel sie alle herumgekriegt. Wenn wir, Ilse & ich, ihn baten, von zu Hause zu erzählen, sagte er nur, ach, das ist viel zu langweilig, bei reichen Leuten ist es nichts außer das! So ein Schlingel! Als sie fort gingen und Ilses Mutter weinte, sagte Alexanders Vater: Wir sind beide traurig, denn wie Ihnen Ariel Ihre Tochter genommen hat, hat Ihre Tochter mir meinen Bruder genommen. Hätten sie einander nie getroffen, hätten wir sie nicht verloren! So was darfst du nicht sagen! Es hat alles so sein müssen. Als sie noch lebten, waren sie glücklich. Hätten sie einander nicht getroffen, hätte es diese seltene Liebe zwischen einem reichen jungen Herrn und einer Magd nie gegeben. Seither weiß ich, dass es die Liebe wirklich gibt und nicht nur im Theater, im Märchen. Ich wusste, es würde eines Tages traurig enden, aber ich konnte sie nicht abhalten, wollte es auch nicht. Es war eine unschuldige reine Kinderliebe. Sie haben zusammen gehört, schon, als sie noch ganz klein waren. Ariel hat sich nicht um die von seinem Stand gekümmert, kam immer gerne, vielleicht am liebsten zu uns. Er hat sogar oft was zu essen mitgehabt. Er war ein Kind, das alles begriffen hat. Sein glasklarer Verstand und sein gutes Herz haben unsere Bescheidenheit mit eurem Überfluss in Zusammenhang gebracht. Von dieser Idee ist er ja nicht mehr abgekommen. Er soll sich in Stockholm um die Arbeitergesetzgebung gekümmert haben. Und dieser außergewöhnliche Mensch hat meine einzige Tochter geliebt, und nicht nur sie ist dafür gestorben, sondern auch er. Ja, Alexander, diese Geschichte, dieses Märchen ist die ganze Freude meines Lebens, meines Alters, und irgendwo bin ich sogar glücklich darin. 31 Aber du bist genau so gut wie dein Bruder, du sorgst dich um mich, du schickst mir Geld, kommst auf Besuch, bringst gar deinen kleinen Jungen mit! Sie sind der einzige Mensch, der noch lebt von denen, die Ariel gekannt haben, so, wie er war, der einzige Mensch aus jener Zeit, als sie noch alle da waren, meine Eltern, unsere Dienerschaft, alle und alles, was es nicht mehr gibt …., so schnell ist alles vergangen, glauben Sie mir, ich komme zurück zu Ihnen auch meinetwegen, tue es auch für mich. Gott sei Dank hast du so einen lieben kleinen Sohn. Aus ihm wird bestimmt etwas Großes werden. Pass gut auf ihn auf, und du Alexander, pass gut auf deinen Papa auf! Ich habe Rahel verloren, und am Ende wird Alexander mich verlieren, die Liebe ist ja eine Reihe von Verlusten, die Angst vor der Zeit, die alles, auch die größten und schönsten Augenblicke, vergehen macht, sogar dies, was uns nur für einen kleinen Moment gehört. Früher habe ich oft meine Mutter gefragt: Wann werde ich erwachsen sein? Was ist das, Erwachsen zu sein? Wissen Sie, was sie mir einmal geantwortet hat? Erwachsen bist du, wenn Du weißt, dass das Schönste hinter Dir liegt, dass nichts wieder kommt, nichts ein zweites Mal passiert, dass man vorsichtig und aufmerksam sein muss mit allem, mit den Menschen, den Dingen, den Ereignissen, Erwachsen zu sein, bedeutet, zu verstehen, dass nichts von Dauer ist. Der Bub wunderte sich über die Worte seines Vaters, der zwar meistens ernster Stimmung war, aber doch keinen deprimierten Eindruck auf ihn machte. Als Alexander bereits selbst in Stockholm studierte, überwies er manchmal im Auftrag seines Vaters, das Geld an Ilses Mutter. 32 *** III Nachtdienst & Wie ich ihn kennenlernte Ich erklärte mich also bereit, nachdem sich niemand meiner Kolleginnen zutraute, mit diesem schwedischen Arzt Dienst zu machen, in dieser und den darauf folgenden Nächten einzuspringen, und das, obwohl es geheißen hatte, er würde, weil er kein oder kaum Deutsch beherrsche, nachts nicht eingesetzt werden. Als ich die Station betrat, war alles wie immer. Dienstübergabe, eiliges Aufbrechen der Abendschwestern, letzte Anweisungen wurden gegeben, nichts Außergewöhnliches. Dann wurde es still, die regelmäßigen Anschläge der Beatmungsmaschinen waren auf der gesamten Station zu hören, das beruhigende Ticken der Herztöne, auf den Monitoren gut sichtbar die leuchtenden Amplituden. Die gedämpfte Beleuchtung, die Kinder schliefen größtenteils oder waren mit ihrer Atmung beschäftigt. Blaues Licht im Operationssaal gegenüber, auch dort kein Betrieb, der Tag war zu Ende gegangen, die fort gehenden Schwestern & Ärzte ließen die Verantwortung zurück, legten sie ab, gingen erleichterten Schrittes nach Hause. Ich habe dieses Abschiednehmen, das mich als Nachtschwester zurückließ, immer als das Schwerste empfunden, und doch nicht nur, denn es hieß auch, dass man zwar nun für alles zuständig, aber auch frei von aller Kontrolle war. Es lagen zwölf Stunden vor mir, die alles bringen, mich vollkommen fordern konnten, in Ratlosigkeit & Sorge stürzen, in Nervosität & Verzweiflung, denn vielleicht gibt es keine zweiten 33 zwei Berufe, die in wenigen Stunden so viel Veränderung & Verantwortung bereit halten wie die des Arztes und der Krankenschwester. Gute Nacht! Schönen Nachtdienst! Einen ruhigen Dienst! Keine Aufnahme, keine Ausfahrt! Danke, auch euch alles Gute und einen schönen, einen geruhsamen Abend! Bis morgen früh! Ja, bis morgen! Doch dieser, jeder Morgen lag vom Vorabend sehr weit weg, unvorstellbar fern beinah in diesem Augenblick, und der Moment, die soeben übernommene Verantwortung wieder ablegen & übergeben zu dürfen, schien jetzt unmöglich. Als nach der letzten Kollegin die schwere Tür mit der Aufschrift NEONATOLOGISCHE INTENSIVSTATION zugefallen war, blieb ich mit einer ganz jungen Schwester und einer Stationsgehilfin zurück. Diese beiden versorgten die weniger problematischen Kinder und gingen mir, wenn es nötig war, in allem zur Hand, sterilisierten die Instrumente, desinfizierten die Geräte, trugen die Windelkübel aus, wickelten die Säuglinge, die bereits in kleinen Betten ohne Sauerstoff lagen, fütterten & beobachteten sie, während ich im Intensivraum mit bis zu sechs beatmeten oder intensiver Betreuung bedürftiger Kinder in Inkubatoren, ganz alleine war. Zu Beginn jener Nacht aber war es auch bei mir ruhig, was sich 34 jedoch jede Minute ändern konnte. Und wirklich, bereits gegen Mitternacht läutete das Telefon, eine Aufnahme wurde angekündigt, nicht eine, die mit der Rettung irgendwo aus dem Land geholt, sondern von der Frauenklinik des Hauses herübergebracht werden sollte: Wir haben hier ein ziemlich kleines Frühgeborenes, Kaiserschnitt, schlechte Atemfrequenz, circa siebenhundert Gramm, der Dienst habende Neonatologe ist bereits verständigt! Die für eine Aufnahme auf einer Intensivstation üblichen hektischen Angaben eben. Für mich bedeutete dies, ohne die anderen winzigen Patienten aus den Augen zu verlieren, eine neue Reanimation, das heißt eine Wiederbelebung vorzubereiten: Infusionsperfusoren (Geräte zum automatischen Infundieren von Flüssigkeiten in die Blutbahn), Infusionsnadeln, Spritzen herrichten, Medikamente aus Ampullen aufziehen, Nabelvenenkatheter, Nabelarterienkatheter, Intubationsbesteck auflegen, Beleuchtung einstellen, Reanimationstisch decken, die künstliche Beamtung vorbereiten, die Beatmungsmaschine einsatzbereit machen, Absaugvorrichtung überprüfen, die Schläuche in den Brutkasten legen, Sauerstoffzufuhr abklären. Bereitlegen aller möglichen Konnektoren (Verbindungs- und Zwischenstücke), Feuchtigkeit & Temperatur des Inkubators überprüfen, Alkohol, Tupfer, Nabelklemme, Wattestäbchen, sämtliches Notfallsbesteck, Handschuhe, möglichst alles gleichzeitig, weiters EKG-Apparat, Monitor für Atem- & Herzfrequenz einschalten, Temperatursonde, Transoxode für die permanente transkutane Blutsauerstoffmessung kalibrieren, die Benachrichtigung des Dienst habenden Turnusarztes zur Blutabnahme sowie der Röntgenassistentin zum Durchleuchten der Lunge. Alles genau vorgeschrieben, militärisch organisiert, ohne Verzögerung, wie im Schlaf, tausendmal geprobt, tausendmal gemacht und doch jedes Mal eine Premiere, denn nie ist etwas gleich, immer gibt es Überraschungen, keine einzige 35 Wiederbelebung verläuft wie die andere, alles kann geschehen, und obwohl man es unzählige Male getan hat, gibt es Fehler, Unvorhergesehenes. Als ich all dieses veranlasst hatte, stand der Transportinkubator bereits vor der Stationstür, mitgekommen war der Gynäkologe, der den Kaiserschnitt gesetzt und die Erstversorgung des Kindes durchgeführt hatte. Die Atmung des kleinen Patienten - insuffizient, ebenso der Puls, also das Herz, tiefe Einziehungen am Jugulum (Drosselgrübchen), am Sternum (Brustbein), zwischen den Rippen, maximales Arbeiten der Atemhilfsmuskulatur, länger werdende Atemstillstandsphasen, schließlich Schnappatmung, dies der Status quo. Nach diesem ersten Blick auf die Situation wähle ich sofort die Nummer des Neonatologen, der aber schon in der Tür steht. Der neue Arzt wäscht sich am Waschbecken die Hände, während er den kurzen gestressten Bericht des nervösen Gynäkologen über den Zustand des Neugeborenen anhört, sich mit einer Verbeugung bedankt und den Kollegen verabschiedet, welcher erleichtert mit dem leeren Inkubator und der Hebamme den Lift besteigt. Ich hatte das Frühgeborene nach der raschen Übernahme sofort in einen vorgewärmten Stationsinkubator gelegt, abgesaugt, mit dem Beutel und zusätzlichem Sauerstoff beatmet. Ganz langsam beginnt sich das Kind unter der Bebeutelung etwas zu konsolidieren, atmet angestrengt aber wieder selbst. Natürlich wird es nicht lange durchhalten können. In solchen Augenblicken sollte man möglichst alles in einer einzigen Sekunde tun, so weiß ich heute nicht mehr, in welcher Reihenfolge genau ich damals die nächsten Schritte setzte. Gott sei Dank beginnt beim Kind unter meiner ersten Versorgung eine gewisse Stabilisierung der vitalen Funktionen, jedoch nur unregelmäßig und bereits wieder nachlassend. Ohne künstliche Hilfe besteht keine Überlebenschance, nicht einmal für den Rest dieser Nacht. Ich habe gerade die Temperatur 36 gemessen und lege soeben die EKG-Elektroden an, als Doktor Sommerfeld den Raum betritt, leicht in meine Richtung nickt und mit bereits desinfizierten Händen von der anderen Seite des Inkubators das Kind zur Untersuchung übernimmt. Er intubiert sofort, was zu meinem Erstaunen unglaublich schnell vor sich geht, kein Geschrei, keine Unsicherheit wie sonst, sondern eine ruhige Handlung seitens des schwedischen Arztes, der so gut wie keine Assistenz von mir fordert, nur fragt nach der Temperatur, die Zacken auf dem Monitor mit seinen eigenen Messungen überprüft, den Brustkorb des Babys abhorcht, den Respirator einstellt, die Transoxode abliest, den Turnusarzt, der mit der Nadel zur Blutabnahme bereit steht, einbremst und die Entnahme auf später verschiebt, wenn das Kind sich erholt hat, ebenso die Röntgenaufnahme. Ich war äußerst unsicher gewesen, hatte ja angenommen & gehört, der ausländische Arzt sei arrogant wie viele andere vor ihm, dachte, dass er mich kaum oder gar nicht zur Kenntnis nehmen würde, dennoch alles Mögliche verlangen könnte, es zu Verständigungsschwierigkeiten käme und so weiter und so fort. Nichts davon aber geschah, nicht einmal beim ersten Mal. Trotz der erforderlichen Geschwindigkeit der lebensrettenden & lebenserhaltenden Maßnahmen lief alles ruhig & freundlich ab. Wie immer war man sich sehr nahe gekommen, denn der winzige Körper eines Frühgeborenen, auch die Flächen, auf denen gearbeitet wird, lassen kaum Abstand zu. Nach einer intensiven halben Stunde sah ich ihn zum ersten Mal wirklich & deutlich an, in einem Augenblick, als wir beide bereits aufatmen konnten, das Schlimmste vorüber war, die Gefahr gebannt & überwunden. Ich danke Ihnen, Schwester!, sagte er in makellosem, aber sehr langsamen Deutsch. Und es war mir, als sähe er etwas völlig Befremdliches, ja Erschreckendes, denn seine Augen blieben auf mir liegen, durchdrangen mich förmlich, sodass ich den Blick senkte & abwandte und wahrscheinlich rot anlief, denn ich spürte 37 eine plötzliche Hitze in meinem Gesicht. Wie ist Ihr Name, Schwester? Maria. Hej, Maria. Ich heiße Alexander Sommerfeld. Obwohl ich bereits wusste, wer er war, erschrak ich jetzt. Er, von dem sie alle geredet hatten wie von einem Gott, stand leibhaftig vor mir, mehr noch, er nahm Notiz von mir, stellte sich vor, fragte nach meinem Namen sogar. Wie oft kam das schon vor? Anderen Ärzten, den meisten, war es egal, wer ihnen assistierte, und selbst, wenn sie das Schildchen, welches wir trugen, gelesen hätten, hätten sie den Namen auf der Stelle vergessen. Wie es oft geschah, konnte ich nichts von dem erkennen, was so aufwändig wie verschieden erzählt worden war. Ich hatte einen schwierigen Menschen erwartet, und gekommen war ein netter Kerl, wenngleich ich damals nicht einmal in meinem Innersten gewagt hätte, ihn so zu titulieren. Die Verhältnisse zwischen Ärzten & Schwestern waren ohnehin oft gespannt, gespreizt, diffizil, überladen, belastet, unklar. Immer gab es eine Stationsschwester, eine Oberin, die das Sagen hatte, sich in den Vordergrund spielte, im Hintergrund taktierte, sich für etwas Besonderes hielt, sich überall dazwischen stellte, in alles einmischte, darauf bedacht, eine junge Kollegin während der Visite oder auch vor einem einzelnen Arzt zu belehren, nicht selten zu blamieren, in den Schatten zu stellen, zu korrigieren, anzufahren. Es war sogar einerlei, ob sie anwesend war oder nicht, es schwebte dauernd das Damoklesschwert der Vorgesetzten über allen & allem, so auch über mir. Es war also nicht nur so gut wie unmöglich zwischen Ärzten & Schwestern einen irgendwie normalen Ton zu finden, sondern auch unter den Schwestern selbst, wobei Aussehen & Alter eine große Rolle spielten. 38 Dabei war es nicht einmal so, dass sie, die Kontrollschwestern also, hierarchisch unbedingt weiter oben stehen mussten, denn es gab auch welche, die sich einfach Kraft ihres Alters, ihrer Anmaßung über die anderen erhoben, wie ein Komet ständig über einem leuchteten, auf einen zuflogen, einen bedrohten. Mit etlichen war es unmöglich zu arbeiten, es ihnen recht zu machen, einen Menschen hinter der Fassade zu finden. Obwohl keine Vorgesetzten im normalen dienstlichen Sinn führten sie sich dennoch so auf. Und, was in aller Welt, kann eine junge Schwester dagegen unternehmen? Niemand würde einen persönlichen Kampf mit so einer aufnehmen, es herrschte daher eine Art kalter Krieg und vergiftete das ohnehin schwierige Klima. In der Ausnahmesituation eines Krankenhausbetriebes, im besonderen einer Intensivstation, gibt es ausreichend andere und weit größere Probleme zu bewältigen, dennoch müssen sie einzelnen Personen nicht gereicht haben. Jeden Morgen, jeden Abend, wenn ich die breite Milchglastür zur Station durchschritt, kam mir derselbe Gedanke: hoffentlich passiert nichts, hoffentlich verlasse ich die Schwelle in etwa so, wie ich sie betreten habe, mit einer, wenigstens gewissen Unversehrtheit von Leib & Seele und vor allem, ohne selbst gefehlt zu haben. Man konnte, durfte aber keinen Fehler machen, es ging ja nicht einfach um eine falsche Rechnung, quasi einen Irrtum auf Papier, um Verlust von Geld, eine schlechte Note, nicht um irgendeinen Schaden im Geschäftlichen, sondern betraf das Leben der Menschen, die einem anvertraut waren, selbst. Fehler in der Wirtschaft, in der Schule, auf der Universität sogar sind & bleiben, bei aller Tragik für den einzelnen, korrigierbare Vergehen, dies aber gilt nicht für die Arbeit am Krankenbett. Sie ist daher überhaupt mit keiner anderen vergleichbar. Niemand außerhalb des Krankenhauses kann die Verantwortung einer Krankenschwester, vor allem während der Nachtdienste, wo 39 sie allein auf sich gestellt ist, ermessen. Am Morgen danach nämlich sieht alles ganz anders aus. Die Vorkommnisse werden später von Ausgeschlafenen in aller Ruhe bei hellem Tageslicht und im Nachhinein beurteilt. Nur wer die Einsamkeit nächtlicher Entscheidungen & Tätigkeiten kennengelernt hat, kann dies verstehen, niemand sonst. Bereits die Schwesternschülerinnen werden in dieser Lage allein gelassen und frühzeitig mit ihr bekannt gemacht, ohne je eine Hilfestellung zu bekommen. Schlechtes Gewissen & Angst sind die ständigen Begleiter von Anfang an. Eine Schwester verfügt über viel weniger medizinisches Fachwissen als ein Arzt, ihr Spezialgebiet ist ja die Pflege, wovon wiederum der Arzt nichts versteht, dennoch muss sie oft die gleichen, weit über ihre Ausbildung hinausreichenden Aufgaben übernehmen. Es können Dinge vorkommen, von denen sie in ihrer Konsequenz nichts weiß, ihr aber dennoch im Zweifelsfall angelastet werden. Die Praxis der Krankenhaus-Medizin beruht überhaupt auf diesem unausgesprochenen Übereinkommen, vergleichbar mit der Dämmerung, dem Verfließen der Konturen zwischen Tag & Nacht, zwischen Helligkeit & Dunkelheit. Wie in der katholischen Kirche etwa, tut man, als könne man alles ganz genau bestimmen und regeln, als gäbe es nur richtig & falsch, ja oder nein, eine einzige Entscheidung. Doch wie es in der Unklarheit der Dämmerung doch irgendwo eine Uhrzeit gibt, kann auch in einem solchen Geschehen ein Zeitpunkt, ein Handgriff, ein Wort benannt, konstruiert oder rekonstruiert werden, Dinge, die in jenem nächtlichen & einsamen Augenblick nicht sichtbar waren. Was wurde einem nicht alles darüber erzählt wie es angeblich in anderen Ländern um so vieles besser war, in der Schweiz, in Skandinavien, in England, in Südafrika, in Saudiarabien! In kleinen Ländern wie Österreich ist das Ausland die beste Adresse, zählt nur, was anderswo, quasi draußen in der Welt 40 geschieht, dort ist es gut, dort müsste man sein oder gewesen sein. Dagegen war eine einheimische österreichische Schwester nichts, auch dann nicht, wenn sie alles gut machte, als könnte irgendjemand mehr als dies oder irgendjemand noch mehr verlangen. Hätte man aber auf einen einzigen Auslandsaufenthalt hinweisen, seine Biographie damit aufputzen, verzieren, behübschen können, wäre der Respekt, um den es eigentlich immer gehen sollte, sofort vorhanden gewesen, ja, ins Unermessliche gewachsen. Einfacher aber war die Rede von angeblich überragenden ausländischen Schwestern und deren ebenso überragenden Ausbildungen, deren angebliche Weltläufigkeit, gerade so, als wäre unsere Schwesternschule nichts wert und all das Unzureichende unsere eigene Schuld, als ginge es nicht immer um den Patienten, den Menschen und mit welcher Haltung und welchem Ethos man ihm gegenübertritt. Es war nicht unsere Idee, dass wir bereits ans Krankenbett gestellt wurden, als wir noch nicht alles gelernt hatten, es war nicht unsere Schuld, wenn zu wenig Personal vorhanden war, weil es angeblich nicht bezahlt werden konnte. Für dieses Defizit mussten die Schwesternschülerinnen und jungen Diplomschwestern aufkommen, dafür waren wir da, denn hier ging es plötzlich und Gott sei Dank nicht mehr um die wahren Probleme wie Zeitmangel, Überforderung, Unter-besetzung, sondern um viel existentiellere und vor allem persönliche Fragen. Für die Fehler des Systems wurden wir zur Verantwortung gezogen, mit schlechten Beurteilungen abgefertigt, beschimpft, verächtlich behandelt. Während der Tages- & Ausbildungszeiten durften wir nur die niedrigen Arbeiten verrichten, sodass, als wir das Wissen und die Erfahrung gebraucht hätten, eigentlich nur versagen konnten. Warum es dennoch nicht geschah?, weil einem die Angst Flügel verleiht, phantasievoll werden lässt, mutig & vorsichtig in einem. Der kämpferische Erzengel, der uns zur Seite gestanden haben muss, 41 war unser einziger Verbündeter in dieser scheinbar unlösbaren Lage. Die Oberin, die Stationsschwestern & Kontrolleurinnen, die selbsternannten Vorbeterinnen und allwissenden Kolleginnen waren die Instanzen, die uns übergeordnet waren, welche uns drangsalierten vom ersten bis zum letzten Tag. Es ging längst nicht mehr darum, den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen, ihn zu pflegen, sondern wie man mit den Drachen & Hexen der Schwesternschaft auskam. Alles, was man wusste, früher in der Schule gelernt, gelesen hatte, die Philosophie, die Romane, die Gedichte, die eigene Vergangenheit sogar, das Leiden, durch das man gegangen war, alles zusammen galt nichts vor den Oberschwestern & Stationsschwestern, die am Morgen ausgeschlafen und völlig sicher durch dieselbe Tür traten und einen mit einem einzigen Blick, einer einzigen unerwarteten Frage be- & verurteilten, und dennoch gab einem diese eigene Geschichte, das gewissenhafte Studium, die langen Nächte des Lernens und gegenseitigen Prüfens, die scheinbar eigene Bedeutungslosigkeit sogar, die Unzulänglichkeit, das bloße Sein den einzigen Halt in dieser gefährlichen unlauteren Welt der Herablassung & Unbarmherzigkeit. Es geschah nämlich nicht, wie es uns als Schülerinnen am Anfang versprochen worden war: man würde sich um uns kümmern mit allem, was im Schwesternheim zu Gebote stand, uns nicht allein lassen, immer ein offenes Ohr, eine offene Tür haben, all die schönen, damals noch beruhigenden Worte sollten uns noch bitter aufstoßen und uns darüber belehren, dass so gut wie niemand Verantwortung übernahm für uns, wir in Wahrheit niemandem vertrauen konnten und wir selbst niemandem anvertraut waren. Jede einzelne Schwester stand darum in zahllosen Nächten immer wieder unendlich einsam da, musste sich auf all ihr Wissen, die am Anfang noch geringe Erfahrung, ihren Instinkt besinnen, eingedenk dessen, dass ihr niemand helfen würde, wenn es schief 42 ginge, es aber auch nichts Besonderes war, wenn denn alles klappte. Diese & ähnliche Gedanken waren immer präsent in mir, oft drohte ich, daran irre zu werden. Und doch war es nicht einmal so, dass sich nach dem Diplom die Situation gleich geändert hätte. Jetzt war man zwar eine junge, „fertige“ Krankenschwester, der Traum unserer schweren Lehrjahre in Erfüllung gegangen, doch was hieß das schon, und wen interessierte es in der Hierarchie einer Station, wo die Weichen längst gestellt und ungeahnte Kämpfe um jede Position ausgefochten waren, ad acta gelegt oder jeden Tag von neuem begonnen wurden? Was konnte jemand, der da hinzukam, für eine Rolle spielen? Man musste froh sein, wenn man wenigstens geduldet wurde, irgendetwas machen durfte, das ganz schmal über der Tätigkeit einer Stationsgehilfin lag. In Wahrheit aber wurde man in dieser Phase genau beobachtet, wie sehr oder leicht man sich einfügte, aufmüpfte, ob mit einem womöglich zu rechnen war, man eine Gefahr darstellte für die Ordnung, ob man neue Vorgangsweisen erforderlich machte oder als harmlos & ungefährlich eingestuft werden durfte, großes Aufatmen oder eine ungemütliche Änderung der Strategie hervorrief. Mein Freund, mit dem ich damals seit zwei Jahren ging, wusste ein Lied davon zu singen, er kannte sich bestens aus auf der Station, obwohl er nie dort gewesen war, wusste Bescheid wie nicht einmal die angehenden Ärzte. Wo wäre ich geblieben, wie hätte ich es geschafft, ohne ihm nach diesen Diensten alles erzählen zu können, was vorgefallen war? Ich war randvoll von den vergangenen Ereignissen, wenn ich die Station verließ, konnte nicht einschlafen, ja, so voll war ich, dass ich nachts aufschreckte, meinte, etwas vergessen zu haben, mich rechtfertigte, mit mir selber redete, in die Küche lief, dort allen Ernstes den Alarm ausschaltete und mich erleichtert ins Bett legte und weiterschlief. Doch es war nicht einmal nur so, dass die Arbeit allein einem zu schaffen machte, sondern auch die Ärzte, von denen genug in 43 ihrer studierten Überheblichkeit eine Krankenschwester oder gar eine Schwesternschülerin für weiter nichts als doof erachteten, zum Subjekt von Spott & Belustigung auserkoren & erniedrigten. Nachts, wenn alle Katzen schwarz sind, so dachten sie wohl, könnten auch sie unsichtbar und also unflätig werden. Assistenzarzt & Turnusarzt unterhielten sich dann halb & halb lateinisch, richtig konnten sie es eh nicht, verwendeten aber die anwesende & assistierende Schwester, die sie für ungebildet und also gehörlos für das Lateinische hielten, als Zielscheibe & Objekt ihrer Belustigung. Die Weiblichkeit der Schwester an sich diente ihnen als Anregung, die nämlich brauchten sie schon, darum ging es schließlich, denn es stand ihnen der Sinn nach Sex und ordinären Witzen. Wo anders konnten oder durften sie sich noch dergestalt äußern, zum Ausdruck bringen, wie sie wirklich waren? Wo anders gab es für sie einen Ort, wo sie sich nicht gut & quasi lupenrein benehmen mussten, denn sie waren durchaus nicht die gebildeten Humanisten, die sie gerne gewesen wären und die sie doch oft genug spielen mussten, denn ihre außermedizinischen Kenntnisse reichten gerade einmal für einen oberflächlichen Party Small Talk. In den Nächten, die unsereins mit ihnen erlebte, ging es anders zu, sie stanken aus dem Mund nach Alkohol, nach Zahnfäule, stießen auf wie die Säuglinge, sie furzten und lachten noch darüber. Eine gewisse Erträglichkeit war gegeben, wenn einer alleine kam, doch wehe, sie waren zu zweit! Da hätte man genauso gut ins nahe gelegene Bräustübl gehen und sich von betrunkenen Rekruten anmachen lassen können. Da wie dort ging es darum, die Sau raus zu lassen, sich abzureagieren, irgendwo in aller Welt den aufgestauten Frust los zu werden. Die Ärzte hielten sich etwas zugute auf ihre sogenannte Bildung, deren Gipfel für die meisten darin bestand, nachdem sie mit Ach & Krach die Matura geschafft hatten, irgendwie das 44 Medizinstudium hinter sich zu bringen. Dann aber aus & fertig mit allem! Nie wieder etwas lernen! Um Himmels Willen keine Plage mehr, nur noch Geld verdienen, Auto, Villa, Segeljacht, Golfklub, Weiber, Sex. Als Doktor konnte man leicht Eindruck schinden überall, auch wenn man die größte Niete war und sich an so gut wie nichts von der Uni erinnerte. Einen interessierten, intelligenten medizinischen Laien hätte man leichter zur Visite mitnehmen können und auch besser mitnehmen sollen als diese Turnusärzte. Ja, sogar, als ich Doktor Sommerfeld das erste Mal sah, mit ihm arbeitete, waren diese oder ähnliche Gedanken in mir. Umso erstaunlicher, dass er, der mir so arrogant geschildert worden war, nichts davon ausstrahlte. Der herbei gerufene Turnusarzt erkannte die Situation, wusste sich auf einmal zu benehmen, wurde aber mangels dienstlicher Verwendbarkeit durch den schwedischen Arzt, wieder ins Bett geschickt. Um deutlich zu machen, wie anders dieser Fremde sich benahm, mit welcher Selbstverständlichkeit er höflich war, ruhig, respektvoll, musste ich diesen ausführlichen Einblick in die normale alltägliche Krankenhauswelt, wie sie sonst existierte, vorausschicken oder einfügen, sonst wäre seine Besonderheit und der damit verbundene Komfort wohl nicht verständlich zu machen gewesen. Doktor Sommerfeld & ich hatten eine gute halbe Stunde intensiv & konzentriert gearbeitet, die Handgriffe ergänzten sich nahtlos, die Blicke genügten, es mussten kaum Worte fallen. Bereits nach wenigen Minuten schien es, als hätten wir schon oft zusammengearbeitet. Dieser ausländische Arzt war vollkommen anders, von ihm ging eine große Ruhe aus, Kompetenz, Distanz, die gleichzeitig Nähe und Nähe, die gleichzeitig Distanz war. 45 Als wir fürs erste fertig waren, ging er zum Waschbecken, wusch sich die Hände, drehte sich langsam zu mir, und ich sah, dass seine Augen glasig waren, er trocknete sich ab, während er seinen Blick auf mir ruhen ließ, ja es schien, als könnte er im Augenblick nirgendwo anders hinschauen. Wir waren beide in Verlegenheit; ich, so dachte ich damals, mehr als er, doch die Tatsache, dass er überhaupt von mir Notiz nahm über die soeben abgeschlossene Tätigkeit hinaus, wunderte mich zutiefst. Es vergingen lange Minuten, ich gab mir den Anschein von Beschäftigung, spürte aber immer seine Augen in den meinen, die ich längst niedergeschlagen hatte. Dann kam er noch einmal zum Inkubator herüber und sprach jenen unverständlichen Satz, über den ich viele Jahre lang nachgrübeln musste, weil er sich wie ein Rätsel anhörte. Schwester Maria, wenn ich jünger wäre,.................. würde ich Sie fragen, ob, ob, .......... Sie sich vorstellen könnten, mit mir zu ............ zu leben. Ich muss mit offenem Mund zugehört haben, völlig außer Stande, etwas zu begreifen, denn ich war darauf gefasst gewesen, eine ärztliche Anordnung zu erhalten, doch nicht einen Satz wie diesen. Er verließ ohne eine weitere Erklärung den Intensivraum, die Station, was mich beinah aus der Fassung brachte, ließ mich stehen, allein, allein mit dem Kind, der ganzen Situation, den Worten, die ich nicht verstand, verwirrt und mit klopfendem Herzen. Später rief ich mir ab & zu sein Gesicht zurück, es gelang nicht immer, dann wieder sah ich ihn ganz deutlich und doch in einem Art Tagtraum, nie in einem wirklichen: seine blonden Haare, seine Augen, die ich mir blau & tief wie das Meer vorzustellen begann. Die Stille, welche er im Leben wie im Traum trotz seiner Lebendigkeit & Wendigkeit ausstrahlte, dauerte über das Erwachen hinaus an. Diese Stille sollte sein stärkstes Merkmal für 46 mich werden, neben seiner Geduld und seinem langen Warten auf mich, welches für ihn bereits begonnen hatte. Die Stille, die beinah sichtbare, ja hörbare Stille, die ich später wieder & wieder suchen würde, auf die ich mich freuen und die einen großen Teil unseres Glücks, das vor uns lag, ausmachen sollte. Der Rest jener Nacht verlief ruhig, das Kind stabilisierte sich, ich sollte nur noch um vier Uhr morgens einen Astrup abnehmen, eine Blutgasbestimmung also, bei welcher der exakte Sauerstoff- & Kohlendioxydgehalt des Blutes überprüft wurde. Es musste auf Grund dieses Ergebnisses nichts an der Respiratoreinstellung oder der Sauerstoffzufuhr verändert werden, er hatte alles perfekt berechnet & vorausgesehen gehabt. In den folgenden Nächten waren andere Ärzte im Dienst, Doktor Sommerfeld nicht mehr. Sie präsentierten sich indes wie immer: verschlafen, grantig, patzig, herablassend, größtenteils arrogant & überheblich, umso mehr je unzureichender & unsicherer sie waren. Als ich nach den verbleibenden Nächten und den vier darauffolgenden freien Tagen wieder in den gewöhnlichen Dienst zurückkehrte, hörte ich, dass Doktor Sommerfeld, den ich nur ein einziges Mal gesehen hatte, bereits nicht mehr in Salzburg weilte. Er war nach Stockholm zurückgekehrt, wie ich viele Jahre später erfahren sollte, es lag noch ein langer Weg vor ihm, er machte seine Beatmungsmethode in aller Welt bekannt, stellte sie vor, überall in Europa und vorallem in den U. S. A. . Eine im Nachhinein einfach klingende Lösung für ein großes Problem trat seinen Siegeszug an. Die Lungenoberfläche der zu früh Geborenen ist bei der Geburt unreif, nicht genug entfaltet, sodass sich beim ersten Atemzug die Lungenbläschen nicht ausreichend mit Luft voll pumpen können, sondern zusammenklatschen & zusammenkleben. Sie müssen 47 unbedingt wieder geöffnet und mit Luft gefüllt werden, damit es zum lebenswichtigen Gasaustausch kommen kann. Sommerfeld hatte den größten Teil seiner bisherigen Arbeit als Kinderarzt der Erforschung dieses Vorgangs gewidmet und schließlich ein Gerät entwickelt, welches das Einfallen der Lungenbläschen verhindern und sie bis zur vollständigen Ausreifung der Lunge offen halten sollte. Seine ersten Erfahrungen hatte er bereits als junger Arzt in Zentralafrika gesammelt, sich dort viele über die Jahre endlose Gedanken & Aufzeichnungen gemacht. Doch das lag jetzt in weiter Ferne, denn in Afrika war nicht nur seine Idee entwickelt, sondern vor allem seine Sensibilität und sein Verständnis für die Medizin der Eingeborenen, die ihn als Menschen in ihrer Einfachheit & Weisheit tief beeindruckten, geweckt worden, er hatte Kenntnisse erlangt, die ihm bis dahin völlig fremd gewesen waren, drang, je länger er sich damit beschäftigte, immer weiter ein in ein fremdes Wissen, das ihn oft & oft durch seine Vollkommenheit & Feinheit verblüffen sollte. Nicht so Silvia, seine junge Ehefrau, die zwar anfangs für die Entwicklungshilfe Feuer & Flamme gewesen war, doch am Ende nicht fand, was sie erwartet hatte, vor Heimweh schier zugrunde ging, durch ihre persönliche Erkenntnis der Aussichtslosigkeit so gut wie jeder Arbeit, als ganzes keine Freude mehr hatte, sich nicht zurechtfand in einer so exotischen Welt voller Schmutz, Entbehrung & Leid, wo die Menschen in ihren Augen nicht einmal das Nötigste besaßen, nur den Mangel kannten, zu Almosenempfängern & Bettlern gegenüber den ausländischen weißen Helfern gestempelt wurden, sodass es ihr nicht mehr möglich war, etwas anderes als das tagtägliche Elend zu sehen, die Armut als Ursache für die nicht enden wollende Tragik Afrikas. Jeden Tag, jede Nacht strömten die Kranken herbei, verstümmelte, abgemagerte Menschen, greinende Kinder voller Beulen & Ungeziefer, Sterbende, Schwangere, Verletzte. Die Schlangen 48 rissen nicht ab, wurden im Gegenteil länger & breiter, eine endlose, in Europa unvorstellbare Trostlosigkeit wurde hier zur Normalität. Alexander aber war immer mehr in seinem Element, entdeckte seine Schwäche & Stärke für aussichtlose Situationen, war Tag & Nacht im Hospital, versuchte sich tapfer mit den Patienten zu verständigen, und trotz verschiedenster, oft schier unüberwindlicher Schwierigkeiten gewann er Schlacht um Schlacht, wie er es später nannte, denn er fühlte sich zum ersten Mal frei, frei zu denken, zu arbeiten, durfte alle Entscheidungen selber treffen, seine Erfahrungen sammeln, hatte endlich so gut wie keinen Vorgesetzten mehr, entwickelte seine, bis dahin schlummernde, medizinische Kreativität, liebte seine jetzige Tätigkeit fast zärtlich, so zärtlich wie Silvia, sein Erstes Mädchen, wie er sie oft bezeichnete, während die Medizin sein anderes und Zweites Mädchen wurde. Sie war jetzt schwanger, seine Frau, sein ein & alles, sein Erstes Mädchen also, doch es wurde immer schwieriger mit ihr, denn sie setzte ihn mit ihrem Zustand unter Druck, wollte plötzlich nichts lieber, als eine richtige, eine ruhige Ehe mit ihm führen, zurück nach Schweden, wo sie, das wusste sie jetzt, nicht einfach zu Hause, sondern ganz & gar daheim war. Eine traditionelle Familie gründen, eine eigene Wohnung haben, weitere Kinder, Hausfrau & Mutter sein. Die ewigen einfachen, großen & kleinen Dinge tun, die Kinder in den Kindergarten, die Schule bringen, mit ihnen spielen, ihnen Gutenachtgeschichten erzählen, sie aufwachsen sehen, gut erziehen, Kuchen backen, Geburtstage feiern, Weihnachten, abends mit Alexander gemeinsam essen, auf ihn warten mit allen häuslichen Neuigkeiten, spazieren gehen, Eislaufen, im Sommer aufs Land fahren, ihren eigenen und auch Alexanders alleinstehenden Vater besuchen. Doch es sollte, das erkannte sie mehr & mehr selber, nicht sein. 49 Silvia sah kein Ende der afrikanischen Gegenwart, sah, dass Alexander sich wohl fühlte auf dem schwarzen Kontinent, mit dem primitiven Leben leicht fertig wurde, sich auf länger einrichten wollte, nicht im Traum daran dachte, eines Kindes wegen seinen Weg zu ändern. Er wollte beides, nein, alles haben, sie, das Kind, seine Arbeit und zwar genau diese hier und keine andere. Er hatte keine Eile, hatte gerade erst angefangen zu leben, dachte, sie würden früh genug nach Schweden zurückkehren, womöglich viel zu bald nur noch nostalgisch an diese frühen Jahre denken dürfen. Viel zu früh alt werden, viel zu wenig von der Welt gesehen und als ganzes erlebt & erreicht haben. Die Zeit verging doch so schnell, alles änderte sich, die Anforderungen wuchsen von Tag zu Tag, Anforderungen, denen er sich stellen musste & wollte. Hier konnte er sein Studium endlich anwenden, sein Wissen, seine Vermutungen bestätigen, seine Forschungen angehen, von denen er anfangs selbst nicht wusste, dass es welche waren und wohin sie ihn führen würden. Wenn sie erst zurück sein würden, müsste er auf die alte Weise funktionieren, sich seiner ganzen Verantwortung in der schwedischen Familie wie Gesellschaft stellen, ein guter Ehemann werden, ein besonderer Vater, sich in einem Krankenhaus hochdienen, eines Tages eine Praxis eröffnen, ein Haus bauen, Geld verdienen, alles, worauf er bereits jetzt zuging, und doch gewährte ihm seine Arbeit im afrikanischen Busch einen Aufschub, brachte ihm täglich neue Einsichten & Erkenntnisse. Nie dürfte er als so junger Arzt eine derartige Verantwortung zu Hause tragen, müsste sich ducken und still sein, den Professoren, den Primarii, allen möglichen Vorgesetzten den Vortritt in allem einräumen, in Worten & Werken gewissermaßen, ihnen allein überlassen, wie sie auf jemanden wie ihn reagieren, was sie ihm zugestehen würden, könnte ihnen höchstens zuarbeiten, womöglich jahrelang, ohne damit seinen eigenen Namen 50 schreiben zu dürfen, ihnen seine Forschungen zur Verfügung stellen, für sie quasi Frondienste leisten, Untersuchungen durchführen, einfach so und zusätzlich zur alltäglichen ärztlichen Arbeit. Sie aber würden sich dann wahrscheinlich mit seinen brav abgelieferten Ergebnissen auf Kongressen, in Zeitschriften, vielleicht sogar Büchern präsentieren, während ihm nichts anderes übrig blieb, als sich dort & da zu bewerben, es heimlich andernorts zu versuchen. Solche Szenarien schwebten ihm jetzt in Afrika vor, wo er nichts von dem spürte, weder Neid noch Druck noch Gängelei von oben. Doch das war nur die eine, die berufliche Seite, denn wer konnte wissen, was dies alles für sein Privatleben in Schweden bedeuten, wie viel Zeit ihm bleiben würde, um ein guter oder auch nur annehmbarer oder erträglicher Ehemann & Vater zu sein. Er würde nicht völlig überlastet & genervt bei Silvia und dem Kind erscheinen dürfen, sollte ihr, wie es ihm auch ging, zuhören, Arbeit abnehmen, mit ihr ausgehen, sie nicht vernachlässigen, glücklich machen. Zudem hatte er keine wirkliche Vorstellung von einer Familie, war er doch vollkommen anders aufgewachsen, hatte nie gewöhnliche Verhältnisse erlebt, so wenig wie Silvia. Beide hatten im Grunde keine Ahnung, wie sie es angehen sollten. Alexander war zwar zuversichtlich, immer voller Hoffnung & Freude, wollte alles so gut wie möglich machen, das müsste, so meinte er, genügen. Im Augenblick hatten sie mitten in der Zentralafrikanischen Republik innerhalb der schwedischen Entwicklungshilfe die kostbare Möglichkeit, ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Leben zu führen, beisammen zu sein, als Arzt & Schwester, als Mann & Frau, sogar eine Familie zu gründen, wenn auch nicht zu den bewährten, altbekannten europäischen Bedingungen. Dies gerade war ja für Alexander das Schöne, das Besondere, das Spannende, gewährte ihm noch eine Weile Zeit & Raum, mehr 51 noch, ihm erschien die Unvollkommenheit, der er überall gegenüberstand, als der natürliche Zustand. So und nicht anders, meinte er, hatte das Leben einst & immer angefangen, es begann doch nicht mit dem fertigen Einfamilienhäuschen, dem Auto in der Garage, der Universität, dem Doktortitel, um irgendwann in einem zusätzlichen Sommerhaus und bei geplanten Ferienreisen zu enden oder dort, wo man ausgesuchte & honorige Kollegen mit Gattinnen zu freundschaftlichen Abenden einlädt. Freilich sahen so die Bilder von Glück & Erfolg im allgemeinen aus, doch hier & jetzt galt es andere, größere Aufgaben zu lösen, und nichts schwebte ihm weniger vor, als den Vorstellungen einer satten & anspruchsvollen Gesellschaft im fernen reichen Europa zu genügen. Doch Silvias Zustand stellte sich als äußerst labil heraus, besonders, seit sie schwanger war. Launisch, ungeduldig, sprunghaft, nervös begann sie jeden Tag, fiel abends erschöpft ins Bett. Sie bewohnten, wie alle anderen, eine eigene kleine, einräumige Hütte in der Dschungelstation des Hospitals, das selbst etwa hundert Meilen entfernt lag. Es war ihr erstes und wie sich herausstellen sollte, einziges gemeinsames Haus, das sie je haben würden. Eines Abends kam Alexander wieder nicht pünktlich zurück in die Hütte, Silvia hatte bereits das Abendessen zubereitet und wartete weit über die Zeit hinaus. Wie oft hatte er sich das schon geleistet! Was fiel ihm überhaupt ein! Seit sie schwanger war, rechnete sie ihm alles vor, in seiner Anwesenheit genauso wie in seiner Abwesenheit, sie wurde kleinlich & rachsüchtig, sammelte Vorwürfe über Vorwürfe, stapelte Beschwerden übereinander, fand tausend Gründe für Zwist & Streit. Sie befand sich jetzt in der etwa fünfunddreißigsten Schwangerschaftswoche, ihr Bauch wölbte sich weit vor, sie war dick & aufgedunsen, bei schlechter Laune, müde, gereizt, und je 52 weiter die Zeit vorrückte, Viertelstunde um Viertelstunde verging, umso mehr grollte sie Alexander, beschimpfte ihn innerlich, häufte Argument auf Argument, gewann Vorsprung um Vorsprung, stellte sich vor, wie verdutzt er reagieren würde auf ihre Vorhaltungen, die sie jetzt ohne die geringste Ahnung seinerseits, präzise & zielgenau formulierte. Sie setzte auf den Überraschungsangriff, seine Erschöpfung, mit der er gewöhnlich ankam, was ihm jede Möglichkeit nahm, sich zu verteidigen. Der Sieg war, was sein Privatleben anging, immer auf ihrer Seite. Er selbst lieferte die beste Munition dazu. Schach matt. Aus, fertig. Heute würde sie ihn kriegen, Mühle zu. Am Ende wollte sie ihn wie eine Wilde empfangen, ihm alles vorwerfen, ihn mit seiner Säumigkeit & Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind, ihrem Zustand konfrontieren. Alexander war in der Ambulanz aufgehalten worden, die Menschen, die von weit her in die Station kamen, wurden nicht weniger. Geduldig standen sie in der Reihe, die indes anstatt kürzer wieder länger zu werden schien. Konnten Patienten am selben Tag nicht mehr behandelt werden, mussten Vorkehrungen für ihre Übernachtung getroffen werden. An jenem Abend aber wäre er fast pünktlich bei Silvia gewesen, hätte sich nicht noch im letzten Moment eine hochschwangere Frau ganz allein & plötzlich, als er schon gehen wollte, vor ihm in die Tür gestellt. Wahrscheinlich war sie schon länger da gewesen, hatte sich nur nicht, wie es oft vorkam, hereingetraut, solange noch die ganze Belegschaft und andere Patienten anwesend waren. Alexander sollte diesmal als letzter abschließen, das hieß auch, für den nächsten Morgen die Vorbereitungen ärztlicherseits treffen, geplante Operationen durchgehen und der Wichtigkeit nach reihen, Wundversorgungen, Kontrollen, Untersuchungen den Kollegen zuteilen, Eingriffe vorausahnen, Zeit vorsehen & Zeit einsparen, dafür war er kurz die, für morgen wartenden Patienten 53 in den einfachen Gästehütten durchgegangen, denn er musste mit möglichst allen Eventualitäten rechnen und auch diese bedenken. Als er endlich fertig war und gerade gehen wollte, tauchte wie aus dem Nichts diese Frau auf. Sie stand in der Tür mit gesenktem Kopf, die Arme hingen rechts & links herunter, ihr Bauch wölbte sich beträchtlich vor, sie war barfuß, trug ein buntes, knielanges Kleid, das sich vorne dreieckig anhob. Er sah sofort, dass sie etwa in der gleichen Schwanger-schaftswoche wie Silvia sein musste, auch Silvias Kleid hatte etwa dieselbe Form, in letzter Zeit hatte er sich öfters darüber lustig gemacht, und genau das war es, was ihn besonders anrührte, ja, fast zum Lachen brachte, sodass er zögerte, sie auf morgen zu vertrösten. Was mochte sie hinter sich haben, bis sie hierher gekommen war! Er hatte längst aufgehört, sich mit Worten zu verständigen, es war aussichtslos, sich im afrikanischen Sprachengewirr auszukennen, man musste einfach alles selber wissen, gut beobachten, lernen, ohne Reden & Fragen das Richtige zu erkennen, zu erraten, zu erahnen. Sentimental & gerührt, wie er in seiner Lage war, denn obwohl er immer arbeitete, dachte er doch an nichts anderes als an Silvia und sein Kind, sentimental & gerührt also ging er auf sie zu, sah die bittende Verzweiflung in ihrem Gesicht, ihre Verlegenheit und wusste sofort, dies hier ließ sich nicht aufschieben. Er schaute hinaus in den Wartebereich, sah dort aber niemanden, ja, sie war tatsächlich allein gekommen. Das bedeutete allerhand in dieser Gegend, um diese Zeit. Sie zuckte verlegen mit den Augenlidern, versuchte seinen Blicken nicht zu begegnen und ihn doch festzuhalten, hatte die Hände nun fest auf ihren Bauch gelegt. Er konnte nicht anders, als sie beim Arm zu nehmen, sie anzuweisen, sich auf den gynäkologischen Stuhl zu setzen, ihr 54 dabei helfen, was nicht mehr ganz einfach war. Doch hatten die afrikanischen Frauen, wie Alexander immer wieder beobachtete, ein großes Zutrauen zu weißen Männern, besonders wenn sie Ärzte waren. Was er, nachdem sie Platz genommen und den Rock hochgeschoben hatte, zu sehen bekam, sollte er nie mehr im Leben vergessen. Schon das äußere Genitale war übersät mit Würmern, voll tausender lebendiger, sich schlängelnder winziger Tiere, stellenweise Knäuel & Knoten bildend. Er war ratlos, entsetzt, angeekelt, dafür gab es keine Beschreibung, keine Ausbildung, keinen Namen. Er zwang sich, hinzuschauen, sich ein Bild zu machen, den Geruch zu überwinden, ohne sich zu übergeben, sich nichts anmerken zu lassen. Das einzige, was er zu denken im Stande war - niemand in Schweden war je in so einer Situation gewesen. Er saß mindestens so verzweifelt zwischen ihren Beinen wie seine Patientin mit gespreizten Schenkeln vor und über ihm auf dem Untersuchungsstuhl. Es fiel ihm derweil nichts weiter ein, als ihr ein Notbett zu richten, schwedisch auf sie einzureden, nämlich dass er noch heute Nacht mit dem Jeep in die Stadt, ins Haupthospital fahren würde, um sich Rat zu holen, ein Buch zu finden, einen Menschen, der ihm & ihr helfen konnte. Notdürftig entfernte er die ekelhaften Tiere zuerst mit einem Gazetuch, stieß sie in einen Mistkübel, doch wie in einem Alptraum bildeten sie sich auf der Stelle nach, krochen überall herum, wehrten sich gegen die Störung, bewegten sich plötzlich aus ihrer angenehmen Ruhe aufgeschreckt, schnell & aggressiv. Sie kamen aus dem Anus wie aus der Vagina, und es war nicht auszumachen, ob sie sich verkrochen oder hervorquollen. Sie plumpsten, einmal aufgescheucht, in Kugeln zu Boden, wurden aber nicht weniger. Was für Qualen musste diese Frau 55 durchgestanden haben, dachte er wieder & wieder, und noch war kein Ende absehbar. Im Augenblick war nicht daran zu denken, sie anal oder vaginal zu untersuchen. Also kam er auf die Idee, eine Desinfektionslösung zuzubereiten, wie man sie postpartal für die Spülungen bei Wöchnerinnen anwendete, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er spülte sie sorgfältig ab, zog sich Handschuhe an, fuhr mit den Fingern in die Scheide, drückte die andere Hand auf den Bauch, holte einen Patzen Würmer aus ihr heraus. Ganz allein, ohne jede Assistenz machte er eine gründliche Scheidenspülung. Anschließend kümmerte er sich in derselben Weise um den Darm. Ob vom warmen Wasser, der Müdigkeit, der Erleichterung, jedenfalls schlief die Patientin ein, war nicht mehr wach zu kriegen, sodass Alexander ihr das schmutzige, verwurmte Kleid auszog, sie vom Untersuchungsstuhl herunterhob, auf eine Pritsche am Gang legte, mit einem Leintuch zudeckte. Im Ambulanzraum ersäufte er das Ungeziefer in Unmengen von Salmiak, wie er sich später zu erinnern meinte, rief laut nach einer Schwester, die beim Säubern helfen sollte, wusch sich wie ein Wahnsinniger, um ja nichts bei sich zu behalten, zog sich vollkommen um. Endlich konnte er zur Hütte laufen, um Silvia zu informieren. Ich muss noch einmal weg, es geht nicht anders! Aber sie war nicht in der Lage, ihn zu verstehen, begriff nicht, was er sagen wollte, wieder ging ein Abend dahin, eine mühsam zubereitete Mahlzeit war kalt geworden, eine Umarmung, nach der sie sich den ganzen Tag gesehnt hatte, ziemlich das letzte, was sie jetzt von Alexander erwarten durfte. Silvia verlor auf der Stelle die Beherrschung, schrie ihn an, tobte, warf ihm das Besteck, die Holzschüssel, die Blechteller, das Essen hinterher, den ganzen Topf samt Inhalt. Es fing wieder von vorne an das Gejammer, die alte Geschichte mit ihrem Vater, dem 56 Landarzt, seiner Hingabe für andere, der Undank, die Gleichgültigkeit seiner Kollegen, der Patienten, wie sie meinte, überhaupt der Welt als ganzes. Sie war darüber bereits als Kind menschenfeindlich, misstrauisch & argwöhnisch geworden. Mit den Händen über dem Kopf lief er hinaus, setzte sich in den Wagen und fuhr allein in die Nacht, so schnell wie möglich, heute noch, dachte er, die hundert Meilen hin, die hundert zurück, um für die Frau in der Ambulanz nachhaltige Hilfe zu finden. Es kamen ja die Würmer nicht nur aus dem Darm, wo sie in unüberschaubarer Menge zu leben schienen, sich bestimmt schon im Augenblick wieder hurtig vermehrten & ernährten, sondern hatten bereits die Vagina, den Geburtsweg des Babys erreicht. Silvia, stell dir vor, das Kind, das sie trägt, ist ungefähr so alt wie unseres!, hatte er ihr in aller Eile hingeworfen, sie damit zu beruhigen versucht, seine Stimme gesenkt, fast geflüstert, in der vagen Hoffnung, dieser Satz würde sie anrühren, umstimmen, für kollegiales Verständnis gegenüber einer anderen Schwangeren bei ihr sorgen, doch weit gefehlt, es hätte gar nichts geben können, was sie mehr gereizt hätte. Im Wagen, noch nach Meilen, sieht er vor sich die Bilder der Wut, der Enttäuschung, hört die Sätze, die Silvia ihm nachgerufen hat, hinterher geschrien wie einen Fluch beinah. Als ob sie noch immer da wäre, hört er wieder & wieder ihre Stimme, noch jetzt, als er längst unterwegs ist. Vor ihm nichts als die Scheinwerfer in der schwarzen Nacht auf der pfeilgeraden, aber holprigen & schlaglöchrigen Straße durch den Dschungel, er sieht nichts, hört nichts, außer dem Motor und ihrem hysterischen Gekreische, das sich in seinem Ohr festgesetzt zu haben scheint. Silvias schreiende weinende Stimme verfolgt ihn den ganzen Weg, immer diese unerträglichen Vorwürfe! Wie lange musste er das schon durchmachen, immer wieder aushalten, sich beherrschen, und wie oft wird er noch seinen Beruf, nein, seine Auffassung davon, gegen sie verteidigen müssen? 57 Dass es sich nicht & nicht vereinbaren ließ, was sich doch vereinbaren lassen sollte! Immer wieder gab es Streit deswegen, in letzter Zeit häuften sich die Differenzen, obwohl es schon früher in Stockholm begonnen hatte. Sie nahm ihn in die Pflicht, brachte ihn mit ihrem Zustand in Bedrängnis, bändigte ihn mit der Schwangerschaft schon jetzt, verfolgte ihn argwöhnisch, eifersüchtig. Was wird erst sein, wenn das Kind geboren ist? Ach, es gibt in diesem Beruf immer etwas, das einem ein schlechtes Gewissen macht, was andere Menschen niemals im Leben kennen, nur wir, das war schon bei meinem Vater so, immer hatten die anderen Leute Leiden, die den eigenen vorgingen, gegen die man keine Chance hatte! Warum bin ich auch so dumm, einen Arzt zu heiraten, was habe ich eigentlich erwartet!? Und morgen früh geht alles weiter und hat kein Ende jemals. Immer steht irgendjemand draußen, ruft einer an, den man nicht abweisen darf, der einem alles wegnimmt mit seiner momentanen Krankheit, den Vater, die Mutter und jetzt auch meinen Mann, hört das denn nie auf! Sie alle glauben, ihr Problem sei das einzige auf der Welt, das wichtigste, sind gefangen in ihrem Selbstmitleid, ihrer Panik. Warum können wir nicht einfach ein einziges Mal wie normale Paare in Ruhe zusammen sein .........., wie alle anderen auf dieser Erde, uns lieben und küssen und freuen, nur du und ich? Unsere Zeit nützen, einmal auch alles vergessen, liegenlassen die ganze Arbeit, die ständigen Gedanken daran, alles, was ohnehin nie zu Ende geht. Sie schluchzte, schnappte nach Luft, war vor Weinen kaum zu verstehen. Wie oft hatte es diese Dialoge zwischen ihnen schon gegeben! Er hörte nicht mehr wirklich, was sie sagte, wusste es längst, dachte einstweilen an etwas anderes. Als meine Mutter so krank war, fand sich niemand, der ihr und 58 uns helfen konnte, aber Papa hat immer allen geholfen..........! Silvia, ich weiß, ich bin selber Arzt, es ist eben so, und wenn du willst, dass ich bald zurück bin, dann lass mich jetzt fahren, ich darf es nicht auf morgen verschieben, ich könnte nicht schlafen, sie hat ein Baby im Bauch, es ist so alt wie unseres, das verstehst du doch auch! Fahre doch morgen. Bitte bleib’ da, ich habe so lange gewartet! Es hat Zeit bis morgen, sie wird nicht sterben heute Nacht! Was willst du denn jetzt noch erreichen? Es ist niemand mehr da. Fahre doch, um Himmels Willen, morgen in der Früh, ich bitte dich! Manchmal verzweifelte er an diesen Situationen, an ihrem Charakter, denn immer wieder würde er als Arzt, der er nun einmal war, in diese Lage geraten. Müsste er sich entscheiden zwischen Familie & Beruf, zwischen Nachgeben & Streit, zwischen Krieg & Frieden? Doch, wenn es wieder dazu kam, hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken, und wenn es vorüber war, auch nicht. So brach es ständig von Neuem über ihn herein, was er doch so oft erlebt und nicht bewältigt hatte! Die Zeit verging, die Auseinandersetzungen deswegen wurden ernster, obwohl er Silvia noch genau so liebte wie am Anfang, ja tausendmal mehr, aber das glaubte sie ihm nicht, doch er hatte auch nicht die Kraft, es ihr zu erklären, denn oft schlief er einfach ein oder sagte am Ende eines Tages wie diesem, zu allem ja & Amen. Ohne das Ende dieses Ausbruchs abzuwarten, war er hinausgelaufen, davongebraust wie in einem durchschnittlichen Film. Als er in den späten Nachtstunden zurückkommt, hat er die erforderliche Information in Form eines Buches, denn dort hatte 59 er tatsächlich niemanden Relevanten mehr angetroffen. Den Rest der Nacht studiert er Seite für Seite, am Morgen hat er die Lösung und kann, wie sich später herausstellt, die Frau richtig & erfolgreich behandeln. Dieser Vorfall ist nicht der einzige dieser Art, in letzter Zeit kommt es immer häufiger vor, dass sie nicht einfach über private Belanglosigkeiten aneinandergeraten, sondern Silvia Alexanders Arbeit fast unmöglich macht. Alexander lässt sich immer wieder in der Ambulanz zurückhalten, aufhalten, von allem & jedem in die Enge treiben, denn obwohl seine Kollegen keine schwangere Frau in der Hütte haben, gehen sie, wenn es dunkel wird, wenn die Zeit um ist, gönnen sich Ruhe & Entspannung, erscheinen ohne Erklärungen erst wieder am nächsten Morgen. Nicht so Alexander, der mit seinem schweifenden Blick noch zahllose zu erledigende Dinge sieht, nicht einfach fort kann, die flehenden Blicke der Patienten nicht erträgt, der Wartenden, das Geschrei der Säuglinge, das Angestupstwerden von hinten, die hoffnungsvollen Augen, die verzweifelten Gesten & Gesichter der Kranken. Es ist, als wüssten die Eingeborenen, dass sie von ihm und quasi nur von ihm etwas zu erwarten haben, nur er sich in Bedrängnis bringen lässt, nicht imstande ist, wegzuschauen, woandershin zu gehen, taub & blind zu sein gegenüber ihren Problemen. Und es ist genau wie sie vermuten, nicht nur in ihren Vorstellungen, ihrem Gespür, sondern auch in Wirklichkeit: er hält die Schmerzen & Qualen der anderen nicht aus. Es ist, als wären es seine eigenen, denn irgendwann hat er sich, mehr noch seinem Vater, versprochen, versprechen müssen, nie im Leben wegzusehen, wegzuhören, immer sein Bestes zu geben, das Menschenmögliche zu tun, das, was man tun kann und daher auch tun muss. Er versucht, alles gut zu machen, für seinen Vater, für seine Mutter, die es nie für ihn gegeben hat, die er nur aus den 60 Erzählungen des Vaters kennt und aus denen seiner lieben, jetzt so fernen Tante Marie. Deine Mutter wäre stolz auf dich! Handle immer so, dass deine Mutter stolz auf dich wäre! Wenn deine Mutter das wüsste! Wenn deine Mutter das erlebt hätte! Später dann: Da muss ich erst noch lieber deine Mutter fragen! Das werde ich heute Nacht deiner Mutter erzählen! In guten wie in schlechten Tagen wachte sie über ihn, sein Vater wollte es so, ihm war es Bedürfnis, Trost & Freude, sodass Alexander von seiner Mutter das Bild einer Göttin mitbekommen hatte, schön, gut, unfehlbar, rein. Obwohl Rahel Sommerfeld längst tot war, ihr eigenes Leben gegen das seine getauscht hatte, war sie mehr mit & bei ihm, als die Mütter anderer Kinder mit den ihren waren, weit mehr, als hätte er tatsächlich eine Mutter gehabt. Für die anderen war die Mutter eine Person, die zu sehen war, sie morgens weckte, sie tadelte, schimpfte, ohrfeigte, erzog. Nicht für Alexander, für den sie die Madonna war, die oberste Instanz darstellte, das Auge Gottes, das Absolute, dem er zu genügen hatte, keine Gestalt aus Fleisch & Blut, nichts zum Angreifen, unnahbar, nicht jemand, der atmete, lebte, kochte, putzte, Fehler machte, das Essen anbrennen ließ. Nie konnte er sich unter seiner Mutter eine ganz gewöhnliche Frau vorstellen mit Laufmaschen in den Strümpfen, die sich darüber maßlos aufregen konnte, einen Streit, aus welchen Gründen auch immer, verursachte, mit ihrem Mann zu Bett ging, die Beherrschung verlor. Die losheulte wie ein kleines Mädchen, 61 geküsst & geherzt werden wollte, im nächsten Moment zum Zahnarzt ging, mit anderen tratschte, mal was Dummes sagte oder ein weiteres Kind zur Welt brachte, keine Frau, die die Schlüssel verlegte, einen Sonntagsbraten auf den Tisch stellte, die Wäsche aufhing, ein Mittagsschläfchen hielt, über den Haushalt klagte oder auch nur irgendetwas ganz Normales tat, und hier ist die Stelle, wo viele Jahre zurückgeblendet werden muss, ganz an den Anfang, der immer schön & leicht ist, entgegen dem Sprichwort, aller Anfang sei schwer, denn in Wahrheit ist nichts leichter als der Anfang, der auf leisen Sohlen kommt, weich, fast wie im Traum; kaum erst bemerkt, hat er Besitz von einem ergriffen, einen mit sich fort getragen, mitgenommen, denn jeder Anfang ist voller Zuversicht & Vertrauen, voller Hoffnung & Glückseligkeit, eine herzliche Einladung. Dem Augenblick des Anfangs wohnt die ganze Sehnsucht inne, der Anfang ist ein Versprechen, welches ohne Zögern gegeben wird, der Anfang ist das Zuckerstückchen, das alle Vorsicht vergessen lässt, so als hätte man seit Menschengedenken auf nichts anderes gewartet, und so als wüsste man nicht, dass er bereits das Ende in sich trägt. *** IV Alexanders Eltern & wie alles begann oder Wie sein Vater es nannte: „Das Buch Rahel“ Alexander besaß also keine Vorstellung von den Gewöhnlichkeiten einer Frau & Mutter, denn sein Vater hatte sie ihm kein einziges Mal verständlich oder für ein Kind anschaulich präsentiert, für ihn war Rahel, mein Rachele, schon wie er ihren Namen aussprach: Rachele, ja auch niemand anders als eine 62 Außerirdische, die er nachts noch dreißig Jahre nach ihrem Tod konsultierte, als läge sie wach an seiner Seite. Mit der er redete wie mit einer Lebenden, die er um Rat fragte, ihr alles erzählte, und dies sollte er bis zum Ende seines Lebens so halten. Alexanders Vater akzeptierte es nie, ohne sie leben zu müssen, hielt ihr Bild, das er sich erschaffen hatte, hoch und in Ehren wie eine Ikone, verkroch sich in seiner Erinnerung, der großen Zeit, wie er es nannte, als er dieses, anfangs etwas seltsame & ernste Mädchen getroffen und sein Leben sich mit einem Schlag geändert hatte. Er hatte sie damals beiläufig die Stufen der Universität in Stockholm hinauflaufen sehen, wunderte sich noch darüber, dass unter den vielen männlichen Studenten ein solches Mädchen war. Etwas hatte sie verloren, was sie nicht richtig bemerkt zu haben schien, sodass er es für sie suchte & aufhob, ihr brachte, hinterher trug und ein erstes Mal, ein allererstes Mal in ihre Augen blickte, die ihn verwundert, wenn nicht gar misstrauisch anschauten, sich aber beim Anblick ihres Handschuhs, der ihr hinuntergefallen war, sichtbar aufhellten. Sie war jung & hübsch, doch ihr Gewand hätte Alexanders Vater beinah zum Losprusten gebracht, so altmodisch kam sie daher. Nie hatte er bei sich zu Hause, nicht einmal bei den Dienstboten, so etwas Schäbiges, Abgetragenes, sorgfältig Vergrößertes, Verlängertes, verstohlen Geflicktes wahrgenommen wie an diesem, doch zweifellos recht klug aussehenden Mädchen, das irgendwo vom Lande stammen musste. Denn eine Aufmachung wie diese wäre so gut wie überall auffällig gewesen, doch schien sie selbst es nicht zu bemerken. Sie musste doch irgendwann die Damen & Fräuleins dieser Stadt gesehen haben, dachte Alexander Sommerfeld damals, und doch muss sie sich nichts dabei gedacht haben, wie es aussah, oder sie stand einfach über diesen Dingen, was schon auf einen ziemlich außergewöhnlichen Charakter schließen ließ. Es war in den ausgehenden Zwanzigerjahren gewesen, und sie 63 studierte im zweiten Semester Deutsch, im ersten Judaistik, das sollte sie ihm, auf sein Drängen & Fragen hin, endlich bei einer Tasse Kaffee in einem bekannten Stockholmer Lokal verraten. Nicht dass sie auf die erste oder zweite Verabredung hin bereits erschienen wäre, aber dies war nur ihrer überaus strengen Erziehung zuzuschreiben, denn sie stammte aus einem Rabbinerhaus, einem Rabbinerhaus!, aus nichts Seltsamerem als einem Rabbinerhaus, und als sie ihm das sagte, da schlug er sich mit der Handfläche gegen den Kopf, dass es im ganzen Saal zu hören war und sich etliche Hüte zu ihnen drehten. Was war denn das bitte für ein Fang?, gab’s denn so etwas überhaupt in Schweden? Doch wie es schien, war es so, es gab eben alles. Zwar hatte er als Knabe einige Jahre eine Judenschul’ besucht, genau wie sein Bruder, aber das kam einer recht lockeren Freizeitbeschäftigung gleich, nicht weil der Rabbiner, der sie unterrichtete, es nicht ernst genommen hätte, sondern weil seine Eltern sich kaum dafür interessierten, den Hebräischunterricht an ihren Söhnen quasi vornehmen ließen, als wäre es ihre erzieherische Pflicht, nichts weiter als noch eine Fremdsprache, ein bisschen altes Zeug, das nicht schaden konnte, wenn nicht gar eine Art medizinische Behandlung, wofür sie nicht mehr tun brauchten, als die jährliche Gebühr zu entrichten, der jüdischen Gemeinde die eine oder andere Spende übergeben, um im übrigen den Rabbi einen guten, armen Mann sein zu lassen, der sich nolens volens mit allerlei Kindern dieser Volksgruppe herumplagen musste, ihnen ein wenig alte Geschichte & Geschichten beibrachte, warum nicht. Im großen & ganzen nahm man in aufgeklärten Häusern davon kaum Notiz, es war halt Tradition, eine leise Erinnerung an eine längst vergangene, eine biblische Zeit, und die meisten reichen Herrschaften jüdischer Herkunft hatten sich längst davon distanziert und diese fernen Dinge so gut wie ganz vergessen. Sie gaben feine Gesellschaften & Feste und hätten nichts weniger 64 gern in ihrer Villa gesehen als einen, womöglich noch schmuddeligen Hebräer, der versuchte, ihnen allein durch seine Anwesenheit ins Gewissen zu pfuschen oder sich gar anschickte, an eine ferne kaftanerne Vergangenheit zu erinnern. Ohnehin überließen sie die Erziehung der Kinder lieber Hauslehrern & Gouvernanten, bezahlten sie anständig dafür, denn, um sich selbst damit zu befassen, waren sie viel zu sehr mit sich beschäftigt, und schließlich war es einfach nicht üblich, das betraf doch auch andere Bereiche. Beflissen wie gelangweilt streiften die Damen ab & zu dieses Thema, wer gerade seinen Buben in die Judenschul‘ gegeben hat, wer es vorhat oder sich nichts daraus macht. Man war aufgeschlossen, gebildet, assimiliert, zeigte sich nicht gerne mit seinesgleichen, wenn sie nicht genau zu einem passten. Die biblischen Geschichten lagen weit zurück, sie interessierten heutzutage niemanden mehr, man musste endlich zu den anderen gehören. Von seinen Großeltern wusste später Alexander einige spannende Dinge, die ihm sein Vater erzählt hatte, trug eine fast märchenhafte Vorstellung, vor allem von seiner Großmutter bei sich. Auch wenn sie, als sie noch eine junge Dame gewesen war, über jede Menge Bewunderer & Verehrer verfügte, so lebte sie später doch treu & innig nur für ihren eigenen Mann, der sich allerdings öfters und zu verschiedenen Leuten, über ihr, bald nach der Eheschließung eingetretenes Desinteresse an Sex beklagte. Doch ihr Esprit, ihre Musikalität, ihre geistige & körperliche Lebendigkeit, ihre vollkommene Schönheit entschädigten ihn für fast alles, und obwohl sie dies wusste und ihm sogar anbot & nahelegte für gewisse Dinge & Stunden, zu anderen Frauen zu gehen, mit ihnen zu schlafen, hätte er es doch nie übers Herz gebracht, es wirklich zu tun. Er war ihr immer, wenn auch manchmal schweren Herzens, treu gewesen, sogar über den Tod hinaus. Das Elternhaus von Alexanders Vater war also ein vollkommen 65 anderes als das seiner Mutter, die aus einem strengen Rabbinerhaushalt kam, wo nichts zählte als die biblische Bildung, die Philosophie, das Wesentliche, wo es nicht ankam auf das Essen, das auf den Tisch gestellt wurde, was schon gar nicht durch Dienstboten geschah, sondern durch die bescheidene, demütige Hand der Mutter & Rabbinerfrau, seiner anderen Großmutter. Sie hatte sich zwar, nach dem Kindbetttod ihrer Tochter, des Kleinen in seinen ersten drei Lebensjahren angenommen, doch Alexander erinnerte sich nicht an sie. Er hatte nur eine leise Ahnung von dieser Zeit im Rabbinerhaus, kannte sie wohl mehr aus Erzählungen und einzelnen Fotos als aus der eigenen Erinnerung, und doch muss diese erste Kinderzeit in ihm etwas Besonderes hinterlassen haben, denn er war ein stiller & nachdenklicher Knabe geworden, ein glückliches & nachdenkliches Kind zugleich. Sechzig Jahre später sollte er selber sogar zu einer Art Rabbiner werden und in Wien, nicht, wie man vermuten könnte, Vorlesungen vor Medizinstudenten halten, sondern Ethik an der Philosophie lehren, nicht auf seinen Nobelpreis würde er einmal am stolzesten sein, sondern darauf, als Arzt an einer Philosophischen Fakultät unterrichten zu dürfen. Damals aber, wohin wir jetzt zurückgehen, gab es ihn nicht einmal, und es war auch überhaupt nicht leicht, ihn sozusagen ins Leben zu holen, denn als sein Vater sich in seine Mutter verliebte, begann für diesen in einer Weise eine zwar glückliche, aber schwierige & mühsame Zeit, ein Versteck- & Verwirrspiel, ein Hin & Her, etwas, das der Sohn später ziemlich respektlos als das Getue bezeichnen sollte. Es wurden Jahre daraus, die von nichts anderem bestimmt zu sein schienen, als den Gepflogenheiten eines zwar hoch gebildeten aber in äußerlichen Dingen recht rückständigen Rabbinerhauses irgendwo in Südschweden. Einem Haus, das Alexander einmal mit einem Schiff in schwerer See vergleichen sollte. Das Haus Goldmann schaute auf eine unendlich lange Geschichte 66 der Verfolgung zurück, kam nicht heraus aus den Schrecken der Vergangenheit und den Sorgen der Gegenwart. In der Erinnerung und gewissenhaften Beschäftigung mit den Ereignissen, die hinter ihnen lagen und mit der quasi gewerbsmäßig ausgeübten Religion sorgte dieser Haushalt selber dafür, dass nichts vergessen wurde und die Geschichte immer wieder von Neuem auferstand. Es war nicht einmal eine persönliche Angelegenheit nur, sondern immer gleich die eines ganzen Volkes, das hing zusammen mit den alten Überlieferungen, die in dicken Büchern & Rollen standen oder längst auswendig & selbständig in den Köpfen existierten. Die Vorfahren der Goldmanns waren nämlich ursprünglich deutsche, später russische Juden gewesen, durch ganz Europa von hier nach dort gezogen, vom Westen in den Osten, um abermals vertrieben zu werden, hatten Pogrome überstanden, Verfolgungen & Bedrängnisse jeder Art beinah kennengelernt, Armut & Entbehrung erfahren, viele, viele Male. So hatten sie es ihm erzählt, so hatte er es gelesen, so war es also gewesen seit jener alten & frühen Zeit, als die Juden Jerusalem verlassen hatten, es mitnahmen in die Emigration und trugen wie einen goldenen Kelch durch Freud & Leid, durch Raum & Zeit & Ewigkeit. Dies alles hatte die Goldmanns freilich mehr an das Judentum gebunden als etwa die reichen Sommerfelds, die ihre Wurzeln im glanzvollen sephardischen Judentum des spanisch-arabischen Südens wähnten und in den Erzählungen & Geschichten des Ostjudentums eher eine Bedrohung denn eine Bereicherung, ja bestenfalls eine Kuriosität gesehen hätten. Die Habenichtse aus dem Osten waren ihnen so fremd wie es ihnen etwa Schwarzafrikaner oder Chinesen gewesen wären. Die Goldmanns waren also, so hieß es, immer arm gewesen, gebildet, aber eindeutig arm, bekannt für die reine Gescheitheit, die unter den Juden jeder Epoche so geschätzt wie verachtet war, denn auch hier gab es die einen und die anderen, die Intellektuellen, die Religiösen und jene Intelligenzler, die ihren Verstand für ihr Fortkommen, die Assimilation, den Erwerb von 67 Eigentum & Sicherheit lieber verwendeten als für eine unsichere geistige & geistliche Erkenntnis. Für sie war der alte jüdische Glaube kaum mehr von Bedeutung, sie konvertierten sogar zum Christentum, wenn es Vorteile brachte oder Nachteile verhinderte, gaben sich nur hebräisch, wo es von größerem Nutzen war. Für sie war die Thora nicht Gott & Vaterland in einem, sie trugen keinen Tempel mehr in ihren Herzen, keinen siebenarmigen Leuchter, keine Laubhütten oder ungesalzenen Brote, nicht mehr das ferne Jerusalem mit Säulen & Palmen, den Zedern Salomons, sondern tanzten lieber auf abendländischen Bällen, waren vielsprachig & weltgewandt, beherrschten das Hebräische längst nicht mehr. Die alten Feste wurden bestenfalls äußerlich gefeiert, gaben Anlass für Empfänge in aufgeklärten & gemischten Kreisen mit nostalgischem Gepräge. Der Orient war nur noch Dekoration, exotisch & fern, etwas, das vorüber war, untergegangen wie das Reich der Pharaonen. In Rahel & Alexander (Alexanders Vater hieß auch Alexander), in Rahel & Alexander also trafen sich zwei Menschen nicht nur, sondern zwei jüdische Welten, die oberflächliche reiche und die tiefsinnige arme. Rahel war stolz auf ihre Herkunft, sich ihrer Verantwortung wohl bewusst, doch Alexander, dem es keine Schwierigkeiten bereitete, Geld zu verdienen, der mittlerweile erfolgreich im Pelzgeschäft tätig war, der nichts wusste von der Schwere anderer Existenzen, stand diesem Mädel zwar über beide Ohren verliebt, aber doch recht ratlos gegenüber. Ihre Herkunft machte ihm einiges Kopfzerbrechen, denn auf einen solchen Fall war er, wie sich herausstellte, nicht gefasst gewesen. Es fiel ihm auch derweil nichts anderes ein, als sie ordentlich zu kleiden, zu verkleiden, wie sie es nannte, damit er sich mit ihr zeigen konnte, sie auf diese Weise in seine Nähe zu holen, die Art von Angel auszuwerfen, die seiner Meinung nach funktionieren müsste. 68 Und es war tatsächlich leichter gewesen, als er befürchtet hatte. Sie war, Gott sei Dank, empfänglich für die weltlichen Dinge, kam aus ihrer armseligen Bude, die sie in Stockholm beziehen hatte müssen, gern in seine schicke Wohnung, wo ein Dienstmädchen putzte, eine Köchin kochte, alles fein & überflüssig aussah. So teuer wie hier alles zu sein schien, so locker ließ es sich darin bewegen. Nie im Leben hatte sie solche Verhältnisse gesehen, aber das sollte sich mit Alexander ändern. Zum ersten Mal sah sie Luxus, erkannte, was dieses Wort bedeutete. Mit einem Knicks wurde sie an der Tür bereits von den Bediensteten empfangen, man wartete auf ihre Wünsche, schien sogar erleichtert, wenn sie welche äußerte. Man lief sofort los, auch, wenn sie nur ein Himbeersoda oder ein Glas Wasser verlangte. Rahel probierte aus, was sie alles durfte, und sie gelangte nie an irgendeine Grenze, an keine Verblüffung, sondern hatte immer das Gefühl, lächerliche Wünsche zu beantragen. Eigentlich wusste sie gar nicht, was man in solchen Kreisen bestellte, wie man sich quasi als eine Dame des Hauses aufführte, erkannte sogar wie wenig sie im Stande war, eine Herrin zu sein. Alexander hatte ihr in seiner Abwesenheit Verfügungsgewalt über sein Haus, sein Personal übertragen, und sie genoss diese Atmosphäre. Nicht dass sie hochmütig gewesen wäre, es waren ihr solche Verhältnisse einfach unbekannt, unglaublich & unbegreiflich, was Geld alles vermochte. Sie schlief, wenn er im Norden oder im Ausland weilte, in seinem großen weichen, blütenweiß bezogenem Bett, bewegte sich zwischen seinen antiquarischen Möbeln, betrachtete sich in den riesigen Spiegeln, die es überall gab, machte es sich bequem, wo & wie es ihr gefiel. Er selber hatte es ihr ja erlaubt, sie darum gebeten, anwesend zu sein, nach dem Rechten zu sehen. Es gab Luster, Kerzenleuchter, 69 Kamine, eine Küche, die allein so groß war, wie zu Hause bei ihren Eltern die ganze Wohnung. Jede Ecke, jeder Quadratmeter war gestaltet, nirgends schien etwas dem Zufall überlassen zu sein, die Vorhänge, die Teppiche, die Sofas & Sessel, alles war von besonderem Geschmack und musste einmal unendlich viel gekostet haben. Sie hörte nach & nach auf, ihren Eltern pedantische Briefe über den Fortgang ihres Studiums in Stockholm zu schreiben, traf sich lieber abends oder wann immer es ging, mit Sommerfeld, von dem sie kein Wort erwähnte, trachtete das Lernen möglichst auf tagsüber oder die Zeiten seiner Abwesenheit zu verlegen. Sogar, wenn er länger unterwegs war, um seinen Geschäften nachzugehen, ging sie in seinem noblen Stadthaus, welches freilich nur er als klein empfinden konnte, und das er sonst mit seinen Bediensteten allein bewohnte, ein & aus. Sie liebte es bald, sich verwöhnen zu lassen, mit ihm in vornehme Lokale zu gehen, er brachte ihr das Tanzen bei, das lässige, lockere Verhalten der besseren Gesellschaft. Wenn sie an ihm diese Art des leichten Lebens schätzte, das nur mit Geld & Reichtum möglich war, so liebte er an ihr das glatte Gegenteil, die Tiefe, die Geistigkeit, die Unbestechlichkeit, wie er meinte, obwohl er sie längst bestochen & bestechlich gemacht hatte. Aber das alles war ja kein Vergleich zu dem, was er kannte, es hielt sich in seinen Augen im Rahmen des Einfacheren & Normalen. Daher ergänzten sie sich ideal. Nicht dass sie ihn in den nächsten oder übernächsten Sommerferien ihren Eltern vorgestellt hätte, wie er es in seiner Unwissenheit & Unkenntnis der verqueren Verhältnisse eines Rabbinerhauses vorschlug & erwartete, doch so weit konnte sie nicht gehen, darüber war er einerseits froh, andererseits beunruhigt. Und doch hatte er sie längst verändert, denn auch sie sah jetzt ihr Elternhaus mit anderen Augen. Nun spielte sie Verstecken mit Vater & Mutter, vertuschte das meiste, gab ihnen 70 keine Einblicke mehr, verfügte jetzt über ein Privatleben, bekam zwar Gewissensbisse davon, konnte sie aber doch nicht mit der Wahrheit konfrontieren. Bald ließ es sich nicht mehr vermeiden, dass sie mit Alexander ins Bett ging, sie selbst keine andere Möglichkeit sah, auch, wenn sie aus Furcht vor einer Schwangerschaft Blut schwitzte und Szenen lieferte, obwohl nicht nur er sie, sondern auch sie ihn verführte, ihn brauchte & begehrte. Zum ersten Mal erlebte sie, was es bedeutete mit einem Mann zusammen zu sein, wieder & wieder Verlangen nach seinem Körper zu spüren, begann das große schwere, fast bedrohliche Wort Begierde zu verstehen, schließlich war sie nichts mehr als hoffnungslos verliebt & vernarrt, aus Liebe ohne Verstand beinah. Ein Glück, dass sie nicht jedes Mal schwanger wurde, wie sie anfangs befürchtet hatte, doch ihre Angst davor wurde sie nicht los. Sie überschattete ihre glückseligsten Stunden mit Alexander. Da mochte er sie noch so sehr beruhigen, am Ende jeder gemeinsamen Nacht flossen immer öfter Tränen der Reue, und es kam zu unerfreulichen Auseinandersetzungen. Doch die Vorstellung, vor ihren Vater, den Rabbiner, hintreten zu müssen und ihm eine solche Ungeheuerlichkeit wie eine Schwangerschaft zu gestehen, war wohl die beste & verlässlichste Empfängnisverhütung. Für Alexanders Vater Alexander, war dieses Problem zwar eine große Belastung, aber im Grunde glaubte er in einer Art naiver Zuversicht, einer gewissen Verwirrtheit oder Berauschtheit, im Notfall irgendeine Lösung zu finden. Allein, es kam anders. Rahel, als sie es endlich ansprach, aussprach, eröffnen musste, konnte ihrem Vater nicht plausibel machen, warum sie sich ausgerechnet in einen Sommerfeld verlieben hatte müssen. Einen Sommerfeld!? Hast du einen Vogel, Rahele, hast du verloren dein Verstand, oder was!? Denkst du im Ernst, ich würde meine Tochter einem ungebildeten 71 Pelzhändler geben zur Frau! Im Leben nie! Nur über meine eigene Leiche! Über mein Tod! Bei besonderen Schicksalsschlägen & Aufregungen verfiel er gerne ins Jiddische. Wäre Rahel nicht so besorgt gewesen, hätte sie lachen müssen. Der Rabbiner ließ sich dann sogar zu Aussagen hinreißen, die er selbst in besseren Momenten und bei klarerem Verstand nicht für möglich & denkbar gehalten, ja aufs schärfste verurteilt hätte. Er lebte in seiner Religion, nach ihren Gesetzen, wo alles seine Ordnung hatte und an seinem Platze stand. Wenn sich daran etwas änderte oder Dinge aus einer, ihm fremden Wirklichkeit, in seine Welt herüber drangen, wusste er sich keinen Rat, und es war nicht mit ihm zu reden. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es keine Macht, die es ihm wieder ausreden konnte. Rahels Versuche, ihm Alexander irgendwie vorzustellen, von ihm zu erzählen, und wäre es noch so beiläufig, war so gut wie unmöglich. Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass seine Tochter sich ein eigenes Liebesleben leisten, sich vor der Hochzeit in einen Mann vergucken könnte, den er nicht ausgesucht hatte oder für gut genug hielt, bei ihm um Rahels Hand anzuhalten. Lieber wollte er nichts Genaues wissen, als seine Meinung, seine innerste Haltung gegenüber der Heiligkeit der Ehe zu ändern. Es war ihm nicht vorstellbar, dass Rahel sich, quasi von heute auf morgen, selber einen Mann suchte, mit demselbigen noch in aller Schamlosigkeit herumturtelte wie die Gojim, sich womöglich verführen ließ und am Ende, am Ende, welche Schande!, sitzen blieb. Ihm, einem Rabbi!, durfte so etwas nicht passieren. Wie sonst sollte er noch anderen raten können, über sie urteilen, sie unterweisen, wenn sein eigenes Haus in so gravierenden Dingen nicht optimal bestellt war? Immerzu gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf als ahnte er, dass man ihn hinterging, als fürchtete er, er könnte im Fall von Rahels Ansinnen den kürzeren ziehen. So brüsk er jedes Wort in dieser Hinsicht zurückwies, so sehr beschäftigte es ihn. Rahel fuhr also am Ende jedes Sommers wieder zurück nach 72 Stockholm, so auch diesmal, freute sich darauf längst mehr, als aufs Heimfahren ins Elternhaus, denn schon fühlte sie sich Alexander zugehörig, sah mit ihm ihre Zukunft. Bereits am Bahnhof beim Einsteigen & Verabschieden von Vater & Mutter, von ihrer Schwester Marie, konnte sie es kaum mehr erwarten, in Alexanders Arme zu laufen, zu fliegen! Sie durfte sich sicher sein, er würde schon Stunden auf sie warten, mehr oder weniger geduldig auf dem Perron hin- & herlaufen. Sie wusste längst, dass sie ihre Familie für ihn verlassen würde, dass es immer so gewesen war, ihr Vater musste es eigentlich wissen, aber er tat es nicht. Hatte wohl vergessen, wie es ist, zu lieben, verliebt zu sein, vor Sehnsucht zu vergehen, auf Wolken zu schweben, eine rosarote Brille aufzuhaben. Vielleicht war das Leben ihrer Eltern auch nie so leicht gewesen wie ihres jetzt, vielleicht hatten sie es zu schwer gehabt, vielleicht war alles zu sehr voller Ernst gewesen von Anfang an. Sie war nicht imstande, sich ihre eigenen Eltern als junges Paar vorzustellen. Sie mussten sich doch auch getroffen haben unabhängig von beider Verwandtschaft. Wie hatte es damals überhaupt angefangen? Erst jetzt begann sie, darüber nachzudenken, erst jetzt, da es ihr selber so erging. Ob ihre Eltern sich vielleicht nie hatten heimlich treffen können, sich küssen, allein miteinander reden, ehe sie einander versprochen wurden? Es war nie etwas Konkretes darüber bekannt geworden, man berührte solche Dinge nicht, schon gar nicht war es angebracht, nach dem Liebesleben der Eltern zu fragen. Es lag im Dunkeln, in der Schwebe, irgendwo weit in der Vergangenheit, es hatte keine Bedeutung mehr, war in Pflicht & Sorge übergegangen, in Alltäglichkeit & Gewohnheit, war eben eine Ehe geworden wie alle anderen, ein Institut, ein Amt, ein steinernes Gebäude. Irgendwann im letzten Sommer war ihr die Idee gekommen, hatte in ihr Gestalt angenommen, eine Jahrtausendidee, eine Idee mit Hörnern wie einst bei Moses, denn anders würde sie ihren Vater nie dazu bringen, Alexander Sommerfeld heiraten zu dürfen. 73 Etwas musste her, das war ihr bald klar gewesen, denn wenn ihr nichts einfiel, was ihren Vater zwar völlig aus der Bahn warf, aber gleichzeitig zwang, zuzustimmen, musste sie Alexander aufgeben. Schlimmer noch, sie musste ihren Vater übertölpeln, hintergehen ihren eigenen, strengen, ernsten und doch so lieben und eigentlich harmlosen Vater, den sie gewöhnlich um den Finger wickelte, jetzt aber, da es um die Wahrung seiner Grundsätze ging, fast wie eine Mauer vor sich spürte. Sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Kraft, die sie dazu bringen würde, gegen diese Wand zu laufen, ihre Liebe gegen seine zu stellen, mit ihm einen Kampf zu führen von geradezu biblischen Ausmaßen. Es würden ihre und seine innersten Grundsätze berührt, alle Grundsätze, die es gab als ganzes, sie würden vielleicht nicht mehr miteinander gut sein können, sie würden in einen Abgrund stürzen, sie konnten daran zugrunde gehen, vor allem ihr Vater. Auf diese Auseinandersetzung durfte sie es nicht ankommen lassen, es musste etwas anderes her, etwas, das zum selben Ziel führte, aber weniger aufwändig und weniger schmerzhaft war. Sie quälte sich, hatte tausend schlaflose Nächte, müde Tage voller Abwesenheit & Zerstreutheit hinter sich. Sie traute sich nicht & nicht, mit ihrem Vater zu reden, ihm zu schreiben, überlegte & überlegte, denn, was nützte ihr alles Wissen & Können, ihre vielen Sprachen, die sie beherrschte, das Deutsche, das Hebräische, das Griechische, das Lateinische, der Doktortitel, wenn sie es nicht schaffte, mit Alexander zu leben und wofür sollte dann überhaupt alles gewesen sein? Mit diesen Gedanken & Erwägungen hatte sie ihren Kopf den Sommer über angefüllt & zermartert. Vor & wegen ihrer Verliebtheit wurde alles, was ihr Leben bisher bestimmt hatte, fast bedeutungslos. Sie liebte Alexander, wie es aussah, unbändig, übermütig, genauso wie ihre Eltern, womöglich mehr als sie. Musste das so sein? Durfte es das geben? Ihre kleine, allerliebste Schwester Marie!, die immer auf sie, die 74 große Schwester, wartete! Das Vorbild, das sie für sie war! Marie, die tausend stumme Fragen an sie stellte, auf sie schaute, sich an ihr orientierte, vor Sehnsucht & Liebe nach ihr verging! Es musste eine Lösung geben, die es Rahel erlaubte, ihre Familie nicht zu verlieren, vor allem nicht Marie, das süße, unschuldige Mädchen, und gleichzeitig diesen Mann, diesen herzallerliebsten Alexander, zu kriegen. Als sie im Herbst 1928 nach Stockholm zurückkehrte, hatte sie also einen Plan gefasst. Nicht sofort war sie in der Lage, ihn Alexander zu unterbreiten, erst nach ein, zwei Wochen und nachdem die ersten Vorlesungen hinter ihr lagen. Anfangs war sie Feuer & Flamme über ihre eigene Idee gewesen, doch bald kamen ihr Zweifel, Angst vor der eigenen Courage, Gewissensbisse noch & noch, rasende Unruhe. Meine Ruh’ ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer & nimmermehr. Wie sehr verstand sie in diesen Tagen & Wochen das arme Gretchen aus Goethes FAUST, den sie als Studentin der deutschen Sprache & Literatur in- & auswendig kannte. Alexander beäugte sie schon misstrauisch, fragte zwar nicht sogleich nach den Ergebnissen ihrer Verhandlungen mit den Eltern, doch lange konnte seine Geduld nicht mehr strapaziert werden, schließlich hatte er ein Recht darauf zu wissen, wie es stand. Er tat doch mehr als genug, fügte sich, verhielt sich anständig, großzügig, vornehm, durfte sich nicht in ihrem Elternhaus blicken lassen, hielt sich daran und grollte dennoch nicht über die Maßen, ließ sich seine Verletzung nicht anmerken. Zuerst einmal musste sie ihm wieder erklären, dass sie zu Hause nichts erreicht hatte, den, scheinbar mit vollkommen anderen Dingen beschäftigten Vater, nicht mit ihren Angelegenheiten ernsthaft hatte konfrontieren können, der außerdem & sowieso über ihn, Alexander Sommerfeld & Seinesgleichen nämlich, genau Bescheid wusste, ihn nach wie vor einen ungebildeten reichen 75 Schnösel, einen dummen Pelzhändler nannte, den seine Rahel niemals heiraten dürfe, und sollte sie sich etwas dieser Art in den Kopf setzen, dafür würde er sorgen, so wahr er ein Gelehrter, ein Rabbiner und überhaupt ihr leibhaftiger Vater sei!, sollte sie sich also etwas dieser Art in den Kopf setzen, würde er persönlich dafür sorgen, noch ganz andere Register ziehen, was, blieb jedoch im Unklaren. So oder so ähnlich waren seine Bemerkungen gewesen beim leisesten Satz über Alexander Sommerfeld. Doch erhielt sie unversehens von ihrer lieben & demütigen Mutter, die ihrem Mann diente wie es für die Frau eines Rabbiners Gesetz war, Unterstützung, was sie nie zu träumen gewagt hätte. Ihr Vater hütete ein Geheimnis! Eins, bei dem er vielleicht zu packen wäre! Ein Fleck in seiner Biographie, nicht für gewöhnliche Leute, nicht für Rahel, aber für sich, den Gestrengen selbst, doch er ahnte nicht, dass sie es jetzt, nach diesem Sommer, wusste, ja, seine eigene Frau Ingrid ! sein Innerstes und damit ihn verraten hatte. Rahels Vater Salomon Goldmann, der Rabbinersohn aus einem alten Gelehrtengeschlecht hatte in Wahrheit ein Christenmädchen geheiratet. Wann, bitteschön, war so etwas Ungeheuerliches in der Geschichte der Diaspora jemals vorgekommen?, hörte sie ihre Mutter sagen. Etwas, das es niemals und unter keinen Umständen und kein einziges Mal hätte geben dürfen. Salomon selbst hatte es ihr so erklärt. Vielleicht gab es aber solch ein Vorkommnis in Wirklichkeit öfter, als man meinen mochte, zugeben konnte, und doch stellte es gleichzeitig das geheimste Geheimnis überhaupt dar, besonders für jenen, der sich deswegen schuldig fühlte, mitunter ein Leben lang darüber nicht hinweg kam, ja, es konnte für einen, der sich dagegen vergangen hatte, zum Damoklesschwert werden, zur ihn völlig einnehmenden Sorge, denn es ist das Wesen der Angst, dass sie, je mehr man sie versteckt, größer & ungeheurer wird, ja, 76 eigenständige & riesige Dimensionen annimmt. Wenn es passiert war, dort & da, so hatte es keiner an die große Glocke gehängt, versucht, es zu verbergen und wohl immerzu gefürchtet, durch die eigene Familie, eine Unbedachtsamkeit, einen Zufall, aufgedeckt zu werden. In Alpträumen war ihrem Vater so etwas wie das Gericht in der Öffentlichkeit der Synagoge vor Augen gestanden, immer & immer wieder, so hatte es Ingrid, seine in Wahrheit christliche Frau, ihrer Tochter Rahel erzählt, unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit natürlich. Die Rettung, wie Salomon wähnte, lag womöglich in der relativen Unruhe, der allgemeinen & persönlichen Ängstlichkeit unter den Juden fast aller Zeiten, sodass sie mit sich selbst und ihrem Überleben & Durchkommen mehr beschäftigt waren als dem Ausspionieren eines Rabbiners oder gegenseitiger Beobachtung. Quasi erleichternd hinzugekommen war das Auftreten des Chassidismus, einer volkstümlichen Richtung des Judentums in Osteuropa, im untergegangenen Zarenreich bereits. Diese Chassidim, wie die Anhänger des Chassidismus hießen, richteten ihr Augenmerk besonders auf die Wunderrabbis, die Legenden, die es um sie gab, die Heilungen, von denen die Rede war. Das Warten auf einen neuen Messias rückte wieder in den Vordergrund, beschäftigte die Juden weit mehr als die strenge Auslegung des Gesetzes oder die Gelehrsamkeit einer elitären Oberschicht von angesehenen Rabbinern, die sich in der Regel nicht um die einfachen Nöte des Volkes kümmerten, sondern sich lieber in komplizierte theologische Fragen vergruben. Es hatten sich sogar wundergläubige Gruppen von Anhängern der verschiedenen Rabbiner gebildet, sodass man lieber hier & dort damit befasst war, herauszufinden, wer zu welcher Richtung gehörte, warum einer diesen, ein anderer jenen chassidischen Rabbiner bevorzugte. Man pilgerte zu jenen Wunderrabbinern, zog mit 77 Wander-predigern, sehnte sich nach dem Heiligen Land, einer Rückkehr zu den Wurzeln & Anfängen, dem Ende aller Verfolgung, tröstete sich auf vielfältige Weise. Zudem war das Leben im Osten für die Juden so schwer geworden, dass viele nichts anderes mehr vor Augen hatten, als die Auswanderung nach Westeuropa, besser noch in die Neue Welt Amerika. Der Zar hatte einst Kosakenheere geordert, welche in seinem Auftrag über die jüdischen Siedlungen herfielen, Söldner, die für bares Geld zu so gut wie jedem Verbrechen bereit waren, akut & effizient aufgestellte Einheiten, welche ihr Kriegshandwerk verstanden, professionell plünderten, raubten, vertrieben, töteten und so dem Herrscher, dessen Untertanen und sich selbst einen Dienst erwiesen, keine Skrupel kannten, so grausam wie nützlich waren für ein schier unüberschaubar weites Reich wie Russland. Ihnen war es egal, wofür man sie brauchte, sie waren die Elite, die andere Seite der Medaille, Männer fürs Grobe halt, Hauptsache, sie wurden bezahlt. Immer gab es Kriege zu führen, es war schließlich uralte Kosakenarbeit, ihr Handwerk, dafür wurden sie geduldet, gefürchtet, geachtet, gebraucht, gerufen, gehasst. Man konnte sich auf sie verlassen, sie hatten Erfahrung & Verdienste vorzuweisen. Wie andere Goldschmiede waren oder Weizen-bauern, Gutsbesitzer oder Beamte, zogen sie in den Krieg. Wie jeder Stand waren auch die Krieger ein Rädchen im großen russischen Reich, unentbehrlich, unersetzlich, erhielten von Zeit zu Zeit ihre Aufträge, ihre Einkünfte, eine eilige Depesche, überreicht von einem nächtlichen Boten, einem geschwinden, geheimen Reiter, der nach Erfüllung seiner Mission in der Dunkelheit verschwand, so überraschend wie er gekommen war, so schnell verhallten die Hufe seines Pferdes in der weiten Steppe Russlands. Es war für die Juden kaum mehr möglich gewesen, Geschäfte zu betreiben, eine Ausbildung zu bekommen, zu überleben. 78 Sie waren aus den großen Städten Russlands ausgeschlossen, die Handelsplätze mit Einheimischen besetzt, alles lief auf eine persönliche Genehmigung des Zaren hinaus, dessen Zuträger & Ohrenbläser sich eine geringe Fürsprache bereits hoch bezahlen ließen und nicht schlecht davon existierten. Dazu kam die Angst vor den Nächten, nicht einmal die Ghettos waren sicher, es gab für die Russen mosaischen Glaubens keinen Zugang zu Recht & Bildung, sodass die meisten unter ihnen arm & ungebildet, abergläubisch und leicht zu erschrecken waren. Nicht umsonst liefen sie unter der Bezeichnung: Luftmenschen, weil sie das Kunststück zustande brachten, sozusagen von der Luft zu leben, sich tagtäglich auf den Plätzen Ost-Europas versammelten und jeden, einfach jeden Dienst annahmen, um am Abend ein paar Klimperkopeken nach Hause zu tragen. Nicht selten fanden sie gar nichts, versuchten es am nächsten Tag wieder, am übernächsten, und oft genug war der Auftraggeber nach getaner Arbeit spurlos verschwunden. So hatten sie nicht nur Luftarbeit verrichtet, sondern auch einen Luftlohn erhalten. Sie gingen leer aus, verfügten nicht über die geringste Sicherheit, wurden ausgenutzt & betrogen, wo es ging. Freilich kursierten über Juden auch andere Geschichten. Es gab nicht wenige, die selbst Schuld auf sich geladen hatten, wofür nun ihre mittellosen unschuldigen Brüder bei jeder Gelegenheit büßen mussten. Das Geschäft des Geldverleihens war eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten gewesen, eine schwere & leidige Angelegenheit, wie sich vor allem für die Armen unter ihnen herausstellte, die freilich nicht das Geringste damit zu tun hatten, dennoch Tag für Tag den Preis dafür bezahlten, für die Wucherzinsen ihrer Volks- & Glaubensbrüder büßen mussten. Das alte elitäre & gelehrte Judentum besaß keine Antworten auf solche Fragen, hatte sich zu weit vom Leben entfernt, residierte quasi in unbekannter Ferne, unerreichbar & unbegreiflich für den 79 einfachen Menschen in seiner alltäglichen Not. Auf dieser Basis war der Chassidismus entstanden, er machte das Judentum endlich wieder zu einer Volksreligion, einer spirituellen aber auch verständlichen, höchst notwendigen, heiß ersehnten Bewegung, und dieser Art waren die Erinnerungen von Rabbi Salomon Goldmann, dies war die Welt, aus der er stammte, die Welt seiner Väter & Großväter, soweit man zurückdenken konnte. Hinter ihnen lagen Verfolgungen aller Art, doch hier in Schweden hatten sie Aufnahme & Sicherheit gefunden, eine Heimat, für die sie bereit waren, alles zu geben, alles zu erdulden. Aus solchen Verhältnissen kamen die Vorfahren von Rahel, und dies waren nur die Dinge, derer man sich in irgendeiner Form noch erinnerte, denn weit früher waren sie bereits aus Süddeutschland vertrieben worden, für Ungeheuerlichkeiten verantwortlich gemacht, die ihnen keine Wahl ließen, als bei Nacht & Nebel zu fliehen. Mit nichts, als, was sie am Leib trugen ohne Ziel und Ahnung, wohin die Flucht sie führen würde, zogen sie in den Osten, durch riesige, schier endlose Wälder, unbekannte Landstriche, über Berg & Tal, durch Hitze & Stürme, Schnee & Eis, ehe sie sich an fremden abgeschiedenen, kaum existierenden Orten niederließen. Was sie aber nicht mehr aufgaben, war der einmal angenommene deutsche Name Goldmann, der an den einstigen Reichtum erinnerte, über ihnen leuchtete wie ein Versprechen, die Tür der Hoffnung einen kleinen Spalt offen ließ, dorthin, wo sie einst in Wohlstand gelebt, als Verwalter & Buchhalter angefangen, schließlich als Gutsbesitzer & Bankiers geendet hatten. Doch diese Geschichten lagen so weit in der Vergangenheit, dass sie den Legenden von der Rückkehr nach Jerusalem nahe kamen, in jenes ferne heilige Land, in dem einst Milch & Honig geflossen sein sollen. Doch, wie es immer gewesen war in der Diaspora, auf einmal verbreiteten sich Gerüchte, wonach es hieß, Juden sollen betrogen, gewuchert, gemordet haben, einen Fürsten in den Bankrott 80 getrieben, christliche Kinder geschändet & geopfert, Hostien aus den Tabernakeln gestohlen. Niemand wusste etwas Genaues, doch sie mussten verjagt werden auf jeden Fall, das Übel an der Wurzel ausgerissen, schon hatten sie viel zu lange zugeschaut die Christen, waren zu gutmütig & nachsichtig gewesen mit den Mosaischen. Die Aristokratie, welche nicht selten bei Juden hoch verschuldet war, hatte größtes Interesse, die Verbindlichkeiten, die bestanden zu vergessen, zu leugnen, ließ die nächtlichen Übergriffe geschehen, den Pöbel gewähren, war weder willens noch in der Lage, der Unruhen Herr zu werden. Endlich kam man wieder an Besitzungen, obwohl man gerade noch für die Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse von den Juden hohe Summen & Sicherheiten gefordert & kassiert hatte. Zuerst waren es immer nur Behauptungen, Vermutungen, Fragen, dann Beschuldigungen, später Verurteilungen. Die, von den Juden finanzierten Kriege, die Aufbesserung der fürstlichen Privatschatullen, die Errichtung ihrer Schlösser, die Schulden-erlässe und die Erinnerung daran waren wieder einmal zu Schall & Rauch geworden. Was Rahels Vorfahren auch nicht zurückgelassen hatten, war ihre Sprache, das liebliche Jiddisch, gewesen, das alte Deutsch, wenngleich das Russische hinzukam, nicht so geliebt & vertraut, aber umso nötiger für die veränderten Gegebenheiten, die neuen Zeiten, die wieder angebrochen waren. Seither hatte sich ein Teil der Familie abgewendet vom Geld, sich auf das Wesentliche besonnen, den Blick auf die Herkunft und also die Zukunft gerichtet. Rahel war voll von diesen Geschichten, die zum Grundwissen, ja zur Grundstimmung in ihrem Elternhaus gehörten. Was immer zur Sprache kam, worum immer es ging, es wurden diese Dinge erzählt, aufgezählt, so gut wie alles zu ihnen ins Verhältnis gesetzt, ja, von ihnen ausgegangen, so als wären sie aktuell 81 beinah. Von klein auf hatte sie alles mitbekommen von der Schuld & Unschuld ihres Volkes an den Ereignissen der Vergangenheit, sie wusste Bescheid über Heimatlosigkeit, Flucht, Vertreibung, Abschiednehmen, alles über die Unsicherheit, aber auch von Rettung & Sühne, dem Traum von Freiheit & Glück. Von Wanderschaft war die Rede, von Auserwähltheit, von Buße und ungetilgter Schuld, von der Heimkehr nach Jerusalem, dem fernen Palästina, von Sehnsucht & Wehklagen, von Freude im Leid, dem Leid in der Freude, nicht immer leicht verständlich für Kinder, doch Kinder in ihren Kreisen wuchsen nicht sorglos heran, nicht ohne die Last der Eltern & Großeltern, die Last derer, die sie nicht einmal kannten, sie war ihnen in die Wiege gelegt, diese Bürde, das schwere Buch oben drauf, sodass kaum Luft zum Atmen blieb. Alles war dem Schicksal des jüdischen Volkes unterzuordnen, jedes Opfer zu bringen, denn hatte nicht einst Abraham sogar seinen einzigen Sohn opfern wollen, aus keinem anderen Grund, als dem, weil Gott Selbst den lebendigen Isaak als Liebesbeweis von ihm verlangt hatte. Was konnte also noch Bestand haben oder Erbarmen finden vor solch‘ einer Forderung, solch‘ einer Geschichte! Wer könnte dem etwas entgegenhalten? Was es auch war, es wurde klein & nichtig davor. Es hatte keine Bedeutung mehr, war Tüttelkram, wie Salomon zu sagen pflegte, Tüttelkram & Wehleidigkeit ohne Grund & Boden. Sie sollten nicht mehr wohlhabend werden, was sie vielleicht dem Namen nach einmal gewesen sein mochten, doch auch dies war längst nicht mehr vorstellbar, so wenig wie alles andere, denn es hieß, sie hätten ihren Stern verloren. Reichtum bringt Unglück über Unglück, Neid & Verfolgung, Armut & Elend, besser man hat nichts zu verlieren, ist mit Gott und der Welt im reinen, so hieß es nun im Hause Goldmann, jenen Goldmanns also, die sich für den rabbinischen, den geistlichen Weg entschieden hatten. Alexander aber, Rahels Geliebter, kannte nichts dergleichen, in 82 seinem Elternhaus war über solcherlei Judentum nicht gesprochen worden, arme Leute lebten anderswo, man kannte keinen einzigen davon. Die Bediensteten waren keine Juden, sondern Leute aus der Umgebung, der Nachbarschaft. Sie spielten keine Rolle im Hause Sommerfeld die Juden, von denen Rahel wusste. Der Reichtum, die Wohlhabenheit, die Assimilation, die gemeinsamen Interessen waren das Bindeglied, die Eintrittskarte in die höheren Kreise einer weltgewandten, beinah areligiösen Gesellschaft. Es interessierte dort keinen, ob jemand Jude war oder Russe, althergebrachter Gojim oder reformierter Lutheraner. Alexanders Wurzeln lagen zwar in Spanien, in Marokko sogar, so viel war bekannt, man war durchaus stolz auf diese Herkunft, man verfügte über eine gewisse Exotik, immerhin genossen die Sepharden einen besonderen Ruf, sie sprachen Spanisch & Spaniolisch, pflegten gewisse Traditionen. Die Juden, die er kannte, waren standesgemäß, besitzend, gebildet, auf jeden Fall wohlhabend, die meisten brauchten nicht einmal zu arbeiten oder taten es zum reinen Zeitvertreib, aus Spaß, und vielen machte es außerordentlichen Spaß, ihren Reichtum zu vermehren, es bereitete ihnen keinerlei Mühe, war als gingen sie ins Casino, sie setzten hier & dort etwas ein, verloren, gewannen, ob beim Pferderennen, bei dieser oder jener Transaktion, bei dieser oder jener Spekulation. Sie ließen ihre Söhne & Töchter studieren, waren selbst Ärzte, Psychiater, Anwälte, Reeder, Handelsherren im großen Stil. Freie Leute, von denen welche rein gar nichts tun mussten, keiner Arbeit nachgehen, keinen Lebensunterhalt verdienen, und so beschäftigten sie sich gerne mit Kunst, Literatur, Theater, ja übten ihre Lieblingsbeschäftigungen manchmal sogar beruflich aus, waren Kritiker & Rezensenten in den Hauptstädten Europas, Amerikas oder besaßen Galerien, sammelten Kunstwerke, gingen auf Reisen, gaben Bücher heraus. Wieder andere verfügten über Universitätslehrstühle, unterstützten die Forschung oder lebten wie Dandys in den Tag hinein. 83 Dies war Alexanders Vorstellung von den Juden, bevor er Rahel kennenlernte. Er, der Welthandel studiert hatte, liebte besonders die Natur, das Herumziehen in der Landschaft, das einfache Leben. Daher handelte er mit Pelzen, reiste in den Norden Skandinaviens, beherrschte die seltsamsten Sprachen, die er sich selber beibrachte, blieb lange fort, nicht nur, um die guten & besten Pelze zu finden, für die andernorts illusorische Preise bezahlt wurden, von Stockholm bis Sankt Petersburg, von Christianstad, wie Oslo damals noch hieß, bis London, Rom, Madrid, Paris, sogar Südamerika, sondern auch, um frei und mit sich allein zu sein. Nicht dass er nicht begabt gewesen wäre, das musikalische Talent, das er von der Mutter geerbt hatte, trug er in Form einer winzigen Ziehharmonika bei sich, unterhielt damit sich und die Samojeden, die Nomaden des Nordens, welche er für ihre besondere Lebensform und ihren feinen Charakter zutiefst respektierte. Sie zogen Jahr um Jahr mit ihren Herden von Ort zu Ort, er sammelte & archivierte ihre Lieder & Legenden, fotografierte sie in ihren bunten Kleidern, bei alltäglichen Tätigkeiten, auf ihren Festlichkeiten, lernte ihre Sprache, Dialekte sogar, lebte von Zeit zu Zeit mit ihnen unter einem Dach. Mit seinem Erscheinen brachte er ihnen Wohlstand, nahm ihre Felle entgegen, die zu hochwertigen Pelzen verarbeitet, die feinen Damen der Gesellschaft kleideten & verzierten, deren Männer damit die ganz persönliche Kostbarkeit, den Wert ihrer Frauen zum Ausdruck brachten, ihren eigenen Status verdeutlichten, dafür Vermögen zu zahlen bereit waren. Dies bildete die Grundlage seines selbst erworbenen Reichtums, den er bereits in jungen Jahren fast mühelos, zu seinem Erbe dazu, verdiente. Nach & nach lernte Rahel durch Alexander eine, ihr durch & durch fremde Welt kennen, hörte ihm nächtelang zu, wenn er ihr erzählen musste von so gut wie allem: seiner Mutter, seinem 84 Vater, seinem einzigen Bruder, der freiwillig aus dem Leben gegangen war, von dessen Liebeskummer und von ganz früher, als sie beide, er & sein Bruder, noch Kinder gewesen waren. Wie Frau Sommerfeld, Alexanders Mutter, gewesen war, ihre Art, ihre Leidenschaften, ihre Talente, wie sie sich kleidete, alles wollte Rahel wissen, ließ sich ihre Gewänder, ihre Frisur, ihren Schmuck bis ins Detail beschreiben. Nie hätte sie sich so einen Lebensstil vorstellen können, niemals träumen lassen, dass es so etwas gab, nie hatte sie von etwas Ähnlichem gehört. Zum ersten Mal beschäftigte sie sich mit anderen Verhältnissen, begann zu verstehen, was es hieß oder hießen musste, keine Existenzsorgen zu haben, und dieser Mann, dieser Alexander Sommerfeld, in den sie verliebt war wie eine junge Stute, der, welch‘ ein Wunder, auch sie anbetete, er stammte aus jener Schicht von Leuten, für welche ihr Vater nur Verachtung übrig hatte. Ihr aber gefielen diese Geschichten, sie sehnte sich nach etwas so Schönem, Leichtem, sie würde dafür gewiss nicht das Wesentliche, wie der Rabbi es nannte, vergessen. Sollte sie tatsächlich eines Tages Alexanders Frau werden, würde sie bestimmt nicht auf ihre eigene Familie vergessen, könnte endlich etwas für sie tun, ihnen zu einem besseren Leben verhelfen. Alexander aber hatte in Rahel zum ersten Mal jemanden getroffen, den das überhaupt interessierte, schier begann er selbst daran Gefallen zu finden, betrachtete bald auch seine Vergangenheit und die, seiner inzwischen verstorbenen Familie, mit Staunen & Interesse. Für Rahel war dies alles neu, für ihn aber wurde sie die Quelle seiner Inspiration, er hörte von ihr, welch‘ einfache, bescheidene & arme Juden es gab, von Leuten, die sich über jeden Schritt, jedes Wort Rechenschaft gaben, in Ghettos lebten & darbten, aber auch mit großer Tapferkeit sich und die ihren über Wasser hielten. Hörte von mittellosen Gemeinden, die alles Geld 85 zusammen-legten, um sich einen Rabbiner leisten zu können, der ihnen von ihrem Gott predigte, sie in allem unterwies, ihnen den rechten Weg zeigte, von Menschen, die für ihre Überzeugung durchs Feuer gingen, den jüdischen Traum in der fernen Diaspora aufrecht erhielten. Rahel hatte nie die kleinste Gabe umsonst bekommen, immer betteln müssen, eigentlich gar nichts verlangen dürfen. Für sie waren Schokolade, Fisch, Fleisch kaum denkbar gewesen, ja eine solche Forderung wäre als ein Frevel ohnegleichen gesehen worden. Ihr Vater, der Rabbiner, prüfte sie bei den gemeinsamen Mahlzeiten Griechisch & Latein, brachte ihnen in den langen Wintern das Hebräische bei, dessen fehlerfreie Beherrschung er von seinen beiden Töchtern verlangte. Ihre Mutter war eine unterwürfige Frau, wie es sich für die Gefährtin eines Rabbiners geziemte. Sie widersprach ihm nie, außer einem einzigen Mal, nämlich, als sie sich wünschte, ihre erste Tochter möge Rahel heißen. Da eine Reihe von Fehlgeburten hinter ihr lag und auch ein glaubensstrenger Rabbiner ein Mensch war, erlaubte er es ihr am Ende trotz seiner Bedenken, obwohl er vielleicht etwas vorausahnte, das sich viele Jahre später bestätigen würde. Es sollte keines seiner Kinder, die Gott ihm vielleicht schenken würde, diesen tödlichen Namen tragen, denn die biblische Rahel Jakobs große Liebe, Mutter von Joseph & Benjamin, war bei der Geburt von Benjamin gestorben, Rahel, um die er sieben & sieben Jahre hatte dienen müssen, denn zuerst war ihm ja am Hochzeitstag ihre ältere Schwester als tief verschleierte Braut, untergeschoben worden. Jene Rahel aber, das liebreizende Mädchen, in das Jakob sich beim ersten Anblick, als es am Brunnen so anmutig Wasser schöpfte, verliebt hatte, war um weitere sieben Jahre in die Ferne gerückt. Ein kleines Detail, das Alexander aus den Erzählungen seiner 86 Rahel behalten sollte und woran er an seinem & ihrem Hochzeitstag mit einer scherzhaften Bemerkung erinnern würde. Ganz anders dagegen Alexanders Mutter, die Autos fuhr, Pferde besaß, fremde, aber lebendige & anwendbare Sprachen sprach, nicht etwa Hebräisch oder Altgriechisch, Sprachen, die sie sich nicht einmal mühsam aneignen musste, sondern zum Hause Weizmann gehörten wie das Kaffeeservice oder das Silberbesteck. Nichts in ihrem Leben schien ihr je schwer gewesen zu sein, sie lebte, ohne es zu wissen im Himmel schon auf Erden, war stolz & tolerant mit sich und anderen, launisch & lieblich, oberflächlich gleichermaßen wie gebildet, streng & sentimental. Nichts & niemand stellte sie je in Frage, alles, was sie tat, war in Ordnung, denn sie bestimmte es selbst, besaß von Geburt an die Freiheit tun & lassen zu können, was sie wollte. Umso mehr müsste sie sich wundern über ihren Sohn, dem so ein weltfremdes Mädel aus einem koscheren Rabbinerhaushalt gefiel, und der sich trotz seiner Herkunft so seltsam einfach gab. Gerade wie damals die Geschichte mit seinem Bruder und dem Dienstmädchen. Was dies betraf, schien sie mit ihren Söhnen kein Glück zu haben, sie meinte es nicht böse, sie konnte nur nicht damit umgehen, aber vielleicht hätte sie es beim zweiten Mal akzeptiert, es hätte ihr schließlich egal sein können, was ging es sie an, sie würde keinen zweiten Jungen verlieren für eine Sache, die sie nicht ernst genommen hatte oder nicht ernst genug, sie würde es ihm hingehen gelassen haben. Eine religiöse Schwiegertochter, warum nicht, vielleicht war es gerade dies, was ihnen fehlte in ihrem Überfluss. Alexander dachte oft an seine Mutter, denn er vermisste sie schmerzlich, hatte sie geliebt wie niemandem sonst, kannte sie nur als schöne junge Frau, würde sie nie wieder sehen, und doch begleitete sie ihn überall hin, das wusste er. Gewiss würde sie Rahel genauso außergewöhnlich finden wie er, sie würde 87 bestimmt nichts einzuwenden haben und ihm sein Glück gönnen und es fördern. Alexander war unendlich beeindruckt von Rahels anderem Wissen, ihrer strengen Erziehung, ihrer natürlichen Schönheit, ihrer Gescheitheit, die eine ganz andere war als die seiner Mutter, seiner Tanten, der Freundinnen seiner Mutter, der Leute, mit denen man bei ihm zu Hause verkehrt hatte. Rahel war von besonderer Tiefe & Schärfe, was ihm mehr imponierte als das weltgewandte selbstverständliche luxuriöse & überflüssige Wissen der Reichen. Rahel besitzt kaum Geld für ihren Studienaufenthalt in Stockholm, sodass Alexander sich wundert, wie ihre Eltern denken können, dass sie damit durchkommen könnte. Er erkennt sofort ihre Not, ihre Scham, darüber zu reden, schickt ihr bald Geld in Briefkuverts, geht mit ihr Kleider kaufen, Schuhe, lädt sie zum Essen ein in Restaurants, holt sie mit dem Wagen von der Universität ab, fährt mit ihr am Wochenende aufs Land, in die Schären. Sie übernachten in Hotels, nehmen sich Zimmer, wo sie miteinander schlafen, eine Ungeheuerlichkeit noch Ende der Zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, zu Anfang der Dreißigerjahre, für eine Rabbinertochter nicht nur. Rahel sieht erstmals, wie mit Geld allein alles zu haben ist, niemand stellt mehr eine einzige Frage, ihre Angst vor so gut wie allem, löst sich nach & nach in Luft auf. Alexander macht sich über ihre vielfältigen Ängste dauernd lustig, erschreckt sie mit plötzlichen Attacken & Scherzen. Je besser er sie kennenlernt, umso mehr kann er sie necken. Fast jedes Mal gelingt es ihm, sie zu schockieren und sich über ihre anschließende Entspannung, ihren Sturz vom absoluten Schreck in die totale Erleichterung zu freuen. So lockert & löst er allmählich ihr, bis dahin so strenges Leben auf in Zuversicht, lässt sie ihre verklemmte Erziehung & Anschauung in seinen Armen vergessen, die Furcht vor Prüfungen 88 genauso wie die vor ihrem Vater, davor, dass ihnen jemand auf der Straße, in einem Kaffeehaus, einem Restaurant, einem Hotel begegnen könnte, der die Neuigkeit nach Hause trägt in Rahels Elternhaus. Einmal war es aber doch zu einer brenzligen Situation gekommen, denn sie wurden von einem anderen Tisch aus beobachtet, und Rahel erkannte einen Lehrer aus ihrer Heimatstadt, der mit einigen anderen Leuten just hier in Stockholm zu Abend speiste. Alexander ging beherzt hinüber, stellte diskret die Bezahlung der Zeche des gesamten Tisches in Aussicht, wenn man nichts gesehen hätte. Rahel schwitzte & zitterte derweil, sie war außerstande, sich vorzustellen, dass er auch diese Angelegenheit meistern würde. Vielleicht war es absurd zu glauben, in einer Stadt wie Stockholm nicht mit einem Mann gesehen werden zu dürfen, vielleicht hätte niemand etwas erfahren, der Lehrer nichts dem Vater erzählt, ja, sie nicht einmal bemerkt oder bemerken wollen, allein Rahel war außer sich vor Angst, verraten zu werden, klammerte sich kreidebleich an das Tischtuch, verlor die Nerven. Doch, wenn Alexander bezahlte, die Scheine auf die Budel blätterte, diesem & jenem etwas zusteckte, war alles erledigt. Sie erlebte, wie der andere auf der Stelle begriff, was zu tun war und worüber er zu schweigen hatte. Er war für Rahel der feinste junge Herr von Stockholm, bestimmt von ganz Schweden, der übrigen Welt sogar. In Wahrheit kam sie nicht mehr zum Nachdenken, verfing sich in seinen Netzen, erlag täglich & nächtlich seinem Charme und der Leichtigkeit des Lebens an seiner Seite. Er war gut zu ihr, nie etwas anderes als das, kein Dandy, sondern ein Gentleman, jemand, der nichts wollte, als mit ihr leben, irgendwann mit ihr seine Familie haben, ein Haus, Gespräche am Kamin, die Ruhe nach dem Tag, Geborgenheit nach seinen Reisen in den Norden. Sie sollte seine einzige Frau sein, seine ganze Heimat, dereinst auf 89 ihn warten mit den Kindern in der Küche, im Garten, den Sorgen & Freuden einer Familie, wenn er heimkam. Er sehnte sich nach einem Heim, einer Rahel mit Schürze, doch dies wusste sie nicht. Er wollte viele Kinder haben mit ihr, sich auf deren Geburt freuen, darauf, dass sie dicker & dicker wurde, sie verwöhnen, von ihnen erzählen oben im Norden, wo er die Menschen immer darum beneidete und ein solches Leben, wie sie es führten, für sich erträumte. Denn so einfach sie auch lebten, sie hatten diese Dinge ganz. Reduziert auf das Wesentliche, Mann & Frau, Buben & Mädchen, Lachen & Weinen, Eltern & Großeltern, alles durcheinander und doch geordnet, alte Geschichten weiter getragen durch ein schier unendliches Gedächtnis, eine Melodie namens Familie seit Menschengedenken. Was gab es Größeres, Schöneres, Imposanteres? Das wirkliche wie das ideale Leben bestand für Alexander aus diesem Lied auf Erden, wo man sich das Glück im Diesseits wie im Jenseits verdiente oder verwirkte. Lange hatte er nicht die richtige Frau dafür gefunden, denn zum einen war er schüchtern, zum anderen konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, so wenig wie einst sein Bruder, ein Mädchen zum Heiraten in den Kreisen seiner Herkunft zu finden. Zwar waren ihm bei Gesellschaftsabenden, auf Bällen & Empfängen seiner Eltern Fräuleins vorgestellt worden, das eine oder andere sogar mit Nachdruck, doch immer hatte er das Interesse anderer im Hintergrund gespürt. Junge Damen, die gezwungen waren, zu sein wie es verlangt wurde, damit sie eine gute Partie abgaben und eine noch bessere fanden. Nicht dass sie ihm nicht gefallen oder leid getan hätten, doch er spürte keine Leidenschaft, keinen Drang, keine innere Freude, mit ihnen zu verkehren. Sie strahlten nichts aus, waren wohlerzogen, gut gepflegt, schön gekleidet, mit Französisch & Klavierspielen aufgewachsen, hatten mitunter Stammbäume wie gute Pferde, und doch fand er keinen Zugang zu jener Welt, in die er doch selbst 90 gehörte. Niemand hätte seine Neigungen & Ängste, seine Sehnsucht, seine Trauer verstanden, nicht einmal, wenn er aufrichtig versucht hätte, sie zu erklären. Es existierte seine Welt ja gewissermaßen noch nicht, er war erst auf der Suche nach ihr, wollte fort aus der scheinbaren Sicherheit einer reichen Familie, um etwas Neues zu finden, das er noch gar nicht kannte. Er mochte keinen fertigen Entwurf übernehmen, keinen bewährten Plan, keine Theaterrolle. Es kam ihm so vor, als spielten alle um ihn herum nur, als wüssten sie wie man sich geben musste, als hätten sie es irgendwo gelernt. Kaum ein Mädchen unterschied sich vom anderen, sie trugen die gleichen Schuhe, die gleichen Hüte, die gleichen Frisuren, kannten dieselben Tänze, das gezierte Benehmen, die längst überlegten Antworten, die klangen, als hätten sie einen Sprachkurs besucht. Die Themen waren vorgegeben, auch er wusste, hatte tausendmal gehört, was man ein Mädchen fragen konnte, wie man sie zum Tanz aufforderte und was sie darauf entgegnete und vor allem, wie sie es tat. Es herrschte keine Spannung, es gab kaum Überraschungen, nur Harmonie, Gleichklang, Entrüstung, Verlegenheit bei der kleinsten Ungewöhnlichkeit, schon ein unüblicher Ausdruck, eine Ungeschicklichkeit, ein Missverständnis führte zu Aufsehen & Gekicher, Getuschel und mitunter zu den seltsamsten Vermutungen & Gerüchten. Weil so wenig klar & eindeutig war, wurde hinter allem ein Geheimnis vermutet, ob man seine Partnerin zu locker oder zu eng beim Tanz führte, wie oft man mit wem gesprochen oder gescherzt hatte, wobei jeder Witz, den man sich erlaubte, die fatalsten Folgen haben konnte. Es war ein Seilakt jedes Mal zwischen absoluter Langeweile und dem allgemeinen Warten auf ein Geschehnis, das leicht zum Skandal werden konnte. Alexander war dieser Veranstaltungen & Gepflogenheiten so müde gewesen, dass er nicht zuletzt ihretwegen sein Elternhaus verlassen hatte, ohne gegen jemanden persönlich etwas zu haben, 91 am allerwenigsten gegen seine Eltern oder die Freunde des Hauses an sich. Es war die ganze manierliche, gebildete Gesellschaft, die ihm zu schaffen machte. Er wusste von Frauen, die ihre Kinder nicht selbst versorgten oder gar stillten, für ihren Mann keinen Finger rührten, dafür war schließlich das Personal da. Frauen, die, Gott weiß was, den ganzen Tag taten, denn sie kümmerten sich oft kaum um ihre Säuglinge, die sie gerade geboren hatten, waren genug mit sich und ihrem Zustand beschäftigt, unterhielten sich stattdessen untereinander über die neueste Mode, die nächste Sommerfrische, die Ballsaison, die Figur, überließen die Mühsal der Mutterliebe & Muttersorge Kinderschwestern & Ammen. Sie erachteten ihre Schwangerschaften & Geburten als die ultimative Leistung ihrer Person, thronten wie Königinnen in ihren Salons, misslaunig & gelangweilt, litten an Depressionen & Hysterien. Die Bediensteten standen bereit, so gut wie jede Arbeit zu übernehmen, jede Flause der Gnädigen zu ertragen, ihre Frustration, ihren Ärger, die wohl nichts als tiefe Traurigkeit war, denn nicht selten ging der Gemahl fremd, vergnügte sich während der Schwangerschaften, nach den Geburten, und wann immer er nicht zu seinem Recht kam, mit anderen Frauen, sodass die Liebe bald abhanden kam und man sich jetzt meistens über die Untreue des Gatten beklagte, seine Kälte, überhaupt die ganze Last, zu der das Leben geworden war. Die Neugeborenen ließen sie gewöhnlich von Ammen säugen, oft genug arme Frauen, Bäuerinnen, Nachbarinnen, deren eigene Kinder in jeder Hinsicht zu kurz kamen, Kinder, die später mit ihren Milchgeschwistern nicht spielen durften, ihre eigene Mutter aber teilen mussten für das bisschen Geld, das sie dafür nach Hause brachte. Die Kinder aus den reichen Haushalten waren ebenso fordernd wie ihre Eltern. Die Aufmerksamkeit, welche ihnen verwehrt 92 wurde, holten sie sich rücksichtslos bei den Ammen & Kinderfrauen. Davon wollte Alexander nichts mehr wissen, auch für ihn und seinen Bruder war es so gewesen, obwohl seine Mutter freundlich zu allen & fröhlich gewesen war, großzügig bei der Bezahlung, obwohl seine eigenen Eltern sich wirklich geliebt hatten, so sehr sogar, dass die eigenen Kinder sie oft in ihrer Verliebtheit & Turtelei störten. Eingedenk dieser Erfahrungen wollte Alexander von Anfang an, unabhängig von zu Hause sein Leben aufbauen mit seinem eigenen Können & Dafürhalten. Seine Mutter war gegen die anderen eine recht gute Ehegattin und sogar einfühlsame Mutter gewesen, zwar nicht für tatsächliche Arbeit vorgesehen oder erzogen, doch respektierte sie zeitlebens ihren Mann als Herrn nicht nur, sondern als ihren alleinigen Geliebten & Gebieter, wie sie sich pathetisch ausdrückte, hinterging ihn nie & wurde nie von ihm betrogen. Sie liebten einander, so wie sie waren, bestanden aus demselben Holz, genossen einander, vor allem in den frühen Jahren, doch auch nach der Sesshaftwerdung gab es nie eine ernste Unstimmigkeit oder Streit zwischen ihnen. Ihre Söhne liebten sie sogar über die Maßen, nie wurden sie geschimpft oder gar verprügelt, sie achteten auf einen äußerst gepflegten Umgang im Hause Sommerfeld. Wie die Angestellten sich den Kindern gegenüber nett zu benehmen, sie mit feinen Methoden zu unterweisen hatten, so verlangte die Mutter bereits von den Knaben, und später, als sie heranwuchsen, als junge Herren, ein ebenso makelloses, höfliches Verhalten ihnen gegenüber. Doch seither sind Jahre vergangen, die Eltern leben nicht mehr, Alexander ist endgültig nach Stockholm gezogen und hat von dort aus sein zunächst kleines Pelzhandelsimperium aufgebaut. 93 Irgendwo im Hintergrund gab es ein Erbe, das er nie antasten, sondern unbesehen seinen Erben übergeben wollte, denn, was das Geschäftliche betraf, war er zu hundert Prozent der Sohn seiner Väter. Für ihn zählte im Grunde nur selbst erworbener Wohlstand. Es bereitete ihm indes keine Probleme, Geschäftsstrukturen aufzubauen, doch, was ihm fehlte, war jemand, für den es sich lohnte, all das auf sich zu nehmen und überhaupt Geld zu verdienen, denn für sich selbst war er bescheiden, zwar wirtschaftlich gebildet, in den oberen Gesellschaftsschichten beheimatet, über beste Verbindungen & Umgangsformen, sogar gutes Aussehen verfügend, und doch sehnte er sich nach mehr als Unterhaltung & Genüssen, nach Kunst, Frauen, Affären. Ihm war nach einer Philosophie, einer Religion, wie selbst einfache Menschen, so meinte er, sie hatten. Seit sein Bruder in den Tod gegangen war, hatte sich alles in und um ihm verändert, vieles seinen Sinn verloren, war er traurig & einsam geworden, ohne Eltern stand er da, auch sie waren nicht darüber hinweggekommen. Zum ersten Mal hatten sie versucht, ohne einander mit etwas fertig zu werden, sodass die Mutter diesen fast gewöhnlichen Autounfalltod gesucht zu haben schien wie eine Erlösung aus der Qual des Schmerzes, für den sie keine Linderung fand, während der Vater das Trinken anfing, sich Abend für Abend vor dem Kamin in die Bewusstlosigkeit trank, obwohl er Alkohol verabscheute, kein Viertel Wein, kein bisschen Whisky vertrug. Dennoch hatte er keine andere Lösung, keine bessere Idee, sodass die Nachricht vom Verschwinden seiner Frau, ihrem höchstwahrscheinlichen Tod auch ihn zu Fall brachte, sein Herz versagen ließ. Der noch herbeigerufene Arzt konnte ihm nicht mehr helfen, er fand einen verfallenen, verkrampften Körper vor, der nicht mehr weiterleben konnte und nicht mehr weiterleben wollte. So veränderte sich gleichermaßen nach & nach wie auch ganz plötzlich nicht nur Alexanders persönliche Welt, sondern die Welt wie es aussah, als ganzes. Es gab politische Meldungen, die man 94 früher nicht gehört hatte, alles schien im Umbruch zu sein, sich zu verändern, sodass niemand mehr wusste, woran er war, wie die Nachrichten zu beurteilen seien, ob an den Gerüchten etwas dran war, die aus dem Ausland drangen oder ob man sich in Sicherheit wiegen durfte, wenigstens, was die Landesgrenzen anbetraf. Sein äußerliches Leben unterschied sich in nichts von dem anderer erfolgreicher Leute, er galt nach wie vor als begehrter, aber schwieriger und bereits etwas älterer Junggeselle, was seiner Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat. Doch, was er nicht mehr zu hoffen wagte, geschah eines Tages – er verliebte sich in dieses Mädchen, das Rahel hieß und nichts Geringeres, nichts Seltsameres als die Tochter eines Rabbiners war. Plötzlich gab es nur noch sie, Zeit für sie, Gedanken für sie, man konnte vieles einfacher & anders erledigen, sich Laufburschen & Angestellte bezahlen, nicht mehr alles selber machen, Rahel stand jetzt im Vordergrund, er musste mit allen Mitteln um sie werben, sie einfangen, für sich gewinnen. Doch, was er nicht wusste, sie war ihm längst erlegen, in ihn verliebt wie ein junges, scheues Reh, ihm verfallen, weit mehr als er ahnte. Und als sie in jenem Herbst nach Stockholm zurückkehrte, hatte sie eine unerhörte Idee im Gepäck, für sich & Alexander eine Lösung gefunden, die er nicht auszudenken gewagt hätte. Eine Idee, die sie ihm unterbreitete, als er vollkommen erschlagen & ihr ergeben war, nämlich eines Sonntags am spätern Abend nach einem Ausflug in die Schären. Wieder war sie nicht in ihre Studentinnenbude, ihre gestrenge Untermiete zurückgekehrt, sondern ihm gefolgt, wie ein herkömmliches Flittchen beinah, das wusste sie längst selbst, weil sie gerade so eines war im Moment, womöglich für immer sogar, ahnte bereits, dass im Grunde keine noch so sittlich verheiratete Frau, wenn sie ihren Mann wirklich liebte, je etwas anderes sein 95 konnte. War ihm also gefolgt in sein vornehmes Stadthaus, hatte sich ein weiteres Mal gerne von ihm verführen lassen, ihn wieder & wieder selbst verführt, ihm damit für alles gedankt - das wundervolle Wochenende zum Beispiel, das ihn in ihren Augen so unglaublich viel Geld gekostet hatte, so viel, wie sie, ja, wie ihre Eltern, in einem ganzen Monat zum bloßen Leben nicht zur Verfügung hatten. Alexander, ich kann dir nur danken, indem ich Dir das einzige gebe, was ich habe, meinen Körper, meine Liebe, verstehst du! Du weißt inzwischen, was das für mich bedeutet, dass ich dafür meine Familie belügen & verlassen muss, aber ich habe und will nichts anderes mehr, das musst du mir glauben. Und weil ich mir in aller Zukunft kein Leben ohne dich vorstellen kann, habe ich mir folgendes ausgedacht: Sie schluckte & schnaufte, fing mehrmals und verschieden von vorne an, bis sie in verblüffender Offenheit & Einfachheit folgendes hervorbrachte: Wenn ich von dir schwanger werde, kann mein Vater nichts mehr gegen eine Heirat mit dir unternehmen. Ich werde ihm das Herz brechen, in tödlich enttäuschen, aber es ist die einzige Möglichkeit. Lass uns ab jetzt immer miteinander schlafen, damit ich ein Kind von dir bekomme und mein alter Vater & Gelehrter auch nichts Besseres wissen wird, als mich mit dir zu verheiraten, mich Dir zu geben, ja, darin die einzige Rettung sehen wird. So bleibt ihm nur ein Ausweg, um das Gesicht und die Ehrbarkeit nicht ganz zu verlieren, und dieser Ausweg ist unsere Lösung, unser Glück. Rahel, hast du den Verstand verloren!?, so Alexander, der nach der Anstrengung bereits beim Einschlafen ist und seinen Ohren nicht traut und meint, geträumt oder sich verhört zu haben. Doch sie wiederholt es, wie sie es sich immer & immer wieder vorgesagt hatte, ja, da war es wieder, er träumte nicht, er schlief 96 nicht, denn er hörte den Satz noch einmal: Lass uns ab jetzt immer miteinander schlafen, damit ich ein Kind von Dir bekomme und mein alter Vater auch nichts Besseres wissen wird, als mich mit dir verheiraten zu müssen! Alexander fällt schier ohnmächtig vom Bett auf den Boden, als sie auf dieser Ungeheuerlichkeit beharrt, die sie ihm, noch trunken von der Liebe und alles Ernstes präsentiert. Aber sie beide sind in diesem Moment ohnehin nicht mehr ganz bei Trost. Alexander, weil er nach dem Geschehen müde & schwer daniederliegt, nachdem er sie nach einem langen Wochenende endlich flachlegen konnte und Rahel, weil sie ähnlich erschöpft ist, was es ihr allerdings ermöglicht, endlich den lange verschwiegenen Vorschlag im dafür richtigen Augenblick, wie sie findet, vorzutragen. Im vollen Besitz ihres Verstandes hätte sie es nicht über die Lippen gebracht, aber jetzt in dieser Ausnahmesituation des Sieges und der Niederlage zugleich, gelingt es ihr endlich, es ihm zu sagen. Doch Alexander trifft es völlig unvorbereitet, kein Wunder, dass er weder hört noch versteht. Mit ihrem letzten Satz im Ohr schläft er zufrieden ein, während sie noch redet & weiterredet, an ihren eigenen Worten nicht satt werden kann, sich berauscht an ihnen, wie sie sich alles vorstellt, was sie für ein Leben haben werden, Alexander, du & ich, hörst du? Sie zeichnet, als könne sie nie mehr aufhören, ein, wie sie ihm später gesteht, minutiöses Bild ihrer beider Zukunft. Als sie bemerkt, dass er schnarcht, rüttelt sie ihn wach, überschüttet ihn mit Tränen & Vorwürfen ob seiner Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Wahrsagerei, die sie glasklar vor sich sieht, so genau, als läge alles bereits hinter ihr. Ja, Rahel! Lass mich schlafen. Sei still. Leg dich wieder hin. 97 Schlaf jetzt. Das geht nicht, das ist unmöglich, aber nett, dass du es versucht hast. Sie ringt ihm ein Versprechen ab, an das er sich weder am nächsten Morgen noch am nächsten Abend richtig erinnert, leise an den Inhalt zwar, nicht aber daran, dass er ihr diesen Schwachsinn zugesagt hatte. Denn er selbst lebt in einer Haidenangst vor diesem Rabbiner, der ihm nicht geheuer ist, sogar ab & zu im Traum erscheint, mit erhobenem Zeigefinger, schwarzem Hut & fliegenden Mantelschößen. Ohnehin hoffte Alexander dauernd, dass dieses Mädchen nicht auf einmal daherkommt und behauptet, schwanger zu sein! Du lieber Himmel, bloß das nicht! Wie konnte & könnte er realisieren, dass sie es gerade darauf anlegte! Was hatte er sich nicht schlau gemacht über den weiblichen Zyklus, der ihm ein Mysterium war wie die Kabbala, schwierig genug, darüber überhaupt irgendwelche Informationen zu erhalten. Was hatte es ihn nicht Geld in Form von Abendessen & Einladungen gekostet, um diese peinlichen Fragereien tätigen zu können, hinter diese Dinge wenigstens annähernd zu kommen. Ein, zwei Pastoren, einen Popen & Priester anderer Konfessionen, einen Arzt, einen Apotheker sogar hatte er angesprochen deswegen, ach, es war erniedrigend gewesen, die Art wie sie ihn belehrten, aufklärten, abblitzen ließen, sich lustig machten, sich entrüsteten, zu süffisanten Antworten anhuben, richtig schlüpfrig wurden, um am Ende meistens gar nichts zu sagen. Nichtsdestotrotz aber sich für ihr Schweigen, ihre sinnlosen Ratschläge, für ihre nichtsnutzigen Aussagen Pelze schenken ließen. Dennoch hatte er sich das wenige, was er aus ihnen herausbekam, akribisch aufgeschrieben, nachgerechnet, Tabellen angelegt, weiter nach Büchern gesucht, doch selbst bei medizinischen 98 Darstellungen war es schwer, einen brauchbaren roten oder wenigstens rosa Faden zu finden, denn entweder stand gar nichts darüber da, oder die Beschreibungen waren über weite Strecken unverständlich. Keine wirklich brauchbaren Beispiele, nur dürre Zeichnungen und endlose Beschreibungen, auf- & zu klappbare Schablonen, die in Gedärme führten, Nerven & Blutgefäße offen legten, in alle möglichen Organe Einblick gewährten, nicht aber einen Ort zeigten, der Alexander weiter geholfen hätte. Dennoch war er viel fortgeschrittener als früher, wo er so gut wie gar nichts darüber gewusst hatte. Nicht dass es ein Problem an sich dargestellt hätte, doch mit Rahel und ihrem unheimlichen Hintergrund wäre es wohl für jeden unlösbar gewesen. Die Sexualität ohne Trauschein machte ihn schier verrückt, und doch war es längst zu spät. Er hätte ja nichts lieber mit ihr gehabt als Kinder, sie geheiratet, sofort & auf der Stelle, wenn nicht ihre komplizierte Herkunft, diese, ihm völlig fremde Welt, aus der sie kam, gewesen wäre. Er hatte keine Ahnung, wie er jemals aus diesem Desaster herauskommen sollte, was, wenn sie ihr Studium einmal beendet haben wird, er wusste ja nicht einmal, wie das Ende des Tages, der laufenden Woche aussehen würde. Wie sollte er überhaupt noch etwas planen? Jeden Augenblick konnte diese Beziehung zusammenbrechen, eine völlig unverständliche Wendung nehmen. Wie, wenn er sie nicht bekam und was, wenn er sie heiratete? Fragezeichen über Fragezeichen. Doch sie ließ nicht locker, bestand auf der wenigstens probeweisen Durchführung ihres skandalösen Plans. Probeweise?! Wie stellst du dir das vor? Probeweise? Spinnst du komplett? Sollen wir probeweise ein Kind fabrizieren, oder was? Ja, genau, fangen wir zuerst mit einem an! 99 Konnte ein so gescheites Mädchen derartig den Verstand verlieren oder band sie ihm einen Bären auf? Am Anfang achtete Alexander, wie eigentlich schon immer, auf die vierzehn Tage, ließ sich genau über den Zeitpunkt des jeweiligen ersten Datums ihrer Regel berichten, verhandelte mit ihr darüber, als wären sie Jahre miteinander verheiratet, als müssten sie sich vor einem Rechtsanwalt dafür verantworten. Doch das schien ihm bei aller Peinlichkeit immer noch besser, als sich ohne weiteres auf ihr Vorhaben einzulassen. Dann erinnerte er sich, dass sie anfangs etliche Male gar nicht darauf geachtet hatten und nichts passiert war. Bald aber konnten sie wieder nicht an sich halten, nichts geschah, sodass sie nach & nach die Vorsichtsmaßnahmen erneut fallen ließen. Und doch muss Rahel selbst so angespannt & ängstlich gewesen sein, dass sie entweder insgeheim aufpasste wie eine Haftelmacherin oder mit ihrer Furcht vor einer Schwangerschaft und ihren ungeheuren Folgen, dem Stress mit dem Studium, ja, dem ganzen verbotenen & entnervenden Leben, das sie in Stockholm führte, den Zyklus unter Kontrolle hielt. Alexander begann zu scherzen: nicht einmal eins meiner Millionen & Milliarden Spermien wagt sich an ein einziges deiner Eierchen heran. Niemand will schließlich schuld sein an dem Tohuwabohu mit der Rabbinertochter! Denn wie einst der biblische Jakob sieben Jahre um Rahel dienen musste, sollten jetzt wieder sieben Jahre vergehen, sieben Jahre, in denen zwar Alexander nicht wirklich um sie diente, doch auf gewisse Weise das Seine ausstand. Die ständige Angst, entdeckt zu werden, stellte ein eigenes Kapitel dar, die Unmöglichkeit, anders zu handeln, ein weiteres. Für jedes Paar wäre dies zu jener Zeit ein Skandal gewesen, es war schlicht undenkbar, sich außerhalb oder vor der Ehe miteinander ins Bett zu legen, nicht nur wegen der 100 Rabbinertochterschaft von Rahel, sondern überhaupt, und hätte Alexander nicht ein eigenes kleines Stadthaus bewohnt, nicht so viel Geld & Möglichkeiten gehabt, nie hätte sich so ein Verhältnis aufrecht & geheim halten lassen. Alles, was mit Mann & Frau, mit Liebe & Sexualität zu tun hatte, wurde versteckt, unterbunden, an den Rand gedrängt, verschwiegen. Rahel nämlich war schließlich aus ihrem Fräulein-Zimmer zu Alexander gezogen, wohnte nun dauerhaft bei ihm, sogar, wenn er nicht in der Stadt, sondern unterwegs im Norden oder irgendwo im Ausland war und seinen verzweigten Geschäften nachging. Sie brauchte sich nicht mehr in einem quasi öffentlichen & entwürdigenden Untermieterverhältnis kontrollieren & bespitzeln zu lassen, sondern trug den Schlüssel für ein ganzes Haus bei sich, ging jetzt erhobenen Hauptes dort ein & aus. Oft kam er Monate nicht zurück, fuhr mit dem Schiff nach Nordamerika, nach Südamerika. Überall hatte er Kunden, Verbindungen, Geschäftspartner, Freunde. Je nach Aufenthaltsort telegrafierte er, telefonierte mit ihr, sie besaß in seiner Abwesenheit die Vollmacht über seine Konten, überprüfte gewisse Eingänge & Anweisungen, sie war bereits sein Büro. Unnötig, weiterhin eine Ganztagssekretärin anzustellen, die flinke Rahel, leicht von Begriff, tat alles, wie Alexander es ihr gezeigt hatte, kontrollierte die ihr vorgelegten Listen & Tabellen, füllte sie aus, und bald fielen ihr nicht mehr die Augen aufs Papier über die Höhe der Summen, um die es mitunter ging. Seine Idee, sie für diese Arbeit zu bezahlen, wirkte beflügelnd, brachte sie dazu, neue Vorschläge einzubringen, Mappen anzulegen, Adresslisten zu schreiben, ein Archiv aufzubauen, und am Ende staunte Alexander über die Organisation dieser kleinen Person, welche in seiner Abwesenheit agierte, als hätte sie Wirtschaft studiert, während sie doch gleichzeitig fremde Sprachen lernte, völlig andere Prüfungen ablegte, die rein gar nichts mit der Welt des Kapitals und der Vermögensverwaltung zu 101 tun hatten. Im Schutz der Großstadt war eben alles möglich, denn hätte auch nur irgendwer in der Kleinstadt, aus der sie stammte, erfahren, in was für Verhältnissen neuerdings Rabbiner- oder Pfarrerstöchter lebten, es wäre nicht auszudenken gewesen, auch gab es dafür wohl kaum einen Präzedenzfall. Rahel studierte trotzdem fleißig, wusste, was sie ihren Eltern schuldig war, obwohl sie längst nicht mehr von deren bescheidenen Zuwendungen lebte, wie hätte sie überhaupt jemals davon leben können sollen? Aber, sie machte ihnen keinen Vorwurf, sie verstanden es nicht besser, meinten vielleicht, sie könnte so einfach leben wie ein Huhn. Das Studium von Rahel war quasi der Überfluss, den sie sich für ihre Kinder leisteten, schließlich sparten sie sich das Wenige, das sie nach Stockholm schickten, vom Mund ab. Vor nicht wenigen Leuten hatten sie dies zu rechtfertigen, die nicht verstanden, wie eine so arme Familie ihre Tochter studieren lassen konnte, wo sie doch selbst vom Wohlwollen und den Spenden der Gemeinde lebte. Wenn es ein Sohn gewesen wäre, kein Problem, doch für eine Tochter lässt sich beizeiten ein Mann finden, und seit wann bitteschön müssen denn Fräuleins studieren! Nicht einmal die Gojim, die Christen, taten so einen Unsinn, denn auch dort hatten sich die Frauen, die jungen Mädchen unterzuordnen, wurden verkuppelt & verheiratet, wie es sich gehörte. So war es seit Menschengedenken in allen Gegenden & Zeiten gewesen. Was für eine Arroganz dieses Rabbiners, der in Ermangelung eines Sohnes, seine Tochter an die Universität schickte. Was studierte sie überhaupt? Deutsch & Hebräisch? Ist das nicht Männersache? Verwegen & vermessen schaute es aus, wenigstens für die einfachen Menschen. Fast niemand kapierte es. Keiner verstand auch, wie sie es schafften, diese Goldmanns, mit dem einfachen Gehalt eines Rabbiners, das bestimmt an der 102 Untergrenze aller Einkommen lag, noch dazu ein Mädchen, in die Hauptstadt zu entsenden. Anstatt ihr die Regeln der Gesellschaft, aus der sie stammte, beizubringen, sie in Frauenfragen zu unterrichten wie andere es taten und über sich ergehen lassen mussten, ließen sie das Mädchen zur Gelehrten ausbilden. Das erschütterte doch die Säulen der Religion nicht nur, sondern des Staates als ganzes! Rahels Vater war nun im Rechtfertigungsnotstand jeden Tag seines Lebens beinah, auch wenn er nicht direkt angesprochen wurde, doch merkte er den Zweifel, den man ihm entgegenbrachte an allen Ecken & Enden, wie man ihm begegnete, ihn anschaute, seine Worten zu hinterfragen begann. Dabei waren seine bescheidenen Geldanweisungen nach Stockholm längst bekannt und nicht einmal ein Taschengeld für Rahel. Früher waren seine Reden Gold gewesen wie es sich für seinen Namen gehörte, wie es einem Geistlichen anstand, jetzt kamen immer weniger seiner Predigten wegen. Es schmerzte ihn, er wusste zwar warum, doch er grämte sich, denn er glaubte an seine Tochter, sein Rahele, das ihn nicht enttäuschen würde. Viele Leute waren eben arm und verstanden es nicht, man durfte ihnen darum nicht böse sein, das sollte doch ein Rabbiner einsehen können. Doch im Innersten dachte er selber so, im Innersten war es nicht recht gewesen, er hatte gerade jene, welche ihm an den Lippen hingen, denen er Beispiel & Halt gewesen war, enttäuscht. Er fieberte dem Tag entgegen, da er mit seiner Frau & Marie, seiner zweiten Tochter, nach Stockholm reisen würde, um die Promotion Rahels zu feiern, in den ehrwürdigen Hallen der Universität den Lohn abzuholen für einen Lebensabschnitt besonderer Mühsal & Entbehrung für sie alle. Krone für Krone, Öre für Öre wurden extra noch für diese Fahrt beiseite gelegt, säuberlich verwahrt & beschriftet. Sie waren in all den Jahren des Studiums nicht in der Lage, Rahel in der Stadt zu besuchen, es reichte nicht, sie lebten von 103 Kartoffeln & Brot, trugen die alten, geflickten Kleider, gönnten sich nichts. Ingrid stopfte, nähte, besserte aus, verwertete jeden Rest in der Schneiderei wie in der Küche, hatte längst keine Magd mehr, tat alles allein. Doch ihre Liebe war groß genug, sie liebte den inzwischen schrullig & eigenbrötlerisch gewordenen Mann trotzdem, mehr denn je sogar, obwohl es immer schwieriger mit ihm wurde, das erkannte sie sehr wohl. Ingrid, die aus einem strengen Pastorenhaushalt stammte, deren eigene Mutter nichts anderes als die Dienerin ihres Gatten und der Gemeinde gewesen war, schien die richtige Frau für diesen Rabbiner zu sein, denn sie konnte mit Mangel umgehen, auf Persönliches verzichten, die Knappheit in allen Belangen mit Phantasie & übermäßigem Fleiß bewältigen. Wie hätte sie es nicht aushalten müssen? Wo hätte sie hingehen können? Wo denn sonst war der Platz einer Frau, wenn nicht hinter dem Rücken ihres Mannes, an seiner Seite, Tag & Nacht, solange sie lebte? Sie konnte sich doch ebenso wenig wie ihr Mann vorstellen, was Rahel in Stockholm wirklich trieb. Dass ihre Tochter, die sie selbst geboren & erzogen hatte wie Religion & Sitte es geboten, dieses, ihr Mädchen, mit einem Mann in wilder Ehe lebte, über dessen Geld verfügte, inzwischen stolz & erfahren war in allen Dingen, sich in finanzieller Sicherheit befand, die sogar körperliche Liebe eines Mannes genoss, ja forderte, lag außerhalb des Denkbaren. Sie konnte sich doch ebenso wenig andere Verhältnisse als die eignen vorstellen, hatte keine Ahnung von Leuten wie den Sommerfelds, für die Reichtum und persönliche Freiheit zu den Selbstverständlichkeiten gehörten, die keine Minute ihres Lebens mit Demut & Dienen vertaten, nicht einmal einen einzigen Gedanken an etwas anderes als ihr Pläsier verschwendeten. 104 Schließlich log Rahel zu Hause, sie würde etwas dazuverdienen können, sich dort & da nützlich machen, man müsse ihr nichts mehr schicken, denn sie wusste ganz genau, worum es für ihre Eltern ging. Sie stellten die Anweisungen ihrer geringen Beträge schweren Herzens und schlechten Gewissens ein, denn wegen ihrer Armut sah Rahel sich gezwungen zu arbeiten, um ihnen nicht länger auf der Tasche zu liegen, das arme, verantwortungsvolle Kind, sie legten dennoch für ihre Aussteuer beiseite, sparten sich jetzt Rahels andere Zukunft vom Munde ab. Woher hätten sie alle miteinander das Wissen haben sollen, in welchem Überfluss ihre Tochter in der Hauptstadt lebte! Sich von einem Sommerfeld, einem ungebildeten Pelzhändler, dafür bezahlen ließ, mit ihr jederzeit schlafen zu können, wie dieses Mädchen sie nach Strich & Faden hinterging & betrog. Den Rabbiner und seine herzensgute Frau hätte der Schlag getroffen auf der Stelle, hätte jemand die Unverfrorenheit besessen, ihnen die Wahrheit zu sagen! Es war inzwischen sogar so, dass Rahel für Marie Geld nach Hause schickte, hübsche Kleider & Hüte, Schuhe, Strümpfe, Bücher kaufte, denn die Kleine tat ihr von Herzen leid, und hätte sie nicht befürchten müssen, ihre Eltern könnten irgendeinen Verdacht schöpfen, sie hätte ihr noch weit mehr und viel kostbarere Sachen zukommen lassen. Auch ihrer Mutter schickte sie Geld, versteckt in Briefen, in denen sie vorgab, inzwischen Sekretärin auf der Universität zu sein, in verschiedenen Geschäften die Buchhaltung zu führen, aber doch auch das eine oder andere für Herrn Sommerfeld in seiner Abwesenheit erledigen zu können, wofür sie ihre Bezahlung und gewisse Remunerationen erhielt. Da ihre Eltern nichts von Geld verstanden, wunderten sie sich zwar, woher Rahel dieses Talent nahm, doch das meiste verheimlichte Ingrid ohnehin vor ihrem Mann, der darüber, so befürchtete sie, in Rage geraten könnte. Nicht auszudenken, 105 würde sie ihm auch nur andeuten, wie viel Rahel ihr inzwischen schickte, ja dass sie davon schon einen Teil des Haushalts finanzierte! Im Jänner des Jahres 1934 schloss Rahel nach insgesamt acht Jahren ihr Studium der Germanistik mit der Doktorarbeit über Johann Wolfgang von Goethe ab. Goethe, Dichter oder Philosoph, Deutscher oder Kosmopolit? Und das des Hebräischen mit einem Diplom, in dem sie die neuralgischen Schnittstellen zwischen den frühen aramäischen und den hebräischen und den späteren hebräischen und den griechischen Texten untersuchte. Ihre Eltern konnten ihr, wie es der Brauch war, keine Belohnung zum Abschluss ihrer Studienzeit zukommen lassen, wohl aber Alexander, der ihr ein Geschenk machte, das für sie & ihn, letztlich zum alles entscheidenden Schicksal werden sollte. So ging sie nach ihrer Promotion auf ihre erste & letzte Auslandsreise mit Alexander, eine Reise, gegen die ihr Vater scharf protestierte. Ihr könnt nicht nach Deutschland reisen! Warum nicht! Dort ist Adolf Hitler an der Macht! Ja, und! Ich spreche Deutsch, ich kenne mich aus in der deutschen Kultur, habe Goethe studiert, ihren größten Geist! Rahel antwortete ihrem Vater frech & schnippisch, sie fühlte sich stark & erwachsen, war jetzt jemand, jemand mit einem Doktortitel, als Frau! Weil es dort gegen die Juden geht! Was soll das heißen, gegen die Juden geht? 106 Dass du Schweden nicht verlassen darfst! Hier sind wir in Sicherheit, wer weiß, wie lange noch! Vater, ich bitte dich, sei doch nicht so überängstlich! Kind, nur, weil du studiert hast, glaubst du nun alles zu wissen! Nein, bestimmt nicht, aber ich möchte ein einziges Mal eine große Reise machen, Hitler tut uns nichts, glaub’ mir, er mag nur Leute nicht, die mit der deutschen Kultur nichts anfangen können! Rahel, hast du vergessen, dass wir Juden sind? Durch & durch! Dass wir verfolgt werden seit fast zweitausend Jahren, seit wir Jerusalem verlassen haben, dass wir überall und nirgends zu Hause sind, hast du das vergessen? Doch Rahel & Alexander fuhren nicht nach Deutschland, wie sie es dem Vater erklärt hatten, um Rahels Deutschkenntnisse zu vervollkommnen, sondern durch es hindurch weiter nach Italien. Auf den Spuren Goethes in den Süden. Es wurde, wie sich herausstellen sollte, die Reise ihres Lebens, ihr ganzes Glück & Unglück, eine Fahrt von solcher Bedeutung, dass, hätte sie jemand gewarnt, sie ihm nicht geglaubt hätten. In Wahrheit aber gab es nichts Natürlicheres als das, denn wie junge, durchgehende Pferde wären sie taub & blind gewesen für jede Art von vernünftigem Rat. So stiegen im noch stürmisch-winterlichen Stockholm zwei Menschen in einen Fernzug, hielten sich an den Händen in der Gewissheit, zusammen zu gehören, dabei hatten sie einander bereits verloren. Welche Barmherzigkeit liegt doch darin, über die Zukunft im Unklaren gelassen zu sein, dieser sanften Irreführung aufzusitzen, dem Glauben, der Hoffnung, um die wenigen Tage, manchmal nur 107 Stunden, vielleicht Monate des Glücks auf Erden ohne Sorge leben zu können, denn in jedem einzelnen Augenblick ist sowohl die Endlichkeit als auch die Unendlichkeit enthalten, sodass Augenblick & Ewigkeit im ersten & letzten wohl ein- & dasselbe, mehr noch, einander gleichwertig sind. *** V Die Reise von Rahel & Alexander + Die Trauer des Rabbiners Im Februar des Jahres 1934, ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung in Berlin, ging also ein unverheiratetes schwedisches Paar auf seine erste, einzige & letzte gemeinsame Reise. Sie hatten sich vorgenommen, über Deutschland nach Italien zu reisen, keinesfalls auszusteigen oder irgendwo Zwischenstation zu machen, nicht bevor sie die Alpen überquert hatten. Beide sehnten sich wie alle Nordländer nach der Wärme des Südens, trugen eine beinah fertige Vorstellung der berühmten antiken Bauwerke in sich, Bilder von romantischen Landschaften, verträumten Buchten, zypressenbestandenen Friedhöfen, einsamen Inseln mit Hirten & Schafen, Bilder aus den vergangenen Jahrhunderten, Bilder, wie man sie eben aus Büchern oder von einzelnen Gemälden kannte. In Wahrheit aber verreisten sie auch & vorallem, um miteinander endlich, endlich und vollkommen allein zu sein, ohne die ständige Furcht, entdeckt, gesehen, verraten zu werden. Ach, einmal nur die großen Museen besuchen, Italien sehen, das Ende von Rahels Mädchenzeit, ihre Freiheit feiern, die heimliche Zeit der letzten Jahre hinter sich lassen, von der Zukunft träumen, nein, sie entwerfen, einander genießen an einem anderen Ort, in 108 ein neues, diesmal wirklich gemeinsames Leben überzutreten, diesen letzten Schritt vorbereiten, bevor, ja, bevor der Ernst des Erwachsenseins für Rahel beginnen wird, bevor, wer weiß, was geschieht. Wie oft hatten sie es durchgesprochen, wieder & wieder von vorne angefangen, waren mittendrin eingeschlafen während im Kamin das Feuer knisterte & verlosch, sie zu frieren begannen, die Decken enger um sich legten und der Süden in die Ferne rückte. Ausgedacht in langen, dunklen Winterstunden, in der starren Kälte des Nordens, wo die Sehnsucht nach dem Süden ihren Ursprung hat, besonders für Rahel, die Goethes Italienreise beinah auswendig konnte, und wie oft hatte sie Alexander jenes Gedicht vorgesagt, das von Orangen & Zitronen handelt, sodass sie es bald gemeinsam im Original aufsagten: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht Kennst du es wohl? Dahin! Dahin Möcht‘ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! Strophe für Strophe wie ein Gebet gaben sie es wieder, mal laut, mal flüsternd, wenn draußen die Schneeflocken fielen, sich die Stille über alles gelegt hatte, wenn es stürmte, alles gefroren war, die Fenster im glitzernden Weiß der dichten Eisblumen leuchteten. Strophe für Strophe, obwohl sie ihr Land doch liebten wie es war, sogar den Winter ab & zu, besonders aber den schwedischen Sommer, der so einzig, so lieblich war, viel kostbarer als der im Süden, wo es in der Vorstellung Skandinaviens immer schönes Wetter gab. Sie ahnten die tiefe Bedeutsamkeit dieser Reise, wollten einander gewiss sein, einander inne werden, ein Ereignis schaffen, das groß 109 genug war, um sie durch ihr Leben zu tragen mit allem, was an Schönem & Schwerem vor ihnen lag. Die junge Frau, die einen Doktortitel in der Tasche trug wie andere eine goldene Taschenuhr, war jetzt nichts anderes mehr als ein verliebtes Gör, das seinem Geliebtem aus der Hand fraß, an seinem Arm hing, ihn mit verdrehten Augen ansah und an nichts mehr dachte, an nichts anderes mehr denken musste, ja konnte, als mit ihm zu tanzen, zu spielen, zu schlafen, ihn zu herzen und zu küssen bei Tag & bei Nacht. Rahel, das jüdische Mädchen, das über Goethe geschrieben, ihn von ungewohnten Seiten beleuchtet hatte, die deutsche Sprache ebenso gut beherrschte wie die hebräische, doch ohne Alexander, ihren illegalen Geliebten, arm und nichts weiter als eine Art graues Fräulein war. Er aber, Alexander Sommerfeld, stolz auf sein Mädchen, aufgebläht wie ein Frosch in der Brunft, ermöglichte sich & ihr diese Reise, welche sie endlich fortführen sollte vom strengen Norden, der in beiderlei Hinsicht, der jüdischen wie der christlichen, ein solches Vorgehen nie & nimmer gutgeheißen hätte. In aller Heimlichkeit und in aller Herrlichkeit, die sie vor sich wähnten, bestiegen sie den Nachtzug, der sie in den Süden brachte. Zwar hatte Rahel ihren Vater schriftlich benachrichtigt, dass sie dann & dann reisen würde, der hatte sich, da er das Datum der Abreise las, quasi augenblicklich auf den Weg nach Stockholm begeben, um sie zu verabschieden, mehr, um sie zurückzuhalten, davon abzubringen, ins, für Juden gefährliche Deutschland zu reisen, wie sie es ja ihren besorgten Eltern mitgeteilt hatte. Alexander dürfte die List der Vorverlegung des Abreisetermins ausgeheckt haben, sodass der Rabbiner, so früh er auch kam, zu spät am Bahnsteig stand. Die beiden waren bereits außer Landes, als Rabbi Goldmann mit nassen Augen, am ganzen Körper zitternd, vom ersten 110 Bahnbeamten des Morgens erfuhr, dass der Zug nach Deutschland, nach Deutschland! bereits vor Stunden abgefahren war. Rahel machte sich fürchterliche Gewissensbisse darüber, sie ahnte, nein, wusste, dass ihr guter alter Vater, ihr lieber, lieber Vater, der sein Möglichstes für sie tat, nun diese Demütigung von ihr empfangen musste, während sie schon weit fort war, vor ihm geflohen mit ihrem Geliebten, mit dem sie bereits unzählige Male geschlafen hatte, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Und tatsächlich stand der alte Herr Goldmann fassungslos und völlig verloren am Bahnsteig, nachdem er von einem arglosen Angestellten die lapidare Auskunft über die Abfahrt des Fernzuges erhalten hatte. Seine Tochter Rahel hatte es gewagt, ohne Rücksicht auf ihren Vater, in ein judenfeindliches Land zu reisen. Auch war von keinem Zeitpunkt, zu dem sie zurückkehren würde, die Rede gewesen. Herr Goldmann wurde in diesen Momenten, diesen Stunden, in seinen & anderen Augen ein gebrochener, ein betrogener Mann. Sein Rahele, für das er sein Herzblut gegeben hätte, war nicht mehr da, und wenn sie ihm auch weis gemacht hatte, nur ihre Deutschkenntnisse vervollkommnen zu wollen, nichts weiter, so wusste er mit einem Schlag doch, dass mehr dahinter steckte. Es hatte sich alles geändert, wie er meinte, von einer Minute auf die andere, doch der Weg, der gegangen werden musste, hatte längst begonnen gehabt, war schon unendlich & unvorstellbar lange beschlossen gewesen, doch erst jetzt wurde er für ihn sichtbar. Gewiss, er war in den letzten Jahren, wie übrigens alle Jahre davor, von seinen Pflichten & Sorgen aufgezehrt worden, den Anforderungen & Erwartungen, die er in sich gesetzt fühlte; seine Familie, seine Frau, seine Studien, schließlich sein Verhältnis zu Gott Selbst, alles lastete auf ihm, auf seinem Herzen, er sorgte sich über die Maßen, und doch trug die Bürden des Alltags Ingrid 111 allein. Es war ihm zu viel geworden wie er jetzt sah, er hatte es nicht geschafft, seine Kinder nicht aus den Augen zu verlieren. Bestimmt hatte es etwas mit diesem Sommerfeld zu tun, der ihr alle möglichen Flöhe ins Ohr setzte, sie verwöhnte & verdarb mit seinem Geld, dem Luxus, den er ihr bieten konnte, womit er sie für sich einnahm, ja ihr den Kopf verdrehte. Rahel, in aller Bescheidenheit aufgewachsen, nicht frei von der Sehnsucht nach besseren Dingen, wie sie wohl heutzutage in den Großstädten modern waren, sah zum ersten Mal ganz andere Menschen & Verhältnisse, ja, so muss es gewesen sein, was hätte er da noch tun können, was besser machen, er, ein Rabbiner, ein Mann des Buches, des Sinnierens, ein Mann aus der Provinz, es war ihm Rahel entglitten, während er andere beraten hatte, verheiratet, geschieden, bestraft. Er hatte nicht bedacht, dass das Studium an einer großen allgemeinen Universität Gefahren in sich barg, ihr dort vielleicht Kinder aus reichen Häusern begegnen würden, die selbstbewusster waren als Rahel, das Leben ganz anders sahen. Rahel war hübsch, also hatten er und seine Frau immer darauf geachtet, es sie möglichst nicht wahrnehmen zu lassen, damit sie nicht anfinge, ihre Schönheit einzusetzen & oberflächlich zu werden. Doch sie hatte wohl ihre alternden Eltern, noch dazu ein armes Rabbinerehepaar, so empfand sogar er in dieser Stunde auf dem leeren kalten Bahnsteig, nicht mehr nötig. Sie schwebte in anderen Sphären mit einem Mann, von dem sie nicht mehr lassen würde, da durfte man sicher sein. Wenn sie auch nur ein Weniges in dieser Hinsicht von ihm geerbt hatte, reichte es aus, um davon erfolgreichen Gebrauch zu machen. Auch er hatte einst alle Gesetze überschritten, sich eine Pastorentochter eingebildet, war drauf & dran gewesen, sein Elternhaus in Unfrieden zu verlassen, mit ihr durchzubrennen, 112 sich als einfacher Lehrer durchzuschlagen, er wäre bereit gewesen, jede Arbeit zu tun, wenn sie ihm nur die Pastorentochter sicherte, ja es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre noch zu den Gojim übergetreten. Auf keinen Fall hätte er von ihr abgelassen, lieber das Rabbineramt aufgegeben, als dieses Mädchen, das ihm Tag & Nacht nicht mehr aus den Gedanken ging. Gott sei Dank war sein Vater rechtzeitig gestorben und musste so nicht mehr erleben, was ihn ohnehin das Leben gekostet hätte. Ein Skandal wäre es geworden, hätte ihn irgendjemand verraten, aber den Christen war es egal und die anderen wussten es nicht, wären nie von selbst auf eine solche Idee gekommen. Doch war er nur noch auf der Hut gewesen, oft & oft des Nachts wach gelegen, sich schlafend stellend, er hatte dafür gebüßt, weiß Gott, und ein zweites Mal hätte er es nicht getan, das dachte er viel später darüber. Dieser innere Druck brachte manches grobe Wort gegenüber seiner doch so lieben Frau Ingrid, über seine Lippen, denn über die Ohren verliebt zu sein in jungen Jahren ist etwas ganz anderes, als ein Leben mit Schuldgefühlen zu verbringen. Je älter er wurde, umso mehr schien es ihn zu beschäftigen, es war einfach nicht so, dass es jemals aufgehört hätte, immer wieder kamen düstere Gedanken über ihn, immer wieder betrachtete er Ingrid, als wäre es ihre Schuld, warf ihr insgeheim vor, eben doch eine von den Gojim zu sein, er schämte sich selber zutiefst für diese Anschauung, doch sie gewann Macht über ihn wieder & wieder, je öfter und länger er darüber sinnierte, denn er war ein melancholischer Mensch, ein Denker & Grübler, wollte gesetzestreu leben, Buchstaben für Buchstaben erfüllen. Bei den Juden wird das Jüdischsein durch die Mutter vererbt, und er, der Rabbiner unterbrach durch die Heirat mit einer Christin diese Linie, sodass seine Kinder zwar Rabbinerkinder waren, gleichzeitig aber nicht einmal richtige Juden. Als er auf Freiersfüßen wandelte, hatte es ihn nicht gestört, doch später reute es ihn, später wurde alles anders, später kam die Ehe, 113 die Vorbild sein musste für andere und doch zuinnerst einen Makel aufwies, von dem nur er & Ingrid wussten. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, niemand wusste dies besser als er, keine geborene Jüdin hätte ihm eine liebevollere Frau sein können, keine, aber daran lag es nicht, denn es ist wohl schon immer so gewesen: wenn eine die Rechte ist, ist alles egal, doch wo nicht, ist alles vergeblich. Ingrid in ihrer Klugheit wusste, worum es ihm ging, doch auch für sie war die Ehe unauflöslich, letztlich ihre Pflicht auf Erden, und sie trug dieses Los, von dem sie gehoffte hatte, es würde erträglich sein, es würde sie nicht zu weit voneinander entfernen, es würde sie immer noch die Liebenden von einst bleiben lassen. Wie oft hatte sie geweint, allein, vor ihm sogar, war niedergekniet, hatte den Saum seines Mantels geküsst, ihn gebeten, nicht so hart gegen sich und damit gegen sie zu sein! Um der Kinder willen, der geborenen wie der ungeborenen, um ihrer Liebe willen, die so groß war wie jede andere Liebe und die, weiß Gott, diesen Namen verdiente! Es war in der Gemeinde öfters zu konfessionellen oder ähnlich komplizierten Fragen gekommen, über die er als Priester, als Richter zu entscheiden hatte, und er tat es äußerst streng wie um sein eigenes Vergehen zu vertuschen. Auch dies stieß ihm jetzt säuerlich auf. Ja, Gott straft mich. Ja, Er verfolgt mich. Gott, der Herr, vergisst nichts, niemals. Jetzt rächt Er sich. Seine und meine Stunde ist gekommen. Er will, dass ich vor Ihm im Staub liege. Er dachte zurück wie er um Ingrid geworben, sie heimlich getroffen hatte. Wie froh er war, weil sie so sanft & fügsam war, nicht so hart & streng wie er, erzogen. Wie sie ihn beruhigte, ja 114 sogar verstand, dass sie vielleicht nie zusammen bleiben dürften. Doch ihre Mutter, die eine verständnisvolle Pastorengattin war, hatte ihnen geholfen, sie nicht verraten. Sogar seine Schwiegermutter war emanzipierter als seine eigene Mutter gewesen, die zeitlebens schwer unter der Fuchtel ihres Mannes stand, nicht mucksen & fragen durfte, nicht zögern, jemals. Es war eine rituelle, tragische Ehe gewesen, in der alles nach Recht & Gesetz laufen musste, wo Gefühle & Stimmungen nicht ohne weiteres existierten, die Ehefrau mit den komplizierten & fordernden Regeln eines rabbinischen Haushaltes eingedeckt & zugeschüttet war, wo jeder Handgriff, jedes Wort beinah vorgeschrieben waren, man schnell Gefahr lief, etwas Unrechtes zu tun. Nebenbei hatte seine arme Mutter einen kleinen Laden betrieben, damit sie wenigstens irgendwie überlebten, denn der Rabbi kümmerte sich nur um die Gottesgebote und deren Einhaltung, saß Tag & Nacht über der Thora, wippte & murmelte, betete, fastete, sprach Recht, traute Paare, zelebrierte akribisch alle jüdischen Feste, legte sich zu seiner Frau ins Bett, wo wieder Gottes Gebot zu erfüllen war. Alles, einfach alles, war eingebunden in ein streng reglementiertes und gleichzeitig öffentliches Leben. Und seine Frau, wenn sie alles ertrug, sich ihrem Gatten & Herrn unterwarf, durfte schließlich dereinst im Himmel sein Betschemel sein, wenn es etwas Schöneres für ein Weib geben konnte, lag es außerhalb seiner, ja eines jeden Rabbiners Vorstellung. Seit Menschengedenken, wie es so schön hieß, waren sie Rabbiner gewesen, die Goldmanns, freilich nicht gerechnet die allerfrüheste und am weitesten entfernte Zeit, nie hatten sie es anders gehalten, soviel man wusste, und wie es aussah, sollte es in alle Ewigkeit so bleiben. Dagegen war er, Rahels Vater, ein weltoffener, beinah toleranter Mensch, so sah er sich, womit er nicht einmal unrecht hatte, denn 115 gemessen an seinen rabbinischen Vorfahren war er der reinste Playboy, der nicht einmal genug religiösen Verstand besaß, wenigstens eine Jüdin zu heiraten. Als wären Gefühle zwischen Mann & Frau in aller Vergangenheit je von Bedeutung gewesen! Bei ihm aber schon. Er fühlte sich modern, und trotzdem trug er die Tradition seiner Mütter & Väter weiter, jedenfalls hatte er das gedacht. Es fiel ihm später nicht mehr ein, dass er sogar die Rabbinerschaft für Ingrid hatte aufgeben wollen, fast eitel damit gespielt hatte, sich als Lehrer für Alte Sprachen zu verdingen, sich mit seiner Braut auf jede erdenklich kümmerliche Art durchzuschlagen. Große verliebte Theorien damals, doch dann, als es soweit war, ging er den bequemeren, ihm genehmeren Weg. Jetzt stand er auf dem eiskalten, zugigen Perron und sinnierte & sinnierte, die Erinnerungen stürzten auf ihn ein, in seinem Kopf fand ein Gewitter statt, herrschte neben Klarheit völlige Unklarheit, denn er selbst, das wusste er wenigstens mit Gewissheit, hatte es bereits zu weit getrieben, so war es nur logisch gewesen, dass die nächste Generation noch laxer sein würde. Wie hatte er Rahel bloß zum Studieren schicken können? Tatsächlich war er nicht im Geringsten normal! Zuerst sich in ihre Mutter verlieben!, welche einst das liebreizendste Mädchen der ganzen Gegend war, an das sich niemand herantraute, weil sie des Pastors Tochter war, Ingrid, die bestimmt wieder einmal längst mehr wusste als er, ihn hinters Licht geführt hatte, Rahel unterstützte wie einst sie durch ihre Mutter unterstützt worden war, ihn auf dieselbe Weise quasi ins Leere laufen ließ, im Dunkeln sitzen, hilflos auf dem Bahnsteig stehen. Das Weibervolk, es war nicht zu bändigen, und er besaß drei Stück davon. Wer weiß, was aus Marie wird, wenn es so weitergeht, auf jeden Fall würde es ihm kein zweites oder drittes Mal passieren, auf sie will er ganz anders aufpassen, die geht ihm nicht studieren nach Stockholm oder Uppsala oder wohin auch immer, zu was muss ein 116 Mädchen überhaupt studieren, so weit kommt’s noch, man sieht ja, wohin das führt! Ins Ausland gefahren! So, so! Nach Deutschland gar! Wo sie neuerdings wieder die Juden verfolgen, denn nichts anderes fällt ihnen ein, dieser Hitler ist der reinste Antisemit, wie es aussieht. Wozu hat sie überhaupt und ausgerechnet Deutsch studieren müssen? Wie konnte er je so blind gewesen sein? Ja, weil sein Kopf voller wichtiger & nützlicher Gedanken war, von denen niemand eine Ahnung besaß, er eine immense Verantwortung in der Gemeinde trug, als Rabbiner in einer ganz anderen Welt lebte und Ingrid ihn nicht wirklich unterstützte, ja, hintergangen und nicht entlastet hatte. Ach, er war wirklich unwissend & taub gewesen, viel zu vernarrt in dieses, sein kluges Mädchen, das es ihm nicht dankt, sondern ihn mit einem Mann, diesem, diesem Sommerfeld, diesem Händler, diesem Dandy, diesem Flaneur…, betrügt. Er war bereits zu alt gewesen, um Kinder zu erziehen, und Ingrid viel zu gut, zu nachgiebig, beide hatten sie das Mädel nicht an den Haaren gezogen oder den Ohren, zu wenig beten geheißen, war eben doch eine Christin von Geburt, seine Ingrid, die es mit den religiösen Gesetzen nicht so genau nahm, ihre sentimentalen Muttergefühle ins Kraut schießen ließ, ohne zu bedenken, auf welch‘ gefährliches Terrain sie sich begab. Ach, nichts war jemals wie es sein hätte sollen! Er hatte Ingrid vertraut, ihr alles überantwortet, dabei aber vergessen, dass sie aus einer anderen Tradition stammte. Ach, er hatte wohl zu viel in seinem Leben falsch gemacht, Gott der Gerechte, strafte ihn jetzt, ließ ihn selber sehen, was daraus wird, wenn ein Mensch sich das Unmögliche einbildet und der Allmächtige es ihm gewährt. Als wäre er allein in der Synagoge, als hätte ihn ein Schicksalsschlag wie Hiob getroffen, fällt er voller Selbstmitleid auf die Knie, beginnt zu schluchzen, zu jammern, zu hadern. Jemand zupft den Rabbiner am Ärmel. Es ist der Stationsvorstand. 117 Erlauben Sie gnädiger Herr, es kommt heute kein Zug mehr, der nächste fährt morgen in der Früh, möchten Sie sich nicht eine Bleibe suchen oder wenigstens in den Warteraum gehen? Der Mann hat recht. Es ist eine barmherzige Frage, eigentlich gar keine Frage, doch Rabbi Goldmann ist dankbar dafür, das Mitgefühl eines Fremden tut ihm gut. Es gibt gute Menschen, denkt er, auch außerhalb des Judentums. Eine Erfahrung, die er immer wieder machen musste, aus der er jedes Mal lernte, weniger stolz zu sein. Dieser Christ, dieser Goj hilft ihm auf, trägt ihm gar sein Köfferchen nach, sein armseliges Gepäck, ohne ihn zu verurteilen, führt ihn in den geheizten Wartesaal, wo niemand ist, nur eine einsame Birne unter einem viel zu dunklen Schirm brennt. In der Ecke, sagt er, sind einige Polster & Decken, darf ich Ihnen etwas davon bringen? Der Rabbiner ist beschämt, das bemerkt der andere und meint: Sie müssen sich nicht sorgen, es übernachten beinah jede Nacht hier Menschen, honorige Personen, Leute, die den Zug versäumt haben oder auswandern, auch Obdachlose, glauben Sie mir, ich habe schon viele Reisende gesehen, und jeder war dankbar für die Wärme, die Bänke, die man zusammenschieben kann, sehen Sie, so! Derweil er sprach, richtete ihm der Bahnvorsteher mit wenigen geübten Handgriffen ein Nachtlager her, ging hinaus, kam mit einer Kanne voll heißem Tee, einem Wecken Brot und einem Stück Käse zurück. Der Rabbiner wehrte sich innerlich wie äußerlich gegen die Hilfsbereitschaft des Mannes, es war ihm furchtbar peinlich, denn ohne seine Frau war er hilflos in praktischen Angelegenheiten. Sein Gehirn arbeitete wie verrückt, suchte eine Antwort auf die 118 Einfachheit & Selbstverständlichkeit, mit der ihn der Fremde annahm, ja, ihm zu Diensten war. Aber sehen Sie denn nicht, ich bin ein Jude, ein Rabbiner sogar! Das sehe ich wohl, wissen Sie, hier gehen alle möglichen Menschen ein & aus, fast alle sind Reisende, arme & reiche, gebildete & ungebildete, Schweden, Ausländer, und wie ich sehe, auch Juden. Mir macht das nichts aus, ich bin schon über dreißig Jahre hier, wer bin ich schließlich, dass ich jemandem nicht helfe mit den bescheidenen Mitteln, die unsereinem, einem Christenmenschen & Bahnwärter, zur Verfügung stehen. Meine liebe Frau gibt mir immer etwas mehr mit, damit ich aushelfen kann. Sie ist die Tochter eines Pastors aus dem Norden, müssen Sie wissen, und ich hatte großes Glück, sie zu bekommen. Sie heißt Ingrid, sie ist mein ein & alles. Ohne sie wäre ich nichts, ein Mann braucht eine Frau wie sie, dann ist er nicht verloren, sodass er weiß, was er zu tun & zu lassen hat und wohin er gehört. Ich bin ein einfacher Mensch, bestimmt nicht übermäßig gescheit, aber eines weiß ich ganz genau, niemand ist glücklicher als ich, auch nicht, wenn er noch so viel weiß. Haben Sie Kinder?, fragte der Rabbiner. Ja, zwei Töchter. Sie sind schon erwachsen. Eine ist mit einem Musiker verheiratet, hier in Stockholm, er unterrichtet am königlichen Gymnasium, stellen Sie sich das vor! Die Kleinere ist Krankenschwester und wird auch bald heiraten. Meine Frau bereitet gerade alles vor. Außerdem bekommen wir bald das erste Enkelkind. Ingrid ist außer sich, nie hatte sie mehr zu tun als jetzt, nicht einmal, als sie noch selber unsere Kinder bekam. Er lachte über seinen eigenen Witz. 119 Das einzige, was wir haben, ist die Liebe. Wir müssen sorgsam mit ihr umgehen, damit wir ihrer würdig werden und dem Herrgott Dankbarkeit erweisen. Solche Worte hörte er von einem zufälligen Bahnwärter, einem Christen, der Rabbiner geriet ins Staunen, wunderte sich über so viel Weisheit, die klare Darstellung. Hatte er nicht allzu sehr in seiner Versponnenheit gelebt, seinen Gedanken, seiner Ingrid und Rahel unrecht getan, auch dem Mann, mit dem sie nun wahrscheinlich davon gereist war? Wie streng war er immer mit seiner Familie gewesen, mit Ingrid vor allem, die doch alles für ihn verlassen und auf sich genommen hatte, was bestimmt nicht leicht für sie gewesen war, die alles erst lernen musste, was er selbstverständlich von ihr verlangte, die Mädchen vor ihm schützte und auf ihre Weise versuchte, ihnen wenigstens eine bescheidene, vor ihm beinah verborgene Kindheit zu geben. Aus all den Jahren, ja Jahrzehnten konnte er sich nur auf seine Zwiegespräche mit Seinem Gott besinnen, den er tatsächlich als etwas wie seinen persönlichen Besitz oder Vorgesetzten betrachtete. Die Probleme & Fragen der theologischen Welt erörterte er in aller Einsamkeit, ließ niemanden zu sich vor, so als hätte er im Sprechzimmer gerade hohen Besuch, duldete keine Störung mit unwichtigen Alltäglichkeiten & Weibersachen, kein Kindergeschrei. Vielleicht hätte ihn Ingrid öfters mal gebraucht, hatte aber nicht gewagt, bei ihm anzuklopfen, während er selbst über ihr Leben & Leiden ohne groß nachzudenken, entschieden hatte. Auf seine Weise liebte er sie innig, das musste sie doch gewusst haben. Doch nie kümmerte er sich darum, wie es ihr wirklich ging, sie war in seinem rabbinischen Gebäude eine Figur, derer er sich bediente, um seine Pflichten zu erfüllen, seinen Spaß als Mann zu haben, mit ihr Kinder zu zeugen, die für ihn, wenigstens, als sie 120 noch klein waren, keine besondere Bedeutung hatten, zumal es sich in seinem Fall um Mädchen handelte. Wie oft hatte er sich nichts anderes gefragt nach all den Fehl- & Totgeburten, als dies: ob Gott ihn persönlich strafen wolle, und natürlich immer denselben einfältigen Grund gefunden, ja, er hatte sich gegen Ihn vergangen, der ein gestrenger, ein unbarmherziger Gott sein konnte, auch gegen die Söhne Israels, so steht es geschrieben. Dieser Bahnhofswärter lehrt ihn also in wenigen Worten, was eine Familie ist, dass sie Glück bedeutet und nicht nur Pflicht & Last, und als wäre das nicht genug, hieß seine Frau auch noch Ingrid, stammte ebenso aus einem Pastorenhaus, und sie hatten zwei Töchter. Wie er. Wie er & Ingrid. Hätte nicht viel gefehlt und sie hätten auch noch Rahel & Marie geheißen! Danach wollte er lieber nicht fragen. Und so wie der Mann daherredete, war wohl auch an ihm ein Geistlicher verloren gegangen, auf jeden Fall hielt dieser, doch wahrscheinlich relativ ungebildete, wenn auch lebensweise Mann, ihm, dem hochgebildeten Rabbiner einen Spiegel vor! So weit ist es gekommen. In was für einer Zeit lebte man! Was für ein Gleichklang, was für eine Übereinstimmung, direkt unheimlich kam ihm das vor. Beinah, als hätte Gott Selbst ihn heute herbestellt, um ihm eine Lehre zu erteilen. Am Ende wusste er nicht mehr, ob der andere das alles überhaupt gesagt hatte oder gar Gott der Herr mit ihm in Gestalt eines Dieners redete. Was für eine Stunde der Demütigung, gerade, als er so angreifbar ist, gehetzt & verwundet auf diesem Bahnsteig landen muss! Du sollst deinen Freund nicht besuchen in der Stunde seiner Erniedrigung, hieß es, doch der andere hatte ihn nicht erniedrigt, sondern ganz einfach über seine Anschauung gesprochen, ihm von seinem Glück erzählt, welches dieser, im Gegensatz zu ihm, zu schätzen wusste. Er selbst fühlte sich ertappt & belehrt, dies war die Erniedrigung. 121 Als hätte er es schon immer gewusst und nur nicht gesehen, nicht wahrhaben wollen, was doch so einfach, so natürlich war! Aber er selbst kam aus diesen harten Verhältnissen, hatte nichts als Verantwortung & Angst gekannt, die endlosen Geschichten von Verfolgung & Vertreibung, von Verlust & Sorge. Zum ersten Mal erzählte er einem Fremden, einem Christen, seine Lebensgeschichte und dass Rahel, seine Tochter, sein Rahele, ihn, nun wahrscheinlich mit einem Mann verlassen hatte. Es tat ihm gut zu reden, das erkannte der andere, und am Ende dieser seltsamen Nacht wusste er, dass er unrecht gehabt hatte, Rahel auf keine andere Weise von ihm losgekommen wäre, er sie nie & nimmer hätte gehen lassen, sie sich nur genommen hatte, was ihr zustand, dass eine Frau einem Mann zu folgen hat, wie es in der Bibel steht, in der Thora, dass darin nichts Schlechtes und kein Verrat liegt. Rahel war jetzt ein Fräulein, eine junge Frau, das hatte er vollkommen übersehen & verdrängt, sie als sein Besitztum, sein Gottesgeschenk betrachtet, in Wahrheit hatte er Angst davor, sie zu verlieren, sie hergeben zu müssen, was er doch immer gewusst hatte oder wissen hätte können. .... darum müssen die Kinder Vater & Mutter verlassen ..... So lange hatte er sich gegen diese Einsicht, diesen Tag der Erkenntnis gewehrt, und nun war mit aller Macht unmissverständlich alles entschieden worden, ohne ihn. Langsam hörte er auf, Ingrid innerlich zu grollen, sie anzuklagen, zurechtzuweisen, wusste auf einmal, dass sie sogar weiser war als er. *** VI Ingrid & Marie Mutter & Tochter 122 Als er in den nächsten Tagen nach Hause kam, war er schon ein anderer. Während Ingrid in Furcht & Sorge wartete, den Zorn ihres Gatten fürchtete, ihn als ganzes zurücksehnte, fortwünschte, hin & her gerissen war, mit Marie immer & immer wieder die möglichen Szenarien besprach, mit ihr gemeinsam alle Eventualitäten erwog, wusste sie doch in Wirklichkeit weder ein noch aus. Obwohl Marie noch viel zu klein war, begriff sie, dass sie nichts Falsches sagen durfte, weil es um Rahels Zukunft ging und wohl auch um die Ehe ihrer Eltern. Marie war kaum zehn Jahre alt, sah jedoch aus wie höchstens sieben, ein folgsames Mädchen wie sie es einst bei Rahel gesehen hatte. Sie half ihrer Mutter, wo sie konnte, diente ihrem Vater aber mit derselben Ergebenheit, war äußerst diszipliniert & ernst, glaubte nun, nach Rahels Weggang, alles allein bewältigen zu müssen, ihre beiden alten Eltern nicht enttäuschen zu dürfen, denn auch sie litt unter seiner theologischen Engstirnigkeit, seiner religiösen Diktatur, die er mitunter ausübte wie ein antiker Tyrann. Wenn andere Kinder, die so spät in eine Familie hineingeboren wurden, verzärtelt & verwöhnt waren, galt dies nicht für sie. Sie ahnte bereits, welche Verantwortung ihr damit zukam. Wie sie von Rahel wusste, waren ihrer Geburt zahlreiche Fehlgeburten vorangegangen, es hatte schon einige vor Rahel gegeben, aber die meisten vor Marie. Marie war zwar zart & schmächtig, doch wie zum Ausgleich, stark & klug. Um fast zwei Monate zu früh zur Welt gekommen, hatte ihre Mutter sie Tag & Nacht tröpfchenweise gefüttert und auf diese mühsame Weise durchgebracht. Daher nannte Ingrid sie oft „mein kleines Mäuslein“, mein Vogerl“, „mein Pippihenderl“. Niemand gab diesem dürren blassen Baby eine Chance, doch seine Mutter hätte den Verstand verloren, wäre es gestorben, hing 123 so sehr an diesem letzten, winzigen Mädchen, denn sie würde kein weiteres mehr bekommen, was das Kind wohl gespürt haben musste, sodass es verstand und entgegen aller Prognosen, aller Zweifel, einfach überlebte. Weiteratmete, Tropfen für Tropfen trank, schluckte, leckte, wieder & wieder die Äuglein auftat, immer öfter lächelte, und wenn es auch erst mit einem Jahr recht & schlecht sitzen konnte, so holte es doch später alles in Eile nach. Ingrid war bei der Geburt neunundvierzig Jahre alt, der Vater neunundsechzig. Marie hörte von klein auf die komplizierten theologischen Dialoge, unverständliche Texte, erkannte aber auch den Druck, unter welchem das Haus stand, die Spannungen, die es in der Gemeinde gab, sah wie ihr Vater Recht sprach, die Rituale vollzog, las & betete, studierte & lehrte, die Mutter korrigierte & instruierte. Von Rahel wusste sie eines Tages sogar, dass ihre Mutter keine Jüdin war, also auch sie beide nicht als jüdisch galten, weil der Vater ein altes Gesetz gebrochen hatte und dies als gewöhnlicher Jude nicht nur, sondern als Rabbiner! Unter diesem dunklen Geheimnis litt der Haushalt, daran trug der Vater schwer, daran durfte nicht gerührt werden. Die letzten langen Jahre aber seit Rahel fort war, war sie immer allein mit allem, konnte sie nichts mehr fragen, sich nicht mehr abends zu ihr ins Bett kuscheln, mit ihr flüstern & tratschen, lachen & Spaß haben. Kein nächtliches unter die Bettdecke Kriechen mehr, keine Gespenstergeschichten, keine Kindereien, keine Scherze, keine Albernheiten, nur das Warten auf Rahels Briefe, die Freude über die kleinen Geschenke, die sie ihr manchmal beilegte, eine Tafel Schokolade, ein Buch, ein Seidenband für die Haare, eine glitzernde Spange. Obwohl ihre Mutter sich redlich bemühte, sie als Kind zu behandeln, war sie doch im Rabbinerhaushalt dermaßen eingespannt, dass sie meistens selber froh darüber war, wenn Marie sich allein beschäftigte, in der Schule brav lernte, überall 124 mithalf. Zum reinen & praktischen Überleben betrieb Ingrid einen kleinen, selbstverständlich, koscheren Gemischtwarenladen, gerade wie in alten Zeiten die anderen Rabbinerfrauen, plagte sich mit den Mazzen, den verschiedenen Vorschriften für die Mahlzeiten zu den jüdischen Festen, der Trennung von Milchigem & Fleischigem, den Menüs zu Pessach, beim Laubhüttenfest, zu Rosch Haschana, zu diesem & jenem, wobei sie von ihrem Mann penibel kontrolliert wurde. Doch das wirkliche Geschäft machte sie ohnehin mit etwas, wovon er, Gott sei Dank, einmal nichts verstand, mit Handarbeitsmaterial, mit Fäden & Zwirnen, Knöpfen & Borten. Irgendwann war ihr diese Idee gekommen, ein fahrender Händler brachte sie darauf, und wenn es auch nicht über die Maßen viel war, so reichte es doch als kleines Zubrot, womit sie ab & zu der Kleinen etwas zustecken konnte. Aus reiner Barmherzigkeit kauften sogar die Christen bei ihr ein. Diese wussten längst, dass sie sonst nicht überleben konnten, jetzt, wo die ältere Tochter studieren gegangen war. So viele Juden gab es nun auch wieder nicht in der Gegend. Sie war die Tochter eines Pastors, das wog für die Christen mehr als alles andere. Ingrid wusste natürlich, wie sehr sie von ihrer Herkunft profitierte. Dies alles begriff der Rabbiner nicht. Von Anfang an, als Rahel nach Stockholm gegangen war, schrieb Marie ihr Brief um Brief, erzählte darin von daheim, aber auch, was sie außerhalb des strengen Hauses erlebte, legte gepresste Blumen & Blätter bei, genau beschriftet wie sie hießen, wo sie sie gepflückt hatte, die Briefe gaben ihr Gelegenheit, mit Rahel in Kontakt zu bleiben, sich ein wenig auszusprechen, sich ihr nahe zu fühlen. Rahel hatte Verständnis, liebte sie doch ihre kleine Schwester über alles, wusste, dass sie selbst die einzige Person war, mit der Marie reden konnte. Das Zurückbleiben & Zurücklassen der Kleinen hatte Rahel großes Kopfzerbrechen bereitet, mehr, als unter dem Verlassen des 125 Elternhauses litt sie an ihrem Heimweh nach Marie. Auch sie war lange mit ihren Eltern allein gewesen, wusste um die Anforderungen, die an sie, als Kinder, gestellt wurden. Nie durften sie ohne weiteres mit anderen spielen, alles musste auf eine bestimmte Art getan werden, hatte seinen Ort und seine Zeit. Der Vater wäre für seine Töchter durchs Feuer gegangen, aber er war im Alltag eine Autorität, die niemals in Frage gestellt werden durfte und niemals Gefühle zeigte. Es gab keinen Spaß mit ihm, undenkbar, dass er wie andere Väter mit den Kindern einen Ausflug oder wenigstens einen Spaziergang unternommen hätte oder mit ihnen auf einen Jahrmarkt gegangen wäre. Ihre, hoffnungslos mit dem Rabbiner und seinem Amt, dem aufwändigen Haushalt beschäftigte und oft überforderte Mutter, tat ihr Bestes, um dem Abhilfe zu schaffen, doch bald lernten sie, dass man warten musste, bis sie eine freie Stunde fand, bis sie aus der Pflicht entlassen war. Wenn Ingrid auch alles auf sich nahm, die Regeln & Gesetze bereits erfüllte, als wäre sie selbst in einem jüdischen Haus aufgewachsen, Demut & Gehorsam hatte sie ja zur Genüge von der eigenen Mutter mitbekommen, Tugenden, die auch in einem Pastorenhaushalt die oberste Priorität darstellten, wenn sie also tat, was sie konnte, die hebräischen Besonderheiten, die Vorschriften des Kalenders in- & auswendig kannte, was freilich längst nicht alles war, was es zu beachten gab, so blieb ihr doch kaum Zeit für die Kinder. Sie waren so arm, dass sie sich keine Magd leisten konnten, nur am Sabbat kam eine Christin, die fürs Einheizen & Essenaufwärmen nichts verlangte, eine hilfsbereite Frau aus dem benachbarten Dorf, die ihr ganzes Leben als Magd gedient hatte und wegen des Gebotes der Nächstenliebe, in Wahrheit wegen ihres guten Herzens, überall aushalf, wo jemand gebraucht wurde, auch im Rabbinerhaushalt, in den die Pastorentochter nun einmal 126 eingeheiratet hatte. Auch andere Christen hatten Erbarmen, vor allem mit den Rabbinerkindern, luden sie dann & wann sogar ein. Dort sahen Rahel & Marie wie man auch anders und leichter leben konnte, obwohl auch diese Leute bestimmt nicht reich waren. Schon möglich, dass sie Unkoscheres gegessen, womöglich Schweinefleisch in Gestalt von Speck & Würsten zu sich genommen hatten. Sie bedankten sich mit geflochtenen Blumenkränzen, selbst gebastelten Sternen, mit aus Papier gefalteten Tieren, stellten Schneemänner in die Gärten der Nachbarn, halfen beim Wassertragen & Babysitten, besuchten Kranke & Alte, gaben auf ihre Art und so wie es ihnen möglich war, die Freundlichkeiten in Dankbarkeit zurück. Es gab nichts, was sie selber herschenken hätten können, das beschämte sie, daher stellten sie sich in den Dienst derer, die gut zu ihnen waren. Am Tag, als Rahel das Elternhaus in Richtung Stockholm verließ, standen auch viele Christen am Bahnsteig und steckten ihr Geld zu, Briefpapier, Marken, sogar gestrickte Jacken, Strümpfe, Socken. Hausfrauen mit selbstgebackenen Kuchen waren dabei, mit Dörrobst & Marmeladen, die Frau des Schusters hielt eine Schachtel mit nagelneuen Schuhen hinauf ans Zugfenster, und so saß Rahel am Ende gut ausgestattet, inmitten von Paketen & Taschen, während der Zug schnaufend & ruckend den Bahnsteig verließ. Als sie sich später in ihrer winzigen Bude in Stockholm umsieht, die Geschenke auszupacken beginnt, der Aufmerksamkeiten ansichtig wird, weint sie hemmungslos, befreit sich einerseits von einer Fessel, wie ihr scheint, andererseits muss sie nun allein bestehen, ihr Studium bewältigen, mit dem Geld auskommen, sich weiter in Bescheidenheit üben, die sie bereits so über die Maßen 127 gut kennt. Wie viel hat sie doch zurückgelassen, wie sehr mussten die Leute sie bedauert & bemitleidet haben, denn was war es anderes als die hohe Tugend des Mitleids von Menschen, die oft nicht einmal ihrem mosaischen Glauben angehörten. Sie denkt an Marie, die sie kaum losgelassen, sie wieder & wieder beschworen hatte, bald zurückzukommen, nicht zu fahren, immer zu schreiben, alles völlig verzweifelt durcheinander gefordert hatte. Und so setzt sie sich hin und schreibt jenen kleinen ersten Brief an ihre Schwester, den diese ihr ganzes Leben wie einen Diamanten aufbewahren wird. In diesem Moment schien die Zukunft unendlich groß & weit vor ihr & ihnen zu liegen. In Wahrheit werden es für Rahel nur noch wenige Jahre sein. Jahrzehnte später, als Marie selbst Geld verdient, wird sie für dieses unscheinbare Papier ein goldenes Medaillon anfertigen lassen, es wie ein Gebet um den Hals tragen und nie mehr, auch wenn sie anderen Schmuck trägt, trennt sie sich von diesem Brief, hat ihn, sicher verwahrt, wohin sie auch geht, was sie auch tut, immer bei sich. Mein liebes Mariechen, sei nicht traurig, denn ich bin ja nicht aus der Welt, wisse, was auch geschieht, ich denke immer an dich, bin immer bei Dir, auch wenn mir einmal etwas zustoßen sollte. Ich will Dir viele Brieflein schreiben, große und tausend-tausend kleine wie dieses. Pass auf Vater & Mutter auf, bleib so lieb wie du bist, denn jetzt bist Du allein für die beiden verantwortlich, auch wenn es manchmal ist, als hätten sie uns in der Beschäftigung mit sich und ihrer Religion fast vergessen. Doch Du musst immer wissen, dass sie uns viel mehr lieben, als alles, was sie glauben. Ich komme zu den Weihnachtsferien (ein christliches Fest, aber Jesus Christus war ja auch Jude!) und bringe Dir ein schönes Geschenk! Sei umarmt in jedem 128 Augenblick heute und dein ganzes Leben. In Liebe, Deine Schwester Rahel. Die ersten Monate waren fürchterlich für beide. Sie hatten Heimweh nacheinander. Rahel musste sich mächtig konzentrieren, war vollauf in Anspruch genommen von ihrem Studium nicht nur, sondern von all dem Neuen, das auf sie einstürzte. Schließlich war sie schon froh, wenn sie überhaupt einmal in der Lage war, mit dem Studieren anzufangen, sich in der Bibliothek halbwegs auszukennen, die Hörsäle zu finden, die Vorlesungs-zeiten zu wissen, möglichst nichts zu vergessen. Als eines von zwei studierenden Mädchen hielt sie sich anfangs an diese Kollegin, die sich recht selbstbewusst mit den Burschen unterhielt, weder rot anlief noch strikt auf den Boden blickte, ohne weiteres die schlüpfrigen Bemerkungen ertrug, ja erwiderte und mit ihrer Schlagfertigkeit die schüchterne Rahel verblüffte. Diese Freundin war es auch, von der sie zum ersten Mal hörte, dass Mann & Frau gleichberechtigt sind, ohne wenn & aber, von Natur aus wie vor dem Gesetz, wie sie es ausdrückte. Was Rahel zu Hause und in der Gemeinde erfahren hatte, konnte getrost als glattes Gegenteil bezeichnet werden. Für sie hatte es Tag & Nacht geheißen, auf den Vater sei Rücksicht zu nehmen, er sei der Rabbi, der Gelehrte, der Gottesmann, der Herr im Haus und anderswo, die einzige Autorität. Ihre Mutter war ihm eine wirklich ergebene Dienerin, obwohl sie keine Jüdin war, sondern die Tochter eines Pastors, doch von ihr hatte sie erfahren, dass es in einem christlichen Haushalt dieser Art nicht viel anders war. Auch die Mutter ihrer Mutter, Rahels Großmutter mütterlicherseits also, hatte nichts anderes getan, als dem Pastor zu Diensten zu sein, ihm zu folgen, zu helfen, ein Leben lang an seiner Seite zu stehen, die ihr, von ihm und der Gemeinde 129 zugewiesene Rolle zu spielen, ohne je selbst Ansprüche zu stellen, eine eigene Meinung zu vertreten oder gar zu widersprechen. Pastoren & Rabbiner standen in der selbstverständlichen Entgegennahme der Opfer ihrer Ehefrauen einander in nichts nach. Sie meinten, ein Anrecht darauf zu haben, obwohl Ingrid Rahel ab & zu erklärt hatte, dass es auch für den Vater & Gatten schwer sein müsse, so viel von seiner Familie zu verlangen, keine Grenze zwischen Glauben & Privatleben, zwischen Synagoge & Haushalt zu ziehen, doch Rahel zweifelte an seiner Einsicht, denn die Mutter sagte es unter Tränen. Auch sah man sie manchmal verloren dasitzen, mitunter sogar christliche Gebete sprechen. Sie hatte für den Rabbiner nicht nur ihr Elternhaus verlassen, sondern auch ihre Religion. Ob & womit er ihr all dies Unausgesprochene, das nie Erwähnte, ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Demut vergolten hatte, wusste wohl niemand. Wahrscheinlich gehörte sie zu seinem Plan, und er hatte mit ihrem Eheversprechen ihr Leben als ganzes in Empfang genommen. Er kam nicht auf die Idee, eine Frau, eine Ehefrau obendrein, könne selbst Bedürfnisse, gar Wünsche haben, die über ihre Familie hinausgingen oder parallel dazu existierten. Gewiss, so dachte Rahel, müsse es am Anfang einmal anders gewesen sein. Immerhin dürften sie doch aus Liebe geheiratet haben. Wie oft schon hatten Rahel & Marie diese Frage diskutiert. Weißt du, warum Mama heute geweint hat? Vater war wieder hart, nehme ich an, er gibt ja kein einziges Mal nach. Er weiß ja alles besser. Manchmal denke ich, sein ganzer Verstand beschränkt sich auf das Buch. Er hat keine Ahnung von einer Frau. 130 Rahel vermutete aber noch ein anderes Problem, und so sagte sie eines Tages zu Marie: Sie hat ihm schließlich keinen Sohn geboren. Aber, sie kann doch nichts dafür! Auf der Stelle bereute es Rahel, diesen Gedanken der Kleinen gegenüber ausgesprochen zu haben, denn Marie fing darüber zu weinen an, erinnerte sich, wie ihre Mutter öfters gesagt hatte, das erste, das dritte, das vierte verloren gegangene Baby sei oder wäre, ja wäre, wäre ein Knäblein gewesen, und dieses winzige Wörtchen wäre sprach sie so besonders aus, fast, als lägen darin Glück & Unglück verborgen. Genau diese Betonung hatte Marie bisher nicht verstanden gehabt, doch nun, da Rahel auf einen Buben, einen Bruder, einen Sohn anspielte, ging ihr ein Licht auf. Ihre Mutter musste leiden, weil sie ihrem Gatten nur zwei Mädchen geschenkt hatte. Mit tränennassen Augen und ganz entgeistert, ja, zornig fragte sie also: Wie kann er so gemein sein? Er ist nicht gemein, Marie, er ist wie alle Männer. Sie brauchen uns Frauen zwar, aber die Macht wollen sie niemandem überlassen. Welche Macht? Marie, in Wahrheit geben wir Frauen das Leben weiter, ziehen die Kinder groß, wir fördern sie, bewahren sie, geben ihnen ein Nest & Geborgenheit. In Wahrheit sind die Männer Nebensache, fühlen sich fremd im eigenen Haus, sie können nicht begreifen, wie die Frauen das machen. In Wahrheit sind wir an der Macht, das ist es wohl, was sie nicht verkraften. Schau Marie, Mama verdient sogar mit ihrem winzigen Lädele noch Geld, selbst dafür ist der Rabbi zu verstockt, zu stolz, zu erhaben, stattdessen, so meint er, sei er 131 mit höheren Dingen & Gedanken beschäftigt. Sie nannte den Vater tatsächlich jetzt Rabbi, als wollte sie sich von ihm distanzieren, doch sie meinte die Gelehrten als ganzes, die schwer daran trugen, dass sie längst wussten, wie klug ihre Frauen waren, obwohl sie ihnen seit alters her die Bildung vorenthielten, sie mit Kindern eindeckten, mit Pflichten & Regeln traktierten, sie, was die großen Dinge betraf, links liegen ließen, sie belehrten & kontrollierten, ignorierten und doch alles verlangten, wonach ihnen der Sinn stand. Ihren Sex forderten, ihr Verlangen stillten, ihre Geilheit besänftigten, ihre Aggressivität nicht selten im Schlafzimmer auslebten, da sie sich sonst so besonders gelehrt & allwissend aufführen mussten. Wo hätten sie ihren Ausgleich denn hergenommen, ihre Weisheit, ihre Überlegenheit, wenn sie nicht im eigenen Haus ihre Triebe hätten ausleben können! Die Männer verschlossen die Augen vor den Leiden ihrer Frauen, den vielen, in Wirklichkeit ungewollten Schwangerschaften, den ausgetragenen & nicht ausgetragenen, den elenden Geburten, die oft genug an die Grenze der Würde gingen, Jahr um Jahr zu überstehen waren, von neuem verlangt wurden, was den einzigen Grund darin hatte, dass er sich nicht beherrschen konnte, keine Rücksicht nahm, sondern noch sein Vorgehen mit Gott dem Herren rechtfertigte & veredelte. Was für eine männliche Niedertracht. Rahel war damals über ihre eigenen Worte erschrocken, und kaum hatte sie erkannt, was sie da geäußert hatte, nahm sie alles zurück, ja, beschwor Marie, dieses Gespräch zu vergessen, zu tun, als hätte es niemals stattgefunden. Jetzt an der Universität, als das andere Mädchen, obwohl aus keinem jüdischen Haushalt, die Frauenfragen genau so selbstverständlich sah, musste sie an jenen Dialog zurückdenken. Und doch war es bei ihr selber nur so dahin gesagt gewesen im Rahmen einer längeren nächtlichen Unterhaltung wie es oft 132 vorkam, damals im gemeinsamen Bett mit Marie. Worüber hatten sie nicht alles geredet! Welche Geheimnisse ausgetauscht, große & kleine, harmlose & andere! Wie von selbst hatte sie es dahergeplappert, so als kämen diese Sätze von woandersher. Es war doch nur eine Ahnung gewesen, dass irgendwo & irgendwie vielleicht auf dieser Ebene das Geheimnis liegen müsse, eine Art Schuldgefühl der Mutter oder auch eine Enttäuschung des Vaters, die er sie ab & zu, wenn auch nicht bewusst, spüren ließ. Ingrid aber hing an ihren Mädchen, liebte sie geradezu abgöttisch, wenn sie es auch nicht in dem Maße zeigen durfte wie sie gewollt hätte. Für sich genommen, war es ihr egal, keine Söhne zu haben, nur hätte sie es wohl das eine oder andere Mal leichter gehabt oder ein höheres Ansehen genossen. Jemanden außer Gott, außer dem eigenen Ehemann zu lieben, war ein unentschuldbarer Frevel, eine Anmaßung. Ebenso wie die beiden sie so besonders liebten, mehr als den strengen Vater, der bei jeder Gefühlsregung ein schlechtes Gewissen bekam und sofort in die Gegenrichtung steuerte, den sie auf Mutters Geheiß dauernd entschuldigen mussten, weil er gewiss seinerseits einsam war in seiner Manneswelt, nicht anders konnte, nicht anders durfte, ihr beinahe grenzenloses Frauenverständnis und so gut wie alles brauchte & verbrauchte, genauso liebte & verehrte sie ihre beiden einzigen, durch so viel Leid & Schmerz errungenen, erkämpften und am Leben gebliebenen Töchter. So schwer es oft war, ihn als Vater zu haben, zu verstehen, so sehr verehrten sie ihn doch im letzten, wie einen Heiligen fast. Sie versuchten, ihn auf eine Art zu lieben, die er akzeptieren konnte, ihn zwischen den Zeilen & Büchern zu finden, zu suchen; zu begreifen, worum es ging. Es blieb ein Unterschied zwar in der Darbringung von Zuneigung und ihrer Entgegennahme, doch in Wahrheit waren ihnen beide Eltern gleich lieb & teuer, gehörten zusammen auf immer & ewig, und sie waren bestimmt der beiden herzallerliebste Töchter. 133 *** VII Italien Sie fuhren durch Deutschland durch, weiter, weiter, immer weiter, bis es eine Grenzkontrolle gab, wo sie die Sprache nicht mehr verstanden. Der Name es Südens, der klang wie ein Versprechen, ein Lied, Italien! Rahel fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen frei, niemand kannte sie, zog sie zur Rechenschaft, sie war ein junges Fräulein wie jedes andere. Viele Tage & Nächte waren sie unterwegs, bis sie Mailand sahen, Florenz, Perugia, ferne, klingende Orte seit jeher. Nie hätte sie geglaubt, dass sie diese Städte einmal sehen würde, noch dazu so bald in ihrem jungen Leben. Dank dieses Tausendsassas Sommerfeld aber kam sie herum, ging sie auf Reisen. Alexander ließ es ihnen an nichts fehlen, hatte die Route gut durchdacht, kannte sich aus in der Welt, war als junger Mann schon viel gereist, und es fiel ihm nicht ein, sich & Rahel irgendetwas zu versagen. Sie besichtigten die alten Bauten & Kirchen, Museen über Museen, übernachteten in den besten Herbergen. Rahel sah ein erstes Mal, wie man anders leben konnte, wie leicht, wie unbeschwert von Last & Sorge, ja, wie selbstverständlich dies in den Gegenden außerhalb Schwedens war. Natürlich gab es auch einfache & ärmliche Verhältnisse, doch die Menschen hier im Süden waren heiterer als im Norden. Schon die Wärme, das Licht, die Bekleidung, fast nichts trug die Schwere des skandinavischen Winters, obwohl auch hier im Augenblick noch die kalte Jahreszeit herrschte. So fuhren sie immer weiter nach Süden, überquerten mit einer 134 Fähre die Straße von Messina, gingen auf der Insel Sizilien an Land, und hier blühten bereits die Mandelbäume, der Himmel war blau wie das Meer, es roch nach Wärme, in der Luft hingen fremde, mitunter schwere Düfte. Rahel wunderte sich immer noch, was Alexanders Reichtum ihr zu ermöglichen imstande war. Sie schaffte es kaum, diese endlose Schönheit, welche sich auftat, zu erfassen, zu verarbeiten. So trafen sie Touristen, die scheinbar selbstverständlich Länder & Städte konsumierten, das Reisen als Lebensstil pflegten, Meisterschaft darin erlangt hatten, denen es an nichts fehlte, diesen Luxus als selbstverständlich erachteten und zufällige Reisebekanntschaften gerne daran teilhaben ließen. Amerikanische Ehepaare, Liebespaare aus aller Herren Länder, ja Homosexuelle vergnügten sich bei opulenten Mahlzeiten auf den Säulen umstandenen Terrassen, tranken Wein, schmiegten sich bei romantischer Musik eng aneinander, mieteten Schlösser & Gärten für Feste oder besaßen selbst Villen, fuhren in offenen Autos, lebten hier eine gewisse Zeit des Jahres, um später in die USA, nach England und sonst wohin zurückzukehren, nach Indien, China, Afrika weiterzureisen oder ihre Besitzungen dort & da aufzusuchen. Sie schienen nichts weiter zu tun zu haben, als die Zeit mit Tanzen & geistreichen Gesprächen zu verbringen, manche waren auch Künstler, Maler, Schriftsteller, begleiteten ihre Gönner durch die Welt, erklärten sie ihnen, ach, es gab unzählige Arten zu reisen. Sie alle führten in Rahels Augen ein freies wundervolles Leben. Sie sah zum ersten Mal Menschen, die so reich waren, dass sie nicht arbeiten mussten, keinen Gedanken daran verschwendeten. Sie waren offen für jedes Gespräch, jedes Abenteuer, tolerant, unüberlegt, spontan, sprachgewandt, polyglott, gebildet & ungebildet, es spielte keine Rolle, denn niemand musste sich hier für etwas verantworten, wie er lebte, wovon er lebte, was er tat und, was er unterließ. Freilich gab es unter der Bevölkerung, besonders in Sizilien, viel 135 Armut. Wohin sie kamen, liefen ihnen Kinder mit rotzigen Nasen nach & entgegen, kauerten Bettler auf dem Boden, streckten ihnen ihre Hände entgegen, jammerten & lärmten, dass es Rahel schier das Herz brach. Es gab auch viele Arme in Schweden – gewiss, doch das Leiden im kalten Norden war stumm dagegen; hier schrie man es heraus, legte seine Gliedmaßen & Krücken wie eine Ware auf der Straße aus, genierte sich nicht, seine Not wirksam anzuprangern, die Fremden phantasievoll anzugehen, zu fordern, zu schimpfen, zu fluchen, zu spucken, untereinander zu streiten, zu raufen, einander zu bestehlen. Am Anfang war Rahel völlig niedergeschlagen über diesen Anblick, bekam ein schlechtes Gewissen, dachte an ihre Familie zu Hause, die keine Ahnung hatte, wo sie war, was sie tat. Doch Alexander ließ sich nicht entmutigen, blieb ein dynamischer & verständnisvoller Reisebegleiter. Überall stiegen sie, so gut es ging, in feinen Hotels ab, in kleinen privaten Quartieren, das junge schwedische Paar wurde hofiert & bewundert. Natürlich durften sie nicht in einem gemeinsamen Zimmer schlafen, sie waren ja nicht verheiratet, und es existierte niemand im päpstlichen Italien, der nicht nach ihren diesbezüglichen Dokumenten gefragt hätte. Besser eigneten sich die großen Hotels, wo man anonymer, weltläufiger war, wenigstens nicht darauf achtete & horchte, ob noch jemand das einmal betretene Zimmer wieder verließ oder ein anderes als das eigene betrat. Überall, manchmal jede Nacht, schliefen sie miteinander, Alexander tat alles, um Rahel die sieben Jahren, die hinter ihnen lagen, vergessen zu machen und das, was sie zunehmend ängstigte, nämlich, dass sie ihrem Vater verantwortlich war für ihren Lebenswandel, ihm irgendwann reinen Wein einschenken, ihm alles gestehen musste. Sie war fertig mit ihrem Studium, sie sollte sich eine Stelle suchen, als Lehrerin, als Übersetzerin, ihren Lebensunterhalt 136 verdienen, vielleicht hatte ihr Vater bereits einen Bräutigam für sie auserkoren, wer weiß, was für Überraschungen sie in Schweden erwarteten. Unmöglich, jetzt daran zu denken, ohne auf der Stelle umzukehren. Im Augenblick jedoch waren sie unterwegs in Sizilien, saßen am Strand von Taormina, Rahel züchtig bekleidet, mit Hut & Sonnenschirm. Alexander stattete sie mit allem aus, was zu einem eleganten Fräulein des Südens gehörte. Auch hier sahen sie dort & da Faschisten marschieren, etwas rufen, im Gleichschritt stampfen, nicht unähnlich dem, was man aus Deutschland hörte. Mussolini näherte sich dem Zenit seiner Macht, war Herr über Italien und seine Kolonien. Die Zeitungen, welche in den Hotelfoyers auflagen, sprachen eine deutliche Bildersprache, das Geschriebene verstanden sie nicht. Alexander schwamm hinaus ins Meer, Rahel sammelte Muscheln & Schnecken am Strand, sortierte sie abends im Zimmer, packte sie in alte Wäsche zum Mitheimnehmen. Später einmal würde Sommerfeld seinem Sohn Alexander ein Glas mit diesen Kostbarkeiten darin, schenken, übergeben wie Juwelen, die Steine & Gehäuse, die Rahel, seine Mutter, jetzt auflas, fein säuberlich wusch, trocknete, nach Form & Größe ordnete, mit ihrer ganzen Innigkeit, die all ihren Tätigkeiten, und waren sie noch so einfach, innewohnte. Dieser stellte sich dann vor, wie seine Mutter diese hübschen Dinge selbst in der Hand gehabt hatte, ausgesucht für ihn, aufgehoben für eine Zeit, wenn keine materielle Erinnerung an sie mehr existieren würde als diese. Diese kleine, liebevolle, ja verträumte Idee würde für ihr Kind einmal die Ewigkeit, die ganze irdische Erinnerung an die Mutter bedeuten. Ob sie es geahnt hatte? Ihr Sohn Alexander wird Rahel nie kennen lernen, nur auf Bildern 137 sehen, als junge Frau, lächelnd, schüchtern. Doch jetzt im Frühling des Jahres 1934 dachte niemand an die Trauer, den Tod, den Krieg, das Ende Europas, das heraufdämmerte. Es war doch gerade eine Welt versunken, Kaiser & Könige gestürzt worden, Länder in Schutt & Asche gelegt, Millionen von Menschen umgekommen. Wer also hätte gedacht, dass bereits ein noch schlimmeres Unheil über Europa hing, Krieg & Elend wiederkommen würden, nur eine kleine Wartezeit eingelegt hatten, eine Art Verschnaufpause, ein Durchatmen & Überlegen, ja, schon die Ruhe vor dem Sturm angebrochen war, dass im großen wie im kleinen, im ganz persönlichen Leben jedes einzelnen, ein weiteres Mal kein Stein auf dem anderen bleiben würde! Rahel & Alexander reisten weiter nach Agrigent, nach Selinunt, stachen sozusagen in See, gingen dort & da an Land, streiften durch Felder & Ruinen, philosophierten auf den alten Steinen, küssten sich an allen Orten, fächelten einander Luft & Kühlung zu, kehrten zurück nach Taormina. Sie dachten nicht daran, sich zu beeilen, lebten sich im Süden ein, durchpaukten ihr italienisches Sprachbuch, prüften sich gegenseitig, man hätte meinen können, sie wollten sich hier für immer niederlassen. Schon redete die sprachbegabte Rahel mit den Kindern auf der Gasse einfache kleine Sätze, die verstanden & bewundert wurden, kaufte auf dem Markt auf italienisch ein, während Alexander voller Stolz Fotos knipste, auf denen später zu sehen sein sollte, wie sein Mädchen sich mit den Einheimischen lachend unterhielt, beinah wie eine von ihnen war. Eines dieser Bilder wird Alexander von seinem Vater zu seinem achtzehnten Geburtstag erhalten, hinter Glas gelegt und eingerahmt in Gold. An einem Abend Ende Mai 1934 nehmen Rahel & Alexander auf den Stufen des Teatro Greco, des alten griechischen Theaters von 138 Taormina, von wo aus man den schönsten Blick auf das Meer und den Ätna genießt, Platz. Sie muss sich immer wieder wundern wie gelassen Alexander der Tatsache, dass sie seit sieben Jahren, obwohl sie dauernd miteinander geschlafen haben, kein einziges Mal schwanger geworden ist, gegenüber steht. Noch bis vor kurzem hat sie sich für unfruchtbar gehalten, er aber denkt nicht daran, sich deswegen Sorgen zu machen, ihm geht es nur um sie, denn, was braucht er Kinder, um sie zu heiraten, er scherzt sogar damit, dass er sie quasi in jedem Zustand, zu nehmen bereit ist. Sie aber glaubt, ihren Vater nur mit einer Schwangerschaft von der absoluten Notwendigkeit einer Hochzeit mit diesem „ungebildeten Pelzhändler“ zu überzeugen und damit seine Einwilligung zu erzwingen. Die, viele Jahre später, von Alexander wiedergegebene Szene in Taormina muss etwa so geklungen haben: Du Alexander, ich muss Dir was sagen! Ja, sag’ es. Es ist etwas passiert. Was ist passiert, was soll passiert sein? Ich, ich, ich glaube, ich bekomme ein Kind. Langes Schweigen. Keine Reaktion. Hörst du mir zu, Alexander? Ja, sicher. Ich habe gesagt, dass ich wahrscheinlich ein Kind bekomme! Ein Kind? 139 Ja, begreifst du denn nicht? Du, du, du be-be-bekommst ein Kind? Von mir bekommst du kein Kind, das wissen wir doch längst! Doch!, von wem denn sonst? Aber, du kannst doch gar keine Kinder bekommen! Wer sagt das? Ja, ich und du und Svenssons Kuh! Wieso nicht? Weil du schon längst eins von mir haben müsstest, wir tun ja fast nichts anderes, seit du dir diese Schnapsidee mit der Übertölpelung deines Vaters ausgedacht hast, und außerdem hast du schon öfters geglaubt, schwanger zu sein, dann hast du doch immer wieder die Regel bekommen. Aber jetzt habe ich sie nicht mehr gekriegt, begreifst du denn nicht? Damit ist alles gelöst! Was ist gelöst, und, was, wenn er trotzdem nein sagt? Das wird er nicht, das kann er nicht! Ich könnte dich doch nie heiraten, wenn es nicht so wäre, das ist unsere einzige Chance! Alexander, begreifst du denn nicht? Es ist vorbei! Wir haben’s geschafft! Ja, vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber wieso denn? Du glaubst es doch auch, ich habe es dir 140 tausendmal erklärt, wir hatten es uns so ausgemacht! Nein. Doch, haben wir! Ich habe immer gesagt, wir können es jederzeit einfach behaupten. Und wenn er dann gemerkt hätte, dass ich gar kein Kind bekomme!? Dann wäre es zu spät, dann sind wir schon verheiratet. Das wäre Vorspiegelung falscher Tatsachen. Ja und? Wenn er so vernagelt ist. Ich kann meinen alten Vater, meine lieben Eltern nicht einfach hinters Licht führen, belügen, täuschen, verstehst du das nicht! So, und was ist mit der Geschichte deiner Mutter, die Christin ist und mit einem Rabbiner verheiratet? Demselben Rabbiner, welcher dein Vater ist? So einer kann sich nicht über andere aufregen und den Fehlerlosen hervorkehren, mich verachten, nur weil ich dich liebe und nicht seinen Vorstellungen entspreche. Alexander! Alexander! äfft er sie nach. Glaubst du, mich interessiert ein alter Rabbi, der meint, über seine Tochter befinden zu können, über andere Menschen zu urteilen, für den bin ich doch nichts als ein, wie hat er mich 141 bezeichnet, ein ungebildeter Pelzhändler?! Ich kann vielleicht nicht die Thora hersagen, aber ich kann eine Frau glücklich machen, ich verdiene, obwohl ich nicht müsste, eine Menge Geld, das uns ein unabhängiges Leben in Würde ermöglicht. Meine Frau wird nicht arbeiten müssen, über Angestellte im Haushalt verfügen, meine Kinder werden alles haben, und sollten wir keine bekommen, ist mir das egal, ich liebe dich auch so. Wer weiß, was man sich mit Kindern alles einhandelt! Womöglich haben wir Tag & Nacht Geschrei, vielleicht sind sie dauernd krank oder nicht ganz gescheit, das kommt vor. Ich will mit dir schlafen, weil ich dich liebe, nicht weil ich lauter Kinder haben möchte. Wenn wir unbedingt Kinder brauchen, dann werden wir sie auch haben. Aber wie, Alexander? Wir adoptieren uns welche, es gibt genügend arme Kinder in Waisenhäusern oder hier in Italien, wir können uns holen, so viele wir wollen. Du freust dich überhaupt nicht. Du redest wirr daher, so wirst du kein guter Vater sein. Ich bin endlich schwanger, verstehst du das denn nicht? Was bist du? Alexander, wie es aussieht, bin ich schwanger, siehst du, ich werde einen Bauch bekommen, so groß! Sie umschließt mit ihren Händen einen unsichtbaren Ball, eine riesige Kugel, geht vor ihm auf & ab, hält sich das sich das Kreuz, stöhnt und ächzt: Siehst du, so! 142 Rahel, jetzt hör’ schon auf, die Leute gucken uns an! Na, sollen sie doch gaffen, was wissen die schon, was haben sie für eine Ahnung von unserem Schicksal, von dem, was hinter uns liegt, was wir vielleicht noch vor uns haben! Da springt er auf, hebt sie in die Luft, wirft sie sich als ganzes über die Schulter, schreit auf einmal aus Leibeskräften: AAAAAAAAAAAAAAAAAA! , dass die Leute sie jetzt wirklich gewahren, schauen & schauen, während er mit ihr, als trüge er nichts weiter als einen leeren Erdäpfelsack, die Stufen des Theaters hinauf- und hinunterläuft, bis sie bittet, fleht, schreit: Alexander, bitte, stell mich auf die Erde, mir wird ja schlecht! Er kann es nicht glauben, ist außer sich, obwohl er sich etwas später, wenn er darüber genauer nachdenken wird, wieder nicht vorstellen kann, dass diese Masche tatsächlich die Zustimmung ihres Vaters bewirken kann. Ob es nicht ein unvorhersehbares Problem gibt, etwas, womit man nicht rechnen konnte? Genauso wenig wie es ihm einleuchtet, dass dieser komische alte Rabbi tatsächlich über das Leben seiner Tochter einfach bestimmen kann. Immerhin hat er Rahel in diesem Glauben gelassen, ihr die Illusion, sie hätte diesen Berg als Rabbinertochter zu überwinden, nicht zerstört. Frauen, so dachte er, brauchen das wahrscheinlich, sie haben eine andere Vaterbeziehung als Männer, für die der Schwiegervater, ja sogar der eigene Vater, eher eine Herausforderung, manchmal ein Hindernis darstellt, jedenfalls keine Institution ist, der man sich unbedingt unterordnen musste. Doch Alexander verstand so vieles nicht, was andere Elternhäuser & Kinderverhältnisse anbelangte, seine Herkunft war so grundverschieden von der Rahels. 143 In seiner Familie lebte ja jeder für sich und auf seine Weise ein vollkommen eigenständiges Dasein, ihre innerfamiliären Gemeinsamkeiten bestanden in illustrer Gastlichkeit, die kleinen und eigentlich alle rein handwerklichen oder organisatorischen Dinge des täglichen Lebens wurden von Bediensteten erledigt. Nie hätte seine Mutter sich um seine oder ihres Mannes Socken gekümmert, um das Packen eines Koffers oder die Zubereitung einer Mahlzeit, nicht einmal eines Frühstücks. Nicht dass sie nicht die großen Züge im Auge gehabt, mit dem Vater abstrakte & konkrete Gespräche geführt hätte, doch im großen & ganzen lebte sie in ihrer eigenen Welt, die allerdings von beträchtlicher Größe war. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, als Frau eine bestimmte vorgegebene Rolle zu spielen. Sie tat, wonach es sie verlangte, was ihr einfiel, mit & ohne System. Sie konnte genau so organisiert eine Sache angehen wie in den Tag hinein leben oder ohne ein bestimmtes Ziel in irgendeine Richtung fahren. Sie ließ sich gerne überraschen, redete mit wildfremden Leuten auf den Feldern, hielt auf der Straße an, nahm einen Vagabunden oder sonst einen armen Kerl mit, lud ihn irgendwo zum Essen ein, ließ sich seine Lebensgeschichte erzählen, diskutierte & philosophierte in einer Wirtsstube so selbstverständlich wie in noblen Salons. Für sie waren alle Menschen im vollkommensten Sinne gleich, für Arbeiten zahlte sie anständig, war Dienstherrin zwar, doch keine Vorgesetzte, keine gnädige Frau, wie sie meinte, nie verweigerte sie sich einer Unterhaltung. Sie war nicht stolz auf diese Art, die Würde, welche sie für sich selber nahm, gestand sie jedem zu. Alexander hatte längst erkannt, dass der Reichtum ihres Eltern-, seines Großelternhauses, ihr diese Haltung ermöglicht hatte, denn bereits als Kind & junges Mädchen musste sie sich keinerlei Zwängen unterordnen. 144 Mit dem Lernen & Studieren hatte sie kein Problem gehabt, im Gegenteil, sie liebte diese Dinge, erfand sich täglich neue, erledigte sie allesamt mit Bravour, wie übrigens auch ihre ebenso schönen & begabten Schwestern. Anders bei Rahels Eltern, die mit jeder Krone geizen mussten, obwohl sie sicher oft den Mädchen gerne etwas mehr gegeben hätten. Doch am Ende entschied immer die Knappheit der Mittel, die Voraussicht, die Vorsicht, die Sparsamkeit. Dies betraf sowohl die lebensnotwendigen Entscheidungen wie auch den gesamten Umgang untereinander. In diesem Haushalt waren, wie Rahel sagte, die Brotscheiben abgezählt, die Milch genau bemessen, gewisse Lebensmittel kamen so gut wie nie auf den Tisch. Alexander konnte sich nicht vorstellen, mit Butter oder Brot sparsam umgehen zu müssen oder dass es von Belang war, ob & wie viel man davon aß. Er kannte keine Gedanken dieser Art. Bei ihnen stand jeden Morgen von Neuem alles auf dem Tisch, seine Mutter stand spät auf, wurde extra bedient, hatte schon am Vorabend ihr eigenes Frühstück bestellt, das sie ohne weiteres über den Haufen warf, um etwas völlig anderes zu ordern. Rahels Mutter hingegen stand ganz früh auf, betete, bevor sie ihre Arbeiten vorschriftsmäßig verrichtete, bediente den Ehemann, weckte die Kinder, kümmerte sich um ihre Jausenbrote, ihre Strümpfe & Schuhe, kam selbst dabei immer zuletzt an die Reihe, und oft blieb nichts mehr für sie übrig. Von Rahel hörte Alexander die andere, die normale Seite; so wusste er inzwischen auch, wie viele Menschen ein Leben in Bescheidenheit führten, froh waren, wenn sie halbwegs über die Runden kamen oder wenigstens nicht Hunger litten. Einmal hatte er als Junge in einer Zeitung den eigenartigen Satz gelesen: Sie mussten ihren Lebensunterhalt bestreiten, und es war ihm nicht gelungen, hinter den Sinn dieser Aussage zu kommen. 145 Doch jetzt wusste er es längst, die vergangenen Jahre mit Rahel hatten ihn gelehrt, diese Dinge mit anderen Augen zu sehen. Rahel hatte anfangs Probleme gehabt mit seinem Lebensstil, auch damit, Annehmlichkeiten von ihm anzunehmen, denn im Innersten überlegte sie immer, wie sie das alles einmal zurückzahlen sollte. Sie meinte lange, sich hoffnungslos zu verschulden, wenn sie seinen Verlockungen nachgab. Sie hatte sogar Bedenken, ob sie in diesen piekfeinen Restaurants überhaupt essen dürfe, ob die Speisen wohl koscher seien, doch darüber konnte Alexander nur herzlich lachen, ja machte sich über sie lustig, indem er einem verdutzten Kellner auftrug, unbedingt koscher Gekochtes zu servieren. Nach & nach überwand sie diese Ängste, begann seine Großzügigkeit zu genießen, sich danach zu sehnen, und in gewissen Momenten wusste sie, wie korrupt sie war, wie sehr sie diesem ungebildeten Pelzhändler, wie sie ihn inzwischen scherzhaft nannte, aus der Hand fraß. Sie war schon bald nicht mehr in der Lage, sich ein Leben ohne ihn und seine Möglichkeiten vorzustellen. Wenn sie heimfuhr, trug sie extra die alten Kleider von zu Hause, damit sie sich & ihren Geliebten nicht verriet. Doch Marie erzählte sie ausgiebig von ihm, Marie, die mit offenem Mund dasaß, ihrer großen Schwester auf die Lippen starrte und teilhaben durfte an deren Leben draußen in der Welt. Ach, wenn sie doch auch einmal so einen tollen Mann finden könnte oder wenigstens ihre Schwester sie in ihrem Überfluss, der vor ihr lag, nicht ganz vergaß. Rahel versprach, immer für sie da zu sein, tat es sogar für Alexander, der gewiss nichts dagegen hatte, auch für die kleine Schwester zu sorgen. Es bedeutete nichts für ihn, so stellte Rahel es dar, Geld auszugeben, Wünsche zu erfüllen, im Gegenteil, er war glücklich, überhaupt etwas damit anfangen zu können. 146 Marie war dahin geschmolzen, hatte gestöhnt & geseufzt, durfte für die kurze Zeit, die Rahel daheim verbrachte, an ihrem & Alexanders Leben teilhaben. Ach, in Wahrheit war sie von ihr verlassen worden, denn was bedeuteten ihre Erzählungen & Briefe anderes, als dies: Alexander hier, Alexander dort, Alexander sagt so, Alexander ist auf Reisen, Alexander, Alexander, Alexander ... . Ihre Schwester führte ein unkeusches Studenteninnenleben, war längst ausgerissen von zu Hause, hatte die Gesetze Gottes missachtet & vergessen, war nicht länger ihre Rahel. Sie schreckte nicht einmal davor zurück, Marie von den geheimen Dingen zwischen Mann & Frau zu erzählen. Und das, obwohl Marie nur danach hatte fragen wollen, ob er sie schon einmal geküsst habe und wenn ja, wie das sei? Da kam Rahel zu ihr ins Bett und begann davon zu reden, wie wunderbar es sei, sich mit einem Mann zu vereinen. Sie beschrieb seinen Körper, seine Haut, seine Haare, seinen Mund, seine Augen, seine Kultiviertheit, seine Wildheit, sein Geschlecht, den Liebesakt als ganzes. Doch die Kleine wusste anfangs gar nicht, was das war, ein Geschlechtsakt, ein Zungenkuss, eine Liebkosung. Wie konnte sich ihre Schwester, die doch wissen musste, dass es auf den Tod verboten war, ohne verheiratet zu sein, mit einem Mann die geheimsten Dinge zu tun, wie konnte sich ihre Schwester so weit vergessen und auch noch darüber reden? Aber Rahel verriet ihr, dass es alle taten, auch ihre Eltern, die Nachbarn, die Studenten & Studentinnen in Stockholm, in Uppsala, überall auf der Welt in jedem Haus, in jedem einzelnen Bett, ja, dass es nichts anderes gab, woran die Menschen so ununterbrochen dachten wie daran. Stimmt das wirklich? Hast Du es unserer Mama gesagt? Bist du denn gar nicht traurig? 147 Marie verschlug es die Sprache. Traurig, warum? Ja, weil du so ein gutes feines Leben hast und wir nicht! Und weil du verbotene Dinge tust. Weil du nicht mehr richtig zu uns gehörst. Doch, ich denke oft daran; sogar, während wir miteinander schlafen, bin ich ab & zu bei euch. Manchmal weine ich danach, weil ich mich zutiefst schuldig fühle. Schuldig, weil es mir so gut geht, schuldig, weil ich meine Eltern betrüge, schuldig, weil meine einzige liebste kleine Schwester Marie bestimmt in diesem Moment an mich denkt und ich, ich allein, euch & alles hier verrate. Aber es gibt nichts Schöneres, glaub‘ mir, niemand könnte dem widerstehen, ich liebe Alexander, und er liebt mich, wir tun nichts Schlechtes, nichts Böses. Es ist Gottes Wille, dass die Menschen sich lieben. Wir übertreten kein Verbot. Wir sind nur nicht verheiratet, noch nicht, aber eines Tages werden wir es sein. Dann tat es Marie leid, ihrer Schwester Vorwürfe gemacht, dumme Fragen gestellt zu haben, denn viel lieber sollte sie ihr diese Liebe gönnen anstatt neidisch zu sein. Wer weiß schließlich, wie alles enden würde, ob Rahel nicht womöglich einer großen Enttäuschung entgegengeht, und Marie, obwohl sie noch so jung ist und nichts vom Leben weiß & wissen kann, beginnt zu weinen, sich bei Rahel zu entschuldigen. Vielmehr war sie traurig & beschämt, an sich diese missgünstige Seite entdeckt zu haben, obwohl sie doch nichts lieber wollte, als Rahel glücklich zu wissen. Ach, mein liebes kleines Mariechen, sei nicht traurig, ich werde dich nie vergessen, du wirst immer alles zuerst erfahren, du wirst 148 bei Alexander & mir aus- & eingehen, ich werde dich niemals für neidisch halten. Bist du mir böse, weil ich so schlecht war, dir deine Liebe nicht zu gönnen? Du bist doch nicht schlecht Marie, das ist ganz normal, du siehst dich halt leid, das verstehe ich. Dann stellte eines Nachts Marie die besondere Frage, jene, die sie sich so oft & so lange überlegt hatte: Bitte, bitte Rahel, nimm mich einmal wirklich bei dir auf, ich will mit dir und Alexander leben, obwohl ich ihn nicht kenne, ich habe euch lieb, alle zwei, ich....., ich...., ich liebe Alexander auch, ich passe dafür auf eure Kinder auf, ich koche für euch, ich will alles schön machen für euch, putzen, kochen, arbeiten, was ihr wollt. Nur bitte, bitte lass mich nicht allein, versprich mir das! Rahel, bitte nimm mich mit zu dir! Aber Kleines, du kennst doch Alexander gar nicht! Tu ich doch! Tust du nicht! Doch, du hast mir so viel von ihm erzählt, und ich störe euch auch gar nicht, nehme euch alle Arbeiten ab, sodass ihr euch lieben könnt wie du es mir erzählt hast, und wenn ihr Kinder habt, will ich alles für sie tun. Es ist doch viel besser, wenn ich mich darum kümmere und nicht eine fremde Kinderfrau. Aber Marie, du musst doch ein eigenes Leben haben, du wirst dich selbst verlieben und Kinder bekommen mit dem Mann, den 149 du lieben wirst. Du bist noch klein, bleibst noch eine Weile bei Mama & Papa, dann wirst du selbst studieren, dein eigenes Einkommen haben und in der Lage sein, dein Leben in die Hand zu nehmen und dich in aller Ruhe umzusehen. Du bist hübsch, viel schöner als ich, du wirst einen wunderbaren Partner finden, du brauchst mich gar nicht. Das will ich aber nicht. Ich will bei dir, bei euch bleiben, versprich es mir! Und versprich mir auch, dass, wenn du einmal ein Baby erwartest, ich es zuerst erfahre! Gut Marie, das will ich tun, aber davon kann keine Rede sein. Du hast mir also versprochen, dass ich bei euch sein darf? Ja, ich verspreche es dir! Solange du willst, gehörst du ganz konkret zu uns, ich verspreche dir aber auch, dass ich dich gehen lasse, sobald du jemanden anderen gefunden hast! Danke, danke, danke! Viele, viele Male und tausende, Millionen tausend Dankeschöns!!!!! Und jetzt im tiefen Süden Italiens musste Rahel an die heimlichen Gespräche mit ihrer Schwester denken, vor allem an dieses letzte, welches sie von Anfang an auch ein wenig belastet hatte, etwas ratlos machte, das sie verdrängt hatte, ihr seit damals und vor allem im Moment Kopfzerbrechen bereitete. Versprich mir, dass, wenn Du einmal ein Baby bekommst, ich es als erste erfahre! Jetzt war es auf einmal soweit! Nun war sie wirklich schwanger, Marie sollte, musste es zuerst erfahren, sie hatte es versprochen, ihrem Flehen nachgegeben, nicht ablehnen können, aber wie, wie sollte sie dieses kindische, nein, dieses rührende, dieses allerliebste Versprechen wirklich halten? 150 Rahel erzählte diese Episode Alexander, der immer Rat wusste, so auch jetzt. Du schreibst ihr einen Brief! Ja, aber offiziell bin ich in Deutschland! Da hast du auch wieder recht! Nein, Alexander wusste auch nicht alles, vor allem verstand er noch immer nicht die Probleme dieser moralischen oder moralisierenden Familie, die für so gut wie alles Regeln & Richtlinien hatte, immer genau wusste, was richtig & falsch war, deswegen ständig in irgendwelchen Bedrängnissen steckte. So schickte Rahel weder Brief noch Telegramm, sondern verhielt sich, so Alexander, wie ein erwachsener Mensch, der schließlich tun & lassen kann, was ihm beliebt. Sie könnte es ja, wenn sie wieder in Schweden sein würden, immer noch Marie als erster sagen, überlegte sie. Ihr Gewissen war wieder einmal in Nöten, aber ihn kümmerte das wenig, wohin käme er schließlich, wenn er auf die Flausen dieser, in seinen Augen überlebten Gesellschaft von Rabbis & priesterlichen Anschauungen einginge. So reisten sie nach Neapel zurück, überquerten bei Messina ein zweites Mal mit dieser klapprigen Fähre die Meerenge, schipperten sozusagen zwischen Skylla & Carybtis, aber das taten sie, wie ihr Alexander erklärte, ohnehin andauernd. War diese Metapher aus der Antike nicht das, was für sie beide ganz besonders zutraf? Sie vergaßen über den Strapazen der Reise wenigstens zeitweise ihre Sorgen mit dem Norden, das, was sie in Schweden erwartete, das ganze Zeug mit Rahels Eltern, ihrer eigenen Zukunft, die wohl mehr denn je im Ungewissen lag. 151 Ach, hätte er doch eine Frau, die erhaben wäre über die alten Vorschriften einer untergegangenen Zeit! In Neapel angekommen, vergnügten sie sich, wohnten im besten Hotel auf der Piazza Garibaldi direkt neben dem Bahnhof, gingen nachts verliebt & eng umschlungen durch die Straßen, fuhren Tags darauf hinüber nach Capri, nach Ischia, schliefen sich aus, erkundeten die Umgebung, vergaßen Gott & die Welt, als hätten sie nicht nur geahnt, sondern gewusst, dass dies alles zum ersten & letzten Mal passierte und ihre gemeinsamen Tage gezählt waren. Rahel ging es gut, ihre anfängliche Übelkeit hatte sich gelegt, in Wohlgefallen aufgelöst, schon war sie eine routinierte Schwangere, die, den von Zeit zu Zeit verunsicherten & besorgten Alexander über ihren Zustand jederzeit zu beruhigen imstande war. Sie fuhren hinaus ins antike Herkulaneum, besichtigten die Ruinen, bestiegen den Vulkan, den Vesuv!, wie weit schien er einst entfernt!, eine heiße Angelegenheit, doch Rahel war eine gebildete Frau, sie konnte Latein & Altgriechisch, liebte, schätzte & verstand diese Dinge, erläuterte sie Alexander, der darum stolz auf sie war wie ein krähender Hahn. Sie trafen andere beflissene Touristen, Engländer, Franzosen, Altphilologen verschiedener Länder, aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Künstler, Dichter, Maler, lauter Leute, welche die Antike verehrten, sich in ihr quasi eine eigene Welt erschaffen hatten und entsprechend beseelt & inspiriert unterwegs waren. Rahel & Alexander durchstreiften die alten Gebäude, das Haus der Mysterien, und schließlich fuhren sie nach vielen guten Tagen & Nächten unter dem Himmel des Südens mit dem Zug nach Rom. Rahel bestellte bereits in der Landessprache Spaghetti, Lasagne, Risotto, trank Wein, bekam nasse Augen von jener Flasche, auf der zu lesen stand: Lacrimae Christi. Die Tränen Jesu Christi. 152 Eine Traube, ein Wein, der hier an den warmen Hängen des Vesuvs reifte. So wie sie schon den weißen Marsala in Taormina getrunken hatten, jenen Wein, welchen bereits Cäsar auf Sizilien genossen haben soll, jedenfalls hatte ihnen diese hübsche Geschichte der Kellner erzählt. Alexander, der nicht so viel über die Antike wusste wie Rahel, lauschte still & verzückt ihren Worten, die er oft nicht einmal hörte, denn er gab sich der träumerischen Stimmung willig hin, war nur in sie und ihren Anblick verliebt war, während sie ihm engagiert zu erklären versuchte, was diese & jene Inschrift genau bedeutete. Er genoss ihre Gelehrsamkeit und vor allem die Freude, die sie ihr wie ihm bereitete, merkte sich bei weitem nicht alles, staunte über ihr immenses Gedächtnis, versank eins ums andere Mal darin, sie zu betrachten, sich zu wundern wie & woher sie das alles wissen konnte. Sie aber dachte, sie hatte nicht alles umsonst gelernt, sich, wie sie jetzt meinte, nicht geplagt für nichts. So stiegen sie eines Tages die flachen Stufen zu einer der größten Kirchen der christlichen Welt hinauf. Sie gehörte zu den sieben Wallfahrtskirchen, welche die Pilger, die aus allen Teilen der katholischen Welt nach Rom kamen, zu besuchen pflegten. Santa Maria Maggiore! Was für ein Name! Und die Kirche erst! So voller Menschen: schwarz verschleierte, kniende Frauen vor den verschiedenen Altären, flackernde Kerzen, zelebrierende Priester, betende Hände, Segen empfangende Gläubige. Rahel war beeindruckt von der Pracht dieses Interieurs, dem Gold, den Statuen, den Säulen, dem gemusterten Boden ganz aus Marmor. Kein Vergleich mit dem Judentum oder den leeren Gotteshäusern des Nordens. Hier hatten die Menschen ihre Gefühle, ihren Glauben, ihre Sehnsucht, ihre Liebe in Kunstwerken zum Ausdruck gebracht, 153 Hammer & Meißel in die Hand genommen, Farbe & Pinsel. Sie spürte die Innigkeit, die hier zugegen war in jedem einzelnen Gegenstand, jeder Person, jedem Stein, jedem noch so kleinen Ding & Detail. Dies hier ließ niemanden kalt, erzeugte Demut, aber auch hohe Gedanken. Große Künstler & Mäzene huldigten hier dem Schöpfer, hatten Religionsgeschichte, Kunstgeschichte geschrieben, ihrem tiefen Glauben an Gott Ausdruck verliehen. Einfache Gläubige spendeten, gaben, was sie konnten, ja, was gewiss über ihre Verhältnisse ging, um ihrer Bitte, ihrem Gebet Nachdruck zu geben oder sich für die Erfüllung ihrer Anliegen erkenntlich zu zeigen. Rahel ging an so gut wie keiner Kirche vorüber, und überall verbrachte sie Stunden, sah zum ersten Mal die Herrlichkeit, welche Menschen zustande brachten, konnte nicht genug sehen von den meisterhaften Darstellungen von Freude & Schmerz, von Göttlichkeit & Barmherzigkeit. Zwar sprachen ihre Eltern in Gleichnissen & Bildern, wussten abstrakte theologische Probleme von allen Seiten zu beleuchten, erfüllten beinah knechtisch die Gesetze & Gebote eines strengen Gottes, aber sie hatten, wie ihr jetzt dämmerte, keine Vorstellung von dieser Art Gottesliebe, dieser Opulenz, dieser Feierlichkeit & Pracht, ja Erhebung, die Religion, Religiosität auch bedeuten konnte. Dagegen kam ihr alles, was sie bis jetzt gekannt hatte, griesgrämig & deprimierend vor, nein, sie begriff nicht mehr, warum man an einen zornigen Gott glauben sollte. Hier gab es nicht nur Gott Selbst in Gestalt eines gütigen alten Vaters, und so nannten sie ihn auch, sondern jede Menge Heilige, Engel, himmlische Bevölkerung ohne Ende, kleine nackte Kinderfiguren, die Schleifchen trugen, vergoldet waren, Trompeten & Posaunen spielten. Gewöhnliche Menschen auf Erden sogar spiegelten sich in den Bildern, ganze Familien waren dort & da erkennbar. Was für eine 154 fremde und doch so lebendige & menschliche Welt! Du sollst dir kein Abbild machen von deinem Gott, hieß es, aber hier liebten die Menschen dieses Abbild, sie wetteiferten, wer die schönste, größte, goldenste, bunteste, prächtigste Malerei zustande brachte, die bewegteste Statue schnitzte, in Stein meißelte, und die Gläubigen dankten es ihnen, knieten davor nieder, küssten die Hände, die Füße der Heiligen, behängten sie mit Gold & Silber, Perlenketten, Amuletten, Samt & Seide, ja ganz persönlichen kostbaren Dingen. Sogar kleine gehäkelte Babyschuhe hingen an den Fingern einer Madonna, über ihrem geschnitzten vergoldeten Schleier lagen kunstvoll geklöppelte Spitzenschals in weiß & schwarz, unzählige Lichter brannten zu ihren Füßen & Ehren. Man konnte kleine wächserne Jesusstatuetten sehen mit goldenen Krönchen auf dem Kopf, dieses Baby hielt Zepter & Erdkugel in Händen, war in königliche Roben gekleidet oder auch nackt, das Gesichtchen so lieblich & fein, so rosig & pampstig. Im diesem Moment wäre die Schwangere am liebsten konvertiert, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne Gewissenbisse & Reue. Rahel warf Geld in einen der vielen Opferstöcke, erwarb damit eine Kerze, die sie, wie die anderen Frauen, die christlichen, in die Halterung stellte, nachdem sie sie an einer der unzähligen, bereits brennenden, angezündet hatte. Es brannten an jedem der Seitenaltäre zahllose davon, zurückgelassen von Menschen, die um etwas flehten, für jemanden beteten, ihrer Toten gedachten, Dank sagten, mit den verschiedensten Anliegen gekommen & gegangen waren. Rahel, die Jüdin, sank auf den Boden, kniete & betete in einer christlichen Kirche, während Alexander sich alles genau anschaute, die Leute heimlich betrachtete, und obwohl er nicht von Rahels Religiosität war, ruhten seine Augen in Bewunderung auf ihr & ihnen allen. Sie hatte genau wie die andern einen schwarzen Spitzenschleier umgelegt, unterschied sich in gar nichts von ihrer Umgebung, 155 niemand beachtete sie, jede einzelne & alle zusammen gaben sich ihren Anliegen hin, dem Mysterium des Glaubens & Betens, dem Trost, den sie daraus schöpften, der Hoffnung, die sie hineinlegten, den Bitten, die sie in den Himmel sandten. Rahel dankte der Madonna für ihre Schwangerschaft, dafür, dass Alexander sie, in Sünde genommen hatte. Dieser versunken in sich, hing derweil seltsamen, ihm bisher fremden Gedanken nach, dachte am Ende bei sich, es müsse wohl alles so sein, kommen wie es gekommen war, einen tieferen Grund haben, seinen Sinn, auch wenn er ihm als Mann fürs erste und vielleicht sogar im letzten verschlossen blieb… . Die Fortpflanzung, die Kinder, die Mütter, das Leben,… und alle Frauen der Erde sind sich darin gleich. Sie beten um Fruchtbarkeit, um einen Sohn, eine Tochter, werfen sich nieder vor den Altären für die Schmerzen der Geburt, ihre Schwere & Süße, so war es vielleicht schon in alter Zeit in aller Welt gewesen, und so war es jetzt, so musste es sein & bleiben in alle Ewigkeit. Diese & ähnliche Überlegungen gingen Alexander durch den Kopf, während sein Blick herumschweifte und immer wieder zu Rahel zurückkehrte. Das kleine unscheinbare Fräulein, das dort auf den Stufen kniete, würde bald seine Frau sein, vielmehr war sie es längst. Seine Augen ruhten auf Rahels Rücken, und er sehnte sich danach, wieder mit ihr vereint zu sein und nicht, wie es im Augenblick der Fall war, von ihr entfernt, schon diese wenigen Meter machten ihn verrückt, denn er war nicht mehr fähig, einen anderen Gedanken zu fassen, als den mit ihr zu schlafen, auch wenn er sich dafür irgendwie schämte, jetzt, wo sie schwanger war. Für ihn war es nicht wichtig, ein Kind zu haben, ach, er spürte eher eine Last, eine unbestimmte Angst & Sorge, eine plötzliche große Unbekannte in seinem Dasein, doch er gönnte es ihr. Es war ihr langer Weg zu ihm gewesen, soviel hatte er begriffen. 156 Es musste offensichtlich so sein, also nahm er es an, ordnete sich unter - dem weiblichen, dem mütterlichen Prinzip, und damit der Urfrage auch des Mannes schlechthin, seiner zentralen Verantwortung & Rolle während der irdischen Existenz. Wenn das Leben weitergehen sollte, musste es so und nicht anders kommen, schließlich konnte niemand sich selbst erschaffen. Im Augenblick fühlte er etwas wie Dankbarkeit seinen toten Eltern gegenüber, dafür, dass sie ihn in die Welt gesetzt, ihm dieses herrliche Leben gegeben hatten, und nun war er an der Reihe. So war es doch geradezu seine Pflicht, einem weiteren Menschen dieses Glück auf Erden zu verschaffen und gleichzeitig seiner Familie ihren Fortbestand zu sichern, Bindeglied zu sein zwischen Vergangenheit & Zukunft, zwischen Gegenwart & Ewigkeit. Die Ewigkeit! Wie oft dachte er jetzt darüber nach. Allein des Wortes unergründliche, ja, unendliche Bedeutung, die beunruhigend, ungemütlich, beängstigend zum einen, doch friedlich & still zum anderen war, tausend Fragen aufwarf oder auch nur die eine einzige; der weite Sternenhimmel fiel ihm immer wieder ein, Leben & Tod, Liebe & Leid, alles in allem im Großen wie im Kleinen. Ach, was konnte man wissen, was ergründen, was erreichen? Er vermochte seine Gedanken nicht zu ordnen, war ein Amateur der Philosophie, ohne System & Routine. Mit der Schwangerschaft aber, das sollte er bald erkennen, entfernte sich Rahel von ihm, erhielt eigene, scheinbar höhere Aufgaben, sah ihn bald als Nebensache, das Kind war jetzt das Wichtigste, das Eigentliche, schon fürchtete er, sie zu verlieren. Aber in jenem allerersten Augenblick auf Sizilien war plötzlich alles vergessen gewesen, gehörte ihnen die ganze Welt, waren sie als Rahel & Alexander, als Mann & Frau eingetreten in den Kreislauf der Ewigkeit. Sie fühlten & empfanden die schier unendliche Tiefe, eine nicht gekannte Freude, ein Glück von beinah kosmischem Ausmaß. Da 157 sind beide wirklich & völlig verrückt vor Glück gewesen, vor Freude, küssten sogar die fremden Leute um sich herum, die ihrerseits lachten & klatschten & gratulierten, auch wenn sie nicht wussten, worum es ging. Sie alle ahnen die Größe dieses Moments, und die Frauen unter den zufälligen Passanten nehmen Rahel auf ihre Weise in Augenschein. Gehen wir heute nicht ins Bett, Alexander! Lass uns diese Nacht feiern, indem wir sie nicht verschlafen, hörst du, nicht verschlafen, vielleicht sind wir im Leben nicht mehr so glücklich, vielleicht ist diese Nacht einmal alles, was wir so ganz für uns, so ganz & gar gemeinsam hatten. Alexander, mein lieber Alexander, versprich mir, dass du dies hier nie vergessen wirst, was auch geschieht, was immer wir noch vor uns haben. Und, als ahnte sie alles voraus, spricht sie über die Einmaligkeit, die Einsamkeit, die Kürze des Lebens, zitiert Goethe: Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n.............., Wenn im Unendlichen fließt........... dasselbe sich wiederholend ewig Im Schatten sah ich ein Blümlein steh’n, wie Sternlein leuchten, wie Äuglein schön........ Alles Bilder der Vergänglichkeit, der Trauer, der absoluten Schönheit, der Liebe, der Demut. Es sprudelt aus ihr heraus, sie kann kaum mehr aufhören, die deutschen Dichter aufzusagen, zu schwärmen, zu lachen, zu weinen in einem. Nicht dass Alexander die Zitate verstehen könnte. Trotz ihrer hastigen Übersetzung hat er nur eine leise Ahnung, er spricht ja nicht Deutsch, aber er bewundert sie zutiefst. Tränen treten ihm in die Augen, etwas, was ihm später, wenn er von Rahel spricht, immer wieder passieren wird. Das Weinen wird 158 seine sprachlose Antwort auf die berührenden Augenblicke der Erinnerung, die Größe der Ereignisse sein. Jahrzehnte später, als er ein alter Mann schon ist, ergeht es ihm noch so, wenn er von ihr redet, an sie denkt in einer besonderen Stunde, etwas Schönes oder Schweres erlebt, jedes Mal, wenn er seinem Sohn gegenübertritt, von ihm spricht, ihn wiedersieht, sich von ihm verabschiedet. Er weiß, es gilt nicht als männlich, aber er kann nicht anders. Seine Tränen sind seine Niederlage, sein Bekenntnis wie sein Triumph, in Wahrheit das Gestalt gewordene Andenken an jene frühe, einzige Zeit mit Rahel, denn so kurz wird sie gewesen sein wie der Flügelschlag eines Vogels beinah, der zufällig vorüber fliegt. Für die Größe seiner Gefühle, seines Stolzes, seiner Trauer existieren keine Worte mehr, nur diese Tränen, die gleichermaßen Freude sind wie Leid. Er fühlte sich bei weitem nicht so gebildet & sprachgewandt wie Rahel, aber er konnte sich diese Frau leisten, er durfte sie anschauen & bewundern, wurde von ihr geliebt sogar, und er schätzte dies alles mehr als jemand anderer sich vielleicht vorstellen konnte. Rahel verschwindet im Gewühl der süditalienischen Märkte, wird augenblicklich eine von den Einheimischen, redet, gestikuliert, lacht. Sogar einen schwarzen Schleier musste Alexander ihr für die Kirchen kaufen. Sie wollte sein wie die Frauen hier, und niemand konnte auf den ersten Blick bemerken, dass sie eine ganz andere war, eigentlich aus dem fernen Norden kam. Sie ist jetzt ganz mild gestimmt, horcht in sich hinein, streicht sich mit der Hand schon ab & zu über ihren Bauch, der aber schon gar nichts von einer Wölbung an sich hat, doch sie fühlt sich unglaublich schwanger & stark. In so einer Anwandlung hatte sie Alexander überrumpelt mit der Mitteilung, in ROM! in ROM!, ja, er hatte richtig gehört, in Rom, mit Großbuchstaben hatte sie es ausgesprochen, im Zentrum des 159 Katholizismus, in eine Basilika gehen zu wollen, um der Madonna der Christen zu danken, zu opfern. Rahel, bist du noch ganz gescheit, wir sind Juden, du bist sowieso nicht irgendeine Jüdin, die Tochter eines Rabbiners sogar! Und du willst in eine Kirche gehen, um dort zu beten? Ja, warum nicht? Maria war Jüdin wie ich, sie hatte einen Sohn, wenn nicht gar mehrere, sie wird mich verstehen. Ach, Alexander, nimm‘ es nicht so schwer, ich will mich einfach bedanken bei einer Göttin, bei Jehowa, bei wem auch immer, es ist doch einerlei, bei denen im Himmel oben halt oder wo! Wie wär’s mit mir, bei mir! Alexander! Am Ende war es meine Leistung, mein Same, der …, begreifst du das nicht? Nein, Alexander, sei nicht frevelhaft, es ist etwas viel Größeres, es erfordert mehr, als dass zwei kleine, dumme Menschen miteinander schlafen, glaub’ mir, das sind nicht wir, und in all den Jahren habe ich oft die Frauen beneidet, die in eine Kirche gehen können, um dort zu beten. Im Süden, weißt du, im Süden, sogar schon im Süden von Deutschland, und natürlich besonders hier in Italien existiert diese prunkvolle katholische Religion, lebt & regiert der Papst, das Oberhaupt der Katholiken, und alles geht zurück auf Jesus Christus, einen Juden. Sie haben viele Heilige, musst du wissen, und sie verehren vor allem die Madonna, Miriam, die Mutter ihres Messias’! Dies hat mir immer im Judentum gefehlt, etwas für die Frauen, für die schönen wie die schweren Stunden, wie nur wir sie erleben 160 können, die Liebe, die Empfängnis, die Geburt. Alexander, daher sage ich dir, ich möchte mich verschleiern und in Rom in eine wichtige große Kirche gehen, um eine Kerze zu opfern, um zu beten, mich zu bedanken, wie ich es in der Literatur gelesen habe. Ja, Rahel. Das ist bestimmt kein Problem, sie wissen ja nicht, wer du bist, wer wir wirklich sind. Weißt du, ich möchte unter den einfachen und den vornehmen Frauen knien, denn darin sind sich alle gleich, nämlich, wie sie die Madonna verehren, sie um etwas bitten und ihr danken. Ich möchte sein wie sie, ich sehne mich nach einer Religion, die auch Raum hat für diese Dinge, nicht nur für die männliche Gelehrsamkeit, die sich mit nichts anderem beschäftigen will oder kann als den alten Texten, den Buchstaben des Gesetzes, der Auslegung, der Exegese. Wie mein Vater, der unsere arme Mutter mit all dem allein gelassen hat! Männer geben dem so viel Bedeutung, weil sie sonst nichts haben. Ich frage mich, wie sie es geschafft hat mit diesem Rabbiner, der in einer Weise nur Augen hatte für die Schrift, das Buch, die Thora, aber gewiss nichts von Frauen verstand, sondern im Gegenteil immer seine Liebe versteckt, ja verleugnet hat, alles mit Demut zu tun verlangte, wie sie es also geschafft hat, uns irgendwie groß zu ziehen, ohne uns allzu sehr spüren zu lassen, was sie selbst belastete, was sie sich einst aufgeladen hatte, worunter sie litt, was sie für ihn, für uns alle, auf sich nahm, was es bedeuten musste, mit einem Mann wie ihm als Frau zu leben und ihren Kindern eine liebevolle & verständnisvolle Mutter, ja als ursprüngliche Christin, eine wahrhaft jüdische Mamme zu sein. Vieles verstehe ich erst jetzt, und vieles wahrscheinlich gar nicht. 161 Aber, er hat doch deine Mutter, eine Christin, geheiratet, etwas völlig Ungewöhnliches für einen Rabbiner, wie sehr muss er sie doch geliebt haben, um dies tun zu können! Ja, aber er hatte auch immer ein schlechtes Gewissen, suchte ständig seine Schuld zu sühnen, ließ sie seine Sünde spüren, zwang sie auf diese Wiese, sie mit ihm zu tragen. Wie schwer muss es für Mutter gewesen sein, niemals das Wichtigste in seinem Leben darzustellen, immer nur die Rabbinerfrau zu spielen wie schon ihre Mutter ihrem Mann, dem Pastor, zu assistieren hatte, hinter ihm zurückzustehen, nie etwas zu verlangen, am wenigsten Aufmerksamkeit. Diese Frauen standen nur neben & hinter ihren Männern, welche ihnen das Gefühl gaben, gering zu sein und niemals den großen religiösen Gesetzen zu genügen. Nicht einmal sich seiner Liebe sicher sein zu können, in der Öffentlichkeit stets Zurückhaltung zu üben, für alles & jeden Verständnis zu haben, während sie mit ihren Sorgen & Ängsten alleine zurechtkommen musste. Sich nie mit sich selbst beschäftigen zu dürfen, nur für die Familie da zu sein, immer neuen Mut zu schöpfen, den Glauben an den Sinn dieses Lebens nicht zu verlieren, die vielen glücklosen Schwangerschaften, die Fehlgeburten, die Geburten zu ertragen… Sogar ich, obwohl ich noch nichts dergleichen erlebt habe, merke, wie schwer es sein kann, sogar einen Mann wie dich zu lieben. Einen ungebildeten Pelzhändler, meinst du? Wie kann das schwer sein, ich tue doch alles für dich. Du weißt, dass ich das nur zum Spaß gesagt habe, nicht wirklich meine, denn jetzt bist du der Vater meines Kindes, nichts anderes mehr. Ich werde Dir keine Frau wie meine Mutter es für meinen Vater war, sein können, aber ich will mein Bestes geben, und eines habe ich erreicht, du musst mich jetzt heiraten, und so verwegen wäre 162 sie bestimmt nie gewesen. Ich habe um dich gekämpft, ich gebe dich nicht mehr her. Ich will immer, immer bei dir sein, nie mehr ohne dich, egal, was geschieht. Deine Mutter ist eine ganz besondere Frau, demütig wie ihre eigene Mutter, deine Großmutter, die schon eine Pastorenfrau war, arbeitsam, still, einfach & gut im Sinne von gütig. Gewiss hat sie viel von ihrer Familie gelernt und mitbekommen. Männer sind nicht wie Frauen, Rahel, das musst du immer wissen, sie sind viel schwächer, simpler gestrickt, sie klammern sich an Wörter, an Bücher, an ihr Handwerk, an den Besitz, eben, weil sie nichts von den großen kosmischen Dingen verstehen, die den Frauen durch die Kinder, die Geburten zugänglich sind. Daher haben sie ein Imperium aufgebaut, welches aus ihrer Sicht eine Frau, die sie mit Kindern und Arbeit eingedeckt haben, nicht betreten können soll. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Mann hat nichts, er ist völlig verloren, hat keinen Halt wie die Frau, fühlt sich überflüssig & leer, jagt seinen Trieben hinterher. Am Ende hat er kein anderes Problem, als mit Hilfe des Wissens seine Geilheit zu verstecken, die ihm furchtbar peinlich ist. Ich weiß nicht so viel von Religion wie du oder deine Eltern, aber ich glaube, ich habe das Wesentliche begriffen. Daher bewundere ich dich, Rahel, werde dich immer bewundern, ich will dir ein guter Ehemann sein, unseren Kindern, so Gott will, ein ordentlicher und liebevoller Vater, aber der Kern, das Innerste, das Allerheiligste unseres, und vor allem meines Lebens, bleibst du, immer nur du! So also kam der Tag, an dem sie gemeinsam die Stufen einer der sieben großen Wallfahrtskirchen Roms, die Stufen von Santa Maria Maggiore, hinaufstiegen und Rahel an einem der Marien-Altäre niederkniete und vor der Mutter Gottes eine Kerze anzündete, innig & lange betete, während Alexander wartete und 163 nicht nur seine zukünftige Frau, sondern auch die anderen beobachtete. Ja, seine Rahel war wie diese Frauen hier, ängstlich schon auf ihre Mutterrolle bedacht, dekorativ verschleiert mit schwarzer Spitze unter und bei den anderen. Niemand hier wusste, dass sie eine Jüdin war, und niemand kontrollierte es, niemand fragte danach, hier durfte jeder seine Mühsal abladen, um Gnade bitten. Leichtfüßig, fast fröhlich verließen sie später Santa Maria Maggiore, jenen Ort, der einmal in Wahrheit & Erinnerung den Mittelpunkt ihrer großen Reise darstellen sollte. Es werden sechzig Jahre vergehen, ehe jemand im Gedenken daran, hierher zurückkehren wird. *** VIII Ein erstes Mal Afrika Abschied & Anfang Afrika, wird der Sohn Alexanders, der wieder Alexander heißt, später oft sagen, Afrika hat mir alles gegeben, und Afrika hat mir alles genommen. Niemand würde je wieder dieses dunkle, ferne, zauberhafte & unheilvolle Wort Afrika aussprechen wie er, mit Tränen in den Augen, Tränen in der Stimme sogar, und doch wird es noch immer klingen wie eine Verheißung, eine Hoffnung, wird klingen nach Dankbarkeit & Trauer, Verlust & Einsamkeit, nach Glück & Unglück in einem. 164 Denn, was in jener Nacht in Zentralafrika wirklich geschah, erzählte er niemandem, nicht einmal seinem Vater zur Gänze, schon gar nicht Silvias Vater, dem er schließlich die Nachricht von ihrem Tod überbringen musste. Doch nach fast drei Jahrzehnten, und nachdem wir uns zum dritten Mal begegnet waren, sollte er mir das, was sich auf einem anderen Kontinent ereignet hatte, in einer darum so besonderen Nacht erzählen. Was im Folgenden wiedergegeben wird, gehört zum Gespräch auf einer Parkbank in Wien des Jahres 1993. Ich lasse einen Teil des Dialogs hier einfließen, nehme etwas vorweg, was sich für den Leser, die Leserin erst nach & nach auflösen, erschließen & zusammenfügen wird: Dies, Maria, war das Schwerste, was ich jemals zu tun hatte. Nein, das kann sich keiner vorstellen, wie schwer! Jenem alten Herrn, weit oben in Schweden musste ich es sagen, ich, Alexander Sommerfeld, dem er seine Tochter damals nicht geben wollte, weil sie alles war, was ihn noch auf Erden hielt, ausgerechnet ich musste ihn davon in Kenntnis setzen, dass ich sie ihm tatsächlich, wie er es einst kommen sah, genommen hatte. In Afrika gelassen, wo sie durch meine Schuld zu Tode gekommen und endgültig unser gemeinsames Leben aufgelöst worden war. Und doch hat es so sein müssen, denn es kann in Wahrheit nicht meine Schuld gewesen sein, es war ihr, unser, mein Schicksal. Schicksal, dass wir uns begegnet waren, Schicksal, dass es kommen musste, wie es kam, denn ich, ich habe sie von Herzen lieb gehabt, so schwer es war mit ihr, so schwer es war für mich. Vielleicht aber habe ich auch in all den Jahren eine Rechtfertigung gesucht, etwas, das mich ertragen ließ, was geschehen war. Etwa so erzählte er es mir, ohne besondere Vorwarnung, obwohl sein Verhalten eine gewisse Ahnung zugelassen hätte. Doch war ich zu dieser Zeit nicht empfänglich, nicht vorbereitet auf eine so unvorstellbare Beziehung, wie sie ohne mein Wissen bereits zwischen uns bestand. 165 Ich war aber jetzt, 1993 auf der Parkbank in Wien, nicht mehr jene Maria die Kinderkrankenschwester, die ihm Ende der Siebzigerjahre zufällig assistiert und ihn damals vollkommen aus der Fassung gebracht hatte. Nun sollte er aus seiner Sicht erläutern, wie unsere einzige gemeinsame Krankenhausnacht für ihn verlaufen war. Er glaubte, als er mich zum ersten Mal sah, seinen Augen nicht zu trauen. Was oder wer ihm da wie selbstverständlich gegenübertrat und ihn über den Stand der Dinge informierte, war Silvia! Silvia, die er doch in Afrika vor langer Zeit verloren & begraben hatte, zusammen mit dem Kind, Silvia, die er tot bereits die finstere Landstraße entlang getragen hatte, bis jener Lastwagen mit einem hilfsbereiten rabenschwarzen Fahrer am Steuer aus der Dunkelheit auftauchte und ihn und seine seltsame Last in aller Selbstverständlichkeit mitnahm. Alles nämlich hätte er 1977, so lange danach, erwartet, in einer völlig anderen Zeit, an einem ganz anderen Ort, alles hätte er erwartet, aber nicht Silvia. Ich, die tatsächlich vor ihm stand, lauter verschiedene Wörter sagte, ihm die Instrumente reichte, wusste nichts davon. Er fing jetzt auf dieser zufälligen Parkbank, auf der wir uns niedergelassen hatten, an, zuerst stockend, dann immer flüssiger, seine Erinnerung wiederzugeben: Ich hörte keinen einzigen Satz, wusste nicht einmal, ob Sie etwas Deutsches oder Schwedisches gesagt haben. Wie in Trance versuchte ich zu arbeiten, horchte das Kind ab, überprüfte den Sauerstoff, stellte keine Fragen, war gar nicht bei Bewusstsein, so viel ist sicher. Herr Doktor, ich habe bereits die Transoxode angelegt, soll ich auch einen Astrup abnehmen? Einen Astrup? 166 Einen Astrup, ja, ist das recht so? Ich war überhaupt nicht in der Lage, darauf einzugehen. Ob das so recht ist, dass ich einen Astrup abnehme? Die jetzigen Sätze wechselten sich mit den damaligen ab, ergänzten sich wie selbstverständlich, kamen nicht durcheinander. Wir wussten erstaunlich gut, was wir gesagt hatten, wenigstens in den medizinischen Teilen, sogar die Reihenfolge. Meine Augen waren in den Ihren. Sie steckten sogar fest, glaube ich. Wie ein Betrunkener versuchte ich Klarheit zu gewinnen, etwas zu erkennen, zu begreifen, zu sagen. Ich kannte mich nicht mehr aus, dachte, ich müsste jeden Moment aufwachen. Das einzige Wort, an das ich mich erinnerte, war Silvia. Ich muss es ausgesprochen haben. Ja, ich glaube, es war ein Name, ja doch. Silvia? Wie bitte? Verzeihen Sie, Schwester, ich bin müde........ Ich, ich glaube, ich muss mich hinlegen........Entschuldigung.... Ich bin verschlafen. Verzeihung, es tut mir leid, ich glaube, ich muss mich hinlegen, ja, ich muss mich hinlegen…., tatsächlich aber hat mich so etwas wie der Schlag getroffen, ich muss mich ständig wiederholt haben, immer das gleiche gesagt, oder? Zwischen den Sätzen lagen lange Pausen, das stimmt, doch das 167 war nicht seltsam, weil Sie ja gearbeitet haben, flüssig, gekonnt, konzentriert, und es war nicht Ihre Muttersprache. Man spürte die Erfahrung, das Ethos, den Respekt vor dem kleinen Patienten, etwas, was man bei anderen Ärzten kaum zu Gesicht bekam, schon gar nicht nachts, wenn sie gezwungenermaßen aufstehen mussten und missmutig daherkamen, glaubten, muffeln, grantig sein und sogar schimpfen zu können. Ihre Hände waren flink & vorsichtig, schnell & langsam zugleich wie auch die Worte freundlich doch bestimmt, aber weich. In dieser Art verlief damals das rekonstruierte Gespräch, vielleicht aber war es auch anders, vielleicht versuchten wir beide, etwas durch Worte, Sätze, die wir gesagt haben wollten, wieder zu finden, eine Erinnerung aufzubauen. Wie könnte es gewesen sein? Doch seine emotionale Überwältigung bei meinem Anblick konnte ich in ihrer Tiefe weder jetzt noch damals erkennen. Es schien einfach außerhalb jeder Möglichkeit & Denkbarkeit, einem solchen Menschen von einem Augenblick auf den anderen etwas zu bedeuten, und doch lag angenehme Spannung in der Luft, damals wie heute, ja es schien sogar ein Hauch davon in mir zurückgeblieben und nach so vielen Jahren noch spürbar zu sein. Wir erinnerten uns vielleicht mehr an das Gefühl von einst, als an die Worte, die wir ausgetauscht hatten. Natürlich haben wir schon als Schwesternschülerinnen davon geträumt, uns in einen jungen Arzt zu verlieben, ja, von ihm geheiratet zu werden, überhaupt von der Liebe auf den ersten Blick über alle Hindernisse hinweg, doch wussten wir im Innersten alle nur zu gut, auch wenn sich die eine oder andere danach verzehrte, dass es diese Dinge nur in Groschenromanen oder mittelmäßigen Fernsehspielen gab, nicht aber in der Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die ganz besonders im Krankendienst anders aussah, uns täglich vor Augen geführt wurde und auf den harten Boden der Realität zurückbrachte. 168 Es soll Mädchen gegeben haben, die deswegen den Krankenschwesternberuf wählten, sich in diesen Phantastereien verirrten, alles daran setzten, einen Arzt ins Bett zu kriegen, um von ihm schwanger zu werden. Dabei ist es nicht einmal an den Haaren herbei geholt, überall gab es Kolleginnen, die in einer solchen Liebe verglühten, sogar Kinder zur Welt brachten, die ihre geheimsten Träume in sich trugen, Frauen die daran zugrunde gingen oder sich davon ernährten. Etwas davon war sogar tagtäglich bei den Visiten erkennbar, wenn man sehen konnte, wie manche Schwestern den Ärzten gegenüber kriecherisch & anbiedernd auftraten, sich von ihren Kolleginnen abzuheben, sie zu überflügeln versuchten, sie dumm dastehen ließen, nur um sich selbst in Szene zu setzen, unnötig unterwürfig & geschmeidig den Medizinern zur Hand gingen, ihnen nach dem Mund redeten, jede Mühe abnahmen, ihre Gedanken förmlich lesen konnten, sich durch vorauseilenden Gehorsam oder besondere Fleißaufgaben hervortaten, um ein Lob, ein Zwinkern, eine lockere Bemerkung, irgendetwas über das Medizinische hinausgehende, zu ergattern. Einigen war es genug und gleichzeitig das Höchste, mit einem ärztlichen Stationsvorstand, einem Professor gar, auch dies kam vor, oder auch nur einem einfachen Assistenzarzt ein Kind gezeugt, mit ihm einen oder mehrere intime Augenblicke erlebt zu haben und dies zum Höhepunkt ihres Lebens zu erklären. Mit Mühe zogen sie das Kind alleine groß, quasi in aller Heimlichkeit, ließen es von Freundinnen und wenigen Eingeweihten hüten, während sie endlos Nachtdienste verrichteten, Überstunden machten, recht & schlecht eine Wohnung ansparten, nur, um das außereheliche Kind eines Primars zu besitzen, zu verwöhnen, für es sorgen zu dürfen, für einen Primar, als dessen Geliebte sie sich fühlten, und der womöglich keine Idee davon hatte, dem es egal war, da er sich sowieso in anderen Sphären bewegte. Ihr ganzer Stolz war dieses 169 Mysterium, dieses Martyrium, dieses Geheimnis, welches sie zu etwas besonderem machte, wie sie meinten, abhob vom Alltag, der Routine des Krankenhauses, den Kolleginnen, die sich mit weitaus gewöhnlicheren Verhältnissen abfinden mussten. Ihnen aber genügte das Wissen um die Besonderheit des Kindes, das sie gerade austrugen, später aufzogen in dem sicheren Glauben, dass der Vater ein besonderer Mann war, ein Gott in weiß. Einer, der mit seiner Frau, nein, seinen Frauen, wahrscheinlich Golf spielte, mit seinesgleichen Tennisbälle hin- & herschoss, auf Segeltörns ging, eine Villa sein eigen nannte, ein Sommerhaus, schicke Wagen fuhr und es seinen ehelichen Kindern an nichts fehlen ließ. Diese Schwestern durften sich in aller Bescheidenheit anhören, wie weit die eigentlichen Kinder des Primars es bereits gebracht, welches Studium sie gewählt hatten, wie es ihnen mit der ersten Liebe erging, all die schmeichelhaften Fragen, die dem allseits Verehrten & Bewunderten von seinen Untergebenen während der Visite mitunter gestellt wurden. So wenigstens ließ sich die Laune des Chefs ab & zu aufheitern, sein Grant etwas mildern, seine Art als ganzes oder im einzelnen leichter ertragen, und natürlich konnten solche Korrekturen an seinem oft ekelhaften & launischen Betragen nur Stationsschwestern & Oberschwestern vornehmen. Niemand sonst hätte es wagen dürfen, ihn auf sein Privatleben anzusprechen. Es gab sogar Schwestern, die allein von den Träumereien lebten & aufblühten, denen es reichte, sich solche Illusionen nur auszudenken, sich ein Liebesleben parallel und im Geheimen zu erschaffen. Schwestern, die in ihrer Phantasiewelt verloren gingen, an sie ernsthaft glaubten und am Ende irgendwie & irgendwo vertrockneten, verhärmt, verbittert oder auch still & glücklich in aller Verborgenheit. Alles kam vor in dieser Welt, und es war das eine so gut und egal wie das andere. Wir mussten am Ende des Tages schließlich nur froh sein, wenn 170 alles halbwegs gut vorübergegangen war, man keinen Fehler gemacht, nichts vergessen oder übersehen hatte, der nächste freie Tag näher rückte und man diese Anstalt, wenn auch nur für kurz, verlassen konnte. Es war noch nicht wie heute, wo man ohne weiteres mit einem Mann ins Gespräch kommen kann, der Umgang insgesamt lockerer & freier ist, Verhütungsfragen kein unüberwindliches & unaussprechbares Problem mehr darstellen, ein Dialog darüber mit so gut wie jeder Person möglich ist. Unsere Jugend aber war noch geprägt von strenger Erziehung, von verlegenem Schweigen über die wesentlichen Dinge eines jungen Lebens, denn die Sexualität vor allem, war dominiert von Verklemmtheit, schlechtem Gewissen & Angst, galt als schwere Sünde, die zu beichten war. Demgemäß fand sie verstohlen statt, galt als schmutzig & abartig, wurde in dunklen Ecken verübt wie ein Verbrechen. Niemand sprach darüber; nicht einmal das Paar, das sich einander hingegeben hatte, warum und in welcher Situation auch immer, niemand hatte Worte dafür oder stand vor der Öffentlichkeit dazu, man schämte sich, denn da es allgemein verboten, geächtet war, musste es ohnehin verschwiegen werden. Ein Problem aber vor allem für das Mädchen, das sich so zum Flittchen, auch in den eigenen Augen, gemacht hatte. Die allgemeine & spezielle Stimmung unserer Vorgesetzten, der Oberinnen, der humorlose ernste Betrieb eines Krankenhauses, die Konfrontation mit Leiden & Tod Tag für Tag, Nacht für Nacht führten kaum zu natürlicheren Denkweisen, Vorgängen & Begegnungen. Man war schon heillos mit dem Dienst überfordert, wie nicht erst mit den schier unlösbaren zwischenmenschlichen Beziehungen & Regeln. Die Gepflogenheiten, der Umgang, alles trug noch den Stempel des Klösterlichen, der Demut, denn die Strukturen kamen von den geistlichen Schwestern, die nicht nur unsere Vorläuferinnen, sondern oft auch unsere Vorgesetzten waren. Sie verlangten von uns Schwesternschülerinnen und sogar von 171 den Diplomschwestern die Haltung von Novizinnen, die totale Verfügbarkeit für den Pflegeberuf. Etwas anderes war ihnen unvorstellbar. Unbezahlte, unregistrierte Überstunden standen auf der Tagesordnung, eine leise Frage in diese Richtung wurde bereits als völlige Unfähigkeit für diesen Beruf gewertet und schriftlich weitergemeldet. Grund genug, einen ins Visier zu nehmen, um keine gute Stunde mehr zu erleben, gefuchst & gemoppt zu werden. Wie unglaublich daher für mich, noch nach Jahren, mit einem Medizinprofessor dazusitzen und seinen offensichtlich ganz privaten Worten zu lauschen. Wenn unser letztes Treffen schon gegen jede Regel gewesen war, wie nicht erst dieses! Ich musste jetzt all meine Gedanken zum Schweigen bringen, irgendwie versuchen, ihm zu folgen, herauszufinden, was genau der Zweck dieser Sitzung war. Langsam drangen seine Worte zu mir, langsam wurde ich gewahr, dass er mir ganz persönlich etwas zu sagen hatte, ja, nur deswegen hergekommen war, er konnte ja nicht ahnen, woran ich gerade dachte, nichts von dem, was mir noch immer zu schaffen machte, obwohl ich es doch äußerlich längst hinter mir gelassen wähnte. Plötzlich, plötzlich, musst du wissen, plötzlich stand Silvia vor mir, ich traute meinen Augen nicht, glaubte nun endgültig zu spinnen, doch es war gleichzeitig so wirklich wie noch nie. Ich hatte viele Jahre nicht mehr von ihr geträumt, und jetzt verstand ich nicht gleich, wo ich war. Du hast genauso ausgesehen wie sie! Du warst im gleichen Alter wie meine Frau damals, vor so langer Zeit. Unvermittelt war er zum Du übergegangen. Eine Reinkarnation vielleicht, so dachte ich. Das soll es geben, im Fernen Osten, im Buddhismus. Das musste es sein! Silvia war in dir zu mir zurückgekommen, mir sogar als Krankenschwester gegenüber getreten, genau wie damals! In Stockholm in einem Krankenhaus vor so unendlich langer Zeit. 172 Ja, es war natürlich anders gewesen, ganz am Anfang, doch als sie fertige Schwester war, haben wir genau so zusammen-gearbeitet. Na ja, nicht ganz genau. Wir haben uns immer verstanden, auch wenn wir oft, viel zu oft gestritten haben, es schwer war für sie wie für mich. Wie gerne hätte ich in all den Jahren nach ihrem Tod, alles gegeben, um sie noch einmal zu sehen. Meine Frau, meine einzige Frau! Alles getan sogar, um nur mit ihr zu streiten, sie noch einmal neben mir zu haben, an ihrer Seite einzuschlafen, aufzuwachen. Oft träumte ich von ihr, doch, wenn ich es mir wünschte, träumte ich nicht. Ich wusste nicht mehr, ob ich es mir wünschen sollte oder nicht, denn es brachte mich das eine wie das andere durcheinander, ließ mich Tage & Nächte nicht zur Ruhe kommen, lenkte mich ab, brachte mich auf abwegige Gedanken, machte mir zu schaffen die ganze Zeit. Damals aber in Salzburg war ich fassungslos, denn noch nie seit ihrem Tod hatte ich sie so realistisch erlebt. Auch wenn ich mit dir ganz normal gearbeitet habe, ich dachte an nichts anderes, nichts anderes. Ich war völlig aus der Fassung. Das hat man aber nicht gemerkt. Ich war erstaunt, wie reibungslos alles von statten ging, wie ruhig Sie waren trotz der Aufregung, die immer um eine Neuaufnahme herrschte. Man sah Ihre Routine genauso wie Ihr selbstverständlich hohes Niveau. Ich dachte noch, wie professionell und ohne Vergleich im Gegensatz zu unseren Ärzten! Wirklich? Oh ja, Sie haben keine Ahnung, was ich mit denen mitgemacht habe, wie ekelhaft manche werden konnten, wenn sie ihren Teil nicht zustande brachten, vor allem nachts, es nicht und nicht schafften, den Tubus richtig einzuführen, den Nabelvenenkatheter 173 oder auch nur eine Infusion zu legen, die Maschine einzustellen, es war oft schrecklich, und manchmal klappte gar nichts. Sie aber, vor dem alle solche Angst gehabt hatten, einschließlich meine Person (beiderseitiges Lachen), Sie waren so höflich und freundlich. Eine einzige Erleichterung, eine Erholung. Sie haben mich mit Respekt behandelt. Zum ersten Mal habe ich gesehen, wie man auch in der Schnelligkeit ruhig und überlegt handeln kann, ohne herumzuschreien, nervös zu fuchteln, dass der Arzt nicht die Schwester beschuldigt, wenn er selber Fehler macht oder unsicher ist und fragt, was er tun soll. Wirklich wahr? Ja, wirklich wahr. Ich habe Sie sofort bewundert, fast verehrt. Das habe ich nicht bemerkt. Wie sollten Sie, wer waren Sie nicht gegen mich! Es muss für Sie normal sein, bewundert zu werden. Bestimmt nicht. Sie sind bescheiden. Nein, ich bin seither besessen gewesen von der Idee, dich zu finden, wieder zu finden, dich nicht aus den Augen zu verlieren, doch zuerst bin ich einmal vor Schreck davongelaufen. Sie haben dann etwas gesagt, was ich nicht begriffen habe, auch später nicht, was mich beschäftigt hat die ganze Zeit trotz meines eigenen, völlig anderen Lebens. Was habe ich überhaupt gesagt, bevor ich ging? 174 Sie haben gesagt: Wenn ich jünger wäre, würde ich Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, mit mir zu leben. Ich werde diesen Satz nie vergessen! Ich habe tausendmal über ihn nachgedacht, ihn mir wieder & wieder in Erinnerung gerufen. Er war mir Trost & Freude, obwohl ich doch glücklich war, und doch gibt es immer Momente, in denen man an etwas denken möchte, das einen entführt und irgendwie hilft über die Trostlosigkeiten und Sorgen mancher Ereignisse hinweg-zukommen. Vielleicht auch, um zu wissen, man hätte nicht nur diese eine Möglichkeit gehabt. Auch war ich so froh, dass Sie Deutsch konnten, ich kann’s Ihnen gar nicht sagen, ich hatte solche Angst, Sie würden mich, wie befürchtet, fließend Englisch oder Französisch ansprechen, denn genau deswegen wollte ja niemand diesen Nachtdienst machen. Einzig wegen Ihnen und wegen der Furcht aller Schwestern vor Ihnen! Oh, mein Gott! Meine allerliebste Tante Marie ist zwar Französischlehrerin gewesen, doch hat sie vergeblich versucht, mich für diese Sprache zu begeistern. Eher, glaube ich, würde ich Chinesisch lernen, bin froh, wenn ich bei Vorträgen auf französischen Ärztekongressen ein paar einleitende Sätze zustande bringe. Später hat sogar Marie eingesehen, welch‘ ein aussichtsloser Fall ich bin und mir makellose Sätze aufgeschrieben, sie mit mir einstudiert, mich auswendig lernen lassen, noch am Flughafen die wichtigsten Dinge, die ich auf keinen Fall vergessen durfte, hinterher gerufen! Meine liebe, gute Tante Marie! Man hat meistens Angst vor Dingen, die gar nicht existieren. Sie haben mich ganz nah und tief angeschaut, das war zwar seltsam, aber gleichzeitig wunderschön! Es brachte mich in die äußerste Verlegenheit. 175 Ja, weil ich dachte, ich hätte etwas Dummes gesagt, man kann ja in einer fremden Sprache etwas völlig Falsches zum Ausdruck bringen, ohne es zu bemerken. Als du nicht reagiert hast, lief ich davon, um mich auszuweinen, wollte nicht niederbrechen vor dir. Alptraum und Glück zugleich. Ich wusste nicht einmal, ob ich noch lebte oder schon im Jenseits war, ob ich in einem Traum herumspazierte oder in der Wirklichkeit stand. Wenn ich im Ausland bin und gerade aufwache, weiß ich zuerst nie, wo ich bin, ich muss mich erst orientieren. Später zu Hause dann ist es wieder so, ich glaube, wenn ich aufwache, noch in der Fremde zu sein. Ich glaube, die Seele muss erst nachkommen, der Geist weilt noch anderswo. Sie sind die ganze Nacht nicht mehr gekommen. Sie sind überhaupt nicht mehr gekommen. Ich habe Sie nicht wieder gesehen, und es tat mir unendlich leid. Ich hatte das Gefühl, mich verliebt zu haben, völlig abwegig, aber ich konnte nichts dafür, und ich war traurig wie nach einer verpassten Gelegenheit. Ich weiß. Ich bin kurz darauf, schon am übernächsten Tag, heimgefahren. Ich musste mich erst erholen, Klarheit finden, Abstand, was weiß ich. Seit diesem Augenblick, dieser Nacht, denke ich an nichts anderes mehr, nichts anderes. Was hätte ich tun sollen, was wäre das Richtige gewesen, was habe ich falsch gemacht? Warum konnte ich die Gelegenheit nicht am Schopf packen und zu dir sagen: Hör zu, du siehst aus wie meine verstorbene Frau Silvia, ich möchte dich heiraten, ich habe dich wieder gefunden, irgendetwas dieser Art. Aber ich war nicht in der Lage dazu. Als ich wieder in Stockholm war, wollte ich zurückkommen, aber 176 ich habe es nicht geschafft. Andere Dinge waren wichtig, ich steckte mitten in meiner Karriere, sie lag wie ein gemähtes Feld vor mir, ich musste es nur betreten, niemand war auf meiner Spur. Außerdem lenkte es mich ab. Da ich niemanden hatte, konnte ich mich auf die Forschung konzentrieren, fand meine Befriedigung, meinen Ausgleich darin, redete es mir ein. Doch irgendwann und immer wieder kamen die Stunden der Einsamkeit, der Freizeit, ich war über vierzig, hatte keine Familie, keine Kinder, denn du musst wissen, als ich meine Frau verloren habe, ist noch etwas Schreckliches passiert. Was ist passiert? Als sie starb, war sie schwanger, hochschwanger, es war ein Unfall, ich selbst habe sie in den Tod gefahren. Was!? Das glaube ich nicht. Doch. Dies ist mein erster Gedanke, wenn ich aufwache und mein letzter, wenn ich einschlafe, seit damals, seit ich überhaupt zu Bewusstsein gekommen bin, dieser unfassbare, dieser untragbare Gedanke hat mich nicht mehr verlassen. An dieser Schuld trage ich so schwer, wie es sich niemand vorstellen kann. Sie hat ihre Spuren hinterlassen, Spuren, Maria, die nicht zu übersehen sind. Und hier füge ich ein, wie es überhaupt nach all den Jahren zu einem Wiedersehen mit Sommerfeld kam. Ich war nämlich nicht mehr Kinderkrankenschwester, hatte mich seit der Geburt meines zweiten Sohnes aus dem Beruf zurückgezogen. Schon einige Jahre zuvor aber hatte ich zu s c h r e i b e n begonnen. Zuerst Gedichte, Tagebücher, dann autobiogaphische Texte, später 177 Erzählungen, Geschichten aus der Vergangenheit, die ich erlebt oder gesehen hatte, Geschichten, die erzählt wurden, Geschichten, die in mir waren, denn immer schon habe ich Erinnerungen hochgeschätzt, das Gedächtnis, das sogar Dinge aufhebt, die man vergessen zu haben glaubt. Da ich auf einem Bergbauernhof aufgewachsen bin, wusste ich Dinge, die schon in der Hauptstadt niemand mehr kannte. In Wahrheit brauchte ich nur meine Tagebücher, meine alten & neuen Notizen durchzugehen und etwas ernsthafter zu Papier bringen. Es kam der Tag, an dem ich meine Manuskripte von jemandem Wichtigen lesen ließ. Man fand Gefallen an ihnen, so wurde ich übermütig und reichte eine furchtbar traurige Erzählung für einen großen Literaturpreis ein. Der Zufall wollte es, dass ich ihn gewann. Auf diese Weise kommt man an einen Verlag, sieht auf einmal seine eigenen Sätze gedruckt vor sich. Kaum zu glauben, aber so war es. Ohnehin ist alles viel banaler, als man es sich als Anfänger vorstellt, der so gut wie zu jedem, der auch nur eine einzige Seite, und sei es in einer Zeitung, veröffentlicht hat, aufschaut, doch, was man überall & wirklich braucht, ist das Glück in Gestalt von jemandem, der einem hilft, vielleicht aus Dankbarkeit darüber, weil es ihm selbst einmal ähnlich ergangen ist. Jemand half auch mir, jemand hatte Erbarmen, Verstand & Geschmack für das, was ich schrieb, und so überhaupt konnte es so weit kommen, am Ende dies hier niederzuschreiben. Zu der Zeit, als ich gerade zwei Gedichtbände verlegt und meinen ersten großen Literaturpreis mit gar nicht so wenig Geld in der Tasche hatte, ging ich mit meinem, damals wenige Monate alten Baby zu einem Kinderarzt, mit dem ich früher auf der Station gearbeitet hatte. Wir plauderten bald über unsere gemeinsamen, längst vergangenen Spitalserlebnisse, scherzten über Vorkommnisse, die 178 freilich damals gar nicht zum Lachen gewesen waren, fanden & fanden kein Ende. Eins ging ins andere über, wir hatten wohl die Zeit, den Ort sogar vergessen. Diese Ordination war bestimmt nicht die richtige Stelle, um in Erinnerungen zu schwelgen, wie es uns gerade einfiel. Die Sprechstundenhilfe sah sich gezwungen, unwirsch hereinzukommen, um auf das noch immer recht volle Wartezimmer hinzuweisen. Draußen die quengelnden Kinder, die nervösen Mütter, und wir wussten uns nichts Besseres als wie zwei Marktweiber ohne Takt & Gewissen zu tratschen und zu lachen, dass es durch die Tür zu hören war. Wir mussten Schluss machen, schweren Herzens, es half nichts. Plötzlich & abschließend also, wie um einen Termin zu vereinbaren, an dem wir das überaus unterhaltsame Gespräch fortsetzen konnten, fragte er mich, ob ich auch zur Abschiedsfeier unseres ehemaligen & gemeinsamen Primars kommen würde. Abschiedsfeier? Davon hatte ich keine Ahnung. Es waren sogar gedruckte Einladungen verschickt worden, denn der Professor, der in der Schwesternschule auch mein Professor gewesen war, bei dem ich meine großen Kinderheilkundeprüfungen abgelegt hatte, jener Professor also, der meinen ganzen Schwestern-schülerinnenrespekt genossen hatte, den ich immer noch verehrte, ja, mochte wie keinen anderen, dem einst mein einfältiges Schwesternherz, mein Verstand zu Füßen lagen, dieser einzigartige, gütige, weit über mir & über allen stehende Vorgesetzte, sollte nun in Pension gehen, das Krankenhaus verlassen? Wie unvorstellbar! Es war, als ob das Kinderspital, ja, die ganze Kinderheilkunde aufhörte zu existieren. Ich weiß nicht, ob ihn andere genauso sahen, aber mich verband mit ihm eine ganz besondere Beziehung, denn obwohl ich einst als Schwesternschülerin vor seinen Augen gravierende Fehler gemacht hatte, war dies für ihn nie ein Grund gewesen, mich nicht mit Wohlwollen & Güte zu behandeln. Nie hat er mich vor anderen getadelt, immer war er mir freundlich gesonnen. Ob ich nicht kommen wolle, er würde sich bestimmt freuen, alle 179 würden sich freuen, ach bitte, ich solle es mir überlegen, so der Kinderarzt. Ich wollte nicht uneingeladen erscheinen, andererseits juckte es mich, hinzugehen, ihm alles Gute zu wünschen, ihm, mit dem ich so viel erlebt, bei dem ich so viel gelernt, den ich wirklich ins Herz geschlossen hatte. Der immer fein & vornehm zu mir gewesen war, nicht wie die anderen Primare, welche einer Schwester nicht einmal einen Gruß erwiderten. Zuerst dachte ich nicht daran, zu diesem Fest zu gehen, doch es ließ mich nicht los, nicht schlafen, es arbeitete & rumorte in mir, machte mich hin & her überlegen. Es reute mich, dass ich nun davon wusste, es nicht mehr aus dem Kopf bekam, obwohl es mich nichts mehr anging, ich nicht eingeladen war, nur durch einen Zufall davon Kenntnis erhalten hatte. Dann auf einmal nahm ich all meinen Mut zusammen, denn die Sehnsucht, mich in aller Form von ihm zu verabschieden, ihm zu danken für seine Freundlichkeit, sein Verständnis, überwog letztlich meine Bedenken, meine Furcht, ihm in aller Öffentlichkeit gegenüberzutreten, und so beschloss ich, nicht länger feige zu sein. Ein Geschenk zu finden, nämlich meine beiden, beinah noch druckfrisch vorliegenden Gedichtbände, war nicht schwer gewesen. GOLD DER FRÜHEN JAHRE und NORDLAND & ORIENT. Zwei Bücher, ein weißes & ein schwarzes, mein erstes & mein zweites. Darauf legte ich ein gefaltetes japanisches Origami, welches wiederum zwei Kinder, einen Buben und ein Mädchen, auf einer Schaukel darstellte, eine herzallerliebste Szene, ganz aus Papier und von besonderer Bedeutung wie mir schien, für einen Abschied nehmenden Kinderarzt. Ich hatte es in einem asiatischen Geschäft gefunden und sofort gewusst, er würde es verstehen, es wird ihn zuinnerst freuen und sein weiches Herz berühren. Als ich in dem Schloss, wo die Feierlichkeit stattfand, eintraf, 180 waren schon so gut wie alle Gäste da, man konnte nicht wissen, ob es fünfhundert, tausend oder noch mehr waren, auf jeden Fall eine wogende, schier unüberschaubare Menge. An einem Winterabend des Jahres 1993 also lag vor mir ein festlich erleuchteter Märchenpalast voller schön gekleideter Menschen, denn es nahm ein ganz besonderer Mann, einer, der für so viele von Bedeutung gewesen war, heute Nacht Abschied, Abschied von dem, was er gewesen war und morgen bereits Vergangenheit sein würde. Abschied von einer großen Karriere, Abschied von seinem Leben als Arzt, als Leiter eines Kinderkrankenhauses, Abschied von Leuten, die ihm ans Herz gewachsen waren, von seinen Untergebenen, ihm einst Anvertrauten, von seiner Rolle als Vorgesetzter, als geschätzter, manchmal gefürchteter Kollege, als Lehrer, nahm Abschied von Menschen, die er ausgebildet, begleitet, gefördert & gefordert hatte und von denen er die meisten nicht wieder sehen würde. Unvorstellbar kam es mir nun vor, dass ich hergekommen war, verwegen fast, und doch verband auch mich etwas mit ihm, das ich nicht hatte übergehen können. Bei ihm habe ich meine großen Kinderheilkundeprüfungen abgelegt, dachte ich, unzählige Visiten erlebt, Weihnachtsfeiern & Geburtstagsfeiern, gute & traurige Stunden. Warum also sollte ausgerechnet ich nicht gekommen sein? Mit solchen & ähnlichen Gedanken versuchte ich mir noch einmal Mut zu machen, um nicht angesichts dieser Darbietung, dieses Aufgebots an Eleganz & Feierlichkeit, die einem König nicht zu schlecht gewesen wäre, ja, einem den Atem nehmen konnte, auf dem Absatz wieder umzudrehen und in der Dunkelheit dieser Nacht zu verschwinden. Jeder hier, ob Arzt oder Ärztin, Schwester oder Lehrerin teilte mit ihm eine Erinnerung, eine mehr oder weniger große oder kleine Geschichte, eine ganz persönliche Gemeinsamkeit, vielleicht sogar ein Geheimnis. Ich hätte nicht erwartet, dass es so viele sein würden, dass praktisch niemand fehlte, nicht aus den oberen, nicht aus den 181 unteren Rängen. Wenn man einen Vorgesetzten lieben kann, dann wurde er geliebt, das konnte jeder sehen, und gerade dies war das besondere an ihm, denn wer kann schon jemanden lieben, der so hoch über ihm steht wie er es tat? Er hatte offenbar den ritterlichen Weg zwischen Milde & Strenge gefunden, zwischen Freude & Leid, zwischen Vermögen & Unvermögen, zwischen Erfolg & Scheitern, zwischen Anspruch & Wirklichkeit, zwischen Fordern & Barmherzigkeit. Vielleicht hat sein persönliches Schicksal dazu beigetragen, alles mit Verständnis zu sehen, immer das Augenmaß zu wahren, das große, das ganze zu sehen, die Ewigkeit einzuschließen in seine wichtigen Entscheidungen, auch, wenn selbst er nicht alles erreicht hatte, was möglich gewesen wäre. Ich getraute mich kaum hinein, arbeitete ja nicht mehr im Krankenhaus, gehörte nicht mehr wirklich dazu, obwohl ich so viele bekannte Gesichter wiedersah. Man hörte schon von draußen durch die geschlossenen Fenster Gläserklirren, helles Lachen, Musik, die Geräusche eines Festes eben. Die Empfangshalle, ein runder prunkvoller Raum mit geometrisch gemustertem Steinboden, einer Menge weißer Säulen, noch nie hatte ich so etwas Erhebendes außerhalb einer Kirche gesehen. Ich bekam im Moment des Eintrittes in diesen beinahe sakralen kreisrunden Raum ziemlich weiche Knie, besaß ich doch nicht einmal eine Einladung, bald würde man mich kontrollieren, es musste mir demnächst einer dieser schwarz-weiß livrierten Diener die Türe weisen, mich hinausschicken in den Schnee, und vielleicht wäre es sogar am besten, dies würde geschehen. Vielleicht gab es noch etwas, das mich davor bewahrte, einen solchen Abend tatsächlich anzutreten, durchzustehen, zu bewältigen, denn ich hatte dies nirgends gelernt, noch nie gesehen, es überstieg meine Fähigkeiten zur Gänze. Doch nichts geschah, niemand verhinderte meinen Eintritt, niemand verlangte einen Ausweis, eine Einladung, niemand nahm mich in 182 Augenschein oder musterte mich. Dann wurde ich gefesselt von der Atmosphäre, mit der man hier empfangen wurde. Dass es das gab, in heutiger Zeit, in der Gegenwart, in der ich lebte! Wohin man schaute, standen schier unüberschaubar lange Büffettische mit bunten, zum Teil recht exotischen Speisen darauf, überall behandschuhte Kellner mit silbernen Tabletts, dazwischen, als wäre alle Lusterbeleuchtung noch nicht genug, vielarmige Kandelaber mit brennenden Kerzen, sie dienten wohl keinem anderen Zweck als dem, das Bild vollkommen überirdisch erscheinen zu lassen. Bedienstete bieten prickelnde Getränke in schlanken hohen Gläsern an, roten Wein, weißen Wein, rosaroten Wein. Andere nehmen einfach nur Mäntel & Jacken, Hüte & Schals entgegen, gehen jedem zur Hand oder stehen mit schweifenden, aufmerksamen Blicken herum. Wie in einem Film, dachte ich, oder beim Wiener Kongress. So muss es auf den berühmten Winterbällen vergangener Jahrhunderte in Sankt Petersburg ausgesehen haben. Was mich aber am meisten beeindruckte, war die Selbstverständlichkeit, mit der alles von statten ging. Wie im Traum kam niemandem etwas spanisch vor. Zwar sah ich viele bekannte Gesichter, viele aber kannte ich nicht. Niemand von den Kellnern nahm mich wahr, fragte mich etwas, ich musste mich weiterhin nicht ausweisen, brauchte noch immer keine Karte, keine Erklärung und also keine Angst zu haben. Ich nahm meinen Schneid zusammen, und es gelang mir irgendwie, mit meinen Päckchen mitten durch die Leute zu kommen, wollte es nur schnell abgeben und mich wieder davonmachen. Wie wichtig doch Feste sind, sinnierte ich noch, um sich zu präsentieren, wie schön & entrückt die Leute wirken, die sonst gar nicht so besonders aussehen, ja, Kleider machen eben Leute, ein wenig Glanz die Wirklichkeit erträglich. Um mich herum wogte es, Paare drehten sich im Tanz, Kleider flogen, vorallem die Frauen waren so hübsch & leicht an diesem 183 Abend, aber auch die Herren in ihren dunklen Anzügen mit Fliegen & Krawatten kaum wiederzuerkennen. Kein Vergleich zu den schlampigen & verknitterten Ärztekitteln und wie sie darin tagtäglich, nachtnächtlich, aussahen. Gott sei Dank steuerte mich mein Instinkt in die richtige Richtung, denn am Ende tauchte wirklich ein langer, quer gestellter Tisch auf, in dessen Mitte wie einst der König von Thule, der Professor saß. Doch dies war, wie sich plötzlich herausstellen sollte, längst nicht alles, denn neben ihm, neben ihm, ich musste betrunken sein, erkannte ich jemanden, mit dem ich im Leben nicht gerechnet, ja, den ich vollkommen vergessen hatte! Meine Hände zitterten noch mehr als zuvor, jeder musste es sehen, während ich mich immer unsicherer, doch gleichzeitig entschlossener näherte, ein Zurück gab es ja jetzt nicht mehr; ich musste voran, es hinter mich bringen und so schnell wie möglich wieder verschwinden. Na, ja, von dem vielen guten Essen da wollte ich, wenn‘s ging, schon was erwischen, aber wie, wie, um Himmels Willen, dies hier noch überstehen! Meine Geschenke überreichen, meinen überlegten Text sagen! Schluss aus. So etwa lautete der innere Befehl, den ich mir gab. Da spürte ich plötzlich die überaus aufmerksamen Blicke jenes besonderen Gastes auf meinem Gesicht, meinen Händen, meinen Sachen, ja, seine Augen brannten auf mir. Ich muss ganz rot geworden sein, mir wurde heiß, fast schwindlig, bereute es jetzt bitter, gekommen zu sein. In dem winzig kleinen Moment, wo meine Augen die seinen streiften, erkannte ich den gleichen innigen Blick jener weit zurückliegenden Nacht. Er hatte ihn eingeladen. Er hatte ihn eingeladen! Er war aus Schweden hergereist, eine große Ehre für ihn wie auch für unseren Professor, der mich jetzt ebenso gerührt & überrascht betrachtete 184 wie der andere. Der Blick des Fremden in diesem Moment auf mir war das Vorspiel für das Buch, das ich nun schreibe. Bei aller Süße und allem Glück, das nun vor mir lag, hatte ich doch keine Ahnung vom Ausmaß der Last, des Schmerzes, der Verzweiflung, die zu tragen sein würden. Und doch geschieht immer alles in einem einzigen Augenblick, und eigentlich war es längst geschehen. Der Professor stand auf, hielt mir seine beiden Hände entgegen, freute sich sichtbar über meine Anwesenheit, lächelte milde & gerührt wie er es immer getan hatte. Nie war er böse oder ungehalten mir gegenüber, auch dann nicht, wenn es verständlich gewesen wäre. Ich hatte es nie verstanden, und doch war es so, niemand hatte je Mitleid mit mir gehabt, Nachsicht gezeigt, nur dieser außergewöhnliche Mann, der mein oberster Vorgesetzter, mein Professor gewesen war. Immer, seit ich ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sein Blick mit Wohlwollen auf mir gelegen. Ich glaube, ich habe gesagt: Alles, alles Liebe, und bitte entschuldigen Sie, dass ich einfach so gekommen bin, ich habe es von Dr. Raphaeli erfahren. Ich wollte mich nur verabschieden und mich für alles bedanken. Ich bitte Sie, es ist eine große Ehre für mich, dass Sie, liebe Schwester Maria, gekommen sind, entschuldigen Sie tausendmal, dass ich auf Sie vergessen habe, aber wir hatten uns aus den Augen verloren. Schon die Tatsache, dass er das „wir“ gebrauchte, hob mich zu ihm hinauf. Er hatte noch immer dieselbe feine Art, einem zu begegnen, denn aus Wien stammend war er, war seine Generation noch im Geist des Alten Österreich erzogen worden, wo Höflichkeit & Freundlichkeit selbstverständlich zur Bildung gehörten, ja, wichtiger waren als alles, was es gab, wichtiger als Wissen & Besitz. Am Benehmen erkannte man alles, mochte 185 jemand auch verarmt sein oder alt, vergesslich oder verschmutzt, er blieb immer ein Herr, versagte niemandem den Respekt, auch wenn andere es ihm gegenüber taten. Später blies er, wie ich es vorgezeigt hatte, leicht über das papiererne Spiel hinweg, sodass die Kinder auf dem federleichten Gebilde zu schaukeln begannen. Meine liebe, liebe Schwester Maria, ich danke Ihnen von Herzen! Was für ein Geschenk! Und die Bücher erst! Die sind ja von Ihnen! Ungläubig starrte er auf die Titel, meinen gedruckten Namen, ungläubig auch auf mich. Wie konnte es geschehen, dass eine kleine Kinderkrankenschwester, die längst nicht mehr auf einer seiner Stationen arbeitete, nun als Schriftstellerin vor ihm stand, zurückgekommen war, um sich zu verabschieden und ihn so vorzüglich wie ungewöhnlich beschenkte. Er war nun einmal genau der Mensch dafür. Er liebte die Kunst, das Außergewöhnliche, das Phantasievolle, das Besondere, das sichtbar gemachte Unsichtbare, die alten Sprachen, war feinsinnig & religiös. Wenn er in die heilige Messe ging, in die Christmette, die Auferstehung, kniete er nieder, um in aller gebotenen christlichen Demut die Kommunion in Empfang zu nehmen, dies hatte zufällig einmal eine Kollegin beobachtet. Niemand in dem Dorf, wo er wohnte, hätte sich vorstellen können, was für ein Herr er in Wirklichkeit war, denn privat gab er sich zurückhaltend, höflich, vorsichtig, entgegenkommend, unauffällig, auf jeden Fall bescheiden. Freilich wusste man, dass er irgendwo in der Stadt Arzt war, man grüßte ihn respektvoll, wenn er mit dem Wagen vorbeifuhr, mit dem Hund spazieren ging, seine gelähmte Frau im Rollstuhl vor sich her schob. Man schätzte ihn, weil er wie alle in die Kirche ging, nicht war wie andere auswärtige Leute, die zwar in der Gemeinde Villen besaßen, Sommerhäuser, Almhütten, aber sich 186 sonst nicht blicken ließen, keinen Kontakt pflegten, sich hinter Mauern & Zäunen unnahbar machten. Wenn er zur Visite kam, standen wir in Reih’ & Glied, war alles für ihn vorbereitet. Wir fürchteten seinen Blick, seine Fragen, jeden seiner Auftritte. Trotz seiner Freundlichkeit war er streng & äußerst genau. Mit mir aber war er immer nur nett gewesen. Ich hatte große Achtung vor ihm, aber keine Angst wie viele andere, denn ich hatte ihn in vielen Situationen erlebt. Er verlor nie die Beherrschung, wurde niemals laut, sprach immer ruhig, wies kaum jemanden vor den anderen zurecht, sondern sagte es einem allein unter vier Augen oder ließ es später diskret ausrichten. Wie stolz ich auf Sie bin, wie stolz, wie unendlich stolz! Meinen innigsten Dank für dies und alles, alles. Ein herzliches Vergelt’s Gott! Danke! Danke! Tausend Dank! Nordland & Orient! Gold der frühen Jahre! Was für Worte! Was für Titel! Möge der Herr es Ihnen vergelten! Möge der Herr es Ihnen vergelten. Das waren seine Worte. Die Innigkeit, mit der er es sagte, schien mir fast zu nah, und als ob das nicht genug wäre, küsste er mir die Hand, vollendet, fast untertänig, was mich noch mehr in Verlegenheit brachte. Bitte bedienen Sie sich, vergnügen Sie sich, essen Sie, was immer Sie wollen, tanzen Sie! Seien Sie, liebe Schwester Maria, die ich schon so lange kenne & schätze, mein aller-, allerliebster Gast! Er nahm meine rechte Hand nicht einfach entgegen, sondern behielt sie in seinen beiden Händen, ein langer warmer Druck, der viel mehr beinhaltete, als es den Anschein haben mochte, unsere persönliche Geschichte, welche wir in aller Distanz miteinander hatten, mit einschloss und für alle Zeit aufbewahrte, so sehr, dass 187 ich nun auch darüber schreiben muss. Jetzt, in diesem Augenblick war ich froh, gekommen zu sein und mich nicht gedrückt zu haben. Haben Sie Kinder?, hörte ich ihn fragen. Ja, zwei Söhne. Wie schön. Ich freue mich so. Sie müssen sehr glücklich sein! Ja. Sehr. Ich wünsche Ihnen alles Liebe & Gute, vor allem Gesundheit für die Zeit, die vor Ihnen liegt. Mögen es noch viele schöne & glückliche Jahre sein! Dies waren meine Worte. Bei seinen, an sich schon glänzenden Augen, meinte ich doch, richtige Tränen gesehen zu haben. Gewiss, es mag einem kitschig vorkommen, doch nun, wo er bereits gestorben ist, weiß ich, es war eine berechtigte & verständliche Rührung, und niemandem an seiner Stelle würde es anders ergehen. Es lagen nicht mehr viele Jahre vor ihm, obwohl er damals bei bester Gesundheit schien und er sich, seit ich ihn kannte, jedenfalls äußerlich, nicht verändert hatte. Es passte gut zu ihm, und bis auf eine kleine, aus der Distanz beobachtete Begebenheit, sollte ich ihn nicht wieder sehen. Es war zwei, drei Jahre danach auf dem Salzburger Grünmarkt ein ganz gewöhnlicher Wochentag, als er mit einem geflochtenen Weidenkorb am Arm einkaufen ging, lächelnd, interessiert, er schien vollkommen glücklich zu sein mit dieser vergleichsweise einfachen Tätigkeit, und die Leute in ihren Ständen hatten keine Ahnung, wer vor ihnen stand. Er ist jetzt nur noch ein alter Herr, ein Pensionist, den wohl seine Frau um dieses & jenes geschickt hat. Da nimm den Zettel und geh, bring nichts Falsches, pass auf das Geld auf, wird sie gesagt haben. 188 Nach dem langen schweren Sterben seiner ersten Frau war er, der gläubige Katholik, nun wieder verheiratet. Darauf bedacht, das Richtige zu finden, sich Obst & Gemüse genau anzuschauen, ging er vor den sorgfältig angeordneten Kisten überlegend hin & her. Er nahm dies hier so ernst wie früher seine Visiten, seine Studenten, seine Schwestern & Schwesternschülerinnen, seine kleinen Patienten, es war ja eine Verantwortung ganz anderer Art gewesen, eine so übergroße, dass seine jetzige Frau wohl kaum eine Ahnung davon haben konnte. Wie, als er noch Universitätsprofessor für Kinderheilkunde gewesen war, Primarius des Kinderkrankenhauses, so war er nun gewissenhafter Einkäufer, und genau dies zeichnete ihn für mich als einen besonderen Menschen aus, denn er erachtete eine solche Tätigkeit nicht als zu gering, war weder herablassend noch anmaßend. Er ließ sich nicht titulieren, sondern war zu einem Ehemann wie alle anderen unvollkommenen Ehemänner geworden, die ihren Frauen schließlich, und sei es nur mit dem richtigen Gemüse, als ganze Kerle gegenübertreten wollen, um vor ihr zu bestehen, sie nicht zu enttäuschen. Er hatte seine Ämter abgegeben, sie einem jüngeren Kollegen überlassen, konnte sich mit Befriedigung & Genugtuung ausruhen, ins Privatleben zurückziehen, durfte endlich ausschließlich Ehemann, Vater, Großvater sein. Als ich noch Kinderkrankenschwester war, gelang es mir nicht, solche Ärzte, die oft wie Götter behandelt wurden und auch so gesehen werden wollten, als normale Menschen oder Männer mit gewöhnlichen Bedürfnissen zu sehen. Wie sich ihr Familien- & Sexualleben gestaltete, lag außerhalb jeder Vorstellung, ja, schon der Gedanke daran war eine Anmaßung, etwas, das einen nichts anging und niemals, niemals für unsereins in Betracht gekommen wäre. Doch es sollte sich eines Tages alles aufklären, selbst für mich, ja, eine Art Wirklichkeit werden, welche, als die Stunde dafür 189 gekommen war, nichts Ungewöhnliches mehr an sich hatte, sondern mich lehrte, wie sehr alle Menschen gleich und von einer einzigen Sehnsucht bestimmt sind. Doch zurück in den Winter des Jahres 1993, den Ballsaal mit seinen Lustern, der Musik, den herrlichen Speisen, den vielen Gästen, zurück zur Abschiedsfeier, die gerade in vollem Gange ist. Nachdem ich bei meinen früheren Kolleginnen einen freien Platz gefunden und mir reserviert hatte, ging ich zu den Tischen mit all den Speisen hinüber, die da so überaus bunt & ansehnlich hergerichtet waren. Man wusste überhaupt nicht, was man zuerst nehmen sollte. Aus allen Dingen sprach des Professors Weltläufigkeit, sein Geschmack, seine Großzügigkeit, vor allem aber seine Freude, Gäste zu verwöhnen, Menschen um sich zu versammeln, sie fröhlich zu sehen, ihnen mit Köstlichkeiten aller Art aufwarten zu können. Er liebte es, in Gelassenheit & Konzentration feinsinnige Gespräche zu führen, seine humanistische Bildung & Kultur zum Ausdruck zu bringen. Doch kaum hatte ich mir von einigen der ausgestellten Teller etwas genommen, dort & da schnabuliert, viel zu viel aufgeladen, mir Wein an den Tisch bestellt, mich von der Aufregung halbwegs erholt, da kam plötzlich dieser schwedische Gast Doktor Sommerfeld langsam, aber geradewegs auf mich zu. Zuerst vereinzeltes Staunen, dann allgemeine Verblüffung, sogar Enttäuschung bei einigen anderen, denn er hatte scheinbar mich ins Visier genommen, ja, er ging eindeutig zu mir, und als er ganz nahe war, lächelte er mich an und sagte in makellosem Deutsch: Bitte, Schwester Maria, wenn Sie mit mir tanzen möchten? Verlegen schaute ich auf meinen Teller, den ich in diesem Augenblick weit lieber verschlungen hätte, als ausgerechnet mit diesem Mann vor aller Augen meine Tanzkünste unter Beweis zu stellen. 190 Mein Herz klopfte schon wieder wie verrückt, dennoch ließ ich vorerst alles stehen & liegen, mein Handtäschchen sogar, ging gehorsam mit, folgte ihm auf die spiegelglatte Tanzfläche. Erst dort spürte ich seine Hand leicht an meinen Körper, ich gab meine rechte in seine linke, und wie von selbst begannen wir unseren ersten Tanz, einen Wiener Walzer. Es war fast wie damals, in der Nacht auf der Intensivstation, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Auf einmal hörte ich seine Stimme, sie muss etwas wie: Wie schön Sie sind! gesagt haben, worauf ich mit einem dümmlichen Nein geantwortet habe, darüber lachte er, und dieses Lachen brach das ganze Eis, das zwischen uns lag, hob die Entfernung auf, die Distanz zwischen unseren Körpern. Er drückte mich fester an sich, und bald wirbelten wir mitten durch die anderen Paare, es blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich fallen, führen, leiten zu lassen. Schließlich fanden wir uns vor einer offenen Terrassentür, und so operettenhaft es mir heute vorkommt, so romantisch schien es mir damals, er tanzte mit mir hinaus in den Schnee, erhitzt, errötet ja, wir tanzten noch, als die Musik bereits aufgehört hatte. Bleiben wir hier! sagte er. Es ist kalt. Holen wir unsere Mäntel! Ja. Er trug einen schweren Mantel, der innen mit Pelz gefüttert war, lederne Handschuhe. Auch der Kragen war pelzig. Dagegen nahm sich meine dicke indische Baumwolljacke recht bescheiden aus, und doch bewunderte er sie. Erstaunlich wie er sie auf meine Beschreibung hin unter den vielen Kleidern gefunden 191 hatte. Sie war ein Geschenk meines Mannes, mit ihr verband ich viele schöne Wintererinnerungen, Schlittenfahrten, Spaziergänge, Schneegestöber, kalte Vollmondnächte, vor allem aber ein großes künstlerisches Projekt, das ich ganz wesentlich mitorganisiert hatte. Diese Jacke war sein Dank an mich für fünf Jahre Arbeit, ich hatte sie mir als einzigen Lohn gewünscht. In diese Zeit war auch mein Wunsch nach einem zweiten Kind gefallen, was aber, wie sich nun herausstellte, nicht mehr ohne weiteres möglich war. Unser erster Sohn ging bereits zur Schule, die Zeit verflog, bald würde ich vierzig sein, doch ein weiteres Baby wurde von Monat zu Monat unwahrscheinlicher. Seit Jahren war ich deswegen in spezieller ärztlicher Hormonbehandlung, so aufwändig wie vergeblich. Es folgten Eileiterschwangerschaften, ich verbrachte die meiste Zeit im Krankenhaus, in der Ordination meines Frauenarztes, der übrigens ein einstiger Klassenkamerad meines Mannes war. Er bewunderte Ottokar, der schon im Gymnasium mit seinem leuchtenden Intellekt, seiner Begabung für Malerei und alles Künstlerische aufgefallen war. Schließlich stellte sich heraus, dass meine Eileiter verschlossen waren. Diese Jacke war mehr als eine warme Umarmung Ottokars für mich, denn es war nicht leicht gewesen, sie mir zu kaufen, doch in seiner großzügigen hoffnungsvoll wie hoffnungslos romantischen Art, mit seiner Schwäche für das Prächtige, hatte er sie mir trotz unserer damals äußerst knappen finanziellen Mittel geschenkt. Wenn ihm etwas gefiel, sah er mich augenblicklich darin, nahm es, egal, was es kostete und brachte es strahlend heim, so auch diese grüne, innen rot gefütterte Jacke mit schwarzen feinen Blumen & Zweigen darauf. Die Stickerei wie gezeichnete Linien, so dünn, als hätte er sie selber eingeritzt. Sie musste aus dem kalten Nordindien stammen, von wo man bereits die Gipfel des Himalaya sehen kann, auch der chinesische Einfluss war zu 192 erkennen. Ich gab ihr sogar einen Namen: Indochine. Alexander, damals noch Professor Sommerfeld für mich, zog seine Handschuhe aus und strich mit bloßen Fingern über die Stickerei, begutachtete sie im Schein der Laterne. Es wunderte mich, wie er die Einzigartigkeit dieses Stückes sofort erkannte. Mein Mann war bildender Künstler, Maler, Augenmensch, ausgestattet mit dem unbestechlichem Blick, dem Schönen verfallen, das feine Handwerk über alles schätzend. Er, der so sparsam war, sich nichts gönnte, mehr noch, einfach nichts brauchte, einen mit seiner materiellen Bescheidenheit unbewusst unter Druck setzte, konnte beim Anblick eines Bildes, eines Stoffes, eines Hutes, augenblicklich seine schwäbische Herkunft vergessen und alles auf eine Karte setzen. Es erging ihm wie einem Spieler, einem Sammler, einem Alkoholiker, er konnte nicht anders, und mit schlafwandlerischer Sicherheit griff er niemals daneben. Weil sein Auge absolut war, machte er oft die besten Schnäppchen, denn die meisten Leute sehen das Besondere nur, wenn es teuer dargeboten & verkauft wird, er aber verstand es wirklich. Einmal kaufte er für einen Pappenstiel bei einem Wiener Altkleiderhändler einen Dirigentenfrack samt Zubehör, uner-schwinglich für einen Normalsterblichen, nicht für ihn, den das Drumherum nicht abschreckte, der sich nicht genierte, in Läden zu gehen, in die sich keiner ohne weiteres getraut hätte. Was ich damals an Kunstverständnis besaß, wusste ich durch ihn. Er hatte mich mit seinen Bildern, seinen Künstlerfreunden & -kollegen in eine, mir bis dahin unbekannte Welt, geführt. Letztendlich war es mir nur deswegen möglich gewesen, auf dieser Intensivstation weiterzuarbeiten, wo täglich gekämpft, gestritten, intrigiert wurde, man ständig wegen allem auf der Hut sein musste, während anderswo, wie ich nun wusste, eine Welt existierte, welche sich mit Farben & Formen befasste, mit Kunst & Philosophie, wo es unendlich viele Fragestellungen gab, man 193 sich über Picasso, Sokrates, Heidegger, Rembrandt in einem Atemzug unterhielt, und wo man vor allem von jedem geachtet & akzeptiert wurde. Als ich meinen späteren Mann Ottokar noch nicht lange kannte, nahm er mich mit zu einem prominenten alten Maler, welcher damals einmal wöchentlich sein Atelier für alle öffnete und mit jungen Leuten über Kunst sprach, ihre Fragen beantwortete, seine Bilder zeigte. Niemand dort fragte, wer man war, es genügte zu grüßen, seinen Vornamen zu nennen, und schon gehörte man dazu. Mit offenem Mund muss ich dagesessen sein, unsicher, baff über das, was sich mir bot, beeindruckt vom Publikum und Werner Otte, so hieß der Maler, ich wünschte mir damals nichts, als irgendwann in der Lage zu sein, eine wenigstens winzige Frage stellen zu können oder überhaupt zu verstehen, worum es im einzelnen ging. Jahre sollten vergehen, in denen ich mich eifrig um kunsthistorisches & philosophisches Wissen bemühte. Die knappe Zeit, die mir neben meinem Beruf zur Verfügung stand, nützte ich, um auf die Universität zu gehen, Vorlesungen zu hören, Listen von Büchern zu lesen, Bilder anzuschauen, die Kunstepochen voneinander unterscheiden zu lernen, die geschichtlichen Hinter-gründe zu verstehen, mir Namen über Namen und alle möglichen Begriffe zu merken, mich mit Formen & Farben zu befassen. Je mehr ich mich vertiefte, umso gieriger wurde ich nach diesem Wissen. Es war wie ein Sog, eine Sucht. Einmal in den Strudel gerissen, kam man nicht mehr heraus, und ich wollte es nicht einmal. Bald begann ich mit Ottokar zu reisen, die großen Bilder & Bauten in Wirklichkeit zu besichtigen. Schon unsere erste große, gemeinsame Reise führte uns nach Griechenland, und jedes Jahr sollte von jetzt an einem anderen Land gewidmet sein. Während des Jahres malte Ottokar natürlich, hatte Ausstellungen, verkaufte Bilder, fand Galeristen, gewann Wettbewerbe für die 194 künstlerische Ausgestaltung von Bauten, beschränkte sich nicht mehr nur auf das Tafelbild, sondern begann große Kunstprojekte im öffentlichen Raum zu realisieren. Als Ottokar & ich in der kleinen Bergkirche Sankt Jakob am Thurn heirateten, war ich bereits eine Art Vorzugsschülerin der Bildenden Kunst, in der Lage, Fragen an einen ausgebildeten Maler zu stellen, recht sicher etwas erklären zu können, ohne dass jemand darüber gelacht oder es komisch gefunden hätte. Die Kunst war längst mein liebster Zeitvertreib geworden, ich liebte alles, was mit ihr zusammenhing. Sie diente mir als Ablenkung, als Ausstieg, als Flucht, am Ende konnte ich nicht mehr leben ohne sie, kann es nicht bis auf den heutigen Tag. Mir ist es unvorstellbar geworden, wie man eigentlich existieren kann ohne Kunst, denn sie steht ja nicht am Ende, sondern am Anfang aller Entwicklung. Sogar die Literatur, die immer meine persönliche Vorliebe gewesen war, ist mir längst undenkbar geworden ohne die Bilder meines Mannes, ja ohne Bilder & Statuen überhaupt. Wörter, Sätze, die nicht zu Bildern werden, scheinen mir tot & leer, Texte, die keine Bilder erzeugen, ebenso. Was ich besonders schätzte, war der leichte, lockere, unvoreingenommene Umgang, den bildende Künstler nicht nur mit ihresgleichen, sondern mit allen pflegen, denn sie sind nicht herablassend, nicht arrogant wie die Ärzte, die Schriftsteller, was ich, als ich selber zu schreiben begann, meine ersten Erfolge hatte, erkennen & lernen musste. Maler & Malerinnen empfand ich immer als angenehm, freundlich, unkompliziert, sie nahmen mich auf in ihre Mitte, ließen mich gerne und ohne Herablassung eintreten in ihre Welt, die für sie selbst bestimmt nicht leicht war. Die meisten unter ihnen hatten eine schwere, mitunter heroische materielle Existenz zu führen. Tag für Tag mussten sie kämpfen für den Verkauf ihrer Werke, um 195 Ausstellungen, gute Kritiken, Mäzene & Sammler. Und doch oder vielleicht deswegen ist es ein besonderes Völkchen, nicht stolz wie ihre Kollegen aus der Literatur, nicht abgehoben wie die Komponisten und vor allem, vor allem nicht eingebildet. Ich war ihnen sehr dankbar und ehre sie dafür, denn nie hat man mir das Gefühl gegeben, dumm zu sein, weil ich etwas nicht wusste, jeder erklärte gerne mit einfachen Wörtern seine Werke, sie gaben ihre Fehler & Unzulänglichkeiten selber zu, sie konnten über sich lachen, und dies ist das größte, was einer in dieser Zeit der allgemeinen Eitelkeit zuwege bringen kann. Daraus schöpfte ich Zuversicht für mich, für meinen, in der Öffentlichkeit weitestgehend ungeschätzten Beruf. Sie gestatteten mir in Begleitung von Ottokar, in ihre wunderbaren, manchmal prächtigen, manchmal bescheidenen Ateliers einzutreten, mich an ihren Arbeiten zu erfreuen, ja, ich durfte später allein kommen und sogar Modell sitzen. Dies aber berührt bereits meine andere Geschichte, die Geschichte meiner Ehe, meiner Liebe zu einem Maler, das, wovon Doktor Sommerfeld in diesem Moment keine Ahnung haben konnte. Wir gingen jetzt die steinerne Treppe hinunter, wateten mehr als knöcheltief durch den Schnee, es schneite schon den ganzen Tag, und ich weiß nicht mehr, wessen Idee es gewesen war, einen Schneemann zu bauen. Ich wunderte mich nur, wie unbefangen & natürlich sich dieser, doch fremde Mensch mir gegenüber verhielt. Irgendwie erinnerte er mich an die Künstlerkollegen meines Mannes, welche mich ebenso selbstverständlich & offen aufgenommen hatten, und bei denen ich mich ähnlich wohl fühlte wie jetzt bei diesem schwedischen Arzt. Auch hier keine Herablassung, keine übertriebene Bewunderung, keine Schmeichelei, es war einfach nur besonders schön. Als wir drei verschieden große Schneekugeln übereinander getürmt hatten, suchten wir Steine, Zweige, Zapfen von den 196 umstehenden Bäumen des Parks, bastelten daraus Augen, Brauen, Nase, Mund, Knöpfe, gaben der kleinsten obersten Kugel ein Gesicht, formten Arme & Hände, sodass schließlich ein, im Schein der Laternen, funkelnder Schneemann vor uns stand. Wie Kinder umkreisten wir unser Gebilde, traten vor & zurück, betrachteten es und waren zufrieden damit. Plötzlich nahm mich dieser schwedische Professor, der vor ein paar Stunden noch unerreichbar, ja völlig vergessen, so gut wie tot und aus der Welt gewesen war, bei der Hand und küsste sie vollendet, zog mich als ganzes zu sich heran. Weil er sich aber gleichzeitig gegen den Schneemann lehnte, der langsam nachgab, fielen wir beide gemeinsam in den Schnee, sodass wir schließlich zwar in dicken Mänteln, aber eindeutig aufeinander lagen. Ich versuchte augenblicklich aufzustehen, was mir nicht gelang, ja nicht gelingen konnte, denn nicht nur er hinderte mich ganz bewusst daran, sondern auch meine dicke Jacke, der viele Schnee, der jede Bewegung verlangsamte & verunmöglichte, mich erschöpfte, in Watte packte, sodass ich fast wie in Zeitlupe gegen einen sichtbaren wie unsichtbaren Widerstand ankämpfte. Nicht dass mir der Professor, wie ich ihn damals noch nannte, seine Gründe für diesen Überfall erklärt hätte, denn eigentlich empfand ich es, trotz der fast genauso in meinen Teenagerträumen ausgedachten Vorstellung von romantischer Liebe, als unver-schämt, sich einer verheirateten Frau, die ich schließlich war, auf so unzweideutige Weise zu nähern. Erst viel später sollte er mir gestehen, dass es ihm in diesem Moment unmöglich gewesen war, sein tiefes schweres Geheimnis, welches ich für ihn darstellte, preis zu geben. Ich verstand absolut nicht, wie er, obgleich er nun wusste, wie es mit mir stand, ich sogar Mutter von zwei Kindern war, es wagen konnte, mich zu verführen. Wer weiß, was es bedeutet, eine junge Ehe im Stadium des Kinderkriegens zu führen, versteht, was es heißt, in eine so besonders gefährliche Situation zu geraten. 197 Schon war ich längst, auch ohne Alexander, an der Stelle angekommen, wo es anfängt, schwer zu werden, man sich und seinen Partner ein erstes Mal aus den Augen verliert, heimliche Enttäuschungen bewältigt, anfangs tapfer, dann immer offener zu hadern beginnt, zu streiten mitunter, alles zu bereuen. In diese Zeit hinein trat nun ein fremder, reifer Mann, der mir den Hof machte, in die Offensive ging. Komplimente bekam ich zu hören, so leise, so süß, ich errötete wieder, erinnerte mich wehmütig. Das vergangen Geglaubte zeigte sich aufs Neue, wenn auch in anderer Gestalt, Verliebtheit war wieder da, das Kribbeln im Bauch, obwohl man‘s schon verloren glaubte. Alles das liegt bereits weit zurück, ist überhörbar geworden, hat weder Zeit noch Platz mehr im gegenwärtigen Leben, das längst die verschiedensten Zwänge bestimmen und nicht zuletzt die Kinder in die Hand genommen haben. Sie nämlich fordern ihr Teil in aller Selbstverständlichkeit, sind rücksichtslos & selbstbewusst zugleich, so als hätten sie ein Anrecht auf die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern, die selbst nicht wissen, wie ihnen geschieht, zum ersten Mal der Schwere der Elternschaft, der ganzen Verantwortung gewahr werden, langsam ihre Illusionen verlieren, die Träume begraben. Mit der Sicherheit eines Naturgesetzes erwartet das, von einem selbst in die Welt gerufene Leben sein Recht, und obwohl es seit Menschengedenken so gewesen sein muss, ist es immer wieder aufs Neue eine Überraschung für so gut wie jeden. Ottokar hat keine Ahnung, dass, während er zu Hause auf unsere Knaben aufpasst, ich im Begriff stehe, einem anderen zum Opfer zu fallen, ja alles zu gefährden. Ihm, der über eine haushohe Phantasie verfügt, ist beinah alles vorstellbar, außer dies: die Verführung seiner Frau durch einen Fremden, schließlich handelt es ich um einen dienstlichen Termin. Sie tut nichts anderes, als sich von ihrem alten Chef zu verabschieden. Was sollte daran nicht in Ordnung sein? 198 Nie hatten wir Grund gehabt, umeinander zu bangen, eifersüchtig zu sein, und so sollte es immer bleiben. Stürzt nun auch dieser Traum in sich zusammen? Existieren denn überhaupt keine Grenzen mehr? Ist denn nicht alles verloren, wenn dies geschieht? Ich dachte in diesem Augenblick an nichts als daheim, die Kinder und dass ich Ottokar versprochen hatte, bald zurück zu sein. Was sonst? Ich wollte ja selbst so schnell wie möglich wieder weg von hier. Was schließlich gingen mich diese Leute noch an in ihrer Eitelkeit, ihren völlig anderen Verhältnissen. Für mich gab es doch nichts anderes, nichts anderes als meinen lieben Ottokar und unsere Söhne, auch wenn wir im Augenblick eine schwierige Zeit durchlebten. Ich war davon mehr als überzeugt, dass es bald vorübergehen und wieder leichter werden würde, denn wie hieß es im Volksmund so trefflich: wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, dann wird es erst richtig schön. An diesem heiklen Punkt waren nun auch wir angelangt. Eine solche Binsenweisheit hatte nichts Erschreckendes oder Lächerliches mehr, sondern traf in uns auf das reinste Verständnis. Nicht mehr gemeinsame Kinder zu haben, war unsere Vorstellung vom vollkommenen Glück, sondern sie eigentlich wieder los zu sein, damit es wieder so werden möge wie früher, als wir noch allein waren und nur einander gehörten, nicht gestört waren, uns nicht heimlich lieben, verstecken mussten, als wären wir wieder Teenager, die keinen Ort haben, keinen sicheren Moment, um zu knutschen. Immer kam ich so schnell wie möglich zurück von allen Veranstaltungen, Kinofilmen, Konzertbesuchen, lief zu Ottokar ins Atelier, konnte es kaum erwarten, ihm Details zu erzählen, was ich erlebt, gesehen, gelernt oder wen ich getroffen hatte, sah ja längst auch mit seinen Augen, wollte sofort wissen, was er von den Neuigkeiten hielt. Was hätte ich anderswo suchen oder erwarten sollen? Mein Glück 199 lag daheim bei meiner Familie, nirgendwo anders. Hatte ich mir denn nicht immer ein Zuhause wie dieses gewünscht, ein ganz & gar eigenes, wo ich bestimmen durfte, welches mir & ihm gehörte, niemandem sonst, quasi meine & seine Handschrift trug? Doch diesmal war es anders. Tatsächlich fing ich an, mich mit einem anderen zu beschäftigen, mir von ihm beinah schamlos, schöntun zu lassen. Wie lange hatte ich keine Schmeicheleien mehr gehört! Die Zeit des Gebärens & Stillens ist besonders schwer. Man entbehrt einander, sehnt sich nach der Verliebtheit der Anfangstage, ist ganz & gar überfordert, wird sich fremd, fängt an zu zweifeln, ein erstes Mal wird ein unsichtbarer aber deutlich spürbarer Riegel vorgeschoben, eine feine, unmerkliche Linie gezogen, zuerst noch so, als bildete man es sich nur ein, doch auf einmal ist alles verflogen, es bleibt keine Zeit mehr für Zärtlichkeiten, um miteinander zu schlafen, die Kinder stehen jederzeit mit nassen Windeln im Zimmer, quengeln & sabbern, dass einem die Lust vergeht. Vielleicht ist es nur der Übergang zur wirklichen Liebe, das eigentliche Leben, die erste Einsamkeit in der Ehe, die Reifeprüfung par excellence, der Blick auf die andere, auf die Rückseite, die es doch von allem gibt, eine Art Prüfung vielleicht, eine Ahnung davon, wie sehr man Verantwortung trägt, jetzt, da man nicht mehr allein ist, sondern Kinder hat. Sie jedoch sind die letzten, welche Verstand haben für die Schwierigkeiten der Eltern, ihre Rolle anzunehmen. Sich vom Liebespaar, das sie vor kurzem noch darstellten, zu verabschieden und in einen anderen Abschnitt des Zusammenlebens einzutreten, wäre jetzt das gescheiteste. Die Privatheit zweier Menschen beginnt mit ihren Kindern quasi öffentlich zu werden, schon ist man die kleinste Einheit der Gesellschaft, des Staates, belangbar, erreichbar, gefangen. Unter dem Einfluss der Müdigkeit, des schlechten Schlafs, der damit einhergehenden Vergesslichkeit, an welcher Mann & Frau 200 nach den Nächten mit schreienden Säuglingen leiden, sind sie überaus anfällig für Ablenkungen & Zerstreuungen. Die Sexualität ist fast verschwunden, so gut wie einerlei geworden, bereits eine lästige Pflicht, der man sich unterwirft, die mangels Lust auch ausgelassen wird, jetzt seltener ein echtes Bedürfnis darstellt. Und doch war es gerade in unserem Fall ganz anders. Nach mehreren Fehlgeburten, Eileiterschwangerschaften und anderen Rückschlägen waren Jahre vergangen, in denen vor allem ich mir ein zweites Kind gewünscht hatte, nicht zuletzt, um endlich der Intensivstation den Rücken kehren zu können. Ottokar inzwischen gut etabliert als Maler, als Lehrer, unsere Wohnung abbezahlt, verfügten wir über erstes überflüssiges Geld, sodass es nicht mehr unbedingt notwendig erschien für mich, arbeiten & verdienen zu müssen. Mehr & mehr übernahm ich die Organisation seiner Ausstellungen, die Koordination der Galerien, die Buchführung, das Schriftliche, was ihn entlastete und mir ein erstes Mal außerhalb des Krankenhauses ein Gefühl von echter & anerkannter Bedeutung gab und ihm einen freien Kopf für seine Bilder & Projekte ließ. Ich genoss diese Selbstständigkeit, die von einer ganz anderen Art war als meine aufreibende Arbeit auf der Station, welche bestimmt wurde von herrschsüchtigen Kolleginnen, die sich zu Chefinnen aufschwangen und auf diese Art ihr Unwesen mit mir & meinesgleichen trieben. Ihr Anspruch, ihr Einfluss waren ja geradezu unbegrenzt gewesen, nichts, das sie nicht besser gewusst hätten, nichts, das während einer ganz normalen Abwesenheit von zwei, drei freien Tagen nicht geändert worden wäre, ohne einen davon in Kenntnis zu setzen, einzig zum Zweck, um einem die eigene Unfähigkeit vor Augen zu führen und sich wenigstens für einige Stunden über einen zu stellen. Auch, wenn ich die letzten Jahre zum Führungsteam gehört hatte, gab es viele, welche mir das Leben 201 schwer machten, nichts lieber taten, als mir einen Fehler nachzuweisen. Auch an diesem Abend saßen sie da wie Bienenköniginnen, nach wie vor sicher in Amt & Würden, hatten den reservierten Festtisch mit ihrer ganzen Allwissenheit & Macht quasi bis auf den letzten Platz für sich und genau so ausgesucht. Allein mein Erscheinen, nachdem ich die Station ja bereits vor einem Jahr verlassen hatte, mussten sie als Affront empfinden. Es ist mir daher auch aus diesem Grunde nicht leicht gefallen, mich auf diesem Empfang blicken zu lassen, Gefahr zu laufen, mit abschätzigen Blicken bedacht zu werden, Raunen & Gemurmel hervorzurufen. Man konnte förmlich hören & sehen, was das Flüstern, das sich Zueinanderneigen & Zueinanderbeugen, das die Köpfe Zusammenstecken & Ohren gegen die Münder Verschieben während meines Erscheinens heißen musste. Was will denn die hier? Wer hat sie überhaupt eingeladen? Glaubt sie schon wieder, was Besonderes zu sein, irgendein Recht zu besitzen, hier - mir nichts dir nichts - einfach aufzutauchen? Wie hat sie davon erfahren? Wer hat es ihr gesagt? Gegenseitige Verdächtigungen tauchen auf, aber das ist ja nichts Neues. Frauen, die damals verheiratet waren und Kinder hatten, stellten im Krankenhaus ohnehin ein Ärgernis der besonderen Sorte, wenn nicht gar ein Problem dar, eine Last auf jeden Fall, waren Grund für Spott & süffisante Bemerkungen. Keine Selbstverständlichkeit wie heutzutage, eine Übergangszeit eben, man saß zwischen allen Stühlen. Man arbeitete schließlich nur, weil man musste, einen Mann mit nicht genug Geld geheiratet hatte. So wurde es gesehen, vermutet, erzählt, behauptet. Noch war ich in Karenz oder Karenz-Urlaub, wie es damals hieß, 202 so als wäre, ein Kind zu bekommen eine Art Ferienbeschäftigung, und wer weiß, ob ich angesichts meines überraschenden Auftauchens an diesem besonderen Abend, nicht womöglich vorhatte, auch nach dem zweiten Kind wieder zu arbeiten, jemandem seinen Platz streitig zu machen! Um Himmels Willen, das wäre ja noch schöner! Jetzt sind endlich die anderen dran, sie wollen auch zum Zug kommen, aufsteigen, umsteigen, andere Verhältnisse schaffen. Also beäugten sie mich wie eine Gefahr, versuchten sich etwas herauszuknobeln, zusammenzureimen. Wahrscheinlich fanden mich einige schon während der Ausbildung zu hübsch, später dann etliche Ärzte, am meisten die Turnusärzte, die freilich kaum etwas anderes im Sinn hatten, als mit einer Schwesternschülerin ins Bett zu steigen, alles in allem Dinge, die ich nicht wusste, jedenfalls viel zu spät erfahren habe, die mir aber unter meinen Kolleginnen zum Nachteil gereicht haben dürften, was so verstiegen wie einfach ist. Weder fand ich mich hübsch noch liebäugelte ich im Dienst mit irgendwelchen Turnusärzten, die mir dann & wann gewiss dicht auf den Fersen waren, übrigens nicht nur mir, ließ mich aber zu nichts hinreißen, habe mit keinem jemals geschlafen. In aller Unschuld & Naivität war mir die Liebe heilig, ich vertändelte & verschenkte sie nicht. Als Bauernmädchen mit Tieren & Feldarbeit aufgewachsen, habe ich mir meinen eigenen Reim auf die Beobachtungen und mitgehörten mageren, oft ordinären Sätze über dies, was sie Liebe nannten, gemacht. Niemand hat mich je wie etwas Besonderes behandelt oder für etwas bewundert oder gelobt. Ein Mädchen war nichts, man schaffte ihm Haus- & Putzarbeiten an, schickte es in der Gegend herum, um dies & das zu holen, ich war ein Gebrauchsgegenstand. Ich fürchtete die Männer, sie waren mir unheimlich, wollte mit ihnen nichts zu tun haben, sie konnten einem ein Kind machen, einen sitzen lassen, schlagen, betrügen, schlecht behandeln, 203 ausbeuten. Es gab dafür unzählige Beispiele, ich war sogar ein lediges Kind, ein Fratz also, ein Ausdruck, welche nicht wenige Verwandte wie meinen Namen verwendeten, wurde selbst in der engsten Familie meiner Mutter, meines Vaters herablassend behandelt, und dies, obwohl meine Eltern später meinetwegen geheiratet haben. Ich trug einen Makel, einen schwarzen Fleck auf der Stirn, der mir überall hin vorauseilte, den man nie verlor, besonders als Mädchen nicht. Inzwischen aber vollauf beschäftigt mit meinem glücklichen wie auch unglücklichen Leben als Ehefrau, Hausfrau & Mama, konnte ich die Gedanken meiner anwesenden Schwesternkolleginnen ahnen, wenngleich nicht wirklich wissen, doch jede Art von Vorurteil mir gegenüber war mir geläufig, das Rechnen damit zur zweiten Natur geworden, und noch heute fühle ich mich deswegen minderwertig. Vielleicht gab es ja sogar einen Hauch von Hoffnung in mir, sie könnten Verständnis & Respekt für mich aufbringen, wären nicht, wie ich dachte, gemein, sondern nett & aufgeschlossen geworden. Gewiss hatte ich einen handfesten Verfolgungswahn, und womöglich war ja alles doch nicht so schlimm. Hatte nicht Ottokar selbst dies oft angedeutet, mich, wenn ich wieder die Flöhe husten hörte, zurecht gewiesen und mir den Kopf gerade gerückt? Mir wieder & wieder gesagt, was ich inzwischen längst wissen musste, aber oft nicht glaubte, nämlich, dass wohl doch alles in Ordnung war. Wie auch hätte dieser fröhliche und gleichzeitig hoch gebildete Mensch, die seltenste Kombination, die es überhaupt gibt, sich eine Vorstellung machen sollen von der Niedertracht einer Kolleginnenschaft unter den recht speziellen Bedingungen einer Intensivstation? Darum hegte ich mitunter selber Zweifel über meine Interpretation der Vorkommnisse, aber ich musste es jemandem sagen, und so erzählte ich in all den Jahren die Stations- & 204 Krankenhausgeschichten meinem Mann. Im Innersten tickte ich richtig, davon war ich überzeugt, stimmte, was ich erlebt & gesehen hatte, andererseits aber verstand ich auch Ottokar, wenn er dort & da Abstand nehmen musste und es manchmal nicht mehr aushielt. Für einen leichteren Umgang mit mir griff sogar er zum Mittel der Täuschung, redete mir meine Anschauungen aus und andere ein, versuchte auf diese Weise ein normales Leben mit mir zu führen, mich abzulenken, mir die Dinge nach & nach und immer wieder umzudeuten, im einzelnen und als ganzes zu verharmlosen, zu relativieren. Was hatten wir nicht diskutiert! Wenn ich ausgeflippt & ausgelaugt nach einem Nachtdienst oder auch einem gewöhnlichen Tagdienst heimkam, alles loswerden musste, während er mir Kaffee kochte, Butterbrote mit Käse herrichtete, sich den ganzen Wahn- & Schwachsinn anhörte, den ich ihm brühwarm auftischte, alles heraussagte, wie es mir gerade einfiel, weinte & schrie über die Ungerechtigkeit, die Überheblichkeit, mit der die anderen mir begegneten. Keine Ahnung, woher sie das Selbstbewusstsein nahmen, stundenlang brauchte ich jeden Tag, bis ich einigermaßen normal & erträglich wurde! Ottokar wusste mehr als irgendjemand, der tagtäglich diese Station betrat, kannte sich längst aus mit speziellen Therapien, möglichen & tatsächlichen Fehlern, Differenzialdiagnosen, stellte Fragen, die einem Turnusarzt nicht eingefallen wären. Ottokar wusste Bescheid, war eingeweiht, obwohl selbst das verboten war! Niemand außerhalb des Krankenhauses durfte an derlei Informationen kommen, es verletzte die Schweigepflicht, aber wie ich leben hätte sollen, ohne dies alles jemandem zu erzählen, davon stand nichts in den Schweigepflichten. Wie oft wurden ärztliche Verordnungen, medizinische Vorgänge zum Stolperstein, jedes noch so kleine Detail, ein Häkchen hier, ein anderes dort, ein vergessenes konnte eine Schwester in die größten Schwierigkeiten bringen, vor allem aber wurden einem 205 die Fehler anderer regelmäßig untergeschoben. Ich hatte als Schwesternschülerin brav gelernt, alle Prüfungen in vier Jahren mit Auszeichnung absolviert, mich auf und über mein Diplom gefreut, doch wer hätte sich ausdenken können, dass ich, wenn alles vorüber wäre, erst recht Leuten gegenüberstehen würde, die das herzlich wenig interessierte und völlig andere Prioritäten setzten, ja, die ihre Vorherrschaft seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, gewiss nicht von einer frisch diplomierten Schwester gefährden ließen, geradezu darauf spezialisiert zu sein schienen, diese genüsslich ausrutschen zu lassen. Also stand ich bereits am allerersten Tag, noch leuchteten die goldenen Sterne der besten Absolventin über mir, einer um Dutzende Jahre älteren, von allen gefürchteten Kollegin gegenüber, die sich vorgenommen hatte, auch mir ihre Überlegenheit, ihre ganze Macht & Unüberwindbarkeit persönlich vorzuführen. Am Anfang brauchte ich lange, bis ich wusste, wo ich stand, wie es stand, was ich überhaupt konnte oder gar wert war, denn niemand sagte es einem. Jeder Tag nichts als eine neue Herausforderung & Überwindung, ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Zuckerbrot & Peitsche gehörten zur Tagesordnung, wobei, wenn ich es mir recht überlege, eigentlich fast nur die Peitsche in Form jeglicher Demütigung, Zurechtweisung, Korrektur, Belehrung existierte. Vielleicht war es sogar so, dass eine gewisse Kollegin inzwischen so weit von der Realität außerhalb einer Krankenstation entfernt lebte, dass man ihr nicht einmal einen Vorwurf machen konnte; doch auch eine durch & durch kranke & überhebliche Person in einer überhöhten Position macht anderen das Arbeiten zur Hölle. Aber dies lag jetzt hinter mir, ich hatte mich behauptet, in vielem durchgesetzt, aber ich war angegriffen, nervös, reizbar, misstrauisch geworden. An jenem Abend des Festes allerdings hatte ich es bereits ad acta 206 gelegt, dachte nicht daran, jemals wieder auf diese Station zurück zu kommen, jemanden zu verdrängen, war in jeder Weise eine andere geworden, die Karriere interessierte mich nicht mehr, sah meine Aufgabe nicht mehr in begrenzten Schwesternarbeiten, sondern in meiner Familie, die ich nun endlich hatte. Ihr wollte ich dienen, meinem geliebten Mann, ein uraltes Bild, gewiss, doch wer sagt, dass es darum nicht jemandem alles bedeuten kann, vor allem, wenn man so bitter erlebt hat, wie schwer es ist, sich unter Fremden zu behaupten. Nicht so die anderen, die in mir eine überwunden geglaubte Gefahr witterten, mich mit Blicken & Bemerkungen verfolgten, böse Strahlen, wie ich es als Kind nannte, gegen mich aussandten. Sie hatten ja ihre Welt nicht verlassen, sich zwar fachlich fortgebildet, waren aber die gleichen geblieben, hatten den Kreis enger & strenger um sich gezogen, sich verbündet, den Stil der Ältesten übernommen, es sich für ihre Verhältnisse recht gemütlich eingerichtet während mir unter ihnen die Luft zum Atmen gefehlt und mich schwere Träume geplagt hatten. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass jemand unter keinen Umständen dort hin zurückwollte. Und als wäre die Überraschung meines Erscheinens für sie nicht genug, kommt dieser schwedische Professor vor den Augen der gesamten Kolleginnen- & Schwesternschaft ausgerechnet auf mich zu und bittet mich um den nächsten Tanz, entführt mich sogar hinaus auf die Terrasse, weiter in den Schnee, macht mir in aller Form öffentlich seine Aufwartung. In Wahrheit wurde ich wegen meiner Verschiedenheit, meiner Unberechenbarkeit & Unangepasstheit immer beneidet, gehänselt, vielleicht gehasst, und jetzt erdreistete ich mich, anlässlich dieses Festes, das mich nichts anging, in einem fast privaten Zusammenhang hierher zu kommen und mir einen Auftritt zu genehmigen, der mir bestimmt nicht mehr zustand, womit sie sogar recht hatten. Später an diesem Abend: der Professor & ich gingen nicht mehr 207 zurück in den warmen & hellen Saal der Aufmerksamkeit, der Bequemlichkeit, später wird er mich mit dem Taxi nach Hause begleiten, meine Wohnung von außen sehen, was ihm unheimlich bescheiden vorkommen muss. Zeit wird vergehen, ehe wir uns wieder sehen, denn es sieht nicht aus, als käme es ein zweites Mal zu einem Treffen. Aber wie es oft ist, geschieht es anders, denn es müssen die Wege & Bestimmungen erfüllt werden, so als wären sie vor langer Zeit irgendwo niedergelegt worden, nein, nicht irgendwo, sondern an einem genau bestimmten Ort und warteten nur auf ihre Stunde, und ich selbst werde diejenige sein, die sie herbeiführen wird. *** IX Wien, immer wieder Wien Nach dem Fest kehrte ich, wie Aschenputtel beinah, zurück in mein Leben, als hätte es diese Ballnacht im Winter des Jahres 1993 nie gegeben, als wäre es nichts anderes als eine außergewöhnlich schöne Abendunterhaltung gewesen, etwas, was es ab & zu gibt, aber nicht wieder so schnell vorkommen wird. Ich verdrängte alles, weil ich dachte, es sei am besten so, obwohl ich versprochen hatte zu schreiben, mir seine Adresse eingesteckt, eine Höflichkeit, die ich freilich jedem hätte zukommen lassen, nichts weiter. Diese plötzliche Begegnung sollte nicht Besitz von mir nehmen, zum eigenen Schutz wollte ich mich nicht länger damit befassen, gerade, als hätte ich geahnt, es könne mehr dahinter stecken, ja, etwas daraus werden, was meine ganze Existenz in der jetzigen Form zu gefährden imstande wäre. Es sollte, durfte jetzt nichts mitten in mein Leben treten, zu wenig gefestigt schien es mir noch für auch nur einen einzigen Gedanken in eine andere Richtung, für etwas, das größer sein könnte, als 208 alles bisherige. Noch im selben Jahr wird mein erster Erzählband erscheinen; in einem kleinen Verlag in Wien soll es eine Lesung vor geladenem Publikum geben. Einige persönliche Einladungen werden mir zugesandt, die ich nach Vorliebe & Gutdünken verwenden darf, und eine davon schicke ich, fast ohne Bewusstsein und doch überlegt, nach Stockholm. Wie ich damals so dreist sein konnte, bleibt mir selbst ein Rätsel, vielleicht, weil ich dachte, es würde als ein letztes Dankeschön gewertet werden können, unverfänglich harmlos, distanziert genug, eine Art Spaß, eine kleine Aufmerksamkeit oder Erinnerung, wenn auch verbunden mit der leisen Hoffnung auf eine Antwort, ein liebes Wort, einen kurzen Brief, auf keinen Fall eine weitere Begegnung. Es war ja eigentlich nichts, eine Geste nur, wie bei den Ausstellungen meines Mannes; viele, die man einlädt, erscheinen nicht, es gehört zu den Gepflogenheiten der Kunstszene, auch welche, die nicht kommen werden, anzuschreiben, ihnen damit Informationen zu geben, sie in Kenntnis zu setzen, ihres und das eigene Gesicht zu wahren, die Verbindung auf diese Weise aufrecht zu erhalten. Leute im In- & Ausland werden kontaktiert, ferne wie nahe Bekannte, Freunde, Kollegen, Sammler, Interessenten, um den Faden nicht abreißen, sondern von sich hören zu lassen, sie auf dem Laufenden zu halten. Und nicht viel anderes denke ich mir in jenem Augenblick, als ich tatsächlich den Namen Professor Dr. Alexander Sommerfeld auf das Kuvert mit dem aufgedruckten Absender des Verlags schreibe. Zum ersten Mal betrete ich einen Raum, wo Leute auf eine Lesung von mir warten, fremde Menschen sind gekommen, die Reihen gut besetzt, leises Sprechen & Rascheln ist zu hören. Heute steht mein BÄNDERHUT auf dem Programm, mein erster Erzählband, der dem Publikum vorgestellt werden soll. Obwohl ich die Lage trotz Nervosität & Unsicherheit ganz gut bewältige oder überspiele, wie man mir später versichert, kommt 209 mir alles unwirklich vor, so als müsste ich jeden Moment aufwachen und erleichtert feststellen, dass ich nur geträumt hatte. Nun ist es soweit, heute geht ein langer Weg zu Ende und ein anderer, vielleicht ebenso langer fängt erst an. Im Nachhinein aber wird sogar dieses unermessliche Glück, welches das öffentliche Vorstellen des ersten Buches für jeden Schreibenden bedeutet, beinah zur Nebensache. Wie konnte das geschehen? Zu dieser Stunde befand ich mich in einer überaus glücklichen Aufregung, denn zeitlich knapp aus Salzburg angekommen, blieb mir kaum eine Minute, mich übermäßig zu beunruhigen, und so hielt sich gottlob meine Zittrigkeit in gewissen Grenzen. Die Menschen, welche nach & nach kamen, wirkten aufgeräumt, erwartungsvoll, freundlich. Leise & rücksichtsvoll nahmen sie Platz, sprachen flüsternd miteinander, als wären sie in einer Kirche, während die Reihen gleichzeitig voller & voller wurden. Dies hatte ich von draußen beobachtet, die meisten waren an mir vorbei gegangen, ohne zu wissen, wer ich war. Langsam wurde mir die Bedeutung, die sie mir zugestanden, bewusst, ihr besonderer Respekt spürbar, dabei war ich doch die Schüchterne & Nervöse und empfand den weit höheren Respekt vor ihnen, aber offensichtlich wussten sie das nicht, was mir nur recht sein konnte. Vielleicht hielten sie mich für bedeutend, routiniert, überschätzten mich, denn je länger das Niedersetzen, Miteinanderreden & Zueinanderneigen dauerte, umso unsicherer wurde ich. Doch endlich erlöste man uns alle von der sich aufbauenden Spannung. Eine Ansprache, in der ich vorgestellt wurde, kam wie von selbst zustande. Die überaus charmante Verlegerin, eine feine alte Dame trat in den Vordergrund und sagte schöne Dinge über mich. Sie verstand es zu schmeicheln mit Worten nicht nur, sondern mit dem Schmelz ihrer Sprache, ihrer Stimme, welche ein gehobenes, anspruchsvolles Flair verbreitete und geeignet war, uns alle in eine 210 poesiereiche Atmosphäre zu versetzen. Langsam wurde das allgemeine Licht reduziert, die Leselampe, hinter der ich saß, setzte nun sich, mich und mein Buch in Szene, es war an alles gedacht. Ich verstand nichts, obzwar ich die Worte hörte, die Zuhörer waren scheinbar zufrieden, sie hingen an meinen Lippen, widmeten mir ihre ganze Aufmerksamkeit, denn wie es so schön heißt, man hätte eine Stecknadel fallen gehört, kein Räuspern, kein Hüsteln, nichts, nur Stille. In der Bundeshauptstadt sind ja sogar wir Westösterreicher Ausländer wie die Wiener wiederum für uns exotisch & fremd wirken. Doch an jenem Abend stand nichts zwischen uns, man war ganz & gar auf der literarischen Ebene miteinander beschäftigt, ja eins geworden. Keine Vorurteile, keine Herablassung, einfach nichts dergleichen. Im Saal ging das Licht schließlich ganz aus, die guten Worte waren zu Ende gesprochen, und ich saß jetzt ganz allein unter einer hellen, fast grellen Leselampe und begann, ein Glas Wasser neben mir, mit dem Vorlesen der ersten Geschichte. Ausgewählte Kapitel sollte ich aus meinem Erzählband nehmen und mich anschließend einer Diskussion stellen. Soweit, so gut. Wieder etwas, das leichter gesagt als getan war. Kann überhaupt jemand ermessen, was für eine Einsamkeit unter solchen Bedingungen in einem herrscht? Welche Hitze ein Licht aussenden kann? Davonlaufen hätte ich am liebsten mögen, nie zur Tür hereinkommen dürfen, ja, hatte ich denn einen Vogel, einen Adler im Hirn, mich da her zu setzen und meine persönliche Geschichte wie ein Schausteller zum Besten zu geben? Die unausdenkbare Scham, die mich anflog, die Schüchternheit, welche mich plötzlich plagte, die ich nicht zeigen sollte, so meinte ich, die mich aber, wie, um mich zu verraten, rot anlaufen ließ, als hätte ich Fieber. Dies, was wir früher die „Gschamigkeit“ genannt haben, eine Mischung aus Scham & Schüchternheit, war das, was 211 mir jetzt zu schaffen machte. Vor lauter Leuten, die ich nicht kannte! Wer weiß, was sie zu all dem sagen, schreiben, denken werden, mich in der Luft zerreißen vielleicht, sich lustig machen, mich auslachen, mit, weiß Gott wem oder was, vergleichen?! Ich hatte ja keine Ahnung, was sie mit meinem Herzblut, das ich vor ihnen auf den Tisch rinnen ließ, anfangen würden. Sie hatten keine Ahnung wie mir zumute war, wie sehr ich bereits bereute, mich auf diese Präsentation eingelassen zu haben, wie wenig ich an mich glaubte. Gewiss waren alle hier um Häuser gescheiter, wussten viel besser, wie man sich ausdrückt, hatten es studiert, diskutiert, schrieben in Zeitungen hochgestochene Texte, von denen ich nicht im Traum einen zustande brächte. Aber ich musste da durch, ob stotternd oder sonst wie, keine Idee, wie andere das schafften, ob sie unter Drogen standen oder woher sie so sakrisch viel Selbstüberschätzung nahmen, sich dies hier zuzutrauen. Ich glaube, ich habe mich wie, um mich meiner Stimme zu versichern, geräuspert und jemanden in weiter Ferne sagen gehört: Bänderhut. Pause. Großvater saß versonnen auf der Bank vor dem Haus, blinzelte hinauf auf die Spitzen der Berge, wo noch die Sonne schien, die ersten Sterne sich zeigten.... Ich konnte den Text auswendig, hätte das Buch nicht gebraucht, aber es wurde so verlangt und hätte komisch ausgesehen, ohne nachzuschauen, etwas Ungebundenes vorzutragen. Es ging mir überraschend gut, ich betonte mit Gefühl, las ruhig, langsam. Nicht zu schnell, hatte man mich gemahnt, Sie müssen wissen, die Leute hören es zum ersten Mal, wollen genießen, sich in die Atmosphäre versenken, die Augen schließen, die Bilder entstehen lassen. Ich wurde hineingezogen in die Erzählung, sie war ja viel mehr 212 als eine Begebenheit in der Vergangenheit, ich selbst nämlich war die Geschichte, und die Geschichte war ich. Nein, nicht ich nur, sondern meine Familie, die einfachen, oft harten, aber guten Menschen, die hinter mir standen, aus denen ich hervorgegangen war, die mich geformt & geleitet hatten. Für sie und an ihrer Stelle saß ich nun hier, und wieder kam es mir vor wie damals, als ich sie beschrieben hatte, denn ohne nachzudenken hatte ich es getan, wie von selbst war alles entstanden, und auf einmal lag sie da, als hätte ich sie nur gefunden, als hätte es sie immer gegeben – meine Geschichte. Wie ich sie das erste Mal zu Papier gebracht hatte, so blieb sie stehen, niemand setzte auch nur einen Beistrich, den ich nicht gemacht hatte und wehe, es hätte jemand versucht. Sie war in Stein gemeißelt, in mir Gestalt geworden, niemand, nicht einmal ich, konnte daran etwas ändern. Ein Bild war entstanden, das Bild eines Bauernhauses, des Elternhauses meiner Großmutter, des Hofes, in den meine Urgroßmutter eingeheiratet hatte. Dort war es, wo ich meine eigene, mir selbst gerade noch vorstellbare Geschichte beginnen ließ mit äußerster Einfachheit, wo nun der Vorhang aufging und der ganze denkbare Prunk einer Liebe sich mehr & mehr entfaltete. Erste Blicke, heimliche Treffen, Hochzeit, Kinder, Krieg, Tod, Witwenschaft, langsames Sterben & Wiedererblühen, der christliche Auferstehungsgedanke in seiner irdischen Inkarnation, die Ingredienzien der klassischen Tragödie, angesiedelt unter gewöhnlichen Leuten. Es lag in meinen Händen, meinem Kopf, sie zu Königen zu machen, ihnen Wichtigkeit, Bedeutung & Namen zu geben. So still war es im Raum, dass man das leise Aufgehen der Tür als Störung empfand, sich nicht einmal umdrehen wollte, um nur ja nichts zu versäumen. Mir selbst erging es ähnlich. Und doch hielt ich für einen Augenblick inne, wartete, bis der Herr im Mantel sich niedergesetzt hatte. 213 Später stellte sich heraus, dass es Professor Sommerfeld war, der wegen meiner fast gedankenlosen Einladung für diesen einen Abend und dieses Ereignis eigens nach Wien gekommen war. Selbst als die Lesung und die anschließende Fragezeit vorüber waren, wartete er noch geduldig, bis ich mit allen gesprochen hatte, hielt sich im Hintergrund, machte sich nicht, wie die anderen, über das Buffet her, rührte nichts an. Langsam geriet ich in seine Richtung, es klopfte mir das Herz, er verunsicherte mich, ehrte mich, machte mich nervöser als der ganze ungeheure Vorgang meiner ersten öffentlichen Lesung zuvor. Mein Gott, wenn ich dies gewusst hätte, hätte ich es bestimmt nicht getan. Schon kam es zu Vorwürfen & Zweifeln in mir. Ich sollte in einem Gästezimmer des Verlags übernachten, hatte bereits meinen Schlüssel erhalten, wollte mich so schnell wie möglich zurückziehen, es endlich hinter mir haben, zu Hause anrufen, wo man gespannt wartete oder besser gesagt, auf Nadeln saß. Und jetzt das! Diese unerwartete, unverhoffte Begegnung, was sollte ich damit anfangen, es war zu viel, viel zu viel für diesen Tag. Als ich endlich auf ihn zutrat, gab er mir die Hand, und als ob das nicht genug wäre, küsste er sie vollendet, gratulierte mir, war überaus gerührt & angetan. Niemand hatte sich bisher so ehrfurchtsvoll verhalten, trotz all der Höflichkeit & Wertschätzung, die mich umgab. Dies musste auch anderen aufgefallen sein, denn plötzlich schaute man uns an. Die Besonderheit unseres Treffens übertrug sich wohl auf die Anwesenden, war nicht länger unsere Privatangelegenheit. Doch wie besonders, wie folgenschwer es tatsächlich war, wusste in diesem Augenblick nicht einmal ich. Gleich darauf werde ich mit ihm gehen, gerade so, als wäre es ausgemacht gewesen, als gäbe es nichts anderes. Vergessen ist das Gästezimmer des Verlags, wir spazieren nebeneinander, setzen uns 214 auf eine zufällige Bank. Nun ist es an mir, ihm zuzuhören, seiner Erzählung, die schließlich die Grundlage dieses Romans werden sollte, seine und letztlich meine Geschichte, welche fast unmerklich unsere gemeinsame zu werden beginnt. An diesem unscheinbaren Ort verschlingen sich unsere Leben ineinander, werden eins, beinah so, als wären sie es schon immer gewesen. Allein im Moment wissen wir noch nichts darüber, und doch ist es der Anfang dessen, was ich als Arbeitstitel Ewigkeit, später aber Gold nennen werde. Uns trennen zwanzig Jahre nicht nur, sondern weit mehr, doch der Spalt zwischen uns wird enger von Satz zu Satz, von Blick zu Blick, von Wort zu Wort. Ihm zuhörend, gehe auch ich wieder zurück an den Ort unserer allerersten Begegnung, in die Nacht auf der Intensivstation vor fast zwei Jahrzehnten, als wir uns zum wirklich ersten Mal gegenüberstanden. Es liefen ihm jetzt die Tränen über das Gesicht, er saß gebeugt neben mir, hier auf dieser fast gemeinen Parkbank, eingerahmt von ein paar dürftigen Stauden, je einem schiefen Mistkübel rechts & links, als wäre einer nicht genug. Er suchte an sich herumtastend nach einem Taschentuch, fand aber keines. Längst tropfte schon Wasser aus seiner Nase, seine Augen waren überschwemmt, ich musste mich beeilen, wenn ich diese Flüssigkeiten noch auffangen wollte. Endlich fand ich eins, weiß nicht, wie es ihm reichen, aber irgendwie gelingt es. Dieser große angesehene Mann, Nobelpreisträger für Medizin inzwischen, was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, erzählt mir, fast ohne Einleitung, seine Lebensgeschichte, redet zu mir, mit mir, als wäre ich sein Beichtvater. War ich dessen würdig, ging mich das alles etwas an? Ich fühlte mich überfordert, wo schließlich sollte das hinführen? Unmöglich, 215 sich einen Reim darauf zu machen. Wenn ich es richtig auffasste, sollte es schon früher einmal in Schweden ein Mädchen, eine Frau gegeben haben, die aussah wie ich, sogar ausgebildete Krankenschwester gewesen war. Aus den dort & da verworrenen Sätzen entstand nach & nach ein Bild vor mir. Eine Doppelgängerin?, eine Wiedergeborene?, was meinte er, sollte ich sein? Ich hörte bestimmt nicht alles, musste erst grundsätzlich verstehen. Mir wurde abwechselnd heiß & fröstelnd, mein Mund trocknete aus. Ich saß in einem leeren dunklen Raum, ganz allein, draußen im All vielleicht oder sonst irgendwo, unendlich fern von allem, unendlich weit auch von dem fremden Mann neben mir. Als ich aus dieser Absenz zurückkehrte, quasi wieder aus dem Wasser oder dem Nichts auftauchte, aus dem Off geflogen kam und auf die Bank klatschte wie ein nasser Frosch, da hörte ich ihn gerade diesen eigenartigen Satz sagen: Seither habe ich mit keiner Frau mehr geschlafen. Ich muss ihn ziemlich angeglotzt haben, spürte, wie mir schlecht zu werden begann. Was hatte er vor? Welchen Grund gab es für dieses Treffen in Wirklichkeit? Durfte ich hier einfach sitzen bleiben und seiner Halluzination oder was es war, Vorschub leisten? Sie,....... Sie sind die einzige Frau,..... die einzige Frau, ....... mit der, mit der......... ich vielleicht, vielleicht..... schlafen...... schlafen.... könnte. Warum haben Sie mit keiner Frau mehr geschlafen? Weil, weil, weil ich es nicht mehr kann. Weil ich mich schuldig fühle an Silvias Tod, am Tod meines Kindes, das sie in sich trug. Ich habe sie doch selbst an einen Baum gefahren. Sie hat es nicht überlebt. 216 Oh mein Gott. Um Himmels Willen. Was für eine Geschichte! Ich wusste nichts anderes zu sagen, weiß nicht einmal, ob ich es wirklich gesagt habe. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, bitte verzeihen Sie mir, ich wollte Ihnen nicht verletzen. Ich weiß, ich durfte es Sie nicht sagen, aber ich konnte nicht anders, ich bin deswegen heute zu Abend gekommen, verzeihen Sie mir tausendmal. Ich habe nichts gefragt, glauben Sie mir, es tut mir so leid, es war schlecht und egoistisch von mir. Alles hatte ich erwartet damals in Salzburg, nur nicht eine junge Kinderkrankenschwester, die genau aussieht wie meine, vor vielen Jahren, gestorbene Frau. Wen hätte dies nicht zu Fall gebracht? Eher findet einer einen Klumpen Gold mitten auf der Straße, als dass ihm seine tote Frau plötzlich & leibhaftig gegenüber steht! Und doch muss es so gewesen sein. Gott weiß warum, aber ich sah aus wie sie. Das hatte ich nicht wissen können, konnte mir nur seinen Blick, seine Worte, seine Verblüfftheit, sein überraschendes Verschwinden damals nicht erklären. Nun, da ich ihm wieder mitten in einer Nacht gegenüberstand, neben ihm saß, erzählte er mir jene, seltsame, fast unglaubliche Geschichte, die mich in seinen Augen zu seiner Frau, doch in Anbetracht dessen, wer ich wirklich war, zu seiner Geliebten machen sollte. Darin lag die Erklärung für seine überstürzte Abreise wie für seine sichere Rückkehr, die Auflösung des Rätsels. Was er mir damals hätte sagen sollen, sagen hätte müssen, um mich nicht so ratlos stehen zu lassen, holte er jetzt, zwanzig Jahre später, zwanzig Jahre zu spät, nach. Er überbrachte mir persönlich & nachträglich die Antwort auf die Fragen, die zurück geblieben waren, während ihn in Wahrheit der Gedanke an mich in all den Jahren nicht mehr losgelassen hatte. 217 Wie groß die Gestalt war, die ich in ihm angenommen hatte, welche Art von Besessenheit und fixer Idee ich darstellte, konnte ich noch lange nicht wirklich verstehen. Er begriff, dass ich überlegte, ob er mich um etwas gebeten hatte, bereute augenblicklich die Lage, in die er mich damit brachte, widerrief sofort jede Silbe, versuchte, seine, vielleicht lange überlegte Dreistigkeit, ungeschehen zu machen. Sie sind die einzige Frau, mit der ich vielleicht schlafen könnte, ja, genau das hatte er gesagt. In mir stieg eine so glühende Hitze auf, dass er sie spüren musste. Er kniete sich jetzt auf die Erde, was sag’ ich, auf den staubigen Schotter, bat mich in aller Form um Verzeihung. Daraufhin oder viel später, daran existiert in keinem von uns eine Erinnerung, gingen wir das erste Mal in aller Absicht miteinander. Es muss uns etwas geleitet haben, denn es geschah mit einer Selbstverständlichkeit beinah, als müsste es so und nicht anders sein. Sein Hotel lag in der Innenstadt, verfügte über uniformierte Pagen, Kofferträger, Burschen in Dienerposen alten Stils, Trinkgeldjäger, Personal für dies & das an jeder Ecke. Diskretes Nicken an der Rezeption, als wir vorübergehen, dezente wie ganz offensichtlich undezente Blicke auf mich von allen Seiten. Als unsäglich peinlich & beschämend empfinde ich die scheinbar gleichgültige Registrierung & Taxierung vor allem meiner Person, das Betrachtetwerden, das stille, fast kumpelhafte Gewähren durch die Angestellten, der dienstlich korrekte & verlangte Respekt, welchen sie den Gästen bei solchen Übernachtungs-preisen entgegenzubringen angehalten sind, und doch drücken ihre Blicke, die uns zwar kaum berühren, doch umso genauer in Augenschein nehmen, eine gewisse Herablassung aus, gespeist aus dem Wissen, so etwas wie Zeugen eines wahrscheinlichen Skandals zu sein. Keine Ahnung, wofür sie mich halten, ob für einen harmlosen 218 Besuch, eine Hure, ein armes Tschapperl oder von allem etwas, auf jeden Fall gibt es, wie es aussieht, eine Art von Verständigung darüber, wie wohl in vielen Fällen vor uns, trotz allem & vor allem, gebührenden Respekt zu zeigen und gleichermaßen sehend wie blind zu sein. Fast kriminalistisch verfolgen uns die Augen der Bediensteten durch die schier endlos erscheinende Lobby. Man öffnet uns sogar den Aufzug, übergibt uns an das weiterführende Personal. Ob sie überhaupt wissen, welch‘ widersprüchliche Eigenschaften sie erfüllen? Längst bewegen sie sich, ob Empfangschef oder Liftboy, in den höchsten Sphären der Diplomatie. Ach, das alles ist mir bereits zu kompliziert. Schon fange ich an, diesen Abend in Gedanken zu beenden, etwas, das mich noch vor einer halben Stunde gefesselt hatte, hinter mich zu bringen. Ich denke an Ottokar, an die Lage, in der ich jetzt bin. Wenn er davon wüsste! Nicht auszudenken! Einfach das letzte. Habe ich mich in etwas hineinziehen lassen? Warum?! Was geht mich das hier an? Ich bin eine verheiratete Frau, und am wenigsten habe ich etwas dergleichen nötig. Ottokar kann sich doch meiner immer sicher sein, dennoch gehe ich mit einem Fremden auf sein Zimmer, in ein Hotel, wie in einem schlechten Film. Ja, habe ich denn einen Vogel? Was soll überhaupt dort geschehen? In meiner, soeben gewonnenen Vorstellung von Alexanders Situation, wollte ich ihm, nach allem, was er mir auf der Bank erzählt hatte, helfen, geben, wovon er träumte, nehmen, woran er litt, ein erstes & letztes Mal untreu sein gegenüber meinem eigenen Mann, um der Menschlichkeit genüge zu tun, einer außergewöhnlichen Lage gerecht zu werden. Ottokar würde es verstehen, dessen war ich gewiss, außergewöhnlich wie er in allen Dingen & Anschauungen war. Irgendwann konnte ich es ihm sagen, vielleicht nicht sofort aber doch in einiger Zeit, denn ich musste es tun, das eine wie das andere, dabei ging nichts wirklich aktiv vor sich, es geschah 219 einfach, nahm seinen Lauf, ließ sich nicht mehr anhalten. Ich konnte jetzt kein Stoppschild mehr anbringen, keine Bremsung einleiten, es war zu spät, obwohl ich nichts dazugetan hatte, wie von selbst war es so weit gekommen, nichts Verständliches, sondern etwas Bestimmtes, davon es keinen Ausweg gab. Während mir unzählige Überlegungen durch den Kopf gingen, sich wiederholten, abwechselten, neue Facetten hervortraten, unfertige, nur halb gedachte Gedanken mit tiefer Leere im Gehirn konkurrierten, war ich nicht in der Lage, die Entscheidung, was genau Vorrang haben sollte, zu treffen. So kamen wir schließlich ganz konkret an eine antiquierte Zimmertür, beschlagen mit allerlei Messing, wie es bei alten, vornehmen Hotels oft der Brauch ist, um sich höchst gehoben zu geben. Schnalle, Nummer, Einrahmung, alles sollte aussehen wie aus Gold. Mit einem fragenden, etwas flackernden Blick sah mich der Professor, wie ich ihn immer noch respektvoll, sogar in Gedanken, nannte, an, wie um sich noch einmal zu versichern, während er die Karte in den Schlitz steckte und die Klinke hinunterdrückte. Dahinter lag ein völlig normales, wenn auch auf luxuriös gemachtes Hotelzimmer mit einem Doppelbett, was ich sofort bemerkte – immerhin - er hatte mit mir gerechnet, wie es aussah! Oder gab es in Hotels dieser Kategorie etwa nur Doppelzimmer, Suiten? Und als ob er gehört hätte, was ich gerade dachte, antwortete er, obgleich ich nichts gesagt hatte: Es hat kein anderes Zimmer mehr gegeben, ich musste es nehmen. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr genau. Es muss ein verlegenes Warten stattgefunden haben, ein im Raum Herumschauen, extreme Unsicherheit wenigstens bei mir. Zeit verging, verging in kleinen Dosen, Sekunde für Sekunde, zog sich, verlangsamte sich, wie spät es wohl sein mag, dachte ich, wagte aber nicht auf die Uhr zu schauen. 220 Ich stellte meine Tasche ab, wir setzten uns fast gleichzeitig auf die Bank vor dem Bett, hier legte man wohl das Gewand hin oder die Zierdecke. Er nahm meine Hand, streichelte sie, ohne mich anzusehen. Ich hatte einen unerträglich trockenen Mund, musste Wasser trinken sofort, und als wir im Badezimmer nebeneinander vor den beiden Waschbecken standen, ich Wasser soff wie ein Kalb, endlich in den Spiegel schaute, sagte ich plötzlich, als hätte ich die Lösung: Waschen wir uns die Hände! Er lachte, worüber ich sehr froh war, weil es unsere Lage etwas auflockerte, gleichzeitig erinnerte mich unser Nebeneinander-stehen vor zwei Spiegeln, die beiden Waschbecken, an eine typische OP-Situation. Wieder schien er meine Gedanken zu erraten, denn er antwortete: Aber Schwester Maria, es ist doch keine Operation. Doch. Ja, dann, waschen wir uns die Hände. Damals wie später noch oft, bin ich überrascht, mit welcher Folgsamkeit er auf meine Argumente eingeht. Gemeinsam stehen wir also am Waschenbecken in diesem riesigen Hotelbadezimmer und halten unsere Hände unter den Wasserstrahl, seifen sie ein, spülen sie lange & gründlich ab, während sich unsere Augen gleichzeitig im Spiegel begegnen, ich die meinen niederschlage, während die seinen in meinen verharren. Ich sehe & spüre auch seine Verlegenheit, bin verblüfft wie schüchtern er reagiert, genau wie ich, denke ich, genau wie jeder gewöhnliche Mensch. Es ist mir in diesem Moment einfach noch unvorstellbar, dass ein Mensch wie dieser sein könnte wie unsereins, denn Zeit meines Lebens habe ich zu anderen aufschauen müssen, tun, was sie für 221 richtig hielten. Vielleicht lag sogar darin der tiefere, wenn auch unbewusste Grund meiner Bereitschaft jetzt, so etwas wie einer Aufforderung Folge zu leisten, als ob es eine Art ärztliche oder höhere Anordnung wäre, eine akute Entscheidung wie sie mir aus dem Krankenhaus geläufig war, wo man oft auf unvorhergesehene Situationen & Komplikationen rasch & gehorsam reagieren musste. Wie unnötig mein besonderer Respekt in diesem Fall gewesen wäre! Aber vielleicht muss man in eine neue Lebensepoche erst langsam hineinwachsen, bis man selber glaubt, ein wenig weiter hinaufzureichen, vielleicht war mir in diesem Augenblick nicht bewusst, dass ich bereits eingetreten war in eine andere Zeit innerhalb meines Lebens. Jedenfalls war ich jetzt keine Kinderkrankenschwester mehr, sondern eine Schriftstellerin, eine womöglich begehrenswerte Frau geworden, die soeben ein Buch veröffentlicht hatte und nicht einmal das erste. So tief lag bei mir im Unterbewusstsein der Respekt vor fremden Menschen begraben, dass ich gar nicht auf die Idee kam, ich könnte bewundert werden, jemand würde sich nach mir umdrehen oder mich als Frau begehren, um etwas bitten anstatt es mir anzuschaffen. Gewiss, ich hatte Ottokar, Kinder sogar, doch selbst dies kam mir oft genug seltsam vor. Ich war doch immer noch derselbe unsichere Mensch, der oft am liebsten unsichtbar gewesen wäre, davongelaufen vor den großen Dingen & Begegnungen, froh darüber, nicht wirklich wichtig zu sein, jemanden neben sich zu haben, der alles gekonnt über die Bühne bringt. Ottokar war vor mir mit anderen, bedeutenderen Frauen, so dachte ich, liiert gewesen, darunter eine wunderschöne Perserin, die gleichzeitig mit ihm in Wien studiert hatte, eine anspruchsvolle Dame, das konnte jeder sehen, denn man hat in meiner Anwesenheit von ihr erzählt, geschwärmt, Photos herumgezeigt. In seiner Familie sogar wurde ich mit ihr des öfteren konfrontiert, 222 was für eine prominente Vorgängerin!, fast hätte man meinen können alle wunderten sich, wie ich es mit so einer aufnehmen konnte, niemand war auf die Idee gekommen, es könnte mich verletzen, und nicht einmal ich wunderte mich damals über diese Offenheit, die doch selbst bei tolerantester Auslegung einer Beleidigung gleichkam. Eine Pianistin und ein Maler. Ich habe nie verstanden, wie er sich mir zuwenden hatte können, sie verlassen, obwohl sie ihm nachlief. Freilich muss es Streit & Ärger gegeben haben, Besitzansprüche an ihn von ihrer Seite, doch genaues war für mich im Dunkeln geblieben, nein, ich wollte es nicht wissen. Noch immer hatte ich keine Ahnung von Männern, denn auch sie muss man erfahren, man sollte Verhaltensmöglichkeiten eigens dafür von zu Hause mitbekommen, Selbstbewusstsein, und wie hätte ich darüber verfügen sollen? Hatte ich nicht gerade aus meiner Biographie vorgelesen, stand da etwa nicht beschrieben, aus welch’ einfachen & archaischen Verhältnissen ich stammte, und war ich denn nicht in festen guten Händen? Was hatte ich also verloren bei einem anderen Mann, warum war ich mit ihm gegangen? Genoss ich diese Art von Schmeichelei? Suchte ich Erfahrung, Nervenkitzel? Ich war im Begriff, einen Fehltritt zu begehen, meinen geliebten einzigen Mann zu betrügen. Wollte ich womöglich beweisen oder herausfinden, ob ich es könnte - jemanden zu verführen - nicht nur eine brave Ehefrau, sondern auch ein Weibsteufel zu sein? Solche Gedanken schossen mir im Kopf herum, waren in alle Richtungen unterwegs, stachen mir ins Herz, rechts in die Leber, mitten in den Bauch. Ich war bereits viel zu weit gegangen, hatte längst eine Linie überschritten, selbst wenn ich sofort auf der Stelle stehen bliebe. Noch war Zeit umzukehren, noch konnte ich nein sagen, aber ich tat es nicht, ich konnte es nicht. Aber konnte ich denn das andere? Später werde ich keine Erklärung dafür haben wie es geschehen 223 konnte ohne irgendeine sexuelle Erregung sogar. Was ich beinah körperlich spürte, vor mir sah, war, dass dieser Mann Hilfe brauchte, einer fixen Idee nachhing, einem Traum, einer Täuschung vielleicht und ich die einzige Person war, die ihn erlösen konnte, wenigstens ein einzelnes Mal. Ich erinnerte mich plötzlich an Yukio Mishimas „Meer der Fruchtbarkeit“, wo Richter Honda einer Reinkarnation seines Jugendfreundes Kyoaki Matsugae auf er Spur zu sein glaubt, sein ganzes Leben darauf verwendet, ihn zu finden, immer wieder für kurze Zeit meint, ihn gefunden zu haben, bis ihm wieder alles zerstiebt, zerfließt, sich in nichts, in einen Irrtum auflöst. Wann, wenn nicht jetzt sofort? Es blieb keine Zeit für langes Nachdenken, für eine Umfrage in der Verwandtschaft, außerdem, es war kein Thema, das nach Veröffentlichung oder Aufschub verlangte, ich musste handeln und zwar ganz allein, ja oder nein, etwas anderes gab es jetzt nicht. So ungefähr dürfte meine Entscheidung zustande gekommen sein, mit dem Hintergedanken, nie wieder daran rühren, nie wieder darüber reden, zu keinem Menschen, alles zu vergessen, im letzten, unbeleuchteten Schrank des Gedächtnisses als ein Geheimnis für alle Zeit verschwinden zu lassen. Ja, so muss es gewesen sein, denn schon früher wusste ich manchmal nicht, was ich tat, warum etwas passierte, obwohl ich es scheinbar selbst bestimmte. Längst ahnte ich, wie wenig man beeinflussen kann, die Folgen abschätzen, wie sehr alles vorgegeben ist. Freiheit ist ein gewaltiges Wort für große wie für kleine Dinge, doch eines, welches wir nicht verstehen, nicht einmal wirklich begehren in seiner ganzen Bedeutung, eine Art Ideal, eine Hypothese, denn es ist viel mehr so, dass fremde Mächte die Fäden für uns ziehen. Die Freiheit im großen wie im kleinen wird in Wahrheit von der Sehnsucht nach Sicherheit untergraben & überlagert, sie ist ein Spuk im Kopf, und niemals sind wir wirklich frei, auch dann 224 nicht, wenn wir es glauben und felsenfest behaupten. Wie es in den alten Büchern etwa heißt: „ … und es erfüllte sich die Schrift“ oder „ …auf dass die Schrift erfüllt werde…“ . Auch für mich, für uns muss es irgendwo einen solchen Text gegeben haben, für heute Nacht genau. Zwei ganz verschiedene, ja fremde Menschen treffen einander, um sich zu lieben, scheinbar ohne einen Ausweg. Mechanisch ging ich also zum Bett, schlug die Überdecke zurück, schlüpfte aus den Schuhen, zog mein Jackett, meinen Rock, meine Strumpfhose aus. Gott sei Dank, dachte ich, trage ich ein Unterkleid! Er folgte mir, schaute mich gespannt an, beobachtete jede meiner Bewegungen. Ich setzte mich hin, schaute ihm in die Augen, schlug sie nieder, hatte das Gefühl, seinen nicht stand zu halten. Ich hörte ihn irgendwann sagen: Ich komme mir schlecht vor, ich darf das nicht, ich kann das nicht. Kommen Sie. Tun Sie, was Sie tun möchten. Ich schenke es Ihnen. Niemand wird es erfahren. Danach werden Sie und ich fortgehen von hier und nie wieder zurückkommen, uns nie wieder sehen. Das alles ist so unwahrscheinlich, so unglaubwürdig, dass kein Bedarf zu Aufklärung besteht. Kommen Sie und löschen Sie das Licht. Ja. Und so war es. Im Dunkeln geschah es. Im Dunkeln tat er das mit mir, was wir „miteinander schlafen“ nennen, drang in mich ein, ohne mich vollkommen auszuziehen. Wir waren nicht nackt, sahen einander nicht an dabei, so, als hätten es die zwei Menschen, die es taten, sogar voreinander verheimlicht, wie kleine Kinder glauben, wenn sie die Augen fest zuhalten, sie würden nicht gesehen. So groß war unser beider Schuldempfinden, dass wir zu Kindern 225 wurden. Als es vorüber war, legte er sich neben mich, streichelte mein Gesicht, genau wie Ottokar es immer tat, strich mir durch die Haare deckte mich schließlich zu, zog sich in der Finsternis an. Als das kleine Nachtlicht anging, saß er neben mir und sagte immer wieder: Danke, danke, danke, ich danke Dir tausendmal, danke! Noch immer konnte ich ihn nicht mit Du ansprechen, obwohl er gerade noch auf mir gelegen war und ich ihm mit meinem Körper Befriedigung gegeben hatte. Ich hatte währenddessen keinen Augenblick meine Lage vergessen, ununterbrochen an meinen Mann gedacht, der auf den Tod nicht darauf gekommen wäre, was ich gerade getan hatte. Es war mir absolut unvorstellbar, einen Fehltritt zu begehen, ja begangen zu haben. Meine katholische Erziehung und mein eigenes Empfinden hinderten mich nicht nur an so einem großen, sondern an viel geringeren Vergehen. So erinnerte ich mich just in diesem Moment an einen Heiligen Abend vor etlichen Jahren, als Ottokar nach den Weihnachtsfeiern mit unseren Eltern & Großeltern zu später Stunde noch mit mir schlafen wollte und ich ihm, als wäre es eine Todsünde, antwortete: Aber, ich bitte dich, doch nicht in der Heiligen Nacht! Es schien mir eine schwere Sünde zu sein, obwohl es nie jemand gesagt hatte; wo stand schließlich, dass man zu Weihnachten keinen Sex haben durfte, und dennoch, im Innersten wollte ich, die nicht mehr im Entferntesten so katholisch war wie früher, auch längst kein Mädchen mehr, im Innersten wollte ich rein sein, die Feierlichkeit und den Ernst eines hohen christlichen Festes nicht beschmutzen. Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, nie, dass ich dem Mann, welchem ich das Eheversprechen gegeben hatte, was im katholischen Glauben ein Sakrament ist, nicht nur ein öffentliches Bekenntnis, betrügen könnte, und doch hatte ich es getan. Eben jetzt. Vor wenigen Minuten. 226 Es war nur ein schwüler Traum, bestimmt, aus dem ich bald aufwachen musste, doch ich wachte nicht auf, ich war ja hellwach. Alexander hingegen, zerknirscht zwar, doch gleichzeitig verwirrt vor Glück, übergeschnappt, durcheinander, dankbar, aus dem Häuschen, sodass ich selbst Mut gewinne und Vertrauen, ja Verständnis & Mitleid für ihn empfinde, mehr als für jemand anderen jemals. In mir denken sich die Gedanken ganz allein, kommen aus der Tiefe des Herzens, ohne Anstrengung, mühelos, leicht, voller Freude & Einfachheit. Ich fühlte mich jetzt ähnlich stark wie nach den Geburten meiner Kinder, als ich mich auch allwissend & unverwundbar wähnte. Doch es war noch mehr, es musste das ganze Geheimnis des Weiblichen in mir wirksam geworden sein. In diesem Moment hatte etwas in mir nachgegeben, zuerst zögernd, dann fließend, ohne mein Zutun beinah. Man musste nicht einmal eine Geburt hinter sich bringen, für Nachkommenschaft sorgen, nein, es reichte einem Mann tatsächlich der reine Sex, damit er einem aus der Hand fraß. Doch sollte ich meine, gottlob nicht ausgesprochene Schlussfolgerung, bald bereuen, denn der, welcher neben mir lag und auf seine Weise philosophierte, war alles andere als jemand, dem es nur um Befriedigung ging. Und plötzlich, vielleicht waren auch Stunden vergangen, gelang es mir, einen wie diesen, beim Vornamen zu nennen, flüsternd tat ich es, wie Mutter & Geliebte in einem, vorsichtig, tastend: Alexander! Lieber Alexander! Damals wunderte ich mich über seine Tränen, denn erst später sollte ich erfahren, dass das Beste, auch bei Männern, gerade darin sichtbar wird. Nach allem, was er erleben musste, noch weinen zu können, sich dessen nicht zu schämen, sondern im Gegenteil zu zeigen, wie hilflos er war, auch wenn er seine Traurigkeit, seine Enttäuschung verbergen zu müssen glaubte, war ein für mich erstes Zeichen seiner Besonderheit. 227 Er gestand mir seine Ängstlichkeit, seine Einsamkeit, seine Scham darüber, mich, eine fremde & verheiratete Frau „darum“ zu bitten. Welche Reaktion würde ich zeigen, wie mich verhalten? Durfte er das? Natürlich nicht. In keiner Kultur, in keinem Land war so etwas Ungeheures denkbar. Tausendmal hatte er sich alles überlegt, Jahr für Jahr, Tag für Tag seit der ersten Begegnung daran gedacht, Pläne entworfen, sofort ad acta gelegt, nur, um tags darauf wieder von vorne anzufangen. Zu wissen, dass es jemanden gibt, den man nicht bekommen kann, der den Schlüssel für das verlorene Glück besitzt, es aber nicht weiß, nicht einmal ahnt, zu wissen, man ist selbst vor Bestürzung davon gelaufen, obwohl vielleicht alles möglich gewesen wäre. Und je mehr Zeit vergeht, umso unwahrscheinlicher wird alles. Solche und ähnliche Sätze redete er, ich lag da und kannte mich im Moment nicht im geringsten aus, war einfach nur froh, es hinter mir zu haben. Irgendwann ging ich ins Bad, duschte mich, zog meinen Pyjama an und fragte: Kann ich hier bleiben heute Nacht oder ist das verboten? Ich bitte Dich, hier zu bleiben, ich könnte dich nicht gehen lassen. Ich könnte ohne dich nicht einschlafen. Nicht mit dir und nicht ohne dir. Ohne dich. Ja, ohne dich. Verzeihung. Ich kann nicht gut Deutsch. Doch, sehr gut sogar. Und wie es ist, hat jede noch so besondere Stunde ihre prosaische, normale und vollkommen natürliche Seite, so auch diese; doch es war mir recht, es sollte nicht etwas sein, was es nicht gab, sich nicht einfügen ließe in das andere, eigene & eigentliche Leben, in 228 welchem man danach wieder existieren können musste. Auch er duschte sich, kam angezogen zurück, fragte, ob er sich noch einmal zu mir legen dürfe. So lagen wir also beieinander, und mehr & mehr wurde es unvorstellbar, sich am nächsten Morgen für immer zu trennen. Es verging auch diese Nacht, unbarmherzig & barmherzig zugleich, wir schliefen sogar ein, und es zwitscherten zwar nicht die Vögel, es sang keine Lerche, doch es gurrten die Tauben der Großstadt, gingen aufgeplustert gurrend auf der Fensterbank hin & her, es graute der Morgen, es nahte der Abschied. Ein Abschied, bei dem er mir ein Versprechen abverlangte, das ich nicht einzulösen imstande war und doch erfüllen sollte. Nun aber zurück auf diese alte windschiefe Bank, auf der er mir so viel erzählte, dass ich das Wichtigste verstand, soviel jedenfalls, dass es mich anrührte & erschütterte und schließlich mit ihm gehen ließ. Während der Schwangerschaft wurde alles immer komplizierter. Sie hing an mir, als hätte sie schreckliche Angst, ich glaube heute, es war eine handfeste Schwangerschaftspsychose, doch damals war ich damit überfordert. Ich musste schließlich bei meiner Arbeit alles richtig machen, mich konzentrieren, hatte noch viel zu lernen, war zum ersten Mal voll und ganz verantwortlich für alles, was ich tat oder anordnete, konnte niemanden fragen, jedenfalls nicht sofort. Sie legte mir alles als Desinteresse aus. Was mich aber am meisten beunruhigte, war ihr Bedürfnis nach immer mehr Sex. Mir stockte schier der Atem. Ich traute meinen Ohren, meiner Wahrnehmung nicht. Er ging immer mehr ins Detail. Was, in aller Welt, hatte ich damit zu tun? Sie war plötzlich unersättlich, was das betraf. Ich befürchtete eine Frühgeburt, eine Infektion, war heilfroh, wenn sie die 229 Schwangerschaft gut überstand, hatte nichts weniger im Sinn, als mit ihr zu schlafen, wollte sie nicht belasten, belästigen, in Gefahr bringen, hatte keine Lust darauf. Um Gottes Willen, so dachte ich, wenn ihr oder dem Kind etwas zustoßen würde. Ich schonte sie, wo und wie es ging. Um Sex ging es auch bei unserem letzten Streit, sie war bereits gefährlich nah am frühest möglichen Geburtstermin, wieder verlangte sie es, und ich weigerte mich. Sie bekam einen hysterischen Anfall, tobte, schrie. Ohnehin wussten schon alle über uns Bescheid, tratschten über uns, verachteten uns für unser Chaos miteinander. Insgeheim lasteten sie es ihr an, das wusste sie, dennoch sie konnte nicht anders. Sie war wohl wirklich krank, kam mit sich selbst nicht zu Rande und schob alles auf mich. Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen, als sie ins Hospital zu bringen, redete ihr ein, falls ein Kaiserschnitt gemacht werden müsste, wäre es besser, in einem richtigen Kreißsaal zu sein anstatt draußen in der Dschungelstation. Ziemlich überstürzt und gänzlich zerstritten brachte ich sie irgendwie in den Wagen, einen offenen Range Rover. Ich wollte, dass sie die Zeit bis zur Geburt im Krankenhaus verbringt, sich beruhigen kann und sich endlich auf das Unvermeidliche einstellen. Wiederum glaubte sie, ich wolle sie nur los sein, sie allein lassen, aber ich konnte auf ihre irrationalen Argumente und Ansichten nicht mehr eingehen. Zu oft schon hatte ich es getan. Ich fuhr also schnell, sehr schnell, war zornig, selbst einem Nervenzusammenbruch nahe, hinter mir lagen mehr als vierundzwanzig Stunden Dienst, dann wieder eine dieser Auseinandersetzungen mit ihr, die ich inzwischen fürchtete, mehr als alles andere. Er redete atemlos, nicht alles verstand ich, war mit anderen Gedanken beschäftigt, warum er so gut deutsch sprach, mir das 230 alles erzählte. Doch er fuhr fort, sah mich nicht an, wollte, wie es aussah, alles loswerden, herunterhaspeln, hatte es sich gut überlegt, tausendmal geprobt, denn seine eigene Rede riss ihn von Szene zu Szene, als würde er einen Film nacherzählen. Ich war übernächtigt, total erschöpft, wollte nichts als schlafen, endlich alles hinter mich bringen, ich stieg aufs Gas. Wir rasten mit hoher Geschwindigkeit über die staubige Straße, pfeilgerade durch den nächtlichen Dschungel, es waren mehr als hundert Kilometer, eine kleine Ewigkeit bei diesen Verhältnissen. Dann passierte etwas, von dem ich nichts Genaues weiß. Ich glaubte einen Menschen oder ein Tier, vielleicht einen Affen, auf der Fahrbahn zu sehen, bremste auf der Stelle. Vielleicht bin ich aber einfach eingeschlafen und habe es geträumt, das kann ich nicht mehr sagen, konnte es auch damals nicht. Ich kam später dafür vor Gericht, musste mich rechtfertigen für das, was jetzt geschehen war, obwohl ich nichts darüber wusste, so wenig wie der Richter, der mich fragte, der Anwalt, der mich verteidigte. Es existiert heute wie damals eine zurechtgemachte Erinnerung, eine, die man mir in den Mund gelegt hat, mir eingeredet, zugeordnet, sodass die Wahrscheinlichkeit, die Logik über die Wahrheit siegte, die keiner mehr kennt. Aber sie wollten auch damit zu Ende kommen, irgendwann nach Hause gehen, einen Schlussstrich ziehen, ein Urteil fällen. Als ich zu mir kam, hatte ich den Jeep ganz offensichtlich an einen Baum gefahren, Silvia saß nicht mehr neben mir. Ich war verletzt, blutete am Kopf, hatte mir die Beine eingeklemmt, konnte mich aber irgendwie befreien. Ich spürte keinen Schmerz, obwohl meine Hände, die Arme, fast lose an mir hingen, sie waren kalt, ich schwitzte & fror in einem, dachte noch bei mir – ein Schock. Mit weichen Knien, gefühllos und leer, auch in den Füßen, kam ich schließlich aus dem Wagen, plumpste wie eine fallen gelassene Marionette auf den Boden, ohne etwas zu fühlen. Nach einigen Versuchen stand ich aufrecht, es geschah alles sehr 231 langsam, ich konnte mich nicht schneller bewegen, nichts gehorchte mir. Mit einer gewissen Verzögerung kam es zu den, von mir selbst gedachten Bewegungen, sie geschahen nicht wie sonst von selbst, ich musste sie bewusst zustande bringen, es war, als wäre die Verbindung ins Gehirn gekappt. Doch darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern, auch war es mir seltsam egal. Aber wo war Silvia? Wie konnte sie nicht mehr da sein? Allmählich kamen Teile von schwachen wie deutlicheren Erinnerungen, leuchteten wie eine Sternschnuppen auf, verschwanden wieder. Das Rufen in die Nacht hatte keinen Sinn. Nur die tausend Geräusche des Urwalds, das Kreischen, gellende Schreie von Vögeln, vielleicht Eulen, waren zu hören. Glasklare Akustik. Tiefste Finsternis. Was war geschehen? Wie war es geschehen? Kaum erinnerte ich mich an etwas, vergaß ich es schon wieder. Ziellos suchte ich. Es muss unendlich lange gedauert haben, denn ich stolperte und stolperte, über Wurzeln, Stümpfe, unbekannte Dinge, blieb in Lianen hängen, fiel der Länge nach hin, rappelte mich wieder hoch, bis ich an einen Körper stieß und stürzte. Unbewusst wie auch wohl überlegt ging ich in die richtige Richtung, hatte offensichtlich eine klare Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. So fand ich sie. Blutüberströmt. Ich erschrak, wie man so sagt, zu Tode, erkannte oder wusste sofort, dass sie nicht atmete, auch das Herz schlug nicht, jedenfalls nicht spürbar. Irgendwann hob ich sie hoch, beobachtete mich selbst dabei, sah mich von außen als ginge es mich nichts an, funktionierte mechanisch, fast wie ein Roboter. Komisch wie man in so einer Situation das Richtige tut, ohne nachzudenken, ohne Wissen und doch mit Verstand. Heute weiß ich, dass Denken und Fühlen ein- und dasselbe sind. Damals aber trennte ich es noch voneinander und wunderte mich. Ich trug sie die Straße entlang, zählte die Schritte, gab es wieder 232 auf. Ich trug meine tote Frau mit dem Baby im Bauch. Zum Rasten legte ich sie auf den Boden, legte wieder mein Ohr auf ihren Körper. Das Kind in ihr bewegte sich, es lebte! Vor so kurzer Zeit noch war alles in Ordnung gewesen, und jetzt, jetzt hatte sich mit einem Schlag alles verändert. Wie sich in so kurzer Zeit, in einer Minute oder Sekunde sogar!, alles ändern konnte! Ich weiß nicht wie lange ich so unterwegs war, bis jener scheppernde Lastwagen auftauchte, der auf mich zufuhr, als hätte ich ihn bestellt und einen Meter vor mir stehen blieb. Der dunkle Fahrer begriff sofort den Ernst der Lage, er nahm mir Silvia ab, bettete sie auf die Ladefläche. Ich aber sah ihm zu, als betrachtete ich das Geschehen auf einen anderen Planeten. Als ich sie ihm übergab, fielen auf der Stelle meine Hände hinunter, so als gehörten sie nicht mehr zu mir, später stellte sich heraus, dass sie gebrochen waren. Ich fiel auf den Boden, verlor das Bewusstsein. Wie hatte ich Silvia mit zwei gebrochenen Händen halten und so weit tragen können? Er beantwortete seine eigene Frage. Weil man in solchen Augenblicken vielleicht alles kann. Tausendmal habe ich es seither durchgespielt, darüber wieder und wieder nachgedacht und bin zu diesem einfachen Schluss gekommen. Er brachte mich anscheinend ins Führerhaus, wo ich, als wir bereits unterwegs waren, zu mir kam, gab mir Wasser zu trinken, stellte keine Fragen, fuhr mich ins Hospital, blieb, bis er mich und die Tote in Sicherheit wusste. Was für ein Mensch! In all den Jahren habe ich oft an ihn gedacht, auch als ich lange Zeit später wieder kam, um die Dschungelstation zu besuchen, ein Krankenhaus zu bauen, die alten Kollegen und Freunde zu sehen. Doch niemand kannte ihn, niemand wusste, wer er gewesen sein könnte. 233 Oft denke ich, er muss eine Figur gewesen sein in diesem Stück, eine Art Engel, dessen Rolle es war, mir zu helfen. Hier hieß es, fahren keine Lastwagen, schon gar nicht in der Nacht. Was hatte er geladen, fragten sie, aber ich konnte mich nicht erinnern. Er hätte einen Elefanten transportieren können, und ich hätte nichts bemerkt. Doch dies alles war nicht einmal das Schwerste - das Schwerste war die Zeit danach, das Zurückfinden, das Verdrängen, ohne das es nicht weitergeht. Das neue Dasein, das ich erst finden musste, doch ich wusste nicht einmal, wonach ich suchte, wohin ich zurückkehren sollte. Niemand hatte den Mut, sich mir zu nähern, mich etwas zu fragen, ja überhaupt eine Ahnung, wie einem solchen Menschen zu begegnen sei, nach den Wochen der Absence, der völligen Abwesenheit meines Geistes, nach dem Toben und Schreien, nach der Zeit, von der ich nichts weiß, außer dass ich einen tiefen Schmerz körperlich fühlte und nicht das Geringste zu mir nahm. Man soll mich vorerst ans Bett gefesselt haben, bis ich eines Tages einschlief und eine Ewigkeit nicht mehr aufwachte. Als ich wieder zu mir kam, erkannte ich mich selbst nicht mehr, mir waren die Haare ausgefallen, die Haut vertrocknet, ich gebrauche nicht die medizinischen Ausdrücke dafür, denn, was ich im Spiegel jetzt sah, war ein anderer Sommerfeld, ein Fremder, ein Knochengestell, jemand, den ich noch nie gesehen hatte, auch mein Gedächtnis war verstört, es war mir nicht einmal klar, dass ich Arzt war, was ich hier tat, wer die Menschen um mich herum waren. Erst mit den Erzählungen der anderen kehrte langsam meine eigene Erinnerung zurück. Sie hatten für mich einen Medizinmann geholt, denn die Afrikaner verstehen sich besser auf den Geist als wir Europäer, außerdem waren die mit ihrem Latein längst am Ende. Ich war ja nichts mehr als ein vor sich hindösender Körper, der mal mit geschlossenen, mal mit offenen Augen dalag, ohne dass es 234 einen Unterschied gemacht hätte. Doch der echte, der richtige, der afrikanische Arzt verstand alles, hatte schon die ganze Zeit um mich herum seine Zaubereien laufen. Plötzlich tauchten vor meinen Augen seine Augen auf, sie drangen in meine ein, ich schaute in einen Tunnel und sah genau, was passiert war. Diesen Vorgang oder diese Hypnose, was immer es war, wiederholte er, wie sie mir später erzählten, so oft, bis ich bereit war, aufzustehen, an den anderen, die mich staunend beobachteten, vorbei zu gehen, hinaus ins Freie, an jene Stelle, wo man Silvia, mein großes Mädchen und Silvia, mein kleines Mädchen begraben hatte. Auf einmal wusste ich alles, ja, ich habe sogar gesehen, wie sie es aus dem Bauch geholt haben, es aber nicht mehr lebte, wie hübsch, wie wunderschön, wie klein und süß es war. Und jetzt, da ich hier stand, sah ich sie wieder, sie lagen da unten und schliefen, alle beide, Silvia hatte das Baby auf dem Bauch, sie schaute tot aber glücklich aus, ruhig, allwissend. Nichts mehr von Streit und Angst, nichts Schweres, nichts Trauriges. Es war vorbei, und ich wusste es. Am liebsten hätte ich mich zu ihnen gelegt. …… Nach langem Schweigen fuhr er langsam fort: … Da erinnerte ich mich an meinen Vater, seine Erzählung von der schwersten Nacht seines Lebens, damals in Südschweden, als ich geboren wurde und er meine erste und meiner Mutter letzte Nacht auf Erden, mit uns verbrachte, gerade so, als hätte er eine Familie. Er wollte es ein einziges Mal auskosten, wissen, wie es ist, Vater zu sein, bei seiner Frau zu liegen, die soeben ihr erstes Kind geboren hatte. Und damit war für ihn alles zu Ende, er gefror gewissermaßen diesen Status quo für einige Stunden ein, hielt die Uhrzeiger an in der Finsternis einer langen, aus der Zeit 235 gefallenen Winternacht. Er ließ sie sich nicht nehmen, schickte die Hebamme fort und legte sich zu uns, deckte uns zu, schlüpfte selbst unter die gemeinsame Decke, obwohl meine Mutter bereits tot war. Dies alles sah ich jetzt so deutlich vor mir, als hätte ich es selbst genauso erlebt und nicht nur von meinem Vater gehört. Aber ihm war ich geblieben, ich dagegen hatte nichts und niemanden mehr. Ich kniete mich auf die Erde, irgendetwas, vielleicht die Kraft des Medizinmannes, hatte mich an das Grab geführt. Ich spürte ihn hinter meinem Rücken, er legte seine Hände auf meinen Kopf, etwas konzentrierte sich in mir, und ich fing an, meine Umgebung und die Menschen wahrzunehmen, es kehrte nach und nach mein Geist zurück, so langsam, als hätte er über lange Zeit weit außerhalb von mir existiert. Mit aller Vorsicht tat er es, so als müsste er mich erst erkunden, wieder kennenlernen, als traute er mir nicht ganz. Doch ich ließ ihn eintreten, war froh, ihn wieder zu haben, mein Bewusstsein, mein Ich. Noch am selben Tag begleitete ich den Medizinmann in sein Dorf, wo ich mich erholen sollte. Von hier aus begann ich meine neue, meine eigene Arbeit, es war nichts mehr wie früher, ich konnte nicht weitermachen, wo ich aufgehört hatte. Ich war jetzt allein unterwegs, behandelte, verarztete ein Dorf, eine Ansiedlung nach der anderen, schlief in den Hütten der Eingeborenen, stand Tag und Nacht zur Verfügung, wurde gerufen zu Geburten, bei Verletzungen, Blutungen, Infektionen, Schlangenbissen, Fieber, Schmerzen, Leiden aller Art, musste handeln, ob ich mich auskannte oder nicht. Es war das Konzept meiner Genesung, der Medizinmann hatte es für mich arrangiert, er wusste, wie er mich da herausholen und ins Leben zurückführen konnte. Die Dinge waren so dringend, dass ich nie genug Zeit hatte zum 236 Nachdenken. Alles musste sofort geschehen, man kam mit keiner einzigen Bagatelle. Jetzt war meine ganze Phantasie gefordert, niemand mehr zum Fragen da, kein Buch, das ich aufschlagen, keine Nacht, in der ich durchschlafen konnte. Ich zermarterte mein Gehirn, versuchte oft verzweifelt und auch vergeblich, mich an medizinische Fakten, an Studiertes, Gelerntes zu erinnern, und doch war ich nie besser als damals. Denn die Notwendigkeit machte mich zum Meister. Wenn ich nicht arbeitete, schlief ich abgrundtief, sobald ich aufwachte, arbeitete ich. Ich war jetzt wirklich Herr über Leben und Tod, wie es manchmal so großspurig heißt. Ich lebte in der Medizin auf, ich diagnostizierte nach meinem Gefühl, wurde immer sicherer darin, legte mein Schulwissen ad acta und konnte doch jederzeit darauf zurückgreifen, ich sah nichts mehr als Krankheit und Leid, das man bekämpfen oder wenigstens lindern musste, und es war gut so. Nun ging ich in die wirkliche und eigentliche Lehre, zum ersten Mal stand ich allem ganz allein gegenüber mit meinem Wissen, den Lücken darin, sammelte Erfahrung um Erfahrung, führte genau Buch über jeden Fall, war Professor und Schüler zugleich. Was ich nicht wusste, nie gesehen, gelernt hatte, führte zu medizinischer Kreativität und Phantasie, denn man kann nicht alles studieren, viele Dinge, Krankheiten, Symptome, Ursachen kannten nicht einmal meine früheren Professoren in Schweden. Sie hatten selbst keine Ahnung, welchen Problemen und Belastungen man hier mitten in Afrika ausgesetzt war. Diese Arbeit wurde mein größtes Glück, schenkte mir Vergessen, forderte mich Tag und Nacht, ließ mich nicht zum Grübeln kommen. Nie mehr sollte ich perfekter sein als damals, auch wenn das niemand wusste oder begriffen hätte. Mein persönliches Leid wurde verdrängt, kleiner von Tag zu Tag, ja es war sogar so, dass ich ohne es - so vieles nicht verstanden hätte. Ich glaube ganz bestimmt, man muss selber leiden, um Leiden zu verstehen. Arzt sein, kann jeder, der Medizin studiert hat, aber es 237 ist nichts als ein Beruf, wenn man nicht mit den Menschen leidet. Jeden Abend fiel ich sekundenschnell in einen tiefen Schlaf, schreckte bald nicht mehr auf. Die schweren Träume wurden seltener, bis sie schließlich ganz verschwanden. Nach etwa einem halben Jahr kam ich in das Dorf des Medizinmannes zurück. Sie hatten mir eine eigene Hütte gebaut, und als ich an einem der ersten Abende zu Bett gegangen war, geschah etwas Unglaubliches. Ein ganz junges Mädchen trat plötzlich herein und legte sich etwas umständlich zu mir. Ich traute meinen Augen nicht. Zuerst dachte ich, sie wäre krank, sie wolle mir etwas zeigen, sie hätte es nicht gewagt, vor den Augen der anderen zu mir zu kommen. Ich versuchte, sie zu verstehen, mir einen Reim auf ihr Benehmen zu machen, untersuchte sie genau, und natürlich war sie beschnitten und zugenäht in der, sogar für afrikanische Verhältnisse, brutalsten Art. Irgendeine Quacksalberin musste sie vor langer Zeit malträtiert haben, die Nähte sahen aus wie Stacheldraht und waren genauso hart. Ich will nicht lügen, seit dem Tod Silvias hatte ich zwar selten, aber doch auch an so etwas wie Sex gedacht, aber augenblicklich ein schlechtes Gewissen bekommen und davon Abstand genommen. Und im großen und ganzen war das, was ich täglich zwischen den Beinen der Frauen zu sehen bekam, nicht gerade dazu angetan, sentimental zu werden. Noch heute dreht sich mir der Magen um, wenn ich daran denke. Vor den Geburten musste ich sie aufschneiden, es ist mir noch immer schleierhaft, wie Männer überhaupt in diese Geschwülste eindringen konnten. Allein die Menstruation war eine unbeschreibliche Qual, es konnte das Blut nicht abfließen, es kam zu Rückstauungen, harten Bäuchen, Bauchfellentzündungen, Todesfällen. Um den Geschlechtsakt ausführen zu können, wurden die Frauen 238 nicht selten von den Männern mit Messern aufgeschnitten. So schnell wie möglich nach der Geburt riefen sie bereits die Beschneiderin zum Wiederzunähen. Ich tastete ihren Bauch ab, er fühlte sich an wie ein Stein und sie krümmte sich bei jeder Berührung vor Schmerz. Während sie geschickt worden war, um mir Lust zu bereiten, mit mir zu schlafen, was eine besondere Geste des Häuptlings war, überlegte ich mir, wie ich ihr helfen könnte. Am ersten Abend schickte ich sie weg, ich fühlte mich außerstande, sie heute noch zu behandeln, und eines lernt man in Afrika – Geduld, man kann nicht jede Krankheit sofort heilen, niemand erwartet es, und es ist auch nicht möglich. Alle Mädchen, alle Frauen litten unter denselben Problemen, daher hatte ich mich zwar gewundert, dass ausgerechnet sie gekommen war mit etwas, das hier mitten in Afrika zum Normalen zählte, doch wäre ich nicht auf die Idee verfallen, sie könnte ein persönliches Geschenk für mich als Mann sein. Als sie am zweiten Abend wiederkam, war ich bereits gewappnet. Ich hatte mir das Operationsbesteck hergerichtet, auf Dschungelart desinfiziert, zeigte ihr, wo sie sich hinlegen soll. Sie zitterte vor Angst. Ich ging so behutsam vor wie es mir möglich war, ließ sie zuerst in den Zuber steigen und badete sie in warmem Wasser mit Kräutern und Öl. Später spritzte ich ihr Schmerzmittel und Schlafmittel. Als sie endlich schlaff und bewusstlos vor mir lag, versuchte ich den immer noch harten Faden mit dem Skalpell aufzuschneiden, doch die Verwachsungen und Wucherungen waren so enorm, das Licht so schlecht, dass ich zeitweise kaum etwas sah. Ich musste auch die Haut verletzten, es kam zu Blutungen, sie schreckte auf, bewegte sich, schrie auf, versuchte sich übermenschlich zu beherrschen, wimmerte, wusste noch immer nicht, dass ich sie behandelte. Sie dachte bestimmt, ich würde sie nur für den Geschlechtsakt präparieren. 239 Als ich endlich fertig war, die Öffnung vorsichtig zu dehnen versuchte, quollen schwarze Klumpen, hellrotes Blut und alter stinkender Schleim durcheinander aus ihr heraus. Ich dachte, es würde nie aufhören. Im selben Maße wie sie diese Flüssigkeiten verlor, wurde der Bauch weicher, ließen die Schmerzen nach. Ihr Körper lockerte sich, wurde fast schlaff, und schließlich schlief nicht nur sie, sondern auch ich vor Glück und Erschöpfung ein. Sie litt sogar unter einer ganz akuten Entzündung, damals hatte ich noch keine Ahnung von diesen Dingen, denn die Frauen, die mir bisher hier im Dschungel untergekommen waren, hatten mich nicht deswegen kontaktiert, obwohl ich natürlich wusste, also gelernt hatte, dass man damit konfrontiert werden würde. Und es hatte wohl auch welche gegeben, die nicht beschnitten oder wenigstens nicht wieder zugenäht worden waren. Da ich bisher kaum mit Frauenheilkunde in der Praxis zu tun gehabt hatte, war ich zunächst total schockiert, vor allem über das Ausmaß der Verstümmelung, über die Endgültigkeit, die Brutalität, und vor allem, weil es sich nicht um Geburtsschäden handelte, die notdürftig oder falsch versorgt worden waren, sondern um absichtlich zugefügte, oft wiederholte und irreversible Verletzungen. Am anderen Morgen lag der ganze Haufen noch immer da, übersät von Fliegen und Ungeziefer aller Art. Ich erschrak darüber, denn es war gefährlich, ich hatte etwas Wesentliches vergessen gehabt, wohl kurz daran gedacht, noch im Schutz der Nacht alles fortzuschaffen, zu vergraben, doch die Müdigkeit war stärker gewesen. Es stank bereits bestialisch, so schnell und so tief es ging, vergrub ich alles nicht weit von der Hütte. Von nun an kam sie jeden Abend, wollte sich mir hingeben, sich opfern, sich bedanken, ihren Auftrag erfüllen. Doch wir lagen nur nebeneinander. Sie war, glaube ich, schrecklich in mich verliebt. Mit der Zeit schickte sie mir ihre Freundinnen, ich sollte auch sie aufschneiden. 240 So arbeitete ich nicht nur tagsüber im Dorf, sondern auch nachts bei mir daheim in meiner Hütte. Ich brauchte kaum Schlaf, war so beschäftigt und befriedigt von diesen Operationen und dem Gelingen, dass ich mir wirklich ganz nützlich vorkam. Der Häuptling hatte keine Ahnung davon, dachte wohl, ich würde außerordentlichen Gefallen an den Frauen seines Stammes gefunden haben, fühlte sich geschmeichelt, zwinkerte mir kumpelhaft zu, wenn ich ihm über den Weg lief, machte eindeutige Gesten. Nie habe ich Beschwerden oder Reklamationen bekommen. Da die Beschneiderinnen und die maßgeblichen Weiber offensichtlich nichts davon wussten und die Männer im allgemeinen nicht hinter diesen Genitalverstümmelungen standen, sondern Frauensache waren, gab es wenigstens in diesem Dorf und für eine bestimmte Zeit eine Erleichterung, zumindest für die ganz jungen Mädchen. Es war jeden Abend dasselbe. Wieder kam das erste Mädchen, das man inzwischen als geheilt betrachten konnte. Ich fing bald an, ihre Liebkosungen zu genießen, sie war wunderschön, eine von den vielen Töchtern des Häuptlings, ein besonderes Geschenk, eine Braut, eine Danksagung für meine Arbeit, eine Ehrengabe. Doch ich konnte sie nicht annehmen wegen Silvia, wegen meiner eigenen kleinen Tochter, ich hätte es als Vergehen empfunden, als Verrat, als Barbarei, nicht nur, weil das eingeborene Mädchen beschnitten war, sondern auch, weil mir das Verlangen fehlte. Wir lagen jede Nacht beieinander, ich erzählte ihr auf schwedisch meine Geschichte, bis sie einschlief, ich weinte, während sie mich liebkoste, sie verstand mich nicht und verstand mich doch. Jeden Morgen schlüpfte sie aus meiner Hütte, man beobachtete uns, war der Meinung, es stünde alles in ihrem Sinn zum Besten. Für das Dorf, die Angehörigen galten wir als Paar, als Mann und Frau. 241 Damals rechnete ich mein Unvermögen noch meiner Trauer zu, erklärte es mir damit, dass nicht genug Zeit vergangen sei, es eines Tages wiederkommen würde. Es musste jetzt nicht sein, es schien mir normal, im Moment mit keiner Frau schlafen zu können oder zu wollen, noch dazu mit einem armen beschnittenen Mädchen, das überdies viel zu jung war. Es war mir nach unseren Gesetzen wie meinem Gewissen verboten, sie anzurühren, selbst wenn ich gewollt oder gekonnt hätte, nicht aber nach den Gepflogenheiten der afrikanischen Tradition. In der letzten Nacht vor meinem Weggang weinten wir beide, sie ahnte, dass ich sie nicht mitnehmen würde, sie keineswegs als meine Frau akzeptiert hatte. In den frühen Morgenstunden verließ ich mit dem Jeep das Dorf. Wie alle anderen, stand auch sie da und schaute mir nach. Das ist Afrika, voller Herzlichkeit und Verständnis, aber auch dunkel und schwer. Afrika hat mir alles gegeben, und Afrika hat mir alles genommen, sage ich immer. Was ich wirklich kann, verdanke ich diesem Kontinent, der mit keinem anderen vergleichbar ist. Tief und schwarz, leicht und hell, voller Liebe wie voller Hass, in nichts ist er lau, sondern immer absolut. Eindeutig im Ausdruck, eindeutig im Eindruck. Nie habe ich erlebt, dass ich nicht wusste, worum es ging, man stand mir freundlich oder feindlich gegenüber, nicht misstrauisch wie bei uns. Niemand fragt, woher du kommst, wer du bist. Es zählt nur der Augenblick. Die Ursprünglichkeit, die Ehrlichkeit, die Reinheit der Tugenden, das Gespür für Gefühle, das einfache Menschliche, das nicht zugedeckt wird von irgendwelchen Abstandhaltern, die in Europa überall angebracht werden. Es ist egal, ob du Arzt bist oder Jäger, denn das allein sagt nichts aus über dich. Ein Häuptling oder sonst ein kluger Mann wird dir mit derselben Sicherheit gegenübertreten wie anderswo ein Staatsanwalt.......... . 242 Die Geschichte auf der Parkbank in Wien verlor sich im Uferlosen. Nach und nach, noch in Afrika, war Alexander klar geworden, dass mit ihm etwas geschehen war, was er nicht in den Griff bekam. Zwar gefielen ihm die Frauen nach wie vor, doch bekam er keine Erektionen mehr. Vielleicht, ja bestimmt, würde er sich eines Tages in Schweden behandeln lassen, dort gab es Spezialisten für so gut wie alles. Seine Sorge hielt sich in Grenzen. Es war nicht wichtig jetzt. So konzentrierte er sich immer versessener auf seine Tätigkeit als Arzt, war nun in der Lage zu forschen, ohne sich einer Frau gegenüber für seine Abwesenheit rechtfertigen zu müssen oder dem Vorwurf, ein schlechter Vater zu sein, gegenüberzustehen. Für eine Familie mit Haus & Hund & Pony würde später noch genug Zeit sein, so dachte er. Fürs erste fing er langsam an, seine Freiheit zu erkennen; zu genießen, wäre zu viel gesagt gewesen, aber es folgte für einige Jahre eine ganz persönliche Sorgenlosigkeit. Er stand unter keinem Druck mehr, niemand machte ihm Vorhaltungen, wenn er abends nicht seinen Mann stand, sich nach tausend Überlegungen & Gedanken einfach zur Seite drehte und einschlief. Zum ersten Mal war er wirklich frei von allem, keine Prüfungen mehr, keine Verantwortung, keine Rechtfertigungen im privaten Leben, in Dingen, die er jetzt als unkalkulierbar ansah. Es war ihm so schwer gefallen, ein guter Ehemann zu sein, denn wie jeder Mensch, hatte er sich gefreut auf die Liebe, die Ehe, das erste Kind, das zweite Kind, das dritte, genau wie einst sein Vater, hatte all den Aufregungen zuversichtlich entgegengesehen, sich nach einer Familie gesehnt, gemeint, es gäbe nichts Schöneres, nichts Leichteres als dies. Doch war alles anders gekommen, vorüber gegangen wie ein 243 Traum beinah, und über weite Strecken war es ein Alptraum gewesen. Das Schwere, so schien es, lag hinter ihm, ab jetzt würde er in Ruhe nach der Zeit der Trauer und des Schmerzes tun können, was er immer gewollt hatte und was mit Silvia, so sehr er sie noch immer liebte, so sehr sie ihm fehlte, doch unmöglich gewesen war, dies wenigstens wusste er jetzt. Für sie war er vor allem ihr Mann, ihr Geliebter gewesen, nicht Arzt oder Forscher, was interessierte sie das! Um Kinder zu haben, braucht man schließlich einen Mann, nicht einen Mediziner, denn das alles kannte sie zur Genüge von ihrem Vater, der auch erst Zeit für ihre Mutter gefunden hatte, als es zu spät war. Dies war es wohl, was sie immer vor Augen hatte, das schwere Sterben ihrer Mutter, der tragische Abschied ihrer Eltern voneinander, das Zugrundegehen dieser kleinen Familie. Die Ehe ihrer Eltern war harmonisch und vernünftig gewesen, doch dann kam die Krankheit der Mutter, durch welche sie beendet wurde. Die wenige verbleibende Zeit nach der reichlich spät gestellten Krebsdiagnose, die damals noch das Todesurteil bedeutete, war in der Tat außergewöhnlich gewesen, auch für Silvia, sodass sie zeitweise ganz darauf vergaß, worin der Grund für ihr plötzliches abwechslungsreiches Leben lag. Es hatte ihrer Mutter nichts genützt, mit einem Arzt verheiratet zu sein. Für Silvia war also ein Doktor nicht etwas schier Unvorstellbares wie für die anderen Schwesternschülerinnen, von denen sich eine jede die Finger nach Alexander abgeschleckt hätte. Sie war ehrlich vernarrt in ihn gewesen, unreif, ungestüm, doch nicht wegen seines Berufes, sondern weil er ihr als junger Mann gefiel und weil er besonders war. Wie sonst hätte er sich mit einer Landpomeranze wie sie eine war, eingelassen, er war nicht so hochmütig & arrogant wie die meisten Ärzte, die es für gewöhnlich genossen, wenn ihnen die Schwesternschülerinnen aus der Hand fraßen, sie bewunderten und zu jedem Tingeltangel 244 mehr als bereit waren. Die Aura, die von Alexander ausging, zog sie an, seine Stille, sein Lächeln, sein Ernst, die besondere Innigkeit, bei allem, was er tat. Nie war er anmaßend oder herablassend, etwas, was sie von seinen Kollegen zur Genüge kannte. Er genehmigte sich keine Unhöflichkeiten, keine Launen, keine Schlampereien, er nahm alles & jeden ernst, gab sich bescheiden, zurückhaltend, geduldig. Das Leiden von Silvias Mutter war immer schlimmer geworden, die Schmerzen ließen sich bald nicht mehr beherrschen, und als Mädchen erlebte sie die Bitternis, mit der ihre Mutter die Krankheit ertrug. Wie sie sich dagegen wehrte, sie verleugnete, sie hasste, Gott anklagte, Ihn beschimpfte, weinte & schrie, dass es die Toten am Friedhof rühren musste! Doch Gott und die Toten hörten sie nicht, sie wurden nicht gerührt vom Schmerz eines einzelnen Menschen, sie musste erfahren, was es hieß, ohne Hilfe, ohne Linderung zu sein, nicht zu sterben, sondern leidend zu Ende zu leben. Als Mädchen schon erkannte Silvia, wie die Natur ohne Erbarmen war, gegenüber Kindern sogar. Das Gejammer, das Mitleid, die Gleichgültigkeit der Umgebung war nichts als Hilflosigkeit, die Krankheit erwies sich als immer stärker, je mehr man sie bekämpfte. Der Tod selbst ließ sich Zeit, als wollte er wieder & wieder gebeten werden, als müsste er täglich quasi neu überlegen, um sich dann eines anderen Sterbenden zu besinnen und just dorthin zu eilen. Nein, Silvia hatte sich auf & über Alexander gefreut seit der ersten Stunde, dem ersten Blick beinah, immer & immer & immer wieder. Sie war, wie er später erzählen sollte, entsetzlich in ihn verliebt gewesen, so was von auf der Stelle verknallt, dass er fast darüber erschrocken war. Schließlich lag es nach jenem fatalen Fehler von Silvia, der sie & 245 Alexander zusammengeführt hatte, nicht gerade auf seiner Linie, sie darüber hinweg zu trösten. Niemand konnte sich an einen solchen oder auch nur ähnlichen Vorfall erinnern, denn in diesem altehrwürdigen Krankenhaus gab es wohl seit Menschengedenken keine Schwesternschülerin, die einen Patienten auf dem Gewissen hatte. Alexander war genug damit beschäftigt, selbst alles richtig zu machen, sich einzuarbeiten, nach den Jahren an der Universität das Theoretische mit dem Praktischen in Übereinstimmung zu bringen. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine hysterische Schwesternschülerin, welche sich ihn als Retter ausersah. Obwohl sie ihm sofort gefallen hatte, bereits beim ersten Zusammentreffen, da sie ihm entgegengestürzt war, brauchte er doch wenigstens ein bisschen Zeit, schließlich hatte er nicht jetzt und nicht auf so tragische Weise damit gerechnet. Am Anfang war sie die treibende Kraft ihrer Liebe gewesen, hatte die Initiative ergriffen, ihn immer wieder um ein Treffen gebeten, ihn angerufen, eingeladen. Bald lernte er sie besser kennen, und sie hatten etwas gemeinsam, wie er, hatte auch sie keine Mutter mehr. Zwar nicht von Anfang an mutterlos aufgewachsen wie Alexander, hatte sie doch die Mutter zu einem Zeitpunkt verloren, als sie sie am meisten gebraucht hätte und deren langes, schweres Sterben bewusst erleben müssen. Dies war es gewesen, was ihn als erstes aufhorchen ließ, ja, seine Sicht auf dieses Mädchen vollkommen veränderte, und so hatte alles begonnen. Durch seine Herkunft war Alexander besser gestellt als seine Kollegen, konnte wie einst sein Vater Rahel jetzt Silvia beeindrucken, auch wenn er noch keine Ahnung von seinem tatsächlichen Reichtum hatte. Sein Vater kam kein einziges Mal nach Stockholm, ohne ihm extra Geld zu geben, mit ihm etwas Besonderes zu unternehmen, ihn 246 außergewöhnlichen Leuten & Frauen vorzustellen, ein paar Tage in den Süden zu entführen, mit ihm, wie früher, ein Wochenende auf dem Land zu verbringen. Einmal stand er mit einem neuen Buick vor dem Krankenhaus, fuchtelte mit den Schlüsseln, hatte sich wie ein junger Hund darauf gefreut, seinen Sohn mit diesem Geschenk zu überraschen, Alexander war es mehr als peinlich gewesen, doch Silvia hatte es genossen. Je genauer er ihre Vergangenheit kennenlernte, um so mehr verstand er sie, umso mehr begann er sie zu lieben. Sein Vater war durchaus kein komplizierter Mensch, es war ihm egal, dass Alexander sich keine von den feinen Damen ausgesucht hatte, sondern ein schwedisches Mädchen vom Land, eine Krankenschwester, was war daran verkehrt? Schnurstracks verkündete er es Rahel. Hör zu, konnte er sagen, Alexander, unser Alexander, stell’ dir vor, hat ein Mädchen! Was hältst du davon? Viel später sollte Alexander erfahren, dass sein Vater ständig mit seiner toten Mutter redete, keinen Schritt ohne ihren Rat, ihre Zustimmung unternahm. So hatte er denn nichts Eiligeres zu tun gehabt, als heim zu rennen und sie zu informieren. Diese hatte gelächelt und es für gut befunden, Grund genug für ihn, es zu akzeptieren, nicht er entschied schließlich darüber, sondern sie, Alexanders Mutter im Jenseits. Als Alexander eines Tages, nachdem er die ärztliche Approbation erhalten hatte, seinen Vater davon unterrichtete, dass er Silvia heiraten wolle, war dieser nicht sonderlich überrascht, längst hatte er mit Rahel alles besprochen, und sie war ja auch einverstanden gewesen. Auch schien es seinem Vater angebracht, es war für ihn undenkbar, dass sein Sohn mit einem Mädchen ausging, ohne es zu heiraten. 247 Ja, ja, konnte er sagen, das wissen wir, geht in Ordnung. Er, der Vater des Bräutigams, würde sich um die Hochzeitsvorbereitungen kümmern, Alexander sollte sich ganz auf seine zukünftige Frau konzentrieren, mit ihrem Vater Kontakt aufnehmen, sich einen Termin geben lassen, ihn aufsuchen, in aller Schicklichkeit um ihre Hand anhalten, das andere konnte er seine Sorge sein lassen. *** X Silvias & Alexanders Hochzeit Alexander fuhr also mit Silvia in den Norden, um in aller Form um ihre Hand anzuhalten. Der Zustand dieses alten Mannes, der Silvias Vater war, irritierte ihn allerdings, denn der reagierte bestürzt & verständnislos. Schon, als sie ankamen, benahm er sich eigenartig. Misstrauisch, als handelte es sich eventuell um einen Überfall, spähte er zur Tür heraus, die er nur einen winzigen Spalt öffnete, obwohl seine Tochter draußen stand. Wen hast du da mitgebracht? fragte er, als sei er total ahnungslos. Aber, Papa, ich habe dir doch geschrieben, ich komme mit Alexander, meinem Verlobten. Deinem Verlobten!, mich hat jedenfalls kein Mensch gefragt. Glaubst du, du kannst mich vor vollendete Tatsachen stellen, oder was? Papi, hör zu, wir sind weit gefahren, es geht um unsere, um meine Zukunft, ich liebe Alexander, und ich möchte, dass du mir erlaubst, ihn zu heiraten. Er ist Arzt, genau wie du, er ist ein lieber Mensch, er meint es ernst, bitte, sei so gut, mach’ die Tür auf, damit wir hineinkommen können. 248 Jahre bist du nicht hier gewesen, hast dich nicht um mich gekümmert, und jetzt soll ich auf einmal alles erlauben. Er ließ sie endlich herein, schlurfte vor ihnen ins Wohnzimmer, setzte sich in seinen Ohrensessel und machte Anstalten, seine Zeitung weiter zu lesen. Silvia verdrehte Alexander gegenüber die Augen und sprach ihm leise Mut zu. Wissen Sie, Silvia ist ohne Mutter aufgewachsen, fing er an, sie hat viel mitgemacht, ich gebe sie nicht jedem Dahergelaufenen, und ich bin dadurch auch nicht einfacher geworden. Die wirre Rede von Silvias Vater beeindruckte Alexander, er versuchte daher rasch & engagiert, seine Sicht der Dinge darzulegen, erklärte ihm, dass er Bescheid wisse, erzählte davon wie auch er ohne Mutter aufgewachsen ist, er & Silvia sich liebten, wie sie sich kennengelernt und vieles gemeinsam hatten, sogar die mutterlose Kindheit und, und, und … . Doch er hatte den Alten unterschätzt, dieser ließ ihn nicht einmal ausreden, fiel ihm ständig ins Wort, schien, sich darauf vorbereitet oder spezialisiert zu haben, Alexander schachmatt zu setzen. Silvia hatte sehr wohl befürchtet, dass ihr Vater so und nicht anders kontern würde, doch hatte sie auf Alexanders Geschick vertraut, nicht von vornherein die Sache verkomplizieren wollen und jeden Gedanken an einen schlechten Verlauf dieses Gesprächs bewusst wie unbewusst, weit von sich geschoben. Absichtlich hatte sie Alexander im Unklaren über die schwierige Art ihres Vaters gelassen, Angst gehabt, ihn im letzten Moment zu verschrecken, vielleicht sogar zu verlieren. Alexander verfügte durch den nachgiebigen & sentimentalen Charakter seines Vater über keine Vorstellung von anderen Vätern. Es gab eine richtige, sogar ins Weltanschauliche gehende 249 Auseinandersetzung zwischen Silvias Vater und Silvias zukünftigem Ehemann, doch Alexander ging als Sieger hervor. Nicht dass es ihm leicht gefallen wäre, diesen alten Herrn zu übertrumpfen, aber manchmal, so dachte er, muss man Menschen vor Tatsachen stellen, die sich zwar in ihrer Phantasie, nicht aber in Wirklichkeit verleugnen lassen. Nun erinnerte er sich, dass auch er seinen Vater einmal in aller Unerbittlichkeit, deren Väter offenbar fähig sein können, erleben durfte. Es lag weit zurück, nun ja, so weit auch wieder nicht. In der Zeit, als er in Stockholm die ersten Jahre Medizin studierte, wohnte er in einer überaus hübschen Studentenwohnung, die sein Vater ihm ausgesucht, eingerichtet und natürlich bezahlt hatte. Doch wie es oft ist, wenn man sich in Sicherheit wiegt, passiert ein Unglück. Es kam soweit, dass Alexander in irgendeiner Weise die Sache mit der Sexualität ergründen wollte. Immerhin war man etwa zwanzig Jahre alt, und kein Mensch kam damals auf die Idee, einem damit zu helfen. In jenen Tagen war es durchaus nicht selbstverständlich, mit einem Mädchen auf den Punkt zu kommen, schon gar nicht einfach, und doch musste ein jeder sozusagen auf eigene Faust irgendwann, irgendwo & irgendwie, mehr oder weniger heimlich, mehr oder weniger offensichtlich, seine Erfahrungen sammeln. Ein Studienkollege hatte ihm von einem Bordell in Södermalm erzählt, einem, damals als heruntergekommen geltenden Stadtteil von Stockholm, wo man anscheinend günstig auf seine Kosten kam. Nicht dass Alexander Probleme mit Geld gehabt hätte, sein Vater ließ ihn nie schlecht ausgestattet zurück, im Gegenteil, er verfügte über ein eigenes Konto, konnte sich so gut wie alles leisten, schöpfte kein einziges Mal seine finanziellen Möglichkeiten wirklich aus. 250 Während seine Studienkameraden sich ständig in diesbezüglichen Nöten befanden, kannte Alexander solche Ängste nicht. Nicht dass es vollkommen egal gewesen wäre, ab & zu fragte sein Vater sogar nach einem bestimmten überwiesenen Betrag, denn er legte Wert darauf, seinen Sohn weder Not noch Überfluss spüren zu lassen, sondern ihm ein angenehmes Leben zu bieten. Doch dieser fühlte sich reich beschenkt, kannte ja die anderen, wie sie immer fretten & rechnen mussten, in Schulden & Geschäften steckten, die ihm erspart blieben. Alexanders Vater war, obwohl er dachte, seinem Sohn gegenüber sparsam & normal zu sein, doch überaus großzügig. In seinen Augen wurde beileibe nicht alles gekauft, Ausgaben aller Art gut überlegt, und Alexander wusste ohnehin nichts über den tatsächlichen Reichtum seines Vaters, zwar, dass er, wie es aussah, hin & wieder gute Geschäfte machte, doch man lebte äußerlich nicht über die Verhältnisse, fügte sich ein in das allgemeine Bild, passte sich an, fiel nicht auf. Dies war sowohl die skandinavische wie auch die persönliche Lebensart des alten Herrn Sommerfeld. Lieber untertrieb man in gewissen Dingen, gab sich gediegen, aber unaufdringlich, protzte nicht, trug den Pelz, als Pelzhändler sogar, nach innen gewendet. Wünsche wurden zwar nicht abgeschlagen, doch genau besprochen, am Ende bewilligt. Sein Vater wollte über seines Sohnes Angelegenheiten Bescheid wissen, beschäftigte sich gerne mit Kleinigkeiten, sah sich ja gerne als Vater & Mutter in einem. Der Erwerb einer Füllfeder etwa, einer neuen Schultasche waren ihm wichtig, darüber wurden längere Briefe geschrieben, als Alexander noch kleiner war. Herr Sommerfeld brachte immer besondere Stücke von allem mit, machte sich extra auf die Reise in die Ortschaft, zur Familie, wo sein Sohn sich gerade aufhielt, erachtete keine Frage, kein Bedürfnis als zu gering, um sich damit zu befassen. Allerdings beim besten Willen unvorstellbar für Alexander, auf 251 irgendein Verständnis des Vaters für seinen plötzlichen & persönlichen Gusto auf Sex zu stoßen, womit er ganz richtig lag. Jede Frage darüber erübrigte sich. Unausdenkbar, ihm dieses Interesse zu erklären, alles, alles, nur nicht das. Darüber konnte er seinen Vater nicht informieren, es musste also heimlich geschehen, so viel stand fest. Herr Sommerfeld war für Alexander wie Gott der Herr, in diesen Dingen. Er würde, so dachte er, wohl einen Teil des Monatsgeldes das eine oder andere Mal dafür aufwenden müssen, vielleicht anderswo etwas einsparen. Mal sehen, was es kostete und ob es ihm gefiel. So ging Alexander eines Abends mit schlechtem Gewissen zwar, aber entschlossen, in jenes sogenannte Freudenhaus, das der schlaue Kollege, ihm genannt hatte. Doch, oh‘ weh, es stellt sich anders heraus, schon die erste Station ist eine schier unüberwindliche Hürde für ihn. Die Mamsell, die gleich hinter dem Eingang am Tresen thront, grinst ihn frivol an, bewegt unanständig ihre Zunge hin & her, schnalzt & zischt, nimmt ihn genau unter die Lupe. Ihren übermächtigen Busen hat sie gut sichtbar vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, nur ein feines Netz liegt darüber. Das erste Mal, Herzchen? Ja. Alexander wird rot, schlägt die Augen nieder, wäre am liebsten wieder umgedreht, ach, hätte er doch nie mit diesem Etablissement Kontakt aufgenommen, seinen Kopf durch diese Tür gesteckt! Im diesem Augenblick wollte er nichts lieber, als alles rückgängig machen, aus diesem unangenehmen Traum aufwachen. Entschuldigung, stammelte er, Entschuldigung, ich, ich, es tut mir leid, ich, ich muss gehen .... . 252 Das muss dir doch nicht leid tun, es ist normal, ich habe lauter hübsche, junge, äußerst interessante Mädchen hier, die sich gut darauf verstehen......... Trotzdem, ich, ich.......... . Mein Vater darf es nicht wissen, wenn er es erfährt, weiß ich nicht, was geschieht. Ach, dein Vater! Um Himmels Willen, er wird es nicht erfahren, das verspreche ich dir! Väter sind auch nur Männer, oder warum glaubst du, dass es dich gibt? Ja, schon, aber............ . Alle Männer wollen immer nur ein- und dasselbe. Und wenn man hier in diesem Haus etwas weiß, dann dies, glaub’ mir! Sie lachte aus vollem Halse. Und obwohl sie nicht eine Frau wie seine Mutter war, musste doch auch Rahel darüber Bescheid gewusst haben, als sie mit seinem Vater, ohne mit ihm verheiratet zu sein, ins Bett gegangen war. Über den Unterschied zwischen einer Frau hier und einer wie seiner Mutter oder seiner zukünftigen Frau, wenn es sie geben sollte, konnte er momentan keine Klarheit gewinnen. Sowieso war ihm jede Lust vergangen, am besten, so dachte er, augenblicklich verschwinden, ach herrje, hätte er doch nie die Schneid aufgebracht, über diese Schwelle hier zu treten! Was, zum Teufel, war in ihn gefahren! Nun stand er da wie ein x-beliebiger, lüsterner Kerl, der er nicht mehr im geringsten war, konnte weder vor noch zurück. Die Matrone am Empfang aber geht auf seine Verlegenheit nicht mehr ein, hat kaum aufgehört, ihre Patiencen zu legen, sich derweil eine Zigarre in den Mund gestopft, zündet sie jetzt umständlich an, dreht sie anzüglich zwischen den Lippen, fängt zu 253 paffen an, lacht kräftig & heiser, zeigt ihre goldenen Zähne. Sie rutscht vom Hocker, betrachtet sich beiläufig im, neben ihr stehenden, goldgerahmten und bombastisch mit roten & schwarzen Dessous verzierten Spiegel, verlangt, mir nichts dir nichts, irgendeine Summe, an die er sich später nicht erinnern kann, doch folgsam zählt er ihr die Scheine auf den Tisch. Sie legt sie in eine, bereits prall mit Geld gefüllte Schublade, verschließt sie mit einem Schlüssel, steckt diesen zwischen ihre Brüste, macht sich eine Notiz. Alexander wunderte sich über die, auch hier herrschende, korrekte Art im Umgang mit Geld. Professionell, denkt er, erstaunlich bei der Liederlichkeit des Gewerbes. Noch weiß er nicht, dass alle Geschäfte gleich sind, es keinen Unterschied macht, womit genau das Geld hereinkommt, ob mit dem Kauf oder Verkauf eines Pelzes, eines Messgewandes, einer ärztlichen Behandlung oder einer Dienstleistung wie dieser. Dann brüllte sie etwas Unverständliches den Gang entlang und gleichzeitig in den ersten Stock hinauf, deutete ihm, sich um die Ecke zu verdrücken und auf seinen Aufruf zu warten. Wie im Warteraum eines Arztes, eines Amtes oder vor einer Prüfung sollte er sich demnach hinsetzen. Im Gehen bereits, schaute er sie noch einmal an, sah, wie gut & perfekt sie geschminkt & gekleidet war. Eine Frau von bestimmt fünfzig Jahren, die wusste, was sexy war, einen Mann beeindrucken konnte, allerhand drauf hatte, für sich genommen einen Wert darstellte und für die Gesellschaft ebenso nötig war wie etwa eine Krankenschwester oder ein Kindermädchen. Als er um die Kurve kam, traute er seinen Augen nicht. Da saßen im Schein roter Laternen lauter Gestalten, die eines gemeinsam hatten, sie machten einen rohen, primitiven Eindruck, und es waren Männer. Die Beleuchtung wirkte eher wie eine Verdunklung, sie sollte die Gesichter der Kunden verfremden, verstecken, aber auch etwas zwischen erotischer Stimmung & Barmherzigkeit erzeugen. Schließlich wollte keiner später vom 254 anderen deutlich erkannt werden können. Schmutzige Witze drehten ihre Runde. Übertriebenes Gelächter. Bestimmt, so dachte Alexander, waren auch sie verlegen, suchten ihre Scham zu verscheuchen, locker & groß zu tun, obwohl es ihnen tierisch ernst war, so ernst, dass sie Geld dafür bezahlt hatten, welches bestimmt nicht leicht verdient war für Leute wie sie, Geld auch, das sie notwendig für etwas anderes gebraucht hätten, Geld, das irgendwo fehlte, womöglich zu Hause bei Frau & Kindern. Für andere wiederum gab es hier die einzige Chance, überhaupt an Sex zu kommen. Manche waren jünger, sahen aus wie Matrosen oder Holzfäller, sie bekämpften wohl nur ihre Einsamkeit zwischen zwei Arbeitsblöcken, bevor sie wieder für Monate oder gar Jahre von der Bildfläche verschwanden. Plötzlich wandte sich ihm einer zu und nahm ihn in genaueren Augenschein. Na, Junge, bist wohl zum ersten Mal hier, was? Das sieht man doch gleich! Keine Antwort von Alexander. Ach so, groß dran, was? Einer von den Besseren, die auch ihre Bedürfnisse haben, aber nicht erwischt werden wollen? So ging es geraume Zeit. Alexander war gezwungen, sich ihre Attacken und Beschreibungen anzuhören, Spott & Gelächter schütteten sie zurecht über ihn aus. Noch immer hätte er gehen können, und doch tat er es nicht, dachte wohl, er müsse die Sache zu Ende bringen. Wieder zu verschwinden, schien ihm im Augenblick der schwierigere Weg als zu bleiben. Währenddessen öffneten sich Türen, Männer kamen heraus, andere drückten sich hinein. Als Alexander an der Reihe war, sollte er in ein Zimmer gehen, aus dem gerade ein großer, schwerer Mann gekommen und hechelnd an ihm vorbei getorkelt war. Noch fingerte dieser an seinem Hosenschlitz herum, schaute nicht links noch rechts, bog um die Ecke, dann fiel irgendwo draußen eine Tür ins Schloss. Er schien auf die Straße getreten zu sein. 255 Erst jetzt merkte Alexander, dass er diesem Mann mit dem Gehör gefolgt war, ihn noch gesehen hatte, als er bereits seinen Blicken entschwunden war. Nach mehrmaliger Aufforderung trat er wie in Trance, bar jedes Verlangens und mit klopfendem Herzen durch dieselbe Tür. Dieser Kerl war sein Vorgänger gewesen, so also spielte es sich ab. Herein…., herein!…., der Nächste bitte…, hallo……, haaalllooooo!……her-a-i-n….. . Was sich ihm jetzt bot, hätte er im Traum nicht für möglich gehalten, denn er sah im schummrigen Licht ein junges nacktes Mädchen, das über einer Waschschüssel die Schenkeln spreizte und sich mit einem Waschlappen wusch. Der Raum war von dichter, schlechter Luft erfüllt, und wie es Alexander schien, voller Fetzen & Staub. Er suchte als erstes ein Fenster, das sich öffnen ließ, doch stellte sich heraus, dass dieses mehrfach zugehängt war, hinter den anderen drapierten Stoffen an den Wänden taten sich auch keine Öffnungen auf, alles schien absichtlich verschlossen zu sein, sodass er die Orientierung verlor und resignierte. Was er nun beschämt beobachtete, war das Fräulein, welches hastig versuchte, sich für ihn bereit zu machen. Es graute ihm, nichts wollte er weniger als das! Um Gottes Willen, wo war er hingeraten? Was tat er? Was war das für eine Welt? Jetzt trat sie ans Bett, ohne ihn anzuschauen, begutachtete das Leintuch, zog es weg, holte ein anderes aus der einzigen Kommode, warf das alte auf den Boden, breitete das frische Laken auf der Matratze aus, drehte sich um, sah ihn zum ersten Mal an. Ein trauriges erloschenes Gesicht, das sich dennoch bemühte, einen freundlichen, aufmunternden Eindruck zu machen. Wie im Zirkus, dachte Alexander, die Traurigkeit eines Clowns, dem nach nichts weniger zumute ist als nach Lachen und es doch vortäuschen muss. 256 Na, komm’ schon, was glotzst du so? Hast du vergessen, für was du gekommen bist und bezahlt hast? Sie legte sich rasch aufs Bett, öffnete ihre Beine und winkte ihn zu sich heran. Wahrscheinlich wollte sie so schnell wie möglich mit ihm fertig werden. Sie trug ein schmuddeliges, unten offenes Mieder, Strümpfe, Strapse, Stöckelschuhe, Dinge eben, die erregend wirken sollten, doch für Alexander waren sie im Augenblick das reine Elend. Er hätte ein Unmensch sein müssen oder eine andere Vergangenheit haben, um eine Einladung wie diese, so selbstverständlich sie für den Moment war, anzunehmen. Es wurde jene Nacht, in der er die Lebensgeschichte eines Mädchens erfuhr, das in einem Haus wie diesem gelandet war. Er setzte sich auf die Bettkante, streichelte ihr Gesicht. Sie war jünger als er, und als er dies gewahrte, überkam ihn das Grauen. Stammelnd begann er schließlich: Ich heiße Alexander……… Ich studiere Medizin……… Ich, ich will das hier nicht, ich………. konnte mir nicht vorstellen, dass es so sein würde, ……….. dass es so etwas gibt,……………. verstehst du? Ja, nein. Ich kenne nichts anderes, kenne keine Männer wie dich. Ich wollte wissen, wie es ist, mit einer Frau zu schlafen, aber jetzt...... jetzt will ich es nicht mehr, ich will es nicht tun, und ich will es nicht wissen. Das macht doch nichts, du musst kein schlechtes Gewissen haben, ich bin dafür da, es macht mir nichts aus, es ist schön für mich, einmal mit einem guten Menschen .......weil, weil, die anderen sind nicht so, sie schauen mich nicht an, es ist ihnen egal, wie ich aussehe, ich bin für sie nichts als ein Loch, eine Hure, nichts, niemand. 257 Ich bin kein guter Mensch. Doch. Das sieht man. Und du kommst aus einem reichen Haus. Du bist gebildet. Das hier ist nichts für dich. Es gibt bessere Puffs, wo Leute wie du hingehen. Das hier ist eine Erniedrigung für dich. Hierher kommen Männer, die kein Geld haben, die aus den gleichen Verhältnissen kommen wie die Mädchen hier. Alexander schlug die Augen nieder, rührte sie nicht an, schwieg. So begann sie schließlich zu erzählen. Wie ihr Vater, ein Säufer & Hurenbock, sie verspielt hatte, als sie ganze dreizehn Jahre alt gewesen war, dass sie noch neun Geschwister hatte… . An jenem Abend vor Jahren war sie ihn wieder suchen gegangen, holen aus einem Wirtshaus, wo er das Geld, welches er an diesem Tag vom Wohlfahrtsamt abgeholt hatte, anstatt es heim zu bringen, ausgab, verprasste, so wie er es schon oft getan hatte. Den ganzen Tag hatten die Mutter & sie gewartet, vergeblich wie immer, denn es fiel ihm nicht ein, wofür man das Geld, wenn man zehn Kinder hatte, brauchen könnte. Als sie ihn endlich fand, war er längst pleite und dachte nicht daran, mit dem Kartenspielen aufzuhören. Wieder einmal hatte er sich zugesoffen, war längst nicht mehr bei Verstand, jähzornig, aggressiv, fühlte sich in die Enge getrieben, konnte nicht vor und nicht mehr zurück. Da kam ihm das Mädchen, die Lästwanze, wie er sie oft nannte, die ihm seine Alte ständig hinterhergeschickte, gerade recht. Seine Augen begannen plötzlich zu leuchten, so als wäre ihm die Idee seines Lebens gekommen. Betrunkene haben zuweilen großartige Einfälle, solche, die ihnen wie die letztendliche Erleuchtung erscheinen. Er kniff die Augen zusammen, begann durch alles hindurchzuschauen, ein Licht zu sehen, das ihm dort drüben am Ende der Gaststube Rettung versprach. Zutraulich ging sie indes zu ihrem Vater, es war 258 schließlich nicht das erste Mal, dass sie ihn holte, endlich gefunden hatte, um ihn sicher heimzubringen. Mein neuer Einsatz!, krächzte er, und niemand wusste zunächst, was er meinte. Doch am Ende gab es keinen Zweifel mehr. Er bot, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, seine eigene Tochter an. Södermalm war damals ein armes Viertel. Wer dort wohnte, gehörte zu den untersten Schichten der Gesellschaft, man könnte sagen, zu den Ausgestoßenen. Hier lebte man einerseits von der Hand in den Mund, von Almosen & Sozialhilfe, andererseits von Alkohol, Glücksspiel, Prostitution. Da gab es Kneipen, die davon existierten, dass die Arbeiter und sogar die Arbeitslosen ihr mageres Einkommen in Schnäpse umsetzten, den Gewinn pfeilgerade in die Freudenhäuser trugen, ihr Glück mit Karten & Würfeln versuchten, sich selbst für so gut wie alles feilboten, der uralte Teufelskreis eben, aus dem sich, einmal hineingeraten, kein Ausweg mehr fand. Tagtäglich, nachtnächtlich ereigneten sich grausige Szenen in den Lokalen, auf offener Straße, hinter privaten Fensterscheiben, Vorkommnisse, die sich niemand außerhalb dieses Quartiers vorstellen wollte. Alexander hörte zum ersten Mal Dinge, die er kaum glauben konnte. War es denn möglich, dass es mitten in Schweden, in der Hauptstadt, nicht weit entfernt von seiner Wohnung, so etwas gab? Wo hatte er bisher gelebt? Wie behütet bei aller Unbehütetheit und wie unwissend bei allem Wissen war er bis zu diesem Tag aufgewachsen? Er verlor den Boden unter den Füßen, wurde von Scham & Mitleid ergriffen, überwältigt. Es klopfte an die Tür. Wann man endlich fertig sei? Jemand stand draußen und hatte nichts Besseres zu fragen, als, wann man denn fertig sei? Die Zeit ist längst um! 259 Sauerei so was! Für einmal zahlen und es fürs Doppelte treiben! Diese Schnösel! Die glauben wohl, sie sind überall was Höheres! Und so weiter und so fort! Lauter verschiedene Stimmen, draußen kochte es, man hatte keinen Verstand für lange Wartezeiten. Es wurde schon mit den Fäusten gegen die Tür gepumpert, immer dreister, immer lauter, in immer kürzeren Abständen. Bin ich vielleicht beim Arzt oder auf dem Sozialamt, wo man für nichts und wieder nichts, warten muss? Also so was! Da riss Alexander die Tür auf, stürzte hinunter zur Dame am Empfang, legte ihr sein ganzes Geld auf die Budel, wollte bei diesem Mädchen, das im Begriff war, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen, noch ein wenig bleiben, doch die Alte rief ihn frech zurück, so liefe das hier nicht, es gäbe noch einen Haufen Kunden, die auf dieses Zimmer abonniert wären, wo käme sie denn da hin! Sie wolle keinen Aufstand, alle hätten schließlich bezahlt und Anspruch auf einen gewissen Genuss. Am Ende löste sich der Knoten irgendwie, jedenfalls schien die Chefin die meuternden Freier auf andere Mädchen verteilt zu haben. Alexander sollte vorerst in Ruhe gelassen werden. Sie hieß Sonja, und er blieb die ganze Nacht bei ihr. Nicht, um mit ihr zu schlafen, sondern sie reden zu lassen, sie zu liebkosen, zu trösten, ihre Tränen abzuwischen. Am Ende gab er ihr seine Adresse, was ihm zum Verhängnis werden sollte, denn er stellte damit Hilfe in Aussicht, legte sich selbst an die Leine, lieferte sich aus. Doch in Wahrheit war es Alexanders goldenes Herz, seine Empfänglichkeit, sein Blick für das Leid, auch, wenn es später 260 nicht so aussehen sollte. Ab jetzt ging er regelmäßig nach Södermalm, brachte Geschenke, zahlte gleich für die ganze Nacht unten bei der strengen Alten, gab Sonja extra Geld, schlief kein einziges Mal mit ihr. Seine Wochenenden verbrachte er nun, wie andere auch, im Freudenhaus. Wieder & wieder ließ er sich ihre Geschichten erzählen, wollte es genauer wissen, sie durch seine Anwesenheit schützen vor den Männern draußen vor der Tür, für die er sich schämte, während er erfuhr, wie es ihr täglich erging, was sie durchmachte, was sie von ihr verlangten für Geld, das sie niemals sah. Natürlich war sie nicht gleich hierher gebracht worden. Es handelte sich damals, als sie ihren Vater geholt hatte, lediglich um ein Versprechen, eine gestundete Ehrenschuld! Und als der Tag kam, an dem die offene Rechnung beglichen werden sollte, hatten es Vater wie Tochter fast vergessen, jedenfalls das alkoholgeschädigte Hirn des Mannes, das sich kaum jemals an etwas Brauchbares erinnerte. Sonja jedoch nicht, wenn auch nur halb verstanden, halb nicht geglaubt, war die verschlagene Art, mit der ihr Vater damals ein Papier unterschrieben hatte, während gleichzeitig ihr Name gefallen, der sechzehnte Geburtstag zur Sprache gekommen war, etwas gewesen, was sie seither beschäftigte. Im Gedächtnis lauerte es, machte ihr Angst, in ihrem Inneren existierte seitdem ein Ort, an den zurückzukehren sie sich fürchtete. Es gab Träume, in denen sie von zu Hause fort musste, heilfroh war, in der Früh unversehrt aufzuwachen, und doch war sie nach jenem Abend in der Kneipe kein Kind mehr gewesen. Die Streitereien zwischen den Eltern verfolgten sie, seit sie auf der Welt war. Es war etwas zwischen Liebe & Hass, zwischen nächtlichen Kämpfen & Schwangerschaften, die den Vater nicht im geringsten interessierten. Nie hatte sie begreifen können, warum eine Frau, ihre eigene 261 Mutter, mit diesem Mann ins Bett gehen konnte, sich neben ihn legen und sich bearbeiten lassen. Wie oft hatte sie dieses Gestöhne & Geheule, das Stoßen & Pressen gehört, das Quietschen des Bettes, als wolle es jetzt & jetzt auseinanderbrechen. Wann hörte dies einmal auf, wann hatten sie genug, wann endlich waren sie einander überdrüssig? Anscheinend kam diese Stunde nie. Wozu hatte Sonja ihn denn eigentlich heimgebracht, sich auslachen & anmachen lassen? Warum war sie durch die Straßen gelaufen, hatte in die Wirtshausfenster geguckt, ihn ausgespäht und heimgeführt wie einen kleinen widerspenstigen Jungen? Diese Eltern brauchten sie, um miteinander leben zu können, ein Kind, das sie wieder zusammenbrachte, um nichts weiter zu tun, als sich mit ihrer Begierde neue Sorgen zu fabrizieren. Weil sie in Wahrheit nichts miteinander anzufangen wussten, schliefen sie miteinander. Unverständliche, doch offensichtliche Dinge. Inwieweit ihre Mutter den Vater sexuell ertragen musste und bis zu welchem Grad sie es selber wollte, ergründete sie nicht. Am nächsten Morgen dann wieder Geschrei, Streiterei, Geldnot, die kurze Stille der Nacht, die auf das Geschiebe folgte, war schon wieder vorüber. Dies alles und noch viel mehr war jetzt ihr eigenes Leiden geworden, das sie niemandem offenbarte, nicht einmal der Mutter, die genug zu ertragen hatte, keine Belastung mehr aushielt. So war in einer stockfinsteren Winternacht vor einigen Jahren plötzlich ein Mann vor der Tür gestanden, hatte Einlass begehrt und ihnen einen, von ihrem Vater unterschriebenen Zettel, auf den Tisch gelegt, alles zwischen Säuglingsgeplärre, Essensgeruch, Suppendampf. Ihre Mutter war ohne jede Ahnung, doch Sonja wusste sofort, worum es ging. Der Vater, der, wie durch ein Wunder, gerade zu Hause war, stellte sich blöd. Sein Denken war ja vom Alkohol in Mitleidenschaft gezogen, seine Erinnerung ohnehin laufend gestört & unzuverlässig. 262 Sonja aber erkannte den Mann, der ihr seit damals nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Ein fetter abstoßender Mensch, wie auf einem Verbrecherfoto aus der Zeitung. Ihre Stunde schien gekommen, das Unausbleibliche eingetroffen. Wortlos packte sie ihre Habseligkeiten zusammen und ging mit dem Fremden. Das Schlimmste, so sagte sie, war nicht das Mitgehenmüssen, sondern, dass ihre Eltern dem keinen Einhalt geboten, es geschehen ließen, ihr nicht einmal nachschauten, nichts zu verhindern versuchten, sondern mit ihrer eigenen Tochter die Schulden bezahlten, damit man sie in Ruhe ließ. Ihrer Mutter, die bereits wieder schwanger war, verzieh sie es nicht, wie sie sich abwandte, just in dem Moment, da Sonja ein letztes Mal zurückschaute, ihren Blick als mögliche Rettung, den Hauch einer Hoffnung suchte. Später kam ihr in den Sinn, dass ihre Mama sogar froh gewesen sein könnte, immerhin war eine Esserin weniger, jetzt, wo das nächste Kind bereits unterwegs war, ihre Eltern niemals aufhörten, übereinander herzufallen, um neue Säuglinge in die Welt zu setzen, die sie am Ende nicht ernähren konnten. Wie oft hatten sie zusammen geweint, wie oft war sie, Sonja, gegangen, ein weiteres, letztes, allerletztes, wirklich allerallerletztes Mal, den Vater zu suchen, ihn und damit das Geld heimzubringen, das sie so dringend brauchten. Wie hatte ihre Mutter sie angebettelt, ihr alles Mögliche & Unmögliche versprochen, wenn sie nur noch dieses eine Mal ging. Ihrer Mutter aber fiel jetzt in diesem Schicksalsmoment nichts Besseres ein, als wegzuschauen. Jetzt hätte sie sich endlich revanchieren können, etwas vom bisher vergeblich Versprochenen einlösen, ein Mindestmaß an Loyalität zeigen, Widerstand leisten, einen Versuch unternehmen, so etwas wie Liebe unter Beweis stellen, hätte auch einmal kämpfen sollen für etwas, wenigstens für Sonja, ihre beste Tochter, ihre einzige Stütze, dieses so besondere Mädchen, auf das andere stolz gewesen wären, 263 während man sich hier von ihr abwandte, die einzigen Menschen, die sie kannte, die sie kannten, ihr dieses Leben gegeben hatten, sie ließen sie im Stich. Es geschah einfach nichts. Es war ihnen alles egal geworden, einerlei, sie waren am tiefsten Punkt angelangt, wo es keine Scham und keine Bedenken mehr gibt. Scheinbar war ihre Mutter schon genauso vergesslich wie der Vater, der längst jede Würde, jedes Empfinden für Liebe & Leid verloren & versoffen hatte. Ihre Mutter brachte kein Interesse mehr auf oder war nicht in der Lage, irgendetwas zu begreifen, hoffnungslos überlastet & überfordert. Sie ließ sich eins ums andere Mal schwängern, ging kein einziges Mal selbst in die Kneipen, sondern schickte Sonja, und das war nun der Dank für all die Jahre, die umsonst geopferte Kinderzeit. Für eine nicht stattgefundene Kindheit, für kaum einen Augenblick von Freude oder etwas, das den Namen Glück verdient hätte. Zu nichts war ihre Mutter selbst bereit gewesen, zu gar nichts. Auch jetzt fand sie kein gutes Wort, ja überhaupt kein Wort. Sie ließ es zu, dass man sie abführte, ihre Tochter, wie eine Verbrecherin. Der Vater war nichts als ein Lump, der nicht mehr im Stande war, für eine Flasche Alkohol nicht alles zu tun, der, wenn es sein musste, seine Familie verriet, aber ihre Mutter, ihre Mutter, der sie ständig unter die Arme griff, ihr mit den Kleinen, den Neugeborenen half, für die sie putzen ging, waschen, ihr abnahm, was sie konnte, ihre Mutter wandte sich jetzt ab, schaute zu Boden, gab keinen Laut von sich, war ohne Mitleid für Sonja. Alles, woran Sonja jetzt dachte, war schon Vergangenheit, musste sie vergessen, zurücklassen, um allein ihren Weg antreten zu können. Sogar die kleineren Geschwister weinten, einige plärrten wie verrückt, versuchten, sie zurück zu halten, sie, die nichts wussten und doch alles verstanden. Wie oft dachte sie daran, an diesem Ort, wo sie nun gelandet war, wie sie wohl alle über die Runden kamen, wie ihre Mutter es 264 schaffte, die Kleinen durchzubringen, an die Sozialhilfe zu kommen, Essen zu kaufen, eine Suppe zu kochen in diesem desolaten Haushalt, wie die Tage wohl inzwischen vergingen, ob sie und was sie getan hatte, schon ganz vergessen war. Sie besaß doch gar keinen Topf, der mit Sicherheit nicht leck war, musste Kohlen besorgen, bezahlen. Ihre Mutter hatte nie einheizen können, nie den Grips und die Geduld aufgebracht, ein Feuer anzumachen. Sonja konnte es, als sie noch nicht einmal zur Schule ging. Gewiss würden sie sich schämen für sie, hätten sie gewusst, wo sie nun war, obwohl sie daran dachte, ihnen Geld zu schicken, damit wenigstens die Geschwister ab & zu etwas oder etwas Besseres zu essen hatten. Ihre ganze Familie hatte sie seither nicht wieder gesehen. Zuerst war sie in die riesige Wohnung des Fetten gekommen, hatte dort im Haushalt, in der Küche gearbeitet, Leute bedient, hauptsächlich geputzt & gewaschen, war nicht nur vom Herrn, sondern auch dessen schwachsinnigen Söhnen von Anfang an missbraucht worden, und als sie schwanger war, musste man sie leider entlassen. Jetzt wollten sie mit der Sache nichts mehr zu tun haben, sie war ihnen zu heiß, zu mühsam geworden. Sie regten sich auf über die Dummheit, sich ausgerechnet als unverheiratete Magd allen Ernstes mit Männern einzulassen, sie konnten eine solche Unmoral absolut nicht akzeptieren. Jeder tat vor dem anderen so, als fiele er aus sämtlichen Wolken. Die Herrin des Hauses, die Tag & Nacht wie im Märchen keinen Finger rührte, spielte die Höchstbetroffene war vor Entrüstung ganz bleich und drohte mit den Nerven niederzubrechen. Dieser Skandal! Er durfte auf keinen Fall öffentlich werden. Was für eine Sorge plötzlich im Haus, diese Dienstboten, dieses Gesindel, sie waren es nicht wert, dass man ihnen half, ihnen einen ordentlichen Posten gab. Sie bespuckten die Hand, die man ihnen reichte, welche sie fütterte, aber sie war nicht die erste 265 Hündin im Haushalt gewesen, alle waren sie gleich. Sonja wusste nicht, wohin. Wer in aller Welt würde ihr in ihrem Zustand helfen, nach Hause zurück traute sie sich nicht, war mehrmals nahe dran, ließ dieses Ansinnen aber wieder fallen. Was sollte dort schon geschehen, wo sie doch selber nichts als Armut kannten. Vorübergehend fand sie für die Nächte eine Bleibe in einem kirchlich geführten Nachtasyl. Das Kind ging wie durch ein Wunder schließlich von selbst verloren. In einer eiskalten Nacht fiel es ihr in ein verdrecktes öffentliches Klo. Bei allem, was sie bisher gesehen, erlebt hatte, war dies das Schlimmste, nicht einmal die plötzlichen, schier unerträglichen Schmerzen, sondern das Aussehen, der Schreck, der Anblick dieses schleimigen, blutigen Gebildes, das bereits menschliche Züge & Formen zeigte und zuckend, wenn auch unendlich dünn & winzig schließlich schon auf das wenige Wasser, das sich herunterziehen ließ, widerstandslos in die schwarze Tiefe glitt. Alles war voller Blut, sie besaß keine trockene, saubere Unterhose, keine Schale warmes Wasser, kein Bett, kein Stück Brot, sie war so elend & einsam in ihrem Schmerz, wie nicht einmal ihre Mutter es jemals gewesen war. Nun war sie neunzehn Jahre alt, verfügte über den Verstand eines dreizehnjährigen Mädchens und die Erfahrung einer fünfzig-jährigen Frau. Diese Diskrepanz war Alexander sofort aufgefallen. Während er über viel Wissen verfügte, hatte er keinerlei Lebenserfahrung. Eines Tages, eines Samstags, kam Alexander nicht zur verabredeten Zeit ins sogenannte Maison de Plaisir. Wie ein Versprechen stand diese Bezeichnung in französisch & roter Leuchtschrift über der Pforte, Maison de Plaisir, eine freche Anwandlung von Vornehmheit, als würde die hier verkehrende Kundschaft diesen Begriff verstehen. Über diesen Titel musste er immer schmunzeln, denn Freude war 266 damit, wie er nun wusste, am wenigsten verbunden, weder für die Mädchen noch die Freier, war vielmehr ein Ausdruck für die Freudlosigkeit, die diesen Dingen innewohnte, die Traurigkeit, die Einsamkeit, welche in allen Ecken zu finden war. Sein Vater hatte sich in einem vom Datum her etwas weiter zurückliegenden Brief für die kommenden Tage angemeldet, sodass Alexander nun auf ihn wartete. Es existierte keine andere Möglichkeit, als ihn zu empfangen, und höchstwahrscheinlich lief seine Ankunft auf den Samstag Abend hinaus, für welchen er wieder mit Sonja verabredet war. Seit Monaten hatten sie einander nicht gesehen. Sein Vater, wie immer, geradezu aus dem Häuschen, freute sich unbändig auf die Zeit mit Alexander, seinem einzigen, allerliebsten Sohn, wie er ihn überall nannte, die Abende & Tage also, die er vor sich liegen sah wie das Gelobte Land. Alexander aber hoffte inständig, sein Vater möge nicht gerade am Samstag Abend vor der Tür stehen, doch genau so war es. Mit Sack & Pack sogar, in bester Laune, eingekleidet wie für eine Hochzeit, im schwarzen Mantel mit Pelzkragen, mit Geschenken aller Art für Alexander, mit tausend Ideen. Einen Tisch bereits bestellt in einem der besten Restaurants Stockholms, voller Geschichten & Fragen, und dann, ja dann würde er hier bei ihm übernachten, mit ihm, wie früher, Junge! weißt Du, als Du noch klein warst, wie früher! Alles wissen wollen, von Mama reden, von der Vergangenheit, der Zukunft, von Tante Marie, deren eigene Geschenke er für ihn dabei hatte...., er überschlug sich beinah, es sprudelte aus ihm hervor wie aus einer unerschöpflichen Quelle. Alexander indes stand fassungslos in der Tür, ging endlich zur Seite, ließ sich umarmen, auf den Rücken klopfen. Was war auf einmal passiert, dass er sich nicht ebenso freute wie sein Vater? So war es doch immer gewesen! Sie hatten ja nur einander in diesem Meer von Zeit & Raum, in diesem ganzen & begrenzten Leben! 267 Alexander konnte seine Enttäuschung nur mühsam verbergen, sein Gewissen erdrückte ihn, seine Gedanken waren bei Sonja, während ihm sein, über alles geliebter Vater, gegenüberstand, dieser alte Herr, dessen ganzer Stolz & Sinn sein Sohn war. Mechanisch half er ihm aus dem dicken Mantel, sah mit Wohlgefallen & Unbehagen seinen tadellosen Anzug darunter, die Akribie, mit der sein Vater sich für dieses Wiedersehen zurecht gemacht hatte: weißes Hemd, weiße Fliege, ja, sein Vater stammte aus einem wirklich guten Haus, es war ihm nicht möglich, anders zu sein. Er hatte keine Ahnung vom Leben & Leiden der Menschen außerhalb seines Kreises, obwohl er doch selbst einen so großen Schmerz in sich trug. Für seinen Vater lag etwas anderes als Rahel & Alexander jenseits jeder Vorstellung. Seine Verantwortung, sein Streben, seine Arbeit, alles galt seinem Sohn, für den er bereit war, ohne sie - Rahel, zu leben, ohne eine Frau überhaupt, denn dies war nur sie gewesen, niemand sonst und Alexander, der immer der kleine weinende Junge bleiben würde, den er ihr aus den bereits toten Armen genommen hatte in jener Winternacht, wieder zurückgelegt, dieser Alexander, der jetzt Medizin, Medizin! studierte, war sein ein & alles im tiefsten Sinn dieser beiden kleinen, großen Wörter. Wie vielen Menschen hatte er von ihm erzählt, wie viele hatten ihn nach ihm gefragt, da sie wussten, dass man dem alten Herrn keine größere Freude bereiten, ja von ihm so gut wie alles haben konnte, wenn man ihm die Gelegenheit gab, über seinen Sohn zu sprechen. Längst existierten nur noch Rahel & Alexander für ihn, längst erzählte er ihr Abend für Abend seinen Tag, seine Sorgen, seine Gedanken, seine Bedenken, es machte keinen Unterschied für ihn, dass sie tot war. In seinen Träumen war er mit ihr zusammen, liebte sie wie damals in Italien, in Schweden, auch wenn es schon so weit zurücklag. Er hatte inzwischen gelernt, sie zu sehen, wann & wo er wollte, 268 um sich mit ihr zu besprechen, zu beraten. Rahel, konnte er sagen, Rahel, ich fahre zu Alexander nach Stockholm, ich habe alle meine Geschäfte abgeschlossen. Alles in Sicherheit, weißt du. Ist es dir recht so? Bestimmt ist es dir recht. Bin gespannt auf ihn, habe ihn fast ein halbes Jahr nicht gesehen. Er ist so wunderhübsch wie du, wir können zufrieden mit ihm sein. Fragen will ich ihn, wie es ihm geht, ob er vielleicht ein Mädchen hat und nach dem Studium natürlich. Ich bin so stolz, dass er Arzt wird, die Dinge gut und leicht begreift. Genau wie du! Nein, von mir hat er das nicht. Das Theoretische, es ist von dir, seiner Mutter, aber ich, ich habe gehalten, was ich dir in jener Winternacht versprochen habe, weißt du noch, als dieses kleine Menschenkind, unser erstes und einziges, zur Welt kam, ich habe es gut erzogen, ich habe alles getan, mein Bestes gegeben, und es ist gut geworden. Noch wusste der junge Alexander nichts von den elterlichen Abkommen & Gesprächen der beiden, den Nächten, in denen sie sich trafen, auch nicht, dass sein Vater mit dem Tod Rahels die Fähigkeit, mit einer Frau zu schlafen, verloren hatte. Alexander, wenn du dich schön gemacht hast, lass uns gehen, ich freue mich schon so lange auf diesen Abend, und jetzt ist er da! Ja, Papa. Während Alexander im Badezimmer ist, sich zurechtmacht, klingelt es an der Tür. Herr Sommerfeld geht & öffnet nichts ahnend. Was er jetzt zu sehen bekommt, erscheint ihm wie eine Fatamorgana, ein Alptraum der schlimmsten Sorte, nein, wie ein Irrtum! 269 Vor ihm steht ein leibhaftiges Flittchen, daran besteht kein Zweifel, doch, was das Schlimmste ist, sie verlangt, seinen Sohn zu sprechen! Ich bin Sonja. Wohnt hier nicht Alexander Sommerfeld? Wir sind nämlich für heute verabredet gewesen, wissen Sie! Offener Mund, gedankenloses Anstarren der Person seitens des Vaters. Ich bin Sonja. Hier muss Alexander Sommerfeld wohnen. Wir sind für heute Nacht verabredet! Mehrmals, wie ein Tonbandgerät, sagt sie dasselbe, versucht, an diesen alten Mann heranzukommen, doch dieser reagiert nicht. Er kann nämlich nicht begreifen, was diese offensichtliche Nutte an der Haustür seines Sohnes will. Sieht aus, als kämen Sie von einer Stätte des Lasters, der Unzucht, antwortet er endlich. Ausdrücke & Bezeichnungen, die in seinem Gehirn soeben zustande gekommen sind, die er mühsam & halblaut von sich gibt. Wo ist er? Sind Sie vielleicht sein Vater?, hört er sie sagen. Er nickt, will sie fortschicken. Gehen Sie bitte, Sie können hier nicht hereinkommen, das ist vollkommen unmöglich, verstehen Sie! Mein Sohn ist ein anständiger Mensch. Sie müssen sich geirrt haben. Ich bin sein Vater, und ich sage Ihnen, wer immer Sie sind, was immer Sie wollen, verschwinden Sie! Es darf Sie niemand hier sehen. Da kommt Alexander aus dem Badezimmer. Die Unfassbarkeit dieser Szene muss ein schlechter Scherz sein! Sein Vater & Sonja stehen sich gegenüber und reden miteinander! 270 Sie, draußen, in Lackstiefeln, kurzem Rock, der kaum das Gesäß bedeckt, mit sexy zerzausten Haaren, grell geschminkt, eine leibhaftige Prostituierte. Er hätte alles gegeben, dies hier ungeschehen zu machen, es seinem Vater erklären zu können, doch es bestand nicht im geringsten die Möglichkeit dazu. Nicht einmal Gottvater hätte jetzt eine Lösung gefunden. Sonja stürzt auch noch auf Alexander zu, umarmt ihn theatralisch, beschwört ihn, sie nicht hinauszuwerfen, ihr zu helfen, bleiben zu dürfen! Wenn er richtig versteht, hat sie gerade das Freudenhaus verlassen, will zu ihm ziehen, ausgerechnet heute, beruft sich auf gewisse Versprechen oder Absprachen, die sie mit ihm getroffen haben will, was sie doch nur missverstanden haben kann! Jedenfalls ist niemand Geringerer, als sein Vater, sein Vater! Zeuge dieses Ereignisses. Wortlos, bleich, entsetzt nimmt dieser seine Sachen und geht. Wie vom Schlag getroffen, verfallen & grau ist er jetzt. Verflogen das Glück, das er eben noch vor sich wähnte, verschwunden, verloren die Tage & Stunden, auf die er die letzten Monate hingelebt & -geplant hatte. Wenige Minuten hatten ausgereicht, es zu zerstören. Der Anblick dieses Mädchens, das plötzlich auftauchte, irgendein Recht einzufordern schien, Gewalt über Alexander hatte, brachte seine Welt zum Einsturz. Die Zeit, die er mit seinem Sohn verleben durfte, war ihm das wertvollste seines Lebens, und nun gab es sie nicht mehr. Schon, als er noch klein gewesen war, flog er zu ihm, auch, wenn er zu Fuß ging, im Auto unterwegs war, lebte in den Wolken bereits Wochen davor. Dann kannte seine Phantasie keine Grenzen mehr, seine Gedanken an Alexander waren seine ganze, ganze Freude. Sie machte ihn strahlend, leuchtend, leichtfüßig, übermütig, schwärmerisch, schelmisch. Diese Vaterliebe, die besondere Beziehung, die sie miteinander hatten, war sein vollkommenes Glück auf Erden. Und jetzt - alles zerstört & dahin 271 mit einem Mal. Ohne Abschied, ohne seinen Sohn noch eines Blickes zu würdigen, verlässt er langsam & bedeutungsschwer in jeder Geste die Wohnung, dreht sich nicht mehr um, seine Schritte verhallen im dunklen Hausgang, es fällt die Tür in den Rahmen, draußen hört man die Absätze leiser & leiser werden. Es ist etwas gerissen in diesem alten Herrn, der die Welt nicht mehr versteht, und wie ohne Verstand einfach aus Alexanders Augen verschwindet. Es hätte keinen Sinn gehabt, ihn aufzuhalten, ihm seine & Sonjas Geschichte zu erzählen, denn wenn er auch kein praktizierender Jude mehr war, so prägte ihn doch eine tiefe, ernste, seinem Gott in allem verantwortliche Religiosität. In dieser Nacht schläft Alexander das erste & einzige Mal mit Sonja, denn es ist gleichzeitig die Stunde, zu der alles egal geworden ist, ein Wendepunkt, ein Ende & ein Anfang. Sein Vater wird ihm ab jetzt alles streichen, aufhören, seinen Lebensunterhalt zu bezahlen, denn sein Sohn verkehrt mit Huren, betrügt seine Eltern, verprasst das Geld, braucht keine Unterstützung mehr, ist ein Lump geworden, wie andere auch, weiter nichts. Mehr noch, es war ihm, dem alleinerziehenden Vater, nicht gelungen, einen anständigen Menschen aus ihm zu machen. Er hatte selbst versagt, war gescheitert, hatte sich etwas vorgemacht, sich hinreißen lassen, seinen einzigen Sohn zu vergöttern, war stolz & frevelhaft geworden, und nun bezog er Gottes Strafe, musste sich beugen, wie Hiob hingehen und in Demut annehmen, was Er ihm zudachte, Buße tun, es Rahel erklären. Diese bittere Ansicht gewinnt Herr Sommerfeld an jenem Abend in Stockholm, und hier beginnt Alexanders neuer, eigener Weg. *** XI 272 Ganz allein Ein Weg, der ihn in die Tiefen der Armut, der Verkommenheit, der Verlassenheit führt, nichts mehr vom Hörensagen ist, sondern die eigene Anschauung einer plötzlich ganz anderen Wirklichkeit. Alles, was er bis jetzt nicht kannte, nicht kennen musste, wovor sein Vater ihn geschützt hatte, es stürzte nun auf ihn ein, schmerzte ihn, ließ ihn mit einem Schlag erwachsen werden. Er muss aus seiner Wohnung ausziehen, hat kaum einen Monat Zeit, sich eine neue Bleibe zu suchen, Arbeit, um diese bezahlen zu können, alles tun wie es sich gehört, neben dem Studium. Die schönen Zeiten also sind vorüber, verspielt, vertan. Besser er vergisst sie sofort, ja, das wird das beste sein, so denkt er, aber ach, wie bitter & schwer kommt es ihm vor, etwas wie die Vertreibung aus dem Paradies ist ihm geschehen. Nackt wie einst Adam fühlt er sich, ungerecht bestraft genauso, aber mit seinem Vater war jetzt ebenso wenig zu reden wie damals in der alten Zeit mit Gott Selbst. Wie beleidigte & rachsüchtige alte Männer reagierten sie beide, sein irdischer wie sein himmlischer Vater. Nie hätte Alexander es für möglich gehalten, dass sein Vater, sein Vater, so etwas tun könnte. Er musste ihn zutiefst enttäuscht haben, auch unterschätzt, nicht ahnend, wie sehr er für seinen Sohn lebte, an ihn dachte, mit ihm fühlte, für ihn arbeitete, er, der der ganze Inhalt seines Daseins war. Es war das Unausdenkliche, das Unvorstellbare, das Allerletzte geschehen, sie hatten einander verloren. Wieder & wieder versucht er sich später zu erinnern, wie es an jenem Abend gewesen war oder gewesen sein musste. Völlig verwirrt war sein Vater zuerst auf den Sessel neben dem Eingang gesunken, hatte nach Luft gerungen, kein Wort mehr herausgebracht. 273 Er starrt nur mit eisigem Blick auf dieses Flittchen, das vor ihm steht, welches sein Sohn ganz offensichtlich kennen muss, mit dem er vertraut verkehrt, das er ins Haus bestellt, von seinem, nein, seines Vaters Geld bezahlt. Nach dieser weiten Reise voller Sehnsucht nach seinem Jungen, nach den Hindernissen, den Verzögerungen, den Ärgernissen, die er hinter sich hat, muss er dies hier sehen! Nichts missgönnte er Alexander, im Gegenteil, machte ihm tausend Angebote & Vorschläge, verwöhnte ihn mit seiner Zuneigung, seinen Briefen, begleitete ihn Tag & Nacht, wo immer er war, wie lang & wie weit sie auch voneinander getrennt sein mochten, mit seiner Liebe, seinen Gedanken & Wünschen. Abend für Abend redete er mit Rahel über ihn, schloss ihn in alle seine Gebete ein, bis der Schlaf ihn überkam, träumte weiter von ihm, von Rahel, denn die beiden waren seine Familie, sein Himmel- & sein Erdenreich. Alexander zerbrach sich also immer wieder den Kopf über die tatsächlichen Vorgänge an diesem Abend. War er zunächst noch auf dem Sessel gesessen oder doch sofort gegangen? Es waren so viele Bilder, je länger er nachdachte, je öfter er sich das Treffen ins Gedächtnis rief, umso mehr wurden es. Bald flossen sie ineinander, bald standen sie einzeln & überdeutlich nebeneinander. War es nur seine Vorstellung, wie es gewesen sein könnte oder war es wirklich so gewesen? Es gab ja niemanden, mit dem Herr Sommerfeld verkehrte, geschäftlich, gesellschaftlich, der nicht wusste, wie sehr er seinen Sohn verehrte, seinen einzigen Sohn, der in Stockholm Medizin studierte, sein hübscher & begabter Junge, welcher ihm niemals Sorgen bereite und das Gold seines Lebens war. Wie hatte er ihn nicht dargestellt, seinen Augenstern! Wie stolz war er gewesen auf dieses besondere Kind, für das seine Frau ihr Leben hingegeben hatte, für das alles, alles gewesen war! Fast mitleidig waren manche bei seinen Schilderungen geworden, besorgt zuweilen darüber, was aus dem alten Herrn Sommerfeld 274 wohl werden würde, wenn sein Sohn ihn einmal enttäuschen oder ihm gar etwas zustoßen sollte! Welche Last trug nicht auch er, der diesem Idealbild entsprechen musste! Doch freuten sich die meisten mit ihm, waren so freundlich, ihn nach Alexander zu fragen, wussten sie doch, wie gerne er von ihm erzählte. Doch etwas Unfassbares, ihm völlig Verborgenes musste geschehen sein. Warum wusste er davon nichts? Warum hinterging ihn sein Sohn? Hätte er denn nicht Verständnis gehabt, wenn er Sehnsucht nach einem Mädchen geäußert hätte? Bestimmt hätte sich eine Lösung finden lassen. Warum hatten sie dieses Thema nicht miteinander besprechen können? Was oder wer war zwischen sie getreten? Gewissensplagen, endloses Kopfzerbrechen auf beiden Seiten, denn auch Alexander dachte & dachte über die Vorkommnisse nach, ob er nicht seinem Vater hätte etwas sagen müssen, nicht einfach den Rat eines Kollegen annehmen, sich hinreißen lassen und wie jeder Trottel schnurstracks ins Bordell rennen. Welcher Teufel hatte ihn geritten, dass er auf seinen Vater vergessen konnte! Nicht darüber nachgedacht hatte, was passierte, wenn er dahinter käme! Er war ja überhaupt nicht verliebt gewesen, wollte nur wissen, wie es ist, was konnte daran so schlimm sein? Niemand auf der Welt würde ihm glauben, wenn er erzählte, er hätte dort in diesem Haus, nicht eine einzige sexuelle Erfahrung gemacht! Also schwieg er gegenüber seinem Vater, unternahm nicht einmal den Versuch einer Verteidigung. Sollte er ihn auch noch für einen Lügner halten? Ach, schrecklich war nur, auf welche Weise sein Vater es begreifen musste, denn nie hätte dieser erfahren dürfen, dass zwischen ihm und einer registrierten Prostituierten, die Sonja für ihn freilich nicht war, etwas lief. Wenn er Sonja nur nicht seine Adresse gegeben hätte, damals! Was hatte seinen Vater just an diesem Abend genau in diesem 275 Moment und keine halbe Stunde früher oder später nach Stockholm geführt? In welch‘ eine Lage waren sie beide damit geraten! Warum hatte er sich nicht korrekt angemeldet, wie sonst auch? Sein Vater war ein alter Herr, gewiss, vielleicht wäre es zu seiner Zeit undenkbar gewesen, vielleicht aber hatte für ihn einst Rahel alles geregelt? Wie konnte Sonja überhaupt vor seiner Tür stehen, was hatte sie sich dabei gedacht? Nein, es war total schief gelaufen, zwei Katastrophen waren aufeinander zugesteuert, es bestand keine Chance, sie abzuwenden oder ihnen auszuweichen. Warum war sein Vater überhaupt ohne jedes Verständnis für diese, doch auch menschliche Seite? Konnte er denn nicht verstehen, dass nicht jedem ohne weiteres die große Liebe begegnet, sondern es sich normalerweise ganz anders abspielt? Musste man denn gleich heiraten, war es das, was er meinte? Hatte er vergessen wie es ihm ergangen war? Wo war seine Männlichkeit hingekommen, sein Verstand für die Nöte eines jungen Mannes? Die Überlegungen Alexanders gingen bald in diese, bald in jene Richtung, widersprachen sich, verliefen im Sand, fingen von selbst wieder & wieder von vorne an. Er legte sich sogleich und später Verschiedenes zurecht, interpretierte herum, sinnierte, haderte, ging hin & her, auf & ab, lief aus dem Haus. Wenn es ihn in den Nächten nicht zwischen den Tischen seines Wirtshauses, in das er in der Folge dieser Ereignisse geraten war, herumriss, wenn er nicht abgrundtief vor Müdigkeit schlief, wenn er nicht büffelte wie ein Ochse, dann suchten ihn schwere Träume & Gedanken heim. Sein Selbstmitleid war nicht eben gering, es ging um den Verlust seiner Kindheit, den Verlust seiner Unschuld, den Verlust seines Vaters, dessen Vertrauen, und alles beweinte & bedachte er, was schön, was heimatlich gewesen war, er hatte es an einem einzigen Abend in wenigen Minuten verloren. 276 Als sein Vater ihm in jener, jetzt so fernen Nacht erzählt hatte, wie sie, seine Eltern! ganze sieben Jahre hindurch vor seiner Geburt miteinander geschlafen hatten und dies auf Rahels eigenen, skandalösen Vorschlag hin, welche sich, frech wie sie gewesen sein muss, keinen Deut um ihren eigenen Vater scherte, den doch der Schlag hätte treffen können bei der Vorstellung oder Offenbarung solcher Dinge. Für einen Rabbiner, wie könnte es anders sein, gehörte Sex erst recht in die Ehe, hatte so gut wie nichts mit Vergnügen für Frauen zu tun. Um Himmels Willen! Hatte er dafür seine Tochter zum Studieren gehen lassen? Nie im Leben, nie im Sterben. Doch genauso war es gewesen, sein Vater hatte es ihm selbst gestanden, und dies, was jetzt passiert war, schien nichts anderes zu sein als damals. Jeder quälte sich mit unzähligen Fragen, Erinnerungen, Vorwürfen, Zweifeln. Wie schwer fiel es dem Vater, das Erwachsenwerden des Sohnes zu akzeptieren, wie schwer dem Sohn sein eigenes Verlangen einzuordnen, zu zügeln, den Vater nicht vor den Kopf zu stoßen. Er wollte ihn doch schonen, ihn nicht mit allem belasten, belästigen, behelligen, vor ihm alles Unangenehme möglichst verheimlichen. Doch, was nützte ihm jetzt seine Rücksichtnahme, seine Reue? Alexander schämte sich fürchterlich, und doch wusste er zuinnerst, es gab keine andere Möglichkeit, als irgendwann zu lernen, damit klar zu kommen, doch wie es aber aussah, hatte er darüber seinen Vater verloren. Für den Augenblick war er allein. All das Schwere, das hinter ihm lag, wog nichts dagegen, denn immer hatte er sich mit seinem Vater eins gewusst, selbst damals, als die Sache mit Astrid passiert war. Doch nun schien alles umsonst und endgültig zerstört, jetzt war es wirklich aus. Sonja, die nie ein Zuhause wie Alexander gekannt hatte, zwar Vater & Mutter, also richtige & ganze zwei Eltern besaß, verstand überhaupt nicht, warum Alexander so zerknirscht war, worin 277 genau das Problem bestand. War sie denn gar kein Mensch? Dies hier schienen in ihrem Sinn keine Sorgen zu sein. Was sie da sah, verstand sie ebenso wenig wie Alexanders Vater. Aus einem reichen Haus zu kommen, gescheit, gebildet zu sein, alles in Hülle & Fülle zu haben und so ein Wesens zu machen um dieses Detail? Was für Fragen wurden hier gestellt, was begriff sie nicht, wie konnte sie sich so verschätzt haben? Sie hatte doch nur bei Alexander geläutet, der ihr eigens dafür seine Adresse gegeben hatte, für den Fall, dass sie einmal nicht ein- noch aus wusste, so hatte sie es verstanden. Ja, sie war fortgelaufen in einer Anwandlung von Romantik vielleicht, hatte sich verliebt in diesen Burschen, der so rein war, so besonders, so unvergleichlich, dass sie es nicht glauben konnte. Vermochte denn dieser alte feine Herr Sommerfeld nicht einmal zu ahnen, wie sie litt, wie sehr sie erniedrigt wurde für das bisschen Geld, das am Ende der Woche auf ihrem Nachttisch lag, der ihr so wenig gehörte wie das Bett, die Kleider, die Unterwäsche, ihr eigener Körper? Nein, ein Herr Sommerfeld war nicht in der Lage, sich dies vorzustellen, lebte in einer gänzlich anderen Welt, hatte wohl im Leben kein solches Etablissement betreten oder je betreten müssen. Am Ende war sie es, die verstand, obwohl sie nichts gelernt und schon gar nicht studiert hatte. Doch beide waren mit diesen Gegensätzen überfordert und absolut nicht mächtig oder willens genug, sich in den anderen soweit hineinzudenken, wie es nötig gewesen wäre, und dennoch sah Sonja, worum es ging und dass den alten Herrn selbst keine Schuld traf. Was war schon eine so bürgerliche & herrschaftliche Haltung gegen das, was sie ständig über sich ergehen lassen musste, gegen das, wo sie hingeraten war, wo es keine Leute dieser Art hin verschlug, wo es keine Höflichkeit, keine Distanz und kaum Freundlichkeit gab, nicht einmal etwas Persönliches, es waren verschiedene Sterne, auf denen sie lebten. Als sein Vater fort war, die Tür hinter sich mit eindrucksvoller 278 Dramatik zugeknallt hatte, sodass sämtliche losen Dinge wackelten, da blieb ihnen nichts mehr, als miteinander zu schlafen. Dies war die einzige Stunde, die ihnen dafür gegeben war, in beider Leben nur dies eine Mal, und nie vergaß Alexander den Satz, den Sonja damals gesagt hatte: Schlaf mit mir so, als würdest du mich lieben. Wie denn sonst? Wie eben alle Männer, … um ihren Samen,… ihren Druck,… ihre schmutzigen Phantasien loszuwerden. Stotternd, schüchtern, mit niedergeschlagenen Augen brachte sie die Wörter hervor. Später, als es vorüber war, hörte er sie sagen: Danke. Danke. Danke. Aber du musst dich doch für nichts bedanken, Sonja! Ich kann mich doch auch bedanken. Ich, ich möchte mich gerne bedanken. Alexander lachte, konnte kaum aufhören, denn es war das letzte, was er erwartet hätte. Ein Mädchen bedankt sich, weil ein Kerl mit ihr geschlafen hat. Ach, Alexander, was weißt du schon, bei allem, was du weißt, aber, was ich weiß, das weißt du nicht. Wieder endlose Heiterkeit bei ihm. Was du weißt und ich nicht weiß, dass du weißt und … wie? … du nicht weißt, was ich weiß, oder was…? Alle anderen haben mich nur benützt, … beschmutzt, …besudelt, … mir weh getan …. . Darum, weil du anders warst… und dafür danke ich dir in alle Ewigkeit. Ich werde es vielleicht nicht mehr erleben, vielleicht nämlich 279 werden wir nie wieder miteinander schlafen, so beieinander liegen dürfen wie jetzt, aber, aber … . Sie begann zu weinen, zu schluchzen. Aber einmal wenigstens bin ich einem Prinzen begegnet, sodass ich weiß, wie es für schöne reiche Frauen mit ihren Männern sein muss. Alexander tut seine Ausgelassenheit jetzt leid, er nimmt sie in die Arme, streichelt sie, küsst sie. Er trägt sie sogar ins Bad, stellt sie unter die Dusche, sich selbst dazu, er wäscht sie, stellt sich zu ihr unter die Brause. So etwas hat noch niemand mit ihr getan, so etwas wird nie wieder jemand mit ihr tun. Was soll jetzt werden?, fragt Alexander. Nichts, was soll schon werden, aber wenn du einmal kannst, hol‘ mich dort raus. Vergiss nicht, dass ich dich darum gebeten habe, nachdem wir das erste Mal zusammen waren. Vergiss nicht, ich war Deine erste Frau! Ich möchte gerne eine gute Arbeit tun und wenn es Abwaschen oder Kochen wäre, eine Beschäftigung im Krankenhaus, ich würde alles tun, um von dort weg zu kommen. Versprich mir, mir zu helfen, eines Tages. Ich verspreche es. Versprich es, damit dies hier nicht alles war, sondern einen tieferen Sinn hat. Ich weiß, ich bin nichts für dich, gehöre nicht zu den Frauen, mit denen du einmal zusammen sein wirst, bin nicht klug, nicht hübsch genug… Sag‘ so was nicht, das denke ich doch gar nicht, das bildest du dir ein. Und dein Vater, wie er reagiert hat, was war das? 280 Ach, das weiß ich auch nicht, ich verstehe es so wenig wie du. Du bist ein guter Junge, das sieht jeder, und ich verspreche dir, ich werde dich, solange ich lebe, mit meinen guten Gedanken und Wünschen begleiten. Wieder begann sie zu weinen. Und wenn du kannst, vergiss das nicht, vergiss mich nicht, erinnere dich immer daran, was heute war, damit du eines Tages zurückkommst. Ja. Ich verspreche es. Da erkannte Alexander, wie ernst die Liebe ist, wie schwer und wie im scheinbar Gewöhnlichen das Ungewöhnliche verborgen liegt. Er wird dieses Versprechen tatsächlich halten, wird nach vielen Jahren zurückkommen, Sonja ausfindig machen und ihr ein kleines Häuschen schenken, wo er ihr einen privaten Kindergarten einrichtet. Eine ausgebildete Kindergärtnerin wird ihn leiten, doch Sonja ist die Herrin, der alles gehört. Auf eine Zeitungsannonce hin fand Alexander schließlich eine Anstellung als Wirt, zuerst als Schankbursche, bald als Chef eines Lokals in Södermalm. Seine Wohnung lag jetzt auch in diesem Viertel, war aber nicht mehr als ein einzelner feuchter, kalter Raum mit einer Glühbirne in der Mitte der Decke, von der es bei Regen heruntertropfte. Wenigstens wohnte er ganz oben im Dachgeschoß, während unter ihm in zwei Stockwerken alle möglichen Leute hausten. So gut es ging, versuchte er damit zurecht zu kommen. Tagsüber studieren, auf der Uni erscheinen, sich einigermaßen zusammenrichten, in die Bibliothek gehen, mit Studenten & Professoren verkehren, ohne allzu viel von seinen neuen Lebensumständen sichtbar werden zu lassen, mehr noch, sie zu 281 verheimlichen, den Spagat zu schaffen zwischen Unter- & Oberwelt, Schauspieler zu sein, Unvereinbares in sich miteinander zu verbinden. Zu verschiedenen Zeiten, sollte er einmal resümieren, muss man verstehen, was verlangt ist von einem, nicht lang darüber nachdenken, um irgendwie zu entkommen oder hadern mit sich und anderen, sondern es annehmen. Das ist der Sinn. Früher oder später muss jeder niederknien, jeder demütig sein vor den Verhältnissen, die er erfährt. Wissen, dass man nicht geschützt ist in dieser Welt, sondern leiden muss für alles, was Wert besitzt. Doch abends erkannte man ihn nicht wieder, wenn er sich in so etwas wie einen Kellner verwandelte, im Hinterstübchen Suppen anrührte, dicke Eintöpfe kochte, Alkohol & Brot servierte, das Lokal putzte, die Gäste begrüßte und später hinausbeförderte. Sonja war zurückgegangen in ihre Welt, hatte eingesehen, dass sie nicht bleiben konnte, doch es war ihr ein Trost gewesen, ein Anliegen sogar, gekommen zu sein. Sie schöpfte Kraft aus diesem Geschehen, war immerhin aufgenommen worden, nicht weggeschickt, Alexander hatte in ihren Augen Wort gehalten, ja musste bitter dafür bezahlen. Was für ein Charakter, der angesichts solcher Schwierigkeiten ein Versprechen nicht brach, sich vor den Augen seines Vaters zu ihr bekannte! Zwar hielten sie Kontakt miteinander, doch er konnte sie sich nicht mehr leisten, schon gar nicht auf die großzügige Art wie früher. Es war nicht daran zu denken, noch einmal offiziell zu ihr zu kommen. Wie könnte er dies eines Tages seinem Vater erklären? Würde es ihn überhaupt noch interessieren? Wo er wohl war? Kein Brief, kein Anruf, nichts mehr seit jenem Vorfall. Alexander hatte bei einer Nachbarin die neue Adresse zurückgelassen, doch sein Vater war verschwunden, meldete sich nicht mehr. Der einzige Besuch, den er erhielt, war Sonja, die ihn manchmal am Sonntag besuchen kam. Dann saßen sie nebeneinander, redeten ein wenig, doch meistens schwiegen sie. 282 Sonja ließ ihn lernen oder schlafen. Sie war es jetzt, die ihm Brötchen & Kuchen brachte, Kaffee in einer Thermoskanne. Was für ein Unterschied zu seiner früheren Wohnung und alles wegen ihr! Quer durch den Raum hatte Alexander Schnüre gespannt, an denen seine nasse Wäsche hing. Insgeheim bewunderte sie ihn, wie er damit fertig wurde, sich in sein Schicksal fügte, seine Strafe annahm, als hätte er ein Verbrechen begangen. Tapferer Alexander, sagte sie oft. Hätte er mehr Zeit gehabt, wer weiß, ob ihn nicht Selbstmitleid & Verzweiflung überkommen wären, doch mit seinem neuen Leben vollauf beschäftigt, konnte er keine Sorgen oder tiefgründigeren Gedanken gebrauchen oder bewältigen. In der Früh das Aufstehen war das Schlimmste, da er nie vor drei Uhr ins Bett kam, meistens sogar später. Nur kaltes Wasser, das öffentliche Wannen- & Duschbad war, weiß Gott, wo, es ging sich erst am Samstag oder Sonntag aus, und wenn er dann auch noch verschlief, wurde es schwierig. Da halfen nur Abhärtung, Vernachlässigung. Einigermaßen musste es ihm täglich gelingen, irgendwie unauffällig in die Uni, den Seziersaal, die Bibliothek einzutreten, gerade so, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Seine Persönlichkeit war nun gespalten. Sie bestand aus zwei Teilen, aus dem normalen Studenten am Tag und dem ausgefuxten Wirt in der Nacht. Er ging zwischen den beiden Verhältnissen, in denen er nun lebte, hin & her wie zwischen zwei Zimmern oder zwei Ländern. Am Anfang hatten sie ihn übers Ohr gehauen, nach Strich & Faden hintergangen, die Zeche geprellt, Theater gespielt, gelogen, was das Zeug hielt. Der Lokalbesitzer kontrollierte ihn wie einen Knecht, stellte ihn wegen der Finanzen zur Rede, fuchtelte mit Bleistift & Papier vor seinen Augen, mit Rechnungsblöcken, Buchhaltungstabellen, 283 bewies ihm, wie wenig Geld er eingenommen hatte und wie viel es sein hätte müssen. Doch für Alexander ging es zunächst nur darum, mit der Klientel überhaupt fertig zu werden. Was sich am Ende des Tages, der Nacht in der Kasse fand, oblag dem Zufall, er jedenfalls verfügte weder über Trinkgeld noch sichere Einnahmen. Was sollte er machen, wenn einer keine Öre mehr in der Tasche fand, wie oft er sie auch umdrehte, sich vor ihm quasi auszog, auf die Knie fiel, weinte & flehte, beeindruckende Geschichten zum besten gab. Sie waren größtenteils gut im Erfinden & Ausschmücken ihrer Dramen, doch selbst wenn alles Lug & Trug war, Alexander sah doch, wie arm sie tatsächlich waren, allein die Kleider, die Unterwäsche, die alten stinkenden Mäntel, die sie ihr eigen nannten. Sie wussten in Wahrheit nicht einmal wie arm sie waren, kannten im Gegensatz zu ihm ja nichts anderes. Bin ich ein Stein, oder was?, fragte er seinen Chef, der ihn deppert & allwissend angrinste, ihm mit der Kündigung drohte. Erst als Alexander Anstalten machte, diese anzunehmen, sich was anderes zu suchen, drehte der andere den Spieß um, zeigte Verständnis, gab gute Ratschläge, tat ihm Geheimnisse kund, weihte ihn ein in die Gepflogenheiten des Metiers. Im Wesentlichen ging es darum, an die Sozialhilfe der Kunden heranzukommen, und wenn dieselbige ein jeder hier in der Kneipe, also nirgendwo anders ausgab, waren Einkommen & Gewinn mehr als gesichert. Er eröffnete ihm, mit wie viel er fix rechnen konnte, kannte die Höhe der Zuschüsse, ihre Verpflichtungen gegenüber Familienan-gehörigen, die Alimentenforderungen, einzelne oder etwaige Zuverdienste, offizielle wie schwarze. Der Mann war informiert wie einer vom Geheimdienst. Auf jede Frage, jede Unsicherheit wusste er eine Antwort, nichts brachte ihn in Verlegenheit. Alexander erhielt einen Schnellsiedekurs in Sachen Wirtshausgeschäften. Das Trinkgeld kannst du dir behalten, und ich lege Wert darauf, 284 verstehst du? Du musst Interesse haben, bei Laune gehalten werden, gib dich nicht mit falschem Mitleid ab, sie würden es auch nicht tun, sind brutal und gefühllos auf ihre Weise! Komm ihnen ruhig grob, du musst dir kein Gewissen draus machen, sie verdienen es nicht besser. Zu Hause schlagen sie ihre Frauen und Kinder, und hier möchten sie den Zimperligen geben. Glaub ihnen kein Wort, vergiss ihre Jammereien. Zeig ihnen, wer der Herr im Hause ist. Eine Zeit lang kam der Inhaber des Lokals zum Kassieren vorbei, gab Alexander sozusagen praktischen Unterricht im Geldeintreiben. Er war das reinste Inkassobüro, kannte kein Pardon, und tatsächlich konnte man nur staunen, wie viel er aus dem letzten Habenichts noch herausquetschte. Er wusste bestens Bescheid, wann die Leute ihr Geld in der Tasche hatten. Immerhin war er so anständig, nicht alles aufeinmal zu nehmen, sich um die Verbindlichkeiten des Gastes zu kümmern, kannte oft sogar die Frauen & Kinder, welche von dieser Kreatur abhängig waren. Alexander erhielt von ihm eine Liste mit den wichtigsten Namen & Verhältnissen, sodass er, wenn die Auszahlung des Lohnes, der Unterstützung an den Kunden erfolgt war und derjenige großspurig in der Kneipe auftauchte, zuerst das erforderliche Geld für die Familie hinterlegen musste. Später kam es so weit, dass er es den Angehörigen sogar aushändigte, weil die meisten Frauen samt Kindern zur Abholung selbst in der Kneipe auftauchten. Nach & nach erzählten sie ihm alles, was sie meinten, dass er wissen sollte, und natürlich band ihm jede Seite ihren eigenen Bären auf. Doch es gab auch ehrliche Leute darunter, oft logen sie nur, weil sie mussten, oft war eine Lüge ihre Rettung. Vor seinen Augen spielten sich Szenen ab, die er sonst nie kennen gelernt hätte. Weinend kamen manche Frauen oder schickten die Kinder, ihren Alten zu holen, sein Herz zu erweichen, ihn irgendwie heim zu bringen. 285 Dies war ein anderes Schweden, ein anderes Leben, sein Vater hatte keine Kenntnis davon, denn im letzten schützte ihn das Geld, der Reichtum und, was damit verbunden war. Sein Vater lebte mit Rahel, seiner längst verstorbenen Frau und Alexanders Mutter, mit seinen Gedanken in einer vergangenen Zeit, in einer guten und überaus schönen & angenehmen Welt, wo niemand lügen musste, weil niemand arm war, es nichts gab, was sich nicht hätte lösen lassen. Natürlich tat er alles mit Liebe, mit Freude, mit Hingabe, war klug & gefühlvoll, aber er hatte keine Ahnung vom wirklichen Leid, das Alexander jetzt tagtäglich erlebte. Zu essen gab es dicke Suppen mit Brot, und nicht wenige, die sich nicht einmal diesen wirklich billigen Stampf leisten konnten, anschreiben ließen, etwas von baldigen Einkünften schwafelten, mit Tränen um ihr Essen kämpften. Nach der Phase des Einarbeitens ließ man ihn selber wirtschaften allein mit den Männern & Frauen, welche mitunter sogar aus dem Obdachlosenmilieu stammten, ohne Familie waren, alles verloren hatten, sich verzweifelt & leicht dem Alkohol hingaben. Weil diese Getränke so teuer waren, blieb ihnen kein Geld mehr für die Lebensmittel. So war Alexander jeden Tag mit einer endlosen Bettelei konfrontiert, musste lernen, dass für einen Alkoholiker mitunter Bier & Schnaps wichtiger sind als eine warme Mahlzeit, er gleichwohl eine braucht, ihm aber mit Vernunft und guten Ratschlägen nicht beizukommen ist. Nach den ersten vergeblichen Versuchen ließ er es bleiben, sie davon zu überzeugen, nicht nur zu trinken, sondern zuerst etwas zu essen. Was bist du, ein verdammter Priester? Von der Heilsarmee, den Hut-Templern oder was, ein Spitzel von denen? Sie lachten ihn aus, hänselten ihn, andere wurden aggressiv, demolierten die Einrichtung, warfen mit Gläsern & Tellern, wenn 286 er nicht sofort mit dem Schnaps anrückte. Nach & nach aber gewann er Einsicht, Verständnis, vor allem, weil immer wieder auch Frauen ins Lokal kamen, um Essen bettelten, ihre Männer suchten, selbst ohne Bleibe waren, Kinder bei sich hatten oder schwanger waren. Gegen die Sperrstunde hin kam es regelmäßig zu Schlägereien, die Nervosität stieg mit der Anzahl der konsumierten Flaschen. Selten, dass einer alles bezahlte. Alexander redete bald mit ihnen in ihrer Sprache, gebrauchte ihre Ausdrücke, drohte, wie ihm sein Chef geraten hatte, mit Lokalverbot & Polizei. Vor allem die Polizei, die Polizei! tat ihre Wirkung. Sie war das letzte, was man noch brauchte. Das Leben war hart genug, auf keinen Fall ein Bullenproblem, darüber wenigstens herrschte Einigkeit. Sowieso saß jeder mehr oder weniger häufig in der Ausnüchterungszelle, und angenehm war das nicht, die gingen mit einem nicht besonders pfleglich um, allein darüber kursierten entweder die wüstesten Geschichten oder wurde ganz geschwiegen. Lieber ließen sie sich von Alexander rausschmeißen, belehren, bevormunden, lieber gaben sie Ruhe, lieber, lieber....., alles lieber als die Polizei. Wenn an den Schauergeschichten, die erzählt wurden, nur die Hälfte stimmte, konnte in ganz Stockholm kein halbwegs anständiger Mensch verantworten, einen Betrunkenen hinter Gitter zu bringen. Außerdem hatten einige tatsächlich etwas auf dem Kerbholz, waren keine unbeschriebenen Blätter, wurden, auch ohne großes Aufsehen regelmäßig kontrolliert, aufgesucht, erwischt. Kleinere Einbrüche, Diebstähle, Raufereien, Körperverletzungen, Überfälle, Betrügereien gehörten schließlich zum Lebensstil seiner Gäste. Wenn auch nicht alle im kriminellen Bereich tätig waren, so doch einige, und wer genau sie waren, blieb 287 verständlicherweise im Dunkeln, wurde nicht verraten, auch wenn man einander oft feindselig gesonnen war. Noch war aus Schweden nicht das sozialstaatliche Schlaraffenland geworden, das Vorzeigeprojekt Europas, zu dem es erst später aufrücken sollte. Bis dahin würden noch einige strenge Winter vergehen, noch konnte sich niemand ein solches Wunder vorstellen. Auch wusste in Alexanders Kneipe keiner von solcherlei Vorbereitungen, die dafür bereits liefen, und hätte dies einer behauptet, wäre angesichts der Wirklichkeit nichts weiter als allgemeine Heiterkeit aufgekommen. Wie eh & je herrschte in den unteren Schichten des Landes die Armut. Als Alexander eines Abends seine Leute endlich aus dem Lokal draußen hatte, die Gläser abgespült, die Fenster zum Lüften geöffnet waren und er mit seinem Kübel in Richtung Toiletten unterwegs war, diese nämlich gehörten auch überholt, denn es gab eigentlich nichts, was nicht zu seinem persönlichen Aufgaben-bereich gehörte, kamen eindeutige Geräusche aus einer der Kabinen. Zwei Männer hatten sich eingeschlossen, kamen ihm jetzt mit Hauben über dem Kopf entgegen und verlangten die Einnahmen des Abends. Da fiel ihm ein, dass sein Chef keinen Spaß mit Geld verstand und ihm gedroht hatte, bei etwaigen Überfällen oder Unebenheiten in der Abrechnung, wie er es nannte, keine Gnade zu kennen und ihn persönlich dafür zur Verantwortung zu ziehen. Dies versuchte er jetzt den Gangstern zu erklären, doch diese hatten dafür kein Verständnis. Sie bugsierten ihn zur Kassa, schlugen ihm solange mit einer Flasche auf den Kopf, bis er sie öffnete und die Scheine & Münzen herausholte. Bevor sie gingen, boxten & traten sie ihn nieder, ließen ihn liegen. Als er blutüberströmt und völlig durchgefroren zu sich kam, 288 waren Stunden vergangen, die Räuber über alle Berge. Dafür musste er eine ganze Woche umsonst arbeiten, denn wie nicht anders zu erwarten, war man unerbittlich mit ihm verfahren. Es gehörte nicht zum Charakter des Lokalbesitzers, und dieses hier war nicht sein einziges, Gnade gegenüber Angestellten walten zu lassen. Ein anderes Vorkommnis war zwar nicht so bedrohlich, doch nicht weniger erschütternd. Eine Frau mit einem Baby war bis zur Sperrstunde geblieben, hatte jede Menge Würste, Kartoffeln, Suppen, Brot und auch Alkohol verdrückt. Doch, als es ans Zahlen ging, verschwand sie so seltsam schleichend wie sie gekommen war. Alexander kannte sich inzwischen gut genug aus, um zu wissen, sie würde irgendwann wieder kommen. Doch sie blieb derweil verschwunden, wie es aussah. Als er gerade abschließen wollte, trat sie aus dem dicken, runden Filzvorhang, der als Schutz gegen Zugluft & Kälte innen vor der Eingangstür aufgehängt war, hervor. Ich, ich habe kein Geld, kein bisschen, hört er sie sagen. Und weiter: Ich habe seit Tagen nichts gegessen, ich musste es tun, ich habe ein kleines Kind, siehst du! Sie hielt ihm das Bündel mit dem winzig kleinen, schlafenden Lebewesen entgegen. Ich weiß. Ich kann mit nichts sonst bezahlen. Als könnte es noch einen Zweifel über die Art ihres Angebotes geben, hob sie ihren Rock und machte eine eindeutige, schlüpfrige Geste. Geh nach Hause. Du brauchst nicht zu bezahlen. Doch, ich hätte es nicht tun dürfen, ich habe ja nichts. 289 Alexander lernte in den Kinderheilkundevorlesungen gerade die Neugeborenenlehre, die Muttermilchproduktion, die wesentlich mit der Ernährung der Stillenden zusammenhing. Dies ging ihm durch den Kopf während diese Fremde mit einem Kind an der Brust, ihm ihren Körper anbot. Er hörte sie längst nicht mehr reden, sondern starrte auf den Säugling, der indes friedlich schlief. Hast du es gestillt? Ja, darum brauche ich Essen und Trinken, sonst habe ich keine Milch für die Kleine. Du darfst keinen Alkohol zu dir nehmen, hörst du? Was du nicht alles weißt. Du bist wohl ein verkappter Gelehrter. Ja, das stimmt, ich studiere Medizin. Warum machst du dann diese beschissene Arbeit für dieses versoffene Gesindel hier? Das ist eine lange Geschichte, ich bin hundemüde, gehen wir. Du willst mich also nicht? Nein, danke, ich will dich nicht, bin nur froh, wenn ich für heute draußen bin und endlich ins Bett komme. Du bist ein guter Mensch oder vielleicht nur hochnäsig. Weder das eine noch das andere. Als würden sie zusammengehören, verlassen sie gemeinsam das Lokal, Alexander schließt ab, sie begleitet ihn noch ein Stück des 290 Wegs, bis sie in eine Seitengasse biegt und verschwindet. Er wird sie nie wieder sehen. Auch diese Szene ist nicht die einzige ihrer Art. Öfters bieten ihm Frauen diese Bezahlung an, einige stellen sie scherzhaft in Aussicht, andere geben sich den Anschein von Erfahrung & Gelassenheit, einige meinen es ernst oder spielen mit der, ihrer Meinung nach, für Alexander verlockenden Möglichkeit der beiderseitigen bargeldlosen Begleichung. Über drei Jahre arbeitet er in dieser Kneipe. Am Ende fällt ihm der Abschied nicht mehr leicht. Viele hat er kommen & gehen gesehen, kennengelernt, liebgewonnen, manche sind plötzlich ausgeblieben, auf einmal wieder dagestanden, waren böse oder überrascht, wenn er sich ihrer erinnerte oder nicht erinnerte. Wie überall gab es Menschen, die ihre Schulden ernst nahmen und Krone für Krone, Öre für Öre abtrugen, andere prellten die Zechen, etliche bestellten nie für mehr, als sie Geld bei sich trugen, wieder andere gaben grundsätzlich den gesamten Lohn bei ihm aus. Als sie erfuhren, dass Alexander das letzte Mal bediente, da brach eine Revolte aus. Sie umringten ihn, überstürzten ihn mit Fragen, herzten & küssten ihn, wünschten ihm Glück & Freude, Reichtum, schöne Frauen und alles, was sie nicht besaßen, sich vorstellen und nicht vorstellen konnten. Längst kannten sie seinen Namen, nannten ihn mit Ehrfurcht, mit Zärtlichkeit in der Stimme, nun mit Tränen in den Augen. Manche waren stolz, ihn zu kennen, andere gaben es nicht zu, hatten ihn aber lieb gewonnen, jeder unterhielt eine eigene Beziehung mit ihm. Auf dass du uns nicht vergessen mögest Alexander Sommerfeld! Skol! All tides all teles! Auf immer, König Alexander! 291 So einen wie dich kriegen wir nicht mehr! Leb wohl! Vergiss nicht, was du bei uns gelernt hast, und dass es das Wesentliche war! Was in den Büchern steht, wissen wir nicht, außer dass man dafür wahnsinnig gescheit sein muss, aber, wir, wir haben es auch nicht leicht, wir sind auch nicht dumm, vergiss das nicht, verachte uns nicht. Weil Trinker zuweilen Propheten sind, sollte es sich bewahrheiten, und Alexander wusste schon im Augenblick, dass sie recht hatten, zuerst war es Sonja gewesen, dann diese Leute hier, die Erlebnisse mit ihnen, die Einblicke, die er gewonnen hatte in ihre Verhältnisse, alles gehörte zu seiner Ausbildung, mehr noch seiner Bildung, seinem Land, zu seinem Menschenbild von nun an. Nie mehr würde er jemanden einfach als Kranken sehen, sondern immer zuerst das Eis brechen, den Abstand zwischen Arzt & Patient zu überwinden suchen, mit einem Augenzwinkern, einem freundlichen, einem festen Händedruck, einem Lächeln, egal, was & wie es genau sein sollte, so viel Zeit & Liebe musste ihm immer bleiben. Dies schien ihm tatsächlich das Wesentliche, die Quintessenz seines Berufes, seiner Einstellung, seiner Ausbildung zum Doktor der Medizin zu sein. So soll es sein! Ich vergesse euch auch nicht, danke, danke für alles! Und so war es, ja, so war es. Ein guter Arzt, so sagte er, muss zuerst einmal die Menschen mögen, sie kennenlernen wollen, wenigstens ein bisschen, muss sich auf sie einlassen, darf sie nicht erst beachten, wenn sie zu Patienten geworden sind, vor ihm liegen und medizinische Hilfe brauchen, sondern sie als Ganzes sehen, und immer muss man ihr Vertrauen gewinnen. Man darf sie nicht belügen, nicht die Geduld verlieren, denn auch sie müssen Geduld mit uns haben, man darf sie nicht kühl und sachlich behandeln wie am Fließband, auch 292 wenn es in der Praxis oft schwer ist. Man muss jeden ernst nehmen, auch etwas von sich hergeben, sonst verliert man den diagnostischen Blick, die Neugier, die uns auf die richtige Spur führt, die Freude am Beruf und läuft nur noch seiner Karriere und den Befunden hinterher. Wenn es so weit gekommen ist, hat man verloren, fängt man an schlecht zu arbeiten, Fehler zu machen, froh zu sein, keinen gemacht zu haben. Wie viele Kollegen habe ich, die schon während der Arbeit an nichts als das freie Wochenende denken, das Golfspielen, an ihre Segeljacht, es nicht erwarten können, ihre Praxis, das Krankenhaus zu verlassen und jedes Mal mit Grauen vor der Arbeit zurückkommen, mit ihren Gedanken dauernd woanders sind. Dies erzählte er mir Jahrzehnte später fast genauso. Noch weit davon entfernt, einen Roman daraus zu machen, schrieb ich es aus dem Gedächtnis auf, legte den Text zu meinen Notizen. Vielleicht waren es Erfahrungen wie diese, die ihn zu dem besonderen Menschen werden ließen, der er war, wodurch er heraus stach aus der Schar der Ärzte, die vollkommen gleich & verwechselbar in ihren offenen, weißen Kitteln zu den Visiten erschienen, durch die Krankenzimmer wallten, mit ihren harten, hölzernen Pantoffeln polternd daherstaksten. Nicht so Alexander, der lautlos ging, gebundene Schuhe trug, einen zugeknöpften Mantel, wie es sich gehörte, sich nicht die geringste, alltägliche Lässigkeit herausnahm. Sie achteten nicht auf den Lärm, den sie verursachten, die Gespräche, welche sie lauthals führten, das Gelächter, das man schon von weitem hörte, noch bevor sie das Krankenzimmer betraten. Die meisten waren kaum willens oder imstande, sich persönlich den vielleicht schmerzhaften, ängstlichen Zustand eines Patienten zu vergegenwärtigen oder die Störung, die sie darstellten, die Herablassung, welche sie zelebrierten, die betonte Langeweile ihres Gehabens. 293 Nach & nach, anfangs schleppend, doch immer professioneller werdend, hatte er sein Studium vorangetrieben, immer routinierter Bücher & Skripten auswendig gelernt, seine Prüfungen abgelegt. Jetzt erinnerte er sich, wie oft er eingeschlafen war, sein Pensum nicht bewältigt, das Interesse verloren, die Müdigkeit nicht mehr beherrscht hatte. Wie oft er seinen Vater in dessen Abwesenheit und aller erdenklichen Einsamkeit seines kalten Zimmers beschimpft hatte!, an die tausendmal gewiss, laut & deutlich zu jeder Zeit, ihm Vorhaltungen gemacht, gejammert, gelästert, gehadert, nicht anders als so mancher Jude in seiner langen biblischen Geschichte mit keinem Geringeren als Gott dem Herrn gerungen hatte. Doch immer mehr begann er die Dinge in einem anderen Licht zu sehen, sich als Privilegierten betrachten. Das Leben in der Kneipe veränderte ihn, verlangte Beweglichkeit, Fingerspitzengefühl, soziales Gespür, Aufmerksamkeit & Barmherzigkeit, aber auch Härte & Konzentration. Hier lernte er täglich mehr als bei seinen klugen Professoren, von denen sich nicht wenige für allwissend hielten, mächtig gut verdienten, mit dicken Bäuchen herumstolzierten, sich auf Kongressen hervortaten, ihre Hausmacht sicherten, jeden argwöhnisch beäugten, der ihnen in die Karriere pfuschen könnte, die Studenten für sich schuften ließen. Bei den Studienkollegen, die mehr oder weniger versuchten, sich dareinzufinden, durchzukommen, war es nicht viel anders. Sie hatten einander immer weniger zu sagen, Alexander erschien ihnen zunehmend komisch, wenn sie sich überhaupt mit ihm beschäftigten. Er fing an, seine Abendgäste zu mögen, mehr als alle anderen, mit denen er auf der Universität zu tun hatte, die, wie er jetzt fand, rein gar nichts vom Leben verstanden. Unter ihnen war er ein Student wie jeder andere, dort aber Schankwirt, jemand, den sie beim Namen kannten, schon bei der Tür herein nach ihm riefen, so als wollten sie sich sofort vergewissern, ob alles noch beim 294 Alten war. Alexander! Doktor! Missiö Sommerfeld, wie geht‘s dir, alter Junge!? Komm herunter von deinem hohen Ross, du Scheißkerl du! Es war die Herzlichkeit der Gosse, aber eine innige & ehrliche Herzlichkeit. Er schätzte diese etwas raue Zärtlichkeit, brauchte sie bereits, wie holprig & zögerlich sie auch mitunter daherkommen mochte. Es hätte ihm etwas gefehlt ohne sie. Die Gäste brachten sie so zum Ausdruck wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Ihr werdet mir einmal fehlen, konnte Alexander antworten. Was soll ich ohne eure Aufrichtigkeit? Wer wird mir je wieder die ganze Wahrheit sagen! Stolz, schier ehrfürchtig, hörten sie seine Worte, ließen sie sich auf der Zunge zergehen & wiederholen. Du musst es dreimal sagen!, konnte es von hinten heißen. Und, als wäre es ernst gemeint, tat er es, gerade wie in den Märchen, wo man die Zaubersprüche auch dreimal sagen musste. Sie machten sich einen Spaß draus, ihn ihre Namen abzuprüfen. Doch er kannte sie längst, auch wenn sie oft lange nicht erschienen, weil sie im Krankenhaus lagen, auf der Wachstube aufgehalten wurden, wie sie es nannten, oder einen längeren Aufenthalt in einem gewissen Präsidium hinter sich zu bringen genötigt waren. Ihre Phantasie, für die unangenehmeren Orte & Ereignisse des Lebens eine Bezeichnung zu finden, war fast grenzenlos und äußerst unterhaltsam. Welches Etablissement hast du besucht, sagtest du?, fragte Alexander zum Beispiel. 295 Oder: Na, wie war dein Hotel? Oh, es war alles vom Feinsten, das kannst du mir glauben, morgens gleich das Kaviarfrühstück, zu Mittag Lachs mit sämtlichen Beilagen, und von den Desserts machst du dir keine Vorstellung! Am Königshof könnte es nicht besser sein. Am Königshof? Was du nicht sagst. Muss ja toll gewesen sein. Ja, dabei ist es noch gar nichts gegen das Abendmahl bei mir!, so ein anderer weiter. Der Kronprinz selbst hätte es nicht verschmäht, und der ist nun wirklich nicht gerade der Allerbescheidenste! Ho, ho, das läuft ja auf Majestätsbeleidigung hinaus! Ach, was, so ein kleiner Lump wie unsereins ist doch für die Aristokraten im Königsrang nicht sanktionsfähig! Satisfaktionsfähig! Was bitte, ist denn das, wenn man fragen darf? Na, satisfaktionsfähig eben. Alexander, du bist doch gescheit, studierst an der Königlichen Universität, erkläre du uns, was das heißt! Ja, ich habe dieses Wort eigentlich auch noch nicht gehört. Aber, es ist doch sicher eins von den ausländischen, denk nach! Ja, es ist lateinisch, ganz bestimmt, und es heißt wohl, dass ein einfacher Mann einen hohen nicht beleidigen kann, weil er dafür 296 viel zu gering ist, .... beziehungsweise nicht zur Rechenschaft gezogen wird, was so viel heißt wie, wenn zwei sich duellieren, müssen sie vom selben Stand sein! So, so ist das! Zu gering, sagst du? Das hör’ sich einer an. So also reden die da oben! Je nach Alkoholspiegel kam es, vor allem zu vorgerückter Stunde, zu bestimmten Meinungsverschiedenheiten der gröberen, auch handgreiflichen Sorte, außer man ließ sich von Alexander beruhigen, der sich schließlich auch nicht zu gut war, zu erklären, was er wusste und beileibe hier mit uns nicht unseren beschissenen Abend verbringen müsste! Beruhigt euch Kinder, es ist doch nur ein Scherz, ein Spaß, ein Wort! Lasst es egal sein, seid fröhlich und unterhaltet euch über etwas Besseres. Ja, du hast recht, du bist ein verdammt kluger Bursche! Klar, ist er das, ein Doktor eben! Ich bin noch nicht Doktor! Ach was, für uns bist du Doktor, die da oben können sagen, was sie wollen, selbst, wenn sie dich durchfallen lassen diese akademischen Esel, für uns bleibst du immer der Doktor! Wir haben keinen anderen und wollen keinen anderen! Ja, er hatte hier seine Lobbyisten, seinen Fanclub, seinen Wahlbezirk, zweifellos. Dennoch fiel es ihm mal schwerer, mal leichter, dies zu ertragen, die Gegensätze unter einen Hut zu bringen, seine Prüfungen zu bestehen, die Vorlesungen zu besuchen, mit den Professoren zu 297 verhandeln, Termine auszumachen und abends hier her zu kommen. Doch das Schlimmste war sein Aufzug, das sich immer wieder Zusammenrichten, die Hygiene bei den Verhältnissen, in denen er jetzt lebte, sich in aller gebotenen Eile irgendwie so weit zu bringen, dass sie ihm dort in der besseren Welt nichts anmerkten, er seine Fassade zu wahren halbwegs im Stande war. Seine Wäsche bereitete ihm besondere Sorgen, das Trocknen, das Bügeln und damit sein ganzes Aussehen & Auftreten. Zwar schauten sie ihn des Öfteren befremdlich an, wechselten verräterische Blicke, verstohlene Grimassen, aber im großen & ganzen kam er über die Runden. Sogar ziemlich gut, denn es gab kaum eine Prüfung, die er nicht mit „Sehr gut“ hinter sich brachte. Wenn etwas dieser Art auf ihn zukam, wussten es alle in der Kneipe, zitterten um & mit ihm, redeten über das, was von so einem verlangt war, verdammt nochmal! Das musst du erst mal drauf haben und auf die Bühne bringen! Dafür sind wir hier alle viel zu blöd! Das kannst du laut sagen! Es gab sogar welche, die sich als Vertretung im Wirtshaus anboten, was sie dann gar nicht schlecht machten, nur, damit er lernen konnte und sich nicht immer so abhetzen musste. Sich mächtig zusammenrissen, es tatsächlich hinkriegten, auf ihn in aller Nervosität warteten, derweil den Laden am Laufen hielten, alles bewältigten, obwohl sie sonst für nichts zu gebrauchen waren. Nicht dass dies erlaubt gewesen wäre, doch alle wussten, worum es ging, standen hinter ihm, rissen sich auf einmal zusammen, und wenn auch sonst so gut wie nichts klappte, was sie sich vornahmen, so passierte während Alexanders Abwesenheit doch nie etwas. Blitzblank standen die Gläser in einer Reihe, die dampfenden Töpfe in der Küche ließen nichts zu 298 wünschen übrig, die Tische waren abgewischt, sie wollten einen guten Eindruck machen, sich nicht blamieren, nicht voreinander und schon gar nicht vor Alexander. Angespannt warteten sie auf ihn, beobachteten genau, wie er eintrat, erhoben sich langsam, hielten den Atem an beinah, und wenn sie ein Lächeln, ein Augenniederschlagen bei Alexander ausmachten, und war es noch so unauffällig, fingen sie zögernd, wie, wenn man nicht weiß, ob das Konzert schon zu Ende ist, ohne ein einziges Wort von ihm, das Klatschen & Gratulieren an, bis alles in einen ohrenbetäubenden, wirklich aufrichtigen Applaus überging. Von allem war dies das Schönste, das, worauf er sich am meisten freute, das Feiern mit den einfachen Leuten von Södermalm. Doch lag von ihrer Seite Wehmut darin, denn mit jedem Mal rückte der Abschied näher, ja eigentlich war er längst im Gange, und mit jeder bestandenen Prüfung verloren sie ihn ein bisschen mehr. Hätte sein Vater ihn hier erlebt, er wäre stolz gewesen, dachte Alexander oft, denn es kommt ja wohl nicht nur auf das Wissen an, sondern auch auf den Charakter, auf die Liebe zu den Menschen, das Verständnis für ihre Nöte, so wie sie Verständnis für die seinen hatten. Und es sollte sogar eines Tages jenen Abend geben, an dem sein Vater sich auf den Weg machte, ihn aufzusuchen, endlich ernsthaft nach ihm fragte, tatsächlich Ausschau hielt, die Spur aufnahm, der alte Herr seinen Canossagang in die Kneipe tat und vor lauter Staunen & Entsetzen fast zusammenbrach, voller Freude & Mitleid, ja, sich aufrichtig schämte, in seiner, mitunter theatralischen Art, Alexander umarmte und ihn in aller Form um Verzeihung bat. Nun, so viel Aufhebens hätte es vor allem in der Öffentlichkeit für Alexanders Geschmack gerade nicht sein müssen, dafür hätte man früher kommen können, doch nun war es so, was ihm auch recht war und recht sein musste. 299 Eines fortgeschrittenen Abends nämlich, ging in unserem Lokal die Tür auf, und herein kam unter den Augen der Södermalmer Unterwelt ein feiner Herr mit Hut & Pelzkragen, schritt geradewegs auf die Theke zu, nahm seit seinem Eintreten nichts als Alexander ins Visier. Endlich, so dachte er, hatte sein Sohn ausreichend gebüßt, genug verstanden, um zurückgeholt zu werden. In Wahrheit lagen auch hinter ihm unendliche Qualen, Gewissenbisse, Rahelsgespräche, Alpträume, Ahnungen. Allein das Schweigen über seinen einzigen Sohn, nicht mehr von ihm zu reden, etwas, das zuvor seine Lieblingsbeschäftigung gewesen war, ja, man konnte sagen, kaum jemand wagte es, ein Gespräch mit ihm anzufangen, ohne sich nach dem jungen Herrn zu erkundigen, allein dieses, selbst auferlegte Schweigen war für ihn eine bittere Medizin, eine Hiobsstrafe. Jedermann wusste, wie sehr er an ihm hing. Manche behaupteten gar, es wäre ausgeschlossen, mit ihm Geschäfte zu machen, auf seine Gunst zu zählen, wenn man nicht durch aufmerksame, mitfühlende Fragestellung hinsichtlich des Sohnes ein gutes Licht auf sich zu werfen verstand. Dann konnte es vorkommen, dass auch Herr Sommerfeld sich nach des anderen Sprösslingen erkundigte und das gleiche Interesse zeigte, erstaunlich viel über Kinder wusste, so, als wäre er Spezialist auf diesem Gebiet. Sie kamen ins Fachsimpeln, erzählten die drolligsten Geschichten über ihre Kinder, wurden rührselig & sentimental, vergaßen mitunter das Geld, die Bedingungen, die Geschäftsordnung, zerflossen in Erinnerungen, konnten aufstehen und ein Glas Wein trinken gehen, ohne sich noch zu vergegenwärtigen, wozu sie sich getroffen hatten. Nichts & niemandem ging der alte Herr mehr auf den Leim als Fragen nach seinem geliebten Alexander. Ihm galt sein ganzer Sinn, seine Sorge, sein ganzes Leben. Er verstand Menschen, die es hielten wie er, vertraute ihnen, 300 machte mit ihnen aus keinem anderen Grund Geschäfte, Gewinne, half ihnen, vorwärts zu kommen, denn wenn sie Verständnis & Liebe zu Kindern hatten, waren sie für ihn akzeptable Partner. Wer Kinder hatte, sie großzog, sich um sie sorgte & kümmerte, sie liebte & achtete, war für ihn unantastbar. Nun aber war ihm jede Aufmerksamkeit dahingehend zur Qual geworden, die anderen wussten nicht ein noch aus, womit sie ihn stimulieren sollten, wie mit ihm handelseinig werden. Er schien das Interesse an so gut wie allem verloren zu haben. Es schien ihm zuweilen wie der Verlust des Augenlichts, doch gerechte Strafe musste sein, fand er, grämte sich, raufte sich die Haare, schlief schlecht, durchlief Phasen der Rage wie der Gleichgültigkeit, doch am Ende, am Ende musste er begreifen, dass ein Teil der Schuld auch bei ihm selber lag. Rahel hatte ihn auch diesmal eines Besseren belehrt, ihm allen Ernstes erklären müssen, dass der Sohn nur seiner Natur gefolgt war, etwas, worauf er in seiner abgöttischen & überbesorgten Vaterliebe total vergessen hatte, gerade, als wäre Alexander lediglich eine Art Teddybär oder der kleine Bub von früher. Ein schier ewiges hin & her, ein endloses Tauziehen zwischen den Eheleuten, also ihm und dem Geist seiner Frau, lag hinter ihm. Diese Kneipengeher & Trunkenbolde, unter denen er seinen Sohn nun fand, schienen ihm alles andere als der rechte Umgang, und sein Gewissen regte sich erneut. Man verfolgte ihn mit rollenden Augen & offenen Mündern, suchte untereinander Blickkontakt, rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Es war so leise, dass man die Mäuse rascheln & kratzen hörte, das Schlucken von Spucke, das Atmen ringsum. Jeder wusste sofort, um wen es sich handelte. Im Leben hatten sie nicht so einen Herrn gesehen. So einer hatte in ihrer Gegend nichts verloren, das sah man sogleich. Traurigkeit überkam sie, der letzte Abend schien gekommen, noch bevor Alexander sein Studium beenden konnte, 301 und dieses hier hatte ihnen, den Södermalmern, gerade noch gefehlt. Der Auftritt des alten Sommerfeld führte ihnen erst recht ihre Verworfenheit, ihre Armut, ihre Lage in aller Deutlichkeit vor Augen. Sie waren nicht mehr unter sich, ein wirklich Fremder war eingetreten, einer, der Anspruch erhob, ihre Welt wieder zurückwarf auf das, was sie zuvor gewesen war, bevor Alexander aufgetaucht war und sie mit seiner Anwesenheit geadelt hatte. Man nahm ihnen ihren allerliebsten Wirt, den sie respektierten wie keinen anderen. Nie wieder würde ihnen einer wie er unterkommen, sich mit ihnen abgeben. Alexander erging es ähnlich, denn jetzt, wo sein Vater tatsächlich kam, musste er ihm erklären, dass er nicht ohne weiteres hier fortkonnte. Es war auch sein besonderer Ort geworden, seine erste große Lebenserfahrung, denn er kannte jetzt die Leiden & Sorgen dieser Menschen, ihre Tapferkeit, ihre Ängste, ihren Schmerz, ihre Geschichte. Als sein Vater ihn einfach mitnehmen will, sich nichts anderes vorzustellen vermag, als mit seinem Sohn dieses elende Lokal auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, da widersetzt sich Alexander: Aber Vater, ich kann nicht mit dir gehen! Ich habe hier meine Arbeit, meine Freunde, meine Gäste, verstehst du nicht? Ich muss dableiben aus allen Gründen. Alle lauschen gespannt, spitzen die Ohren, trauen ihren Augen nicht. Alexander folgt seinem Vater nicht, erklärt ihm, dass er bleiben will, habt ihr das gehört? Er gehorcht seinem eigenen Vater nicht, einem Vater wie diesem! Das hätten sie im Leben nicht für möglich gehalten! Obwohl er nicht müsste, es sich leicht machen könnte, in Wahrheit niemandem Rechenschaft schuldet, Geld wie Heu besitzt, Geld, das er sich nicht verdienen muss, schon gar nicht auf diese Weise hier, versieht er bis zum Ende seines Studiums seinen allabendlichen Dienst in dieser Södermalmer Bude, denn genau 302 dies ist es, was er an jenem denkwürdigen Abend in aller Öffentlichkeit & Privatheit zugleich, erklärt. Seinem alten Vater rinnen die Tränen herunter, er versteht die Welt nicht mehr, aber er selbst hat sich und seinen Sohn in diese Lage gebracht. Im Innersten, das weiß Alexander, erkennt sein geliebter Vater sehr wohl, worum es geht und wie stolz er sein kann & muss, denn sein Sohn macht seinem Namen Ehre, ist nicht wehleidig & hochmütig geworden, hat den Fehler, der sie zu trennen im Stande gewesen war, längst gut gemacht, ist über sich & seinesgleichen hinausgewachsen. Die Härte der Strafe hat ihn nicht zerbrochen, sondern stärker & edler gemacht. Er sollte in dem lange ersehnten Augenblick, da er Alexander vor fremden Menschen gegenübersteht, er sollte jetzt einen guten Eindruck hinterlassen, keinen Fehler mehr machen, doch was ist jetzt richtig, was falsch? Und als wäre das nicht genug, hört er auf einmal Alexander sagen: Du musst keine Angst haben, Vater, dein Gesicht zu verlieren, wir sind eine Familie hier, auch wenn es oft schwierig ist mit allem, das gebe ich zu, gestritten, geschlagen, gelogen & betrogen wird, aber so ist eben das Leben, denn sie alle hier, jeder einzelne Mann, jede Frau, haben ein schweres Dasein, schwerer, als wir beide es uns vorstellen können. Es ist nichts besonderes, wohlhabend zu sein, doch mit wenig Geld durchzukommen, schon. Auch ich musste viel lernen, um sie zu verstehen, aber es war in Wirklichkeit ganz leicht, denn dieses Lokal ist für viele der einzige Ort, wo sie für kurze Zeit ihr Leid, die ganze Härte, die dieses Königreich für arme Leute bereit hält, zu vergessen. Wir, Du und ich, wissen nichts davon, wir haben alles. Darum bitte ich dich, bezahl’ für heute Abend einem jeden die Zeche, das wäre eine große Hilfe. Auch wenn du niemanden hier mit Namen kennst, ich kenne sie alle, ich schätze sogar die meisten, habe unter ihnen meine Freunde gefunden. Sei so gut und hilf uns bitte. Sommerfeld legt, ohne weiter zu fragen, den Inhalt seiner Geldtasche auf den Tresen, und während er hinaus geht, sagt er: 303 Du findest mich in meinem und deinem neuen Haus am Birger Jarlsgatan. Komm, sobald du hier fertig bist. Ich warte auf dich, mein Sohn. Doch Alexander kam weder heute noch morgen noch irgendwann, denn er wollte nicht in die Knie gehen vor der Bequemlichkeit. Sein Vater reiste wieder ab, hinauf in den Norden, hinüber nach England, nach Russland, war insgeheim erstaunt über seinen besonderen Sohn, von dem ihn etwa ein dreiviertel Jahr später ein bescheidener Brief erreichte, und zwar in einem Hotel, in welchem er früher mit Alexander manchmal gewesen war. Lieber Vater, Ich möchte Dir nur kurz mitteilen, falls Du diesen Brief überhaupt zeitgerecht erhältst, dass mir am 1. Dezember 1960 der Doktortitel der allgemeinen Medizin verliehen wird. Du musst nicht kommen, mach’ Dir keine Eile, es gibt anschließend mit ein paar Freunden einen kleinen Imbiss, und am Abend steigt in der alten Kneipe, die Du ja jetzt kennst, in Södermalm eine bescheidene Feier. XII Meine viel spätere Erinnerung Die außerordentliche Geschicklichkeit des fremden Arztes überraschte mich damals, er aber dachte, wie sich später herausstellte, vor lauter Nervosität ganz tollpatschig gewesen zu sein. Es war nämlich selten, dass es auf Anhieb gelang, über den gesetzten Spatel in einer Sekunde das Röhrchen in die Trachea einzuführen und das Frühgeborene währenddessen keinen einzigen Atemzug verlieren zu lassen. Die, von mir vorbereitete Beatmungsmaschine musste also nur noch richtig eingestellt & angeschlossen werden. Schon im selben 304 Augenblick wurde das Kind rosig, bewegte sich, fing an zu strampeln. Die erste Sauerstoffeinstellung geschah bereits aufgrund der Anzeige der Transoxode, jenes Gerätes, das den Blutsauerstoff-gehalt durch die Haut misst. Problemloser, übereinstimmender, selbstverständlicher war für mich keine medizinische Handlung je abgelaufen, gerade so, als wäre sie geprobt gewesen, obwohl Alexander mir später gestand, wie aufgeregt er meinetwegen gewesen war. Abwechselnd erzählten & erinnerten wir uns jetzt, so viele Jahre später an den fernen Abend von damals, an manche Details, die der andere nicht mehr wusste, andere wieder waren vollkommen gleich in Erinnerung geblieben. Genau genommen war es diesmal bereits unser drittes Treffen, auch dieses unvorhergesehen. Ich hatte eine dünne Spur gelegt, eine leise Hoffnung gehegt, die sich dennoch überraschend erfüllte. In den Jahren nach der ersten Nacht hatte ich mein eigenes Leben gelebt, zwei Jahre nach dem Nachtdienst mit Doktor Sommerfeld einen Künstler geheiratet, zwei Kinder bekommen, die Station längst verlassen. Und, als wäre dies nicht genug gewesen, begann ich zunächst zu übersetzen, besser gesagt, Übersetzungen anzufertigen und später mit zunehmender sprachlicher Sicherheit, quasi daraus hervorgehend, zu schreiben. In den Nächten, die ich nun nicht mehr auf der Intensivstation zubrachte, sondern über Papier & Texten, Buchstaben & Beistrichen saß, in diesen Nächten wurde in mir die Idee meines Lebens geboren, eine „Idee mit Hörnern“ sozusagen, eine mich wirklich ganz & gar, durch & durch erschütternde Idee, die mehr & mehr Besitz von mir nahm, und als ich langsam Klarheit gewann, begann ich in ihr ein großes Glück zu erkennen. Nichts anderes war es, als was ich im Innersten schon immer wollte, nichts anderes als der Wunsch, meine Vergangenheit, meine 305 Erlebnisse, meine Gedanken, meine Leiden, alles, was sich sonst nicht erzählen ließ, niederzuschreiben. Plötzlich nahm etwas in mir Gestalt an, wurde konkret, kam auf mich zu, ließ mich nicht mehr los, nahm mich in Gefangenschaft. Aus dem Sitzen & Tüfteln über fremden Texten und dem damit verbundenem persönlichen, fast einsamen Gewahrwerden des eigenen Talentes, wurde die Suche nach dem, was und wer ich war, die beinah sang- & klanglose Verwandlung meines Traums in geschriebene Wirklichkeit. Noch ungenau zwar, verschwommen & nebelig noch, aber nicht mehr zu verleugnen. Vor mir stand wie in Feuerschrift an der Wand ein Weg gezeichnet, den ich zunächst zögernd, noch ungläubig, bald aber leidenschaftlich anzunehmen begann. Dann war es soweit, sich zu entscheiden, etwas völlig Unbekanntes, ein anderes, fernes wie bereits vertrautes, schon immer geliebtes Land zu betreten. Ignacio Silone, dessen Fontamara ich damals übersetzte, ließ in mir einen unerhörten Gedanken, fast eine Erkenntnis reifen, die mich zuweilen heute noch erschaudern lässt. Warum schreibst du das alles nicht selbst? Warum läufst du einem Fremden nach, dessen Werke bereits übersetzt sind, der längst im Olymp der Literatur zu Hause ist, während deinen kleinen Namen niemand kennt? Eine unbedeutende Krankenschwester, ein unauffälliges Mädchen beinah, scheint überzuschnappen, den Verstand zu verlieren, sich zu überschätzen, den Boden unter den Füßen zu verlieren, seinen eigentlichen Pflichten nicht mehr nachzukommen. Plötzlich konnte ich nicht mehr von diesem Gedanken lassen, er rührte an mein Innerstes, es war, als hörte ich den Klang einer geheimnisvollen Syrinx, einen Klang, der vielleicht schon immer in mir war, dem ich nur nicht zu lauschen gewagt hatte. Nun wollte ich ihm folgen, ob er ins Glück oder ins Unglück führte, Erfolg oder Scheitern bringen würde, es war ohne Bedeutung, es existierte keine andere Möglichkeit mehr. 306 Ich schrieb in jener frühen beneidenswerten und einzigartigen Unschuld romantische Gedichte, die ich zunächst selber in einzelne Bändchen zusammenfügte, kitschig verzierte, anderen zukommen ließ, im engsten Freundeskreis vorzulesen begann, etwas, das man nur am Anfang zustande bringt, am Anfang, wenn man noch nicht weiß, dass sie es nicht verstehen werden, sich über einen lustig machen, obwohl man selbst vor Rührung darüber weint. Und doch verlangt das Schriftstellerherz sein ganzes Leben lang danach, gelesen & anerkannt zu werden, wie jene großen, die jeder kennt, wenn auch nicht gelesen hat, freilich nur so tut, gerade genug darüber weiß, um sich auf Partys nicht zu blamieren. Sie belächelten mich gewiss, aber ich hatte mein Himmelreich gefunden, ich hatte es gefunden, ich war unverwundbar geworden. Im ersten Aufwallen ist es einem egal, man lässt sich blenden, schmeicheln, verschmähen, es tangiert einen nicht, man ist rein & voll, voll von Geschichten & Ideen, legt seine ersten priesterlichen Notiz-Bücher an, kauft sich dekorative Stücke, um die tiefsten Gedanken hinein zu schreiben, seine Entwürfe, seinen Vers. Den Vers des Lebens, den man beitragen möchte, zu veröffentlichen gedenkt, auf dass er später einmal mit einem in Verbindung gebracht werde. Dann die ersten Erzählungen, mit denen ich es ähnlich hielt, es kamen die Erfolge, kleine & große Preise, die mir Mut gaben, fortzufahren, einen Verlag herbeizauberten und alles, wovon ich früher nicht einmal träumte, weil ich es mir nicht vorstellen konnte. Mein Mann Ottokar unterstützte mich in meiner neuen Arbeit, was das allerwichtigste für mich war, denn hätte er sie nicht gutgeheißen, hätte ich nicht sein Verständnis, seine Kritik, seine Ermunterung gehabt, wäre wohl eines Tages alles im Sand verlaufen. Niemand kann mit einer Familie am Hals, mit kleinen Kindern ohne weiteres diesen Weg einschlagen. 307 Wir hatten uns eine Wohnung gekauft, sie hübsch eingerichtet, und es kam nur noch selten vor, dass ich an die Zeit im Krankenhaus zurückdachte, doch dies alles geschah nicht sofort, bedarf eines weiteren Rückblicks und etlicher Erklärungen. So beginnt nun das Kapitel, das ich jenem Menschen widmen möchte, dem ich die Möglichkeit und das Glück des Schreibens verdanke, mein ganzes ungewöhnliches Leben an seiner Seite und letztlich diesen, meinen ersten Roman. XIII Ottokar Glück & Anfang Der junge Mann im roten Walkjanker, welcher mir schon in der Garderobe aufgefallen war, dem es umgekehrt ähnlich ergangen sein musste, dieser junge Mann sprach mich später an diesem Abend an, forderte mich noch später sogar zum Tanzen auf. Mitte der Siebziger Jahre kamen jene lockeren Tänze in Mode, die man ohne weiteres auch allein oder mit einer Freundin ausführen durfte, sodass wir zum ersten Mal ohne auf einen Burschen angewiesen zu sein, ausgehen konnten. Fortgehen, ohne schamhaft & ängstlich auf einem Stuhl sitzen & warten zu müssen, bis einen jemand ansprach, mit auf die Tanzfläche nahm, sich sozusagen erbarmte, um am Ende womöglich zudringlich zu werden. Seit Menschengedenken war es so gewesen, nichts als eine Peinlichkeit, eigentlich eine Schande, vor allem eine Herabsetzung des jungen Mädchens an sich, das in seiner Einsamkeit in diesen Stunden schier vor Scham verging. Ging man nicht auf Tanzveranstaltungen, lernte man niemanden kennen, tat man es aber, gab es nur dieses Ritual, das zwar dem 308 gegenseitigen Kennenlernen von Burschen & Mädchen dienen sollte, um dessen Abwicklung im einzelnen sich aber niemand je gekümmert hatte. Man überließ es dem einzelnen wie er es verstand, auffasste, vermochte. Ja, gewiss, in den besseren Kreisen, wo man seine Töchter in die Gesellschaft einführte, wo alles bereits ausdiskutiert schien, man sich in der Tastatur nicht vergreifen konnte; wo Eltern, Onkeln, Tanten, Großeltern im Hintergrund wachten & dachten, arrangierten, war es anders, aber dorthin reichten wir alle nicht, Schwesterschülerinnen, die wir waren. Ich hatte längst mit diesem erniedrigenden Kapitel Tanz abgeschlossen, die wenigen Male hatten mir gereicht, lieber wollte ich allein bleiben, in Gottes Namen halt keinen Mann finden, als mich noch einmal in diese Lage zu bringen. Es war mir zuwider seit meiner Tanzschulzeit, und so sollte es bleiben. Ich fand es unerträglich, ja entwürdigend, wie ein Sonderangebot oder ein extra für diese Ausstellung zurechtgemachtes Püppchen dasitzen zu müssen und sich begutachten zu lassen, es gerade noch oder wieder einmal nicht geschafft zu haben. Nun war es endlich anders gekommen, denn in anderen Ländern brachen die Jugendlichen die alten Barrieren nieder, ließen sich nichts mehr vorschreiben, waren selbstsicher, frech & sehr erfolgreich. Davon profitierten wir, jede einzelne Landpomeranze, jedes einfache Bauern- & Arbeitermädchen. Dafür verdienten die langhaarigen Revolutionäre den größten Respekt. Sie ließen sich nicht mehr in Uniformen zwängen, die Haare rasieren, in Kasernen anschreien oder sonst wie verschachteln. Zwar ging es auf dem Land weiter nach den alten Sitten her, doch in der Stadt hatte sich die Zeit bereits geändert. Darin lag der Grund, warum zwei Mädchen wie Patricia & ich, sich erlauben konnten, ohne die Begleitung älterer Herrschaften, ohne Eltern, einen Freund oder sonst einem Anstandswauwau, denn über nichts davon verfügten wir, auf einen, wenn auch recht einfachen Maskenball, zu gehen. Meine einzige Freundin damals, Patricia, eine Südamerikanerin, 309 mit der ich in einem Zimmer im Schwesternheim wohnte, hatte wieder einen ihrer Tobsuchtsanfälle gehabt. Streit war für uns längst unvermeidlich geworden, gehörte zum ganz gewöhnlichen Alltag. Sie, fünf Jahre älter als ich, stammte aus Bolivien, war mit einem österreichischen Entwicklungshelfer, wie es sie in dieser Zeit zuhauf gab, herübergekommen, direkt zu mir ins Zimmer, saß plötzlich auf dem Bett neben mir. So standen wir uns eines Tages gegenüber, keine verstand der anderen Sprache, doch niemand hatte Patricia bei sich haben wollen, jede bereits eine Freundin mitgebracht, eine Zimmerkollegin gehabt, mit der sie unbedingt zusammenziehen musste, ausgemacht, wie sie sagten, vor unerdenklich langer Zeit. Ihr wirklich feuriges Temperament war wieder einmal mit ihr durchgegangen, sie war eine Rassestute, die Launen hatte, Ansprüche, ständig unbefriedigt in der Koppel stand. Sie hatte mich wieder beschimpft, beleidigt, denn sie selbst wurde dauernd beschimpft, beleidigt ausgelacht, wegen ihrer Herkunft, ihres Aussehens schlecht behandelt, obwohl sie eine überaus gute Krankenschwester war. Es lag wieder einer der Tage hinter ihr, wo sie weinend, zornig, deprimiert nach Hause kam, sodass sie schrie, sich die Haare raufte, alles mit ihren Fingernägeln zerkratzte. Ich kannte diese Zustände zur Genüge, ertrug sie stoisch oder eben kaum mehr, je nach der eigenen Situation, aber ich wusste, verstand, dass sie zuinnerst & zuäußerst Heimweh hatte. Ihre vielen Leiden kamen davon, die starken Medikamente auf dem Nachtkästchen zwischen unseren Betten verrieten ihre Krankheiten. Magengeschwüre, Neuralgien, Blasenentzündungen, Infektionen, Nervosität, Schlaflosigkeit, Schmerzen aller Art, Erschöpfung, Depressionen. So war es an diesem Abend wieder eskaliert, doch auch hinter mir lag ein langer & anstrengender Tag auf der Station, ich hätte selbst dringend Aufmunterung statt Geschrei gebraucht. In solchen 310 Momenten nannte sie alles beim Namen, fluchte, weinte, trotzte, schrie mich an, die einzige Person, die greifbar war, nicht weg konnte, ebenso keinen Ort hatte, als dieses armselige, enge Schwesternschülerinnenzimmer, das wir uns teilten, ohne jeden Komfort, ohne Platz, ohne ein privates Stückchen Boden. Ich musste es mir anhören, in der Grellheit der einzigen Glühbirne unter einem billigen Stück Blech, das in der Mitte über dem Tisch hing, so trist, so sparsam wie im alten Leprosenheim in der nächsten Gasse, so als wäre schon ein Lampenschirm überheblicher Luxus, nichts, was man jungen Mädchen in der Ausbildung zur Krankenschwester zugestehen müsste. Über mich ergehen lassen also die alte Litanei, das immer & ewig gleiche, das ich seit Jahren ertrug, doch was zu tiefe Ursachen hat und daher nicht zu ändern ist, das wusste ich lange schon, dagegen kann man nichts tun. Erinnerungen an die Streitigkeiten meiner Eltern kamen hoch, etwas, das ich niemandem erzählte, etwas, das ich hütete wie ein tödliches Geheimnis. Mein Herz begann zu stechen, meine Luftröhre verengte sich, mein Mund trocknete aus, Trauer überkam mich, im Kopf spielten sich die alten Bilder von selber ab, ich musste wieder denken an daheim wie damals im Internat, als ich vor Sorge um meine Eltern schier verging und doch nicht fort und es niemandem anvertrauen konnte. Patricia konnte nicht wissen, dass auch sie Leid verursachte, welchen Schmerz sie auslöste, sie mir im selben Augenblick zufügte, durch ihre Anfälle wieder & wieder hervorrief und wie nahe ich selbst am Abgrund stand. Sie führte eine Art von Stellvertreterkrieg mit mir; die Diplomschwestern, Stationsvorsteherinnen, Schülerinnen, Ärzte, die Österreicher als ganzes nahmen für sie Gestalt an in mir, gingen in mich ein, flossen zusammen in meiner Person. Erst, als ich zu weinen anfing, die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, mir die Ohren zuhielt, in mich zusammenfiel, da lenkte sie ein, wurde gewahr, was sie ein weiteres Mal angestellt hatte, und wie immer tat es ihr in der Seele leid. Ihr gutes Herz gewann wieder 311 die Oberhand, sie kniete vor mir nieder, bat mich dramatisch & innig wie niemand sonst um Verzeihung, bot mir alles an, was sie besaß, streichelte meinen Kopf, meine Haare, flüsterte schluchzend meinen Namen, nannte mich ihren einzigen Schatz, ihre beste, allerbeste Freundin auf der ganzen, ganzen weiten, weiten Welt. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf, es fiel ihr etwas ein! Sie besaß ja zwei Ballkarten für just diesen Abend, für den Ball der Bälle, nämlich den großen, einmal im Jahr zur Faschingszeit stattfindenden Lateinamerikaball. Als Versöhnung & Wiedergutmachung sollte ich mit ihr auf dieses Fest gehen. Es war vorüber, ihre Phantasie kehrte zurück, augenblicklich riss sie den Kleiderschrank weit auf, ging ihre vielen Kleider & Röcke routiniert durch, schob sie zusammen & auseinander. Da hing am Ende der Stange das einzige Kleid, welches mir gehörte, ein einfaches, schlaffes Dirndl samt Blümchenschürze und Spitzenbluse. Neben ihren bunten, fetzigen modernen, ja, mondänen Sachen sah es noch dümmlicher aus als sonst. Ich hatte es mit vierzehn Jahren in der Modeschule, die ich zuvor besucht hatte, selbst genäht, ein Werkstück also, das mit meiner Hände Arbeit zustande gekommen, benotet worden war, weshalb ich es nicht mochte, nur Mühsal & Wut damit verband. Sie aber hatte die Idee, die Rollen zu tauschen. Sie wollte sich als österreichisches Bauernmädchen verkleiden, ich sollte als Indianerin gehen, als keine zwar mit einem topfartigen Hut wie in den Anden, sondern in Ermangelung originaler Requisiten wie eine moderne Halb- oder Viertelindianerin der besseren südamerikanischen Gesellschaft. Nach längerem hin & her, dem ausgiebigen Sträuben meinerseits und dem übertriebenen Schmeicheln ihrerseits gab ich nach. Sie schlüpfte in mein Kleid, ich in ihres, darüber warf ich den buntgestreiften Poncho Patricias. Wir schminkten uns gegenseitig, ich wurde verdunkelt, sie aufgehellt. Aus der Indianerin war eine Bäuerin geworden, aus mir 312 eine Indígena. Und so kam es, dass sich der rote Walkjanker nach mir umdrehte und mich schließlich ansprach. Alle waren entzückt über die offensichtliche Idee, die Kleider zu tauschen, man lächelte uns freundlich & anerkennend zu, nickte zustimmend, doch ahnte ich nicht, dass ich bereits meinem späteren Mann begegnete, der sich in genau dieser Aufmachung in mich verguckte. Natürlich hatte sich der Entwicklungshelfer, mit dem Patricia einst über den Ozean gekommen war, hoffnungsvoll wie hoffnungslos in sie verliebt & verschaut, darüber seinen Verstand verloren, ja, sie soweit gebracht, nachdem sie ihr Medizinstudium wegen der Schließung der Universität in La Paz abbrechen hatte müssen, ihm nach Europa zu folgen, ihr Land, ihren Kontinent zu verlassen, in eine, ihr vollkommen fremde Welt zu gehen, um, wie sich später herausstellen sollte, für immer zu bleiben. Er dürfte ihr den Himmel auf Erden versprochen haben, zumindest einen, den er sich vorstellen konnte. Eine Ausbildung sagte er ihr zu, meinte aber Heiraten, Hausbauen, Kinderkriegen, die katholische Welt eines Bauernbuben eben. Patricia aber war ein richtiger Papagei; reinrassige Indianerin, deren Muttersprache zunächst nicht einmal Spanisch, sondern Quechua gewesen war. Dunkelhäutig, das Schwarz ihrer Haare schimmerte blau, ihre Augen konnten glühen wie Kohlen oder schläfrig wirken, somnambul, gleichgültig, teilnahmslos. Ihr Wesen so temperamentvoll wie tiefgründig, intelligent, sinnlich, exotisch. Braucht es noch weitere Gründe für einen Mann, um auf eine solche Frau zu fliegen wie ein Adler, wie ein Hirsch? Der Reiz einer, ihm bisher unbekannten Erotik, ja das Weibliche schlechthin, stürzte mit aller Gewalt über ihn herein. Dabei ließ sie es so aussehen, als käme ihr gar nicht der Gedanke an einen Mann, sie war züchtig & streng gekleidet, die Frisur wie geölt & gebügelt, was sie nur noch anziehender machte, und nicht nur für ihn. Das zu einem winzigen Knoten tief im Nacken gebändigte Haar, welches offen gelassen, bis zu ihren Hüften reichte, alles, 313 einfach alles schien dazu angetan, sein Ministrantenherz zutiefst zu erschüttern, ihn zu verführen. Und als müsste man noch eins draufsetzen, kam der dunkle durchsichtige Spitzenschleier dazu, den sie am Sonntagmorgen trug, wenn sie völlig versunken & ausdruckslos in der dekorativen Jesuitenkirche von San Ignacio im Tiefland Boliviens in einer Reihe mit ihren Nachbarinnen & Freundinnen kniete, so aufreizend wie abweisend, so zurückhaltend wie fordernd. In jenem Kirchlein, das er mit zwei, drei anderen österreichischen Idealisten restauriert hatte, von denen ein jeder inzwischen genau das gleiche tat wie er, nämlich Ausschau halten nach einheimischen Mädchen, in jenem Kirchlein hatten sie sich das erste Mal gesehen, dort hatte ihn quasi der Blitz getroffen. Dagegen verblassten die Dirndln zu Hause, wurden alle gleich, waren von Stund‘ an vergessen. Es traf sich gut, dass in Südamerika zu dieser Zeit so verlässlich & ausgiebig geputscht wurde. Zunächst zeichnete er einen weiten Kreis um sie, legte unmerklich eine Schlinge darüber, die er überlegt & langsam immer enger zog, sodass sie sich eines Tages wie ein gefangenes Lama vollkommen verheddert hatte, nicht mehr aus & ein wusste, weder vor noch zurück, weder ja noch nein sagen konnte. Patricia war aufgrund vorangegangener Ereignisse auf einem anderen Kontinent, durch das Aufeinandertreffen verschiedener politischer & persönlicher Zufälle, meine Freundin geworden, kein einfaches Verhältnis zwar, doch etwas Besonderes, auch für mich. Sie sprach, als sie sich in der Schwesternschule in Salzburg einschreiben ließ, so gut wie kein Wort Deutsch, dies aber schien in dieser so überaus international gefärbten & revolutionären Zeit egal zu sein, so viel Vorstellungskraft besaß man nicht, auch nicht der Entwicklungshelfer, der wohl in Wahrheit nur an sich dachte. Wie sonst könnte jemand ein junges Mädchen über den Ozean bringen, in der Fremde aussetzen, vollkommen allein lassen mit 314 einer so schwierigen und schier nicht zu bewältigenden Aufgabe? Sie gedachte, als Diplomkrankenschwester eines Tages nach Südamerika zurückzukehren, um ihr in Europa erworbenes Wissen & Können anzuwenden. Die Zukunft war noch ein offenes Buch, die allgemeine Stimmung nach neunzehnhundertachtundsechzig locker & unbekümmert, auch wenn dies nur für die Studenten galt, welche mit den Konventionen gebrochen hatten, in der Welt herumzigeunerten, sich keine Sorgen & Gedanken machten, alles für möglich hielten, sich um nichts groß scherten, lieber Utopien nachhingen, am Ganges kifften, mit Saddhus & Gurus meditierten, sich in Gruppen & Kommunen der freien Liebe hingaben, ausgiebig & spät frühstückten, von Stipendien & Zuwendungen lebten, vom Überfluss jener sagenhaften Jahre und sich um reale Ereignisse nicht zu kümmern brauchten. Doch die Arbeit im Krankenhaus war ganz anders, hart & verständnislos für so gut wie alles & jeden, eine in sich geschlossene Welt, die Schwesternschule schon auf Deutsch schwierig genug, für Patricia kaum zu schaffen. Andere Südamerikanerinnen, die zur selben Zeit aus demselben Grund herüberkamen, verschwanden nach & nach, keine außer ihr beendete die Schwesternschule. Dazu kam bald Patricias Heimweh, das man sich nicht tief genug vorstellen kann, umso mehr als die Dinge schief zu laufen begannen, aus dem Ruder gerieten, Patricia Anfälle, Schreikrämpfe, Schmerzen und Depressionen bekam. Schlaflosigkeit & Angstzustände waren bald an der Tagesordnung. Wir verfügten über etwa zehn Quadratmeter gemeinsamen Wohnraum, wahrscheinlich sogar weniger, für alles: Schlafen, Waschen, Essen, Lernen. Es war wichtig, mit jemandem beisammen zu sein, mit dem man sich verstand. Niemand aber wollte mit einer Fremden, einer südamerikanischen Ausländerin, zusammenziehen, die österreichischen Schwesternschülerinnen kamen durchwegs aus einfachen Häusern, wo man lieber unter 315 sich blieb, vielleicht, weil sie in diesen Jahren des Umbruchs schon genug verunsicherte, sie mit sich selbst zu tun hatten, mit einer eigenen Freundin gekommen waren. Aus tausenderlei Gründen, sogar ohne Gründe, blieb jemand wie Patricia übrig & ausgeschlossen. Doch mir hat schon immer das andere, das Fremde, das Besondere gefallen, und so geschah es eines Tages, dass wir uns fanden und ganz selbstverständlich Kolleginnen & Freundinnen wurden. Ich betrachtete ihr Interesse an mir als große Ehre und war überglücklich & stolz über eine so außergewöhnliche Freundschaft. Ich brachte ihr Deutsch bei, sie half mir recht & schlecht bei Spanisch, was sie aber vollends überforderte, denn sie hatte keine Geduld, ich musste mit ihren zornigen Korrekturen im, von mir extra angelegten Heft, das Auslangen finden, sie fuhr mich an, hatte nie Zeit & Lust, war schlecht gelaunt, entsetzt & böse über meine Fehler, brachte dafür nicht das geringste Verständnis auf. So schlug ich mich selber durch, tat, was ich konnte, denn ich wollte unbedingt irgendwie Spanisch lernen, war es doch ein guter Ausgleich für die schlecht aufgebaute, laufende Schwesternausbildung unseres dualen Systems, wo man als Schwesternschülerin bei der praktischen Ausbildung auf den Stationen so ziemlich das letzte war. Jeder Tag konnte in einem Desaster, einem Eklat enden, da sie uns entweder nichts oder die Dinge falsch & unzureichend erklärten. Wir standen grantigen, zynischen Stations- & Diplomschwestern gegenüber, die an uns ihren Ärger ausließen. Die Turnusärzte hänselten uns, waren anzüglich, respektlos, herablassend, die Assistenzärzte verlangten Dinge, von denen wir noch nichts gehört hatten, jede von uns musste sehen, wo sie blieb. So war mein Selbstwertgefühl und selbstverständlich auch das von Patricia nach weniger als einem Jahr bereits an einem Punkt angelangt, der es dringend erforderlich machte, aus völlig anderen Dingen Befriedung & Aufwertung zu schöpfen. 316 Für den jungen Herrn im roten Walkjanker mit dem seltenen & seltsamen Namen Ottokar und mich war der erste Augenblick der Beginn unserer Liebe, unseres gemeinsamen Lebens, unseres Weges, der uns, wie es die alten Römer einst nannten, von den Steinen zu den Sternen führen sollte. Was es bedeutete, sich mit einem Künstler, einem Maler einzulassen, verstand ich damals nicht im geringsten. Doch mein Herz war randvoll mit Zuversicht, mit Sehnsucht nach Freude & Glück, voller Hoffnung, es gut zu machen, Berge zu versetzen, Träume zu verwirklichen, den Stier bei den Hörnern zu packen, bereit Armut zu ertragen, Leid & Schmerz im Übermaß, wenn es sein müsste, nur, um mit ihm vereint zu sein. Hatte womöglich auch Gott Der Herr in keiner anderen Stimmung die Welt, die Menschen & Tiere erschaffen und am Ende erkennen müssen, dass er sich geirrt, alles viel zu rosig & einfältig gesehen hatte? Ja, auch Er war blauäugig genug gewesen, Sich Illusionen über Seine Schöpfung hinzugeben, und doch ist es Ihm gelungen, etwas Vollkommenes & Ewiges zu erfinden, herrlicher als alles, was in den Heiligen Schriften steht, tiefer als die Finsternis, heller als das Licht, dunkler als das Wasser, die Erde, der Himmel, denn es gibt nur eine Kraft, nur eine Idee, die alles andere zu nichts weiter als Namen & Wörtern macht. Der Gedanke des Ersten Tages war nicht, das Licht von der Finsternis zu scheiden, in so & so viel Zeit Wasser & Land an verschiedenen Orten zu platzieren, Tiere & Pflanzen in die Welt zu setzen, am Ende den Menschen zu erschaffen, denn Er, Gott Der Herr, schuf in Wahrheit nur eines, Gott der Herr nämlich schuf die Liebe, etwas weiteres war nicht mehr nötig, sie allein war Seine Idee, die Idee des Lebens als ganzes, die Idee der Ewigkeit verankerte Er in der Liebe. Der Schöpfungsakt ist ein Liebesakt, der Liebesakt ein 317 Schöpfungsakt, daher rührt seine Göttlichkeit. Jeder Tag, jedes Paar, jede Nacht ist ein Neubeginn, ein Fenster in die Ewigkeit, die Ewigkeit der Liebe, die Ewigkeit des Lebens und also die Ewigkeit Gottes, des Universums, jenes Großen eben, wofür es keine Wörter, keine Sprachen mehr gibt. Die Liebe birgt Anfang & Ende, Geburt & Tod, Glück & Leid, Weinen & Lachen, Gelächter sogar, Euphorie & Elend, Gleichgültigkeit & Barmherzigkeit, die Liebe ist das Karussell, auf dem wir für eine unendlich kleine Weile in einer unendlich großen Weile wissend wie unwissend Platz nehmen dürfen und Platz nehmen durften. Am 30. Jänner 1975, auf den Tag genau vierzig Jahre nach Alexanders Geburt in Växjö, einem kleinen Ort in Südschweden, geschieht in Salzburg/Österreich ein scheinbar alltägliches Ereignis, welches diese beiden kalten Wintertage über Zeit & Raum hinweg zu einem Datum verknüpfen und für drei Menschen, die einander ferner nicht sein könnten, zu einem einzigen Schicksal zusammenführen wird. Wie eine, vor aller Zeit beschlossene Sache also, liefen die Bahnen, die Linien aufeinander zu, sodass es kein Entrinnen gab und geben konnte. Maria & Ottokar Alexander & Maria. 30. 1. 1935 / 30. 1. 1975 Maria & Alexander trennten zwanzig Jahre, Maria & Ottokar fünf Jahre. Alexander & Ottokar fünfzehn Jahre. Alle miteinander aber vierzig Jahre. Bereits als die Sterne entstanden sind, die Wolken & Meere, die Tiere & Menschen, die Pflanzen & das Wasser, das Licht & also die Finsternis, muss diese Stunde, dieser Tag vorherbestimmt gewesen sein. Die Stunde der Begegnung wie die Stunde der Trennung, die Stunde des Glücks wie die des Unglücks, und es ist wohl die Zeit, welche, gemessen an der Unendlichkeit, der 318 Unergründlichkeit dessen, was nur göttlich genannt werden kann, nicht den Bruchteil einer Sekunde ausmacht, so unvorstellbar klein ist und doch zu Jahren & Jahrzehnten menschlichen Glücks werden sollte, die Zeit, die wir zu messen versuchen, birgt in ihrer Unmessbarkeit & Unermesslichkeit das ganze Geheimnis. So, als sei bereits im Anbeginn der Welt, wenn es ihn gab, im Ursprung aller Zeit bereits, unsere Liebe vorherbestimmt gewesen, sodass wir sie nur finden & leben mussten wie das Schicksal, das lange vor unserer Existenz beschlossen war. Es ist dieser Roman ein Niederknien vor dem Unverständlichen, dem Unbegreiflichen, dem Endlichen & Unendlichen, dem Mysterium von Liebe & Tod, von Raum & Zeit, von Bestimmung & Zufall. So folgte Datum auf Datum, Jahr auf Jahr, Ereignis auf Ereignis doch erst mit dem 30. Jänner 1935 hat ein für mich sichtbarer Weg zu auf den 30. Jänner 1975 begonnen, dem Tag der ersten Begegnung mit Ottokar, dem Tag des Balls, auf den mich meine Freundschaft mit Patricia, letztlich aber ein Streit geführt hat, dem gleichzeitig vierzigsten Geburtstag Alexanders, von dem niemand von uns zu diesem Zeitpunkt eine Ahnung hatte. Wie viele Geschehnisse mussten vorangegangen sein und erst geschehen, damit etwas möglich werden konnte, was gewiss eine außergewöhnliche Liebesgeschichte genannt werden darf? Zwar gäbe es einer mathematischen Formel gleich immer wieder Punkte, an denen sich einiges festmachen ließe, doch dies geschieht im Nachhinein, wenn jeder immer klüger ist, einem quasi allwissend gegenübersteht, mit Stolz über die Erkenntnis seine Ergebnisse präsentiert, doch während es passiert, ist es niemandem bewusst, bleibt es unsichtbar & unerkannt. Und doch ist es im letzten ein Geheimnis, das Geheimnis bleibt & bleiben soll, denn Gott Selbst oder wie immer wir ES nennen, das Große, das über uns & allem steht, hat Regie geführt, und Er lässt sich bestimmt nicht in die Karten schauen, korrigieren, überlisten oder gar etwas beweisen. 319 Was ist selbst die Mathematik, vor der es so viel Respekt gibt, gegen die Mathematik Gottes anderes, als eine Art Schulübung, der Versuch, mit Mikadostäbchen ein tragfähiges & bewohnbares Haus zu bauen. So oft & so viel ich darüber nachgedacht habe, bin ich auf nichts anderes gekommen als, dass das Zustandekommen dieser Liebesgeschichte eine besondere Idee Gottes gewesen sein muss. Ein hübscher Zeitvertreib im Himmel droben, ein Lächeln, ein Zwinkern, eine allgöttliche Freude. Ein Gott muss Wein getrunken haben, als Er ich dies ausgedacht hat, es beliebte Ihm zu scherzen, zu spielen, es gefiel Ihm, etwas Kurzweiliges anzustellen mit einem Deutschen einer Österreicherin & einem Juden. Denn über uns, das weiß ich nun nach allem, was geschehen ist muss ein großes Lächeln ein liebliches Wohlwollen gelegen sein eine himmlische Geste eine Idee mit einem Geweih ja, Engelsgesang & Lautenklang heiter & voller Melancholie zugleich gerade so, als spielte auf seiner Flöte ein Hirte in ferner, längst vergangener Zeit verloren eine verträumte Melodie. Das Jahr 1975 läuft seinerseits auf einen Punkt, einen Tag, eine Nacht im Winter 1977 zu, als Ottokar & ich bereits ein Paar, wenn 320 auch noch kein Ehepaar, sind. Ich werde 1977 zum ersten Mal dem schwedischen Arzt Alexander Sommerfeld begegnen, was ich schon in einem anderen Kapitel dieses Romans zu beschreiben begonnen habe. Eine andere Winternacht der Entscheidung ist der 28. Februar des Jahres 1993, Tag der Verabschiedung jenes Professors, der einst Vorstand meiner Kinderklinik war und welcher Alexander Sommerfeld nicht nur in sein Krankenhaus, sondern später zu eben diesem Fest eingeladen hat. Unser Wiedersehen an diesem Abend, unser Tanz, unser Schneemannbau, die ersten Blicke zweier sich ineinander verliebender Menschen, diese unsere Begegnung ist die Grundlage meiner Geschichte, etwas schier Unglaubliches nimmt seinen Anfang, stürzt uns alle in Not & Verzweiflung, Glück & Unglück, Freude & Leid, Verstand & Unverstand. Es wird meine Ehe aufs Schärfste geprüft, das unterste zuoberst gekehrt werden. Es ist nicht Streit, was uns jetzt trennt, sondern Zwietracht, die ganz etwas anderes und viel Schwerwiegenderes ist. Vergeblich versuche ich, den Abend, den Tanz, den Schneemannbau zu vergessen, obwohl ich keine Ahnung von der tatsächlichen Ursache oder Tragweite dieses Geschehens habe. Nur Alexander steht vor einem Phänomen, das er zwar nicht erklären kann, aber dennoch zu ergründen versucht. Wie hätte ich wissen sollen, dass es mich bereits einmal gegeben haben sollte, weit fort, in einem anderen Land zu einer anderen Zeit, eine ganze Generation früher, angeblich genauso ausgesehen hatte, sogar Krankenschwester gewesen und schon einmal Alexander Sommerfeld begegnet war. Die andere, Silvia, war seine Frau gewesen, vor Jahrzehnten gestorben, um, wie es aussah, in meiner Gestalt wiedergeboren zu werden. Vielleicht würde dies in Asien kein besonderes Aufsehen erregen, vollkommen verständlich sein, nicht so bei uns, die wir im 321 Allgemeinen nicht an diese Dinge glauben. Für uns im Westen, in der Tradition des Abendlandes gibt es diese Vorkommnisse, diese Erklärungen & Möglichkeiten nicht, sodass wir ratlos & verunsichert diesem Zufall gegenüberstanden, langsam & schwerfällig begreifen mussten, worum es ging, mehr noch, dass es das Überirdische in unserer ganz persönlichen Wirklichkeit tatsächlich gab. Wir fürchteten uns davor, es schien uns unheimlich, unmöglich, wir glaubten felsenfest, zu träumen, jeden Moment aufzuwachen und erleichtert aufatmen zu dürfen. Doch in Indien, wo das Leben ein Traum ist, im Buddhismus, wo Menschen, die bereits gelebt haben, wiederkommen, im Hinduismus, wo die Seele auf Wanderschaft geht, ist es realistisch, leicht möglich & verstehbar. Erst einige Jahre später sollte ich im vierteiligen Roman Meer der Fruchtbarkeit von Yukio Mishima, dem Japaner, darüber lesen, das allererste Mal in eine andere, eine höhere Dimension des Denkens eindringen. Nun bin ich darüber nicht mehr erstaunt, sondern verstehe diesen Glauben, der weit über uns hinausweist in jene anderen, unserem europäischen Denken so fremden & fernen Zusammenhänge. Wir, die der Vernunft anhängen, nur das Erklärbare und an die Wissenschaft glauben, haben längst die Verbindung mit dem Jenseits verloren, vielleicht nie besessen. Ich schätze & liebe die Vorstellung einer möglichen Wiederkehr, denke zuinnerst, dass wir nichts sind, als ein kleines Licht in der Unendlichkeit, ein Stern, ein Aufleuchten in der Finsternis für einen Augenblick. Hindu, Christ, Buddhist, Atheist zu sein, ist nicht wichtig, einerlei sogar, denn wir existieren auf vielerlei Weise, sind ein winzig kleines Teilchen im großen & endlosen Kreislauf des Werdens & Vergehens, des Übergangs von einer Gestalt in die andere, ob wir‘s glauben oder nicht. Nur mit dieser fernen, eigentlich fremden Vorstellung konnte & kann ich die Liebesgeschichte, die mir widerfahren ist, begreifen 322 & bewältigen, denn warum sollte es in der Ewigkeit von Zeit & Raum nicht wieder einmal jemanden geben können, der bereits einmal existiert hat? Tausendmal habe ich diesen Faden gesponnen, bin dem unheimlichen, beunruhigenden Gedanken nachgegangen, habe mich darin aufgehalten, verheddert & verloren. Was im Meer der Fruchtbarkeit von Yukio Mishima, nicht gelingt, geht für Alexander & Silvia, Alexanders erster & einziger Frau, durch mich in Erfüllung. Er wird sich nicht, wie Richter Honda, vergeblich nach seinem Jugendfreund Kyoaki Matsugae sehnen, vergeblich seine Spur verfolgen, sich verirren, sondern ihm, dem Abendländer, der nicht an die Wiedergeburt glaubt, wird sie geschenkt, vielleicht, weil er sein Schicksal angenommen, nicht gehadert, nicht geklagt, sondern sich ihm ergeben hat. Vielleicht war es ein einmaliges Geschehen in einer langen Zeit, vielleicht ein Wunder, vielleicht der Ratschluss eines Gottes, niemand wird es je erfahren. Doch, wie es auch war, im letzten zählt das Ereignis. XIV Schweden 1934 Es wird Spätsommer, bis sie zurückkommen. Sie trennen sich in Stockholm, Alexander fährt nach Hause, Rahel ebenfalls. Die Mutter sieht sofort mit Bestürzung, was mit Rahel los ist. Der Rabbiner kriegt einen Herzanfall, muss ins Bett gelegt werden, doch Rahel zwingt ihn, mit aller ihr zu Gebote stehenden Selbstsicherheit, vor allem aber mit dem, bereits deutlich erkennbaren Bauch einer Schwangeren im fortgeschrittenen Stadium, einer Heirat mit Alexander zuzustimmen. Den ungebildeten Pelzhändler! Den Dahergelaufenen! Hast du 323 verloren dein Verstand ? Er keucht & hustet, regt sich auf, Ingrid läuft mit Wickeln & Wärmeflaschen, mit Tee & Brei hin & her, ermahnt Rahel, den armen Vater in Ruhe zu lassen, doch der kann sich jetzt ohnehin nicht mehr beruhigen, muss sich übergeben, verkutzt sich, verfällt in sinnloses, unverständliches Geschrei, bekommt die Worte nicht aus dem Mund. Ein Erdbeben ist ausgebrochen im Hause Goldmann, das ist vielleicht eine Heimkehr, eine Schande, eine Sünde, um Himmels Willen, was werden die Leute sagen, er, der Rabbiner, ausgerechnet er, der Gestrenge, der Unbeugsame, der Gerechte! Wie kann Gott Der Herr ihm das antun! Eine ledige Schwangere! Im eigenen Haus! Ohne Mann! Vater, ich hab doch einen Mann, wie könnte ich denn sonst ein Kind bekommen? Nein, du hast genau keinen Mann, das was du uns da anschleppst, ist doch kein Mann, unggggeeeeebbbbbildet ist der, nur Geld hat er, und damit hat er dich rumgekriegt, weil er dir alles gekauft hat, um dich ins Bett zu bekommen, dich zu ver-ver-verführen! Meine Tochter! Meine Tochter Rahel! Mein Rahele, wie konntest du nur! Haste nicht gewisst, wohin das fihrt! Alles haben wir dir gegeben, dich studieren lassen, ohne dass wir es uns leisten konnten, uns dein Studium, deinen Aufenthalt vom Mund abgespart, und jetzt das! Was hast du nur gemacht in Stockholm! Was fällt dir ein, du dumme Gans! Rahel, was haste gethin! Was biste fir a Weib! Ich will’dir sagen, mit Männern wie diesem reichen Nichtsnutz hast du dich herumgetrieben, deine Eltern betrogen, Gott den Herrn! Das wird Dir und mir und diesem ganzen Haus teuer zu stehen kommen! Deine Jungfräulichkeit hast du verkauft, schämst du dich nicht! Schöne Augen lässt du dir machen, ein Flittchen bist du, ja genau das! 324 Vater! Sag so was nicht! Versündige dich nicht! Er ist doch auch Jude wie du, wie kannst du so über ihn reden!, versucht Ingrid einzulenken, ihn zu bremsen, damit er nicht noch schlimmere Sachen hervorkramt. Aber der Rabbiner denkt nicht im Entferntesten daran, jetzt aufzuhören, im Gegenteil, er sucht noch nach ganz anderen Ausdrücken, stottert und sabbert, wird rot & blass, schwitzt, stößt seine Frau, die ihm ein feuchtes Tuch an die Stirn legen will, empört von sich. Ach, hör doch auf, mich mit Fetzen zu traktieren, schimpft er, ihr dummen Weiber ihr! Was nützt es überhaupt, euch studieren zu lassen! Ach, ich habe einen Fehler gemacht, ich habe mich verschätzt, nein, Gott Der Herr straft mich für etwas, er straft mich für meine Nachgiebigkeit, meine Vernarrtheit in meine eigene Tochter, für meinen Stolz, meine Vermessenheit! Lauter solche Sachen gibt er zum besten. Vater, es war ganz allein meine Idee, ich habe dich doch vorher gefragt, und du hast mir Alexander verboten. Ich liebe ihn aber, schon seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Ich konnte nicht anders, ich konnte wirklich und ehrlich nicht anders. Ich wollte dir nicht weh tun, ich wollte dich nicht beleidigen. Da, da habe ich die einzige Möglichkeit darin gesehen, verstehst du das nicht? Oh ja, du hast deine ganze Chuzpe für diesen winkeladvokatischen Zug verwendet statt zum Lernen! Die einzige Möglichkeit darin gesehen, verstehst du!, äffte er sie nach. Aber ich habe doch alles gelernt, fleißig studiert, und das weißt du! 325 Ja, vielleicht, aber nicht nur das und nicht wirklich, du hast nichts begriffen! Du hast Schande über uns gebracht. Denk an deine kleine Schwester, was bist du für ein Vorbild! Was das für deine Mutter bedeutet! Sie hat dich schlecht erzogen, das ist die Strafe für mich – oh mein Gott, so viele Jahre später die Strafe, ich wusste es immer, es geschieht mir recht!........... . Das große Scheitern ist über uns gekommen, die Rache Gottes, der solche Späße nicht versteht und nicht verzeiht, das kannst du mir glauben, du dumme Göre! So ging es die nächsten Tage & Abende endlos dahin, im Ehebett schimpfte er weiter mit seiner Frau, es war für alle nicht mehr auszuhalten, und irgendwann muss er es eingesehen, sich damit abgefunden, es hingenommen haben wie einen Kelch mit bitterem Inhalt. Er hatte es als sein Schicksal, seine Prüfung erkannt, es blieb ihm nichts anderes übrig, als es anzunehmen, auf die Knie zu fallen, sich in Demut zu üben und wie Hiob nicht mehr zu schimpfen, obwohl er nichts lieber getan hätte, obwohl er sich von aller Welt verlassen fühlte. Alexander wurde herbestellt, ihm hat er noch gehörig die Leviten gelesen, ihn angeschrien wie einen blöden Schulbuben, und am Ende akzeptierte der Rabbiner nolens volens Rahels bescheuerte, nein, Rahels skandalöse Idee, wie er es noch immer nannte, und willigte unter schrecklichem Getöse & Gezeter, mit Kopfstechen & Magenschmerzen in diese unselige Heirat ein. Eine Ungeheuerlichkeit in seinen Augen, eine Sünde, was sonst! Der Hochzeitstermin wurde für November 1934 festgesetzt, etwa zwei Monate vor dem errechneten Geburtstermin. Zwar würde jeder erkennen, dass es nicht mit rechten Dingen zuging, aber was sollte er machen, man musste zueinander stehen und das beste draus machen. Zwei Monate also, in denen Alexander sich um die Gründung des Hausstandes zu kümmern hatte, in dem kleinen Ort Växjö eine Bleibe zu erwerben, die Hochzeit bekannt zu machen & 326 auszurichten. Sie bürdeten ihm alles auf, der Alte bestand auf der Einhaltung aller Vorschriften, es sollte eine traditionelle jüdische Hochzeit sein, wogegen Alexander nichts einzuwenden hatte, und selbst wenn, was hätte es ihm geholfen. Die Trauung unter dem Baldachin fand in Rahels Elternhaus statt, wobei es am Hochzeitsmorgen noch zu einer lustigen Szene kam. Denn wie es der Brauch vorschreibt, brachten sie ihm die vollkommen verschleierte Braut, und Alexander beging den faux pas, sofort unter die Spitzen zu gucken, Gemurmel & Raunen ringsum, Tuscheln & Flüstern. Von wegen, das bringe Unglück, so ein Flegel, hörbares Ein- & Ausatmen dort & da! Damit ihr mir ja nicht die Falsche gebt! Ungläubiges Staunen unter den Gästen. So etwas war noch keinem untergekommen. Trotz des weitestgehend religiösen Publikums, tauschte man vielsagende Blicke, schaute sich gegenseitig an, missbilligend, schmunzelnd, guckte verstohlen, wie es die anderen aufnahmen. Immerhin heißt sie Rahel, und ich will nicht weitere sieben Jahre um sie dienen wie einst der Alte Jakob! Obgleich dem Rabbiner bei Alexanders Erinnerung an die Rahelsgeschichte, schier das Blut stockte, kicherten manche, einige klatschten sogar. Obwohl der Scherz doch offensichtlich war, ging es in diesem Stadium der Hochzeit, noch recht förmlich & ernst zu, vor allem aber, weil im Hause Goldmann eigentlich alles ernst genommen, streng untersucht & gehandhabt wurde. Im Vorfeld dieser Heirat war bereits so vieles falsch & schief gelaufen, sodass Rahels Vater alles andere als locker sein konnte, doch, was hatten sie eigentlich erwartet? Passte dies etwa nicht genau zu allem, was vorangegangen war, mochte der Rabbiner denken. Später sollte Alexander Sommerfeld einmal diese kleine Episode seinem Sohn Alexander erzählen, aber auch die anderen Hochzeitsgäste trugen sie weiter und amüsierten sich noch lange 327 darüber. Niemand konnte damals ahnen, wie viel Zeit ihnen noch miteinander bleiben würde, wie wenig Spaß & Glück, wie sehr ihre gemeinsamen Tage, ja Stunden, bereits gezählt waren. Rahels Vater dachte wieder an den Namen seiner Tochter, er mochte ihn nicht, doch hatte er seiner Frau damals ihren Willen gelassen. Es nicht übers Herz gebracht, nach all den Fehl- & Totgeburten Ingrid, die so viel durchgemacht hatte für seine Kinder, so tapfer gewesen war, diesen Namen abzuschlagen, Ingrid, die immer voller Milde & Respekt & Demut ihm gegenüber war, Ingrid, die Pastorentochter, die es gewiss nicht leicht mit ihm, dem Rabbiner hatte, immer ihr Bestes gab, das Menschenmögliche auf sich nahm. Weil die biblische Rahel bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Benjamin gestorben war, hielt er diesen Namen für ein schlechtes Omen. Und jetzt war sie, seine Tochter, die diesen Namen trug, schwanger, stand knappe zwei Monate vor ihrer ersten Niederkunft. Würde sich die Schrift erfüllen? Würde dieser Name sie & sie alle ins Unglück stürzen? Sollte er Recht behalten oder steigerte er sich hysterisch in etwas hinein? Er neigte zum Extremismus, zu einer geradezu überbesonderen Genauigkeit, einer knechtischen Ergebenheit gegenüber den alten Schriften, das wusste er selbst, und so fürchteten sich die Gläubigen oft vor ihm, trugen ihm gewisse Dinge nicht vor, beschönigten sie, fürchteten seine Strenge, sodass er trotz seiner Brillanz vielen fern & unverständlich blieb. Ihnen kein Priester war, zu dem man unbedingt gerne kam, nur, wenn man musste, alles in Ordnung wähnte. Bei aller Mühe, die er sich gab, litt er doch selbst darunter, mehr gefürchtet als geliebt zu werden. Auch wenn er Rahel grollte, ihn die Scham peinigte & quälte, sorgte er sich innerlich um sie, fürchtete um ihre Gesundheit, ihre Unversehrtheit, ihr Leben, und sein Kummer darüber war nichts als die unsagbare Liebe eines Vaters, der vor Sorge um die Seinen 328 schier verging. Es war ihm nicht gegeben, seine besondere Liebe zu zeigen, umso mehr wollte er alles regulieren, denn darin fühlte er sich sicher, sicher darin, die ewigen Gesetze zu befolgen, weiterzugeben, mit und durch seine Familie ein gutes & gottgefälliges Leben zu führen, Vorbild zu sein für seine Gemeinde, seine Kinder, auch wenn es zwei Töchter waren. Immerhin hatte er eine Christin geheiratet, die, so sehr sie es auch versuchte, doch keine der ihren werden konnte. Es war nicht ihre Schuld, nicht ihr Unvermögen, sondern seines, darum ging er so hart ins Gericht, doch mehr mit sich selbst als mit den anderen, auch wenn dies kaum jemand sah oder verstand. Ingrid hatte längst alles verwunden, freute sich über Rahels Hochzeitstag und insgeheim auch darüber, welches Glück dem Mädchen gegeben wurde. Nie würde sie sich um Geld kümmern müssen, nicht wie sie ständig zum Sparen gezwungen sein, einen humorvollen guten Mann an ihrer Seite haben, denn das hatte sie gleich gesehen, dieser Alexander war ein besonderer Bräutigam, so sanft & willig, so höflich & fein. Sie verstand ihre Tochter, dass sie ihn genommen hatte, man konnte sich nur in ihn verlieben, unmöglich, ihn nicht zu mögen, ihn nicht zu bewundern. Mein Gott, wie schwer war es oft, bei aller Liebe zu ihrem Mann, mit ihm gewesen, wie wenig Spaß vertrug er doch, wie streng konnte er sein! Vom ersten Tag an hatte sie ihn auch gefürchtet, ihm gedient wie eine Magd, auch wenn er sie in Wahrheit auf Händen trug. Doch waren sie immer arm gewesen, alles hatte bescheiden zu sein, schon das Geringste beanstandete er, zieh sie der Hoffart, wenn sie lächelnd die Kinder betrachtete, sich sehnsüchtig etwas wie ein Kleid wünschte, sich hübsch machte! Dauernd das schlechte Gewissen, das er ihr gab, obwohl er es nicht wollte, er selbst war ja Sklave dieses immer gegenwärtigen Gedankens, konnte nichts dafür, sie wussten es beide, und doch 329 hatte es über weite Strecken die Stimmung in ihrer Ehe bestimmt & belastet. Irgendwann war die Pflicht im Vordergrund gestanden, hatte die Liebe sich ihr und dem Ansehen des Rabbiners untergeordnet. Es musste alles perfekt sein in den Augen der Gläubigen, der Öffentlichkeit, denn aller Blicke, so dachten sie, lägen auf ihnen. Im Laufe der Zeit hatten sie wohl vergessen, dass sie einmal ein liebendes Paar sein wollten, für immer sogar, ja, für Augenblicke vielleicht gewesen waren, denn die Pflicht, den höchsten Ansprüchen genügen zu müssen, ist ein Los, welches alles zu vernichten imstande ist. Sie waren schon so lange nicht mehr ein privates Paar, daran erinnerte Ingrid sich nun während der Hochzeitsvorbereitungen ihrer Tochter so schmerzlich, so bitter, so süß. Sie versuchte, sich die frühe Zeit mit ihrem Bräutigam vorzustellen, dachte plötzlich wieder an längst vergessen geglaubte Begebenheiten zurück, ach, nichts von Belang eigentlich, doch getragen von einer verlorengegangen Verliebtheit, einer Jungmädchenträumerei, jetzt in ihren alten Tagen, da eine ihrer Töchter im Begriff stand unter die Chupa, den Traubaldachin zu treten. Was kam & dämmerte nicht alles herauf, wie hatte sie ihn damals in ihr Herz geschlossen, und er erst, was war er für ein verrückter junger Bock gewesen, alles andere als ein gestrenger Herr. Die Welt wollten sie verändern, sich durch nichts verunsichern lassen, ihren gemeinsamen Weg gehen, wohin er auch führen würde. Wie oft hatte sie sich seither gefragt, wo ihre Brautzeit, ihre jungen Ehejahre geblieben waren, und doch waren sie es gewesen, welche sie alles hatten ertragen lassen, denn es hatte gegolten, die in aller Mondscheinseligkeit, so heimlich und kurz sie gewesen war, gegebenen heißen Versprechen, einzulösen. Sie schaute daher nicht mehr mit den verliebten Blicken eines jungen Mädchens, einer Braut auf ihren Mann, nicht unzufrieden, wie sie es auch öfters gewesen war, sondern mehr & mehr leicht & mild, denn er hatte ihr doch alles gegeben, alles geopfert, sein Gewissen beschwert, Sorge getragen. Dies, was sich jetzt ereignete, war die, nicht weniger 330 bemerkenswert zustande gekommene Hochzeit ihrer Tochter mit dem überaus freundlichen Schwiegersohn Alexander, den sie nun bekamen, welcher jetzt zu ihrer Familie gehörte, umso mehr als er keine Eltern mehr hatte, und letztlich, so dachte Ingrid, war es eine Folge ihrer eigenen Liebe, dass sie einen Tag wie diesen erleben durfte. Es wurde eine harmonische Feier mit Musik & Tanz, jeder Gast brachte Geschenke, gute Wünsche, es gab feine Speisen, süße Getränke, Wein sogar. Alexander hatte sich nicht lumpen lassen, sagten die einfachen Leute, nein, er zeigte, aus welchem Haus er stammte, welchen Stil er pflegte, wie es sich unter den wirklich Betuchten & Vornehmen gehörte. Rahels Hochzeitskleid war so prächtig und von rauschender Seide, wie man es in dieser Gegend noch nicht gesehen hatte. Ach, sinnierte Ingrid, Rahel würde ein sorgenloses Leben haben, ein ganz anderes als sie selbst, mit Alexander, der nun ihrer Tochter angetrauter Ehemann war, endlich hatten sie einen Sohn, einen, der ihrem eigenen Gatten in einer Weise zu minder war, in Wirklichkeit aber grämte er sich darüber, dass er als Vater Rahel nicht das hatte bieten können, was dieser Fremde so mühelos vermochte. Er fürchtete, seine Tochter könne zu ihm nicht mehr aufschauen, er wäre für sie nicht mehr das Wichtigste, sie könnte ihn sogar vergessen. Ach, er verlor sich in Selbstmitleid, fühlte sich einsam, verlassen, stand & saß mit tränenfeuchten Augen herum, war gar nicht gesellig, sondern nachdenklich, konnte sich zwischen Glück & Unglück nicht entscheiden, hatte seine Mitte, seine Werte, seine so geschätzte Urteilskraft, seine Orientierung verloren. Wie eine Versuchung kam es ihm vor sogar, was hier geschah! Auch, als andere bei ihm vorstellig wurden, ihm extra schmeichelten, ihm ihre Hochachtung & Bewunderung erwiesen, konnte er kaum von seiner Rolle abgehen, gab sich sperrig & trotzig & furchtbar ernst & zweifelnd. Erst, als es zu fortgeschrittener Stunde so weit kam, dass ihn 331 keiner mehr beachtete, weil man vollgegessen & trunken bei Späßen & Tänzen zugange war, da vergaß er scheinbar endlich seinen Groll, sah, dass er nicht mehr von Belang war, und endlich griff auch er zu, setzte sich zu seiner Frau, der Brautmutter, und zu seiner jüngeren Tochter Marie. Heimlich suchte er Ingrids Hand, drückte sie fest und betrachtete so mit ihr das schöne Paar, das sich herzte & küsste, verliebt miteinander turtelte, als hätten sie ihre Hochzeitsnächte nicht längst hinter sich. Jetzt tat es ihm sogar leid, und später sollte es ihm noch schmerzlicher zu Bewusstsein kommen, wie wenig er jene Hochzeitsfeier, dieses einzige glanzvolle Fest in seinem eigenen Hause genossen & genützt hatte, um sich mit seiner Tochter, die an diesem Tag eine so wunderschöne Braut war, zu freuen, ihr zu zeigen, ihr zu sagen, wie stolz er war, wie sehr er sie liebte, ja, dass aller von ihm aufgebotene Zorn, nur der unendliche Schmerz über den Verlust war, seine Art zu weinen darüber, weil sie, weil Rahel, Rahel!, nun das Elternhaus verließ, ja längst verlassen hatte, so wie es geschrieben steht, denn wer hätte besser als er gewusst, dass eine Frau ihrem Manne zu folgen hat, wohin auch immer. In Wirklichkeit wusste er ganz genau, was Rahel ihm für einen Schwiegersohn ins Haus gebracht hatte, welch‘ guter & feiner Mensch er war, und wie sehr er ihm wohl unrecht tat. Denn, ein Mann, der gar nicht darauf achtete, ob seine Braut eine Mitgift bekam oder nicht, sondern sie einfach nahm, der musste sie wirklich lieben. Die Freude auf sein erstes Enkelkind hatte er auch nicht zugegeben, nicht zugeben können. Dies war das andauernde Leid seines Lebens, das er sich selbst zu verdanken hatte. In diesem großen Augenblick war er zu verstockt, zu hart, zu hochmütig gewesen, und doch hatte er nur gerecht sein wollen. Alexander aber fand es weit besser, alles allein zu bezahlen und zu organisieren, anstatt sich den knausrigen Gepflogenheiten des 332 Hauses anpassen zu müssen. Allemal besser, als der Alte redet dauernd drein, so seine Ansicht. Der Rabbiner war ihm ohnehin rechthaberisch genug, und wäre er nicht sein Schwiegervater gewesen, er hätte nie im Leben mit so jemandem Kontakt gesucht. Auch ihre Gäste & Freunde meinten großteils, Rahels Vater täte nicht recht daran, seinen Schwiegersohn für jeden sichtbar, herabzusetzen, ihm die ganze Schuld an Rahels Zustand zuzusprechen, sich womöglich noch für eine solche Hochzeit zu schämen. Wo gab es denn so etwas, wo es doch nicht besser hätte stehen können als hier & jetzt mit diesem so besonderen Paar. Allgemein fanden sie Alexander recht akzeptabel, sogar die alten Frauen, die jungen waren ohnehin Feuer & Flamme für Alexander, beneideten Rahel um ihn, um diese allerbeste, geradezu märchenhafte Partie! Für das, von Haus aus arme Mädchen, welches einmal keine Rabbinerfrau mit einem Kramladen, wie es häufig geschah, werden musste, sondern wie sonst keine, die sie kannten, in einem Honigtopf landete, immerhin war sie jemand ganz ohne Vermögen. Gut würde es ihr gehen bei ihm, so die vorherrschende Meinung, die Frauen tuschelten über des Bräutigams Aussehen, seinen Charme, seine vornehme Kleidung, das makellose Benehmen. Eine Villa soll er gekauft haben in der Gegend von Växjö, das muss man sich vorstellen, dort wollen sie nach der Hochzeit hinziehen! Ist das die Möglichkeit! Rahel tanzte gar in ihrem Zustand mit ihm, obwohl sie sich kaum rühren konnte. Ihr Umfang war beträchtlich und rasch gewachsen, und wenn eine derart hochschwangere Braut auch kein gutes Bild abgab, so war doch alles in bester Ordnung. Am meisten mokierten sich ohnehin nur die ganz alten Weiber darüber, die nichts offen sagten, aber hinter vorgehaltener Hand ganz schön über die frisch getraute Ehefrau herzogen. Rahel wusste das natürlich, trug es mit Fassung, dafür hatte sie ihn bekommen, ihre Rechnung war schließlich aufgegangen, wer hätte das geglaubt! 333 Mit einem Pferdeschlitten verließ sie das Elternhaus, ihre Mutter winkte noch lange, länger als sie zu sehen waren, während der Vater sich nur kurz im Schnee zeigte, ihnen aber gleich den Rücken zukehrte & verschwand. Rahel freute sich maßlos auf ihr neues & richtiges Zuhause, ihr erstes eigenes Heim, wo sie allein die Herrin sein würde und niemand Geringerer als Alexander ihr Gemahl. Bald waren sie zu dritt, eigentlich schon jetzt, sie hatte alles bereits am Anfang so gut wie geschafft. In den kommenden zwei Monaten bis zur Geburt überschlug sie sich schier vor Geschäftigkeit, sie strickte, nähte, häkelte, putzte, rannte hierhin & dorthin, sodass es Alexander ganz mulmig wurde von dieser übermäßigen Betriebsamkeit. Er kümmerte sich indes um eine Hebamme, damit sie sich Rahel einmal ansah, nicht dass diese es für nötig befunden hätte, jetzt schon daran zu denken, doch Alexander war anderer Ansicht, schließlich würde es ihn zuoberst betreffen, wenn man niemanden rechtzeitig fand & verständigte. Er begann schon in den ersten Tagen nach der Hochzeit, Rahel in den Ohren zu liegen, sobald wie möglich, einen Arzt aufzusuchen. Es war damals durchaus nicht üblich, einen Doktor von vornherein zu einer Geburt zu rufen, jedenfalls nicht ohne erkennbare Komplikationen und wenn, dann überhaupt erst, wenn es soweit war. Doch dieser verwöhnte, wehleidige Pelzhändler schien in so gut wie allem ohne Verstand & Maß zu sein. Er nahm Verbindung auf mit alten Studentenkollegen, die Ärzte geworden waren, erhielt kaum eine Antwort, und wenn, schien sie ihm nicht brauchbar zu sein. So besuchte er eins ums andere Mal die nächste Hebamme, auch sie hatte er erst finden müssen in ihrem recht abgelegenen Hebammenhäuschen, wo diese in aller Gelassenheit seine Schilderungen & Sorgen über sich ergehen ließ, um dann abzuwiegeln, zu verharmlosen, zu relativieren, zu beruhigen, 334 obwohl sie nichts versprechen oder Genaueres sagen konnte. Sie verfügte, wie es Alexander vorkam, über eine recht dicke Haut, über Nerven aus Eisen, vielleicht ein schier tausend Jahre altes Hebammenwissen und einen ganzen Bottich voller Erfahrungen & Erklärungen, die ihm vollkommen verborgen blieben. Wie eine alte Druidin saß sie da und hörte ihm, von Zeit zu Zeit laut seufzend, zu. Herr Sommerfeld, pflegte sie zu sagen, verlassen Sie sich auf meine Erfahrung, glauben Sie mir, ich habe mehr Kindern auf die Welt geholfen, als Sie sich vorstellen können! Alle werdenden Väter, vor allem, wenn es das erste Mal ist, sind so, wenn sie denn zu der Sorte gehören, die sich überhaupt etwas denkt. Hier auf dem Land macht man kein solches Wesens darum, hier wird geboren wie gestorben ganz normal. Diese Hysterie, wenn ich so sagen darf, ist etwas, was ich nur aus Stockholm, aus Göteborg, aus besseren Kreisen dort & da, kenne. Wichtig ist es, zuversichtlich zu sein, Ihre Frau nicht zu beunruhigen, sich selbst nicht unnötig zu ängstigen. Sie werden sehen, alles geht gut, nichts passiert, bald werden Sie einen strammen Jungen oder ein hübsches zartes Mädchen haben, und Sie werden selbst nicht mehr wissen oder verstehen, welche Gedanken Sie sich darum gemacht haben. So verblieben sie, und Alexander war schließlich recht froh über die Zuversicht der Hebamme, denn dass er selbst rein gar nichts davon verstand, lag sogar für ihn sichtbar auf der Hand. Dermaßen gestärkt & erleichtert machte er sich auf den Heimweg. Gewiss war er übervorsichtig, hysterisch, wie sie gesagt hatte, und zu besorgt. Wenn erst einmal alles vorüber wäre, würde er gewiss darüber lachen und den Geburten weiterer Säuglinge in Ruhe entgegen sehen. Denn mit Rahel würde er viele Kinder haben, darüber bestand wohl jetzt kein Zweifel mehr, schließlich hatte sie es ihm in Aussicht gestellt und jetzt, wo es endlich damit anfing, war der Beweis erbracht. Es funktionierte wie Rahel immer gehofft, ja, 335 felsenfest behauptet hatte. Es ging auf Weihnachten zu, es schneite & schneite, hörte Tag & Nacht nicht auf, es wuchsen an den mühsam freigehaltenen Wegen die Wände in die Höhe, jeden Tag musste man Knechte zum Schaufeln anstellen, außerdem stand Alexander selbst knietief im Schnee und warf die Kristalle, wie er sagte, über & hinter sich. Rahel indes war guter Dinge, bester Stimmung, stellte Weihnachtsgebäck her, als verfügte sie etwa über einen christlichen Haushalt, schickte Alexander mitten durch das verschneite Land zum nächsten Krämer, um Zutaten zu besorgen, mal gingen ihr die Nüsse aus, mal die Mandeln oder der Honig, bunte Schleifchen für den Weihnachtsschmuck, denn obwohl sie jüdisch waren, bedeutete ihnen dieses Fest mindestens so viel wie den absoluten & hundertprozentigen Gojim. Rahel konnte, genau wie ihre Mutter, die aus einem Pastorenhaus stammte, auf der Stelle sowohl jüdisch als auch christlich denken. Beide fanden daran nichts Verwerfliches oder Widersprüchliches, ein Phänomen, über das nicht einmal der Rabbiner, Herr geworden war. Verhielt es sich denn nicht vielmehr so, dass die beiden Religionen im Herzen einander zu ähnlich waren, auf dieselben Wurzeln zurückgingen, den Einen & Einzigen Gott verehrten? Wie zwei Liebende, wie Ingrid & Rabbi Goldmann, die manches trennte, doch das Wesentliche vereinte, und wenn denn schon ein Unterschied bestand, bestehen musste, was konnte er bedeuten angesichts dessen, was sie verband? Sollte nicht lieber das Verbindende denn das Trennende hervorgehoben werden, und gab es damit etwa irgendeine Mühe, einen Nachteil? Der Rabbiner verlangte so viel von seiner Familie, dies musste er ihr lassen, sie brauchten wie die Gojim dieses Puppenspiel, und während er im Studierzimmer über der Thora wippte & murmelte, tanzten seine Mädchen in der Stube um den Weihnachtsbaum wie einst die Juden um das goldene Kalb. 336 Nach den Feiertagen, die das frisch getraute Ehepaar, allein & vollkommen eingeschneit in tiefer Stille verbrachte, in Freude über das eigene, noch in Rahel schlummernde Kind, das strampelte & stampfte, bis sich ihr Bauch mal hier mal dort ausbuchtete und merkwürdige Formen annahm, nach den Feiertagen also, dem Jahreswechsel, nach Dreikönig, fing Alexander wieder seine Gänge zur Hebamme an, die er nicht jedes Mal antraf und dann unverrichteter Dinge heimkam. Rahel schnaufte jetzt schwer, ermüdete rasch, er sorgte sich um sie, wenn er ging, und sorgte sich, wenn er neben ihr saß. Ihre Beine wurden dicker & dicker, ihr Gesicht war aufgedunsen, sie hatte Anflüge von Fieber, Hitzeanfälle, klagte über Kopfschmerzen und übermäßige Schläfrigkeit, sie fühlte sich schwach & krank, konnte nicht mehr lange aufbleiben, aber genauso wenig liegen oder wirklich schlafen, ihre Brüste wurden prall & schwer, auch taten sie ihr weh, kaum brachte sie noch die Knöpfe zu. Sie war nicht mehr in der Lage, sich anzuziehen, sich allein auszuziehen, Alexander half ihr bei allem, beim Kochen, beim Aufstehen & Herumgehen, er massierte ihre Beine, ihren Rücken, wusch ihr die Haare und tat alles, was sie ihm sonst noch anschaffte. Am neunundzwanzigsten Jänner 1935 kurz vor Mitternacht setzte das ein, was man wohl als die gefürchteten Wehen bezeichnen konnte, denn zu beider Überraschung tat Rahel nicht der Bauch weh, sondern der Rücken, es begann zu ziehen im Kreuz, niemand hatte ihnen das gesagt. Alexander war verunsichert, fühlte sich von den guten Geistern verlassen, bereute sogar, so schön es hier war, mit Rahel in diese Einsamkeit gezogen zu sein. Am Morgen des dreißigsten Jänner hatte sich nichts geändert, die Schmerzen kamen - ließen nach, kamen - ließen nach, irgendwann am Vormittag wurden die Abstände zwischen den Krämpfen von Mal zu Mal kürzer. Gegen Mittag stapfte Alexander los, die Hebamme endgültig zu 337 holen, welche ihm diesmal fügsam auf dem Fuße folgte und, kaum angekommen, an Rahel herumzudrücken begann, in sie hineinhorchte, sie herumdrehte, ihr Hörrohr auf den Bauch legte, sie rundherum untersuchte und Alexander um alles Mögliche schickte. Es wurde Nachmittag, kaum, dass es dämmerte, ein langer dunkler Wintertag ging Stunde um Stunde vorüber, ohne dass etwas geschah. Die Wehen wurden wieder seltener, hörten sogar ganz auf. Gegen vier Uhr Nachmittag machte sich Alexander auf, um einen Arzt zu holen, gegen den Rat der Hebamme, die meinte, beim ersten Kind wäre es immer so, und etwas Ungewöhnliches könne sie nicht erkennen. Doch er sah wie Rahel die Kräfte verließen, die rosige Farbe, wie sie blau wurde im Gesicht, schlaff im Bett lag, kaum mehr reden konnte, nur stöhnte & wimmerte. Ihr Haar klebte schweißnass am Kopf, das Hemdchen war klatschnass, er lief ständig um neue Wäsche, heizte zwischendurch ein, während die Hebamme Gelassenheit vorgab. Jetzt holte er die zwei Pferde aus dem Stall, spannte sie vor den Schlitten, wollte versuchen, in den nächsten Ort zu gelangen. Trotz des aufziehenden Sturms hätte ihn nichts & niemand von diesem Entschluss abbringen können. Ein rasender Schneesturm setzte ein, heulte & staubte über die Landschaft, die Pferde schnaubten & wieherten, sträubten sich weiterzuziehen, er sah nichts mehr, verlor bald die Richtung, die Laterne verlosch, doch es gelang ihm, sie wieder anzuzünden. Wie durch ein Wunder verirrte er sich nicht vollends, und als er endlich zu jenem Weiler kam, wo der Arzt wohnte, sah er wirklich noch im Haus des Doktors Licht brennen, Gott sei Dank, er war zu Hause, wach sogar, jetzt würde alles gut, er hatte es geschafft! Doch es öffnete ihm eine überaus grantige Haushälterin, die ihn harsch anfuhr, was man denn um diese Zeit bei diesem Wetter, um Himmels Willen, wolle. 338 Sagen Sie dem Herrn Doktor, meine Frau liegt in den Wehen, schon seit gestern, sie braucht einen Arzt, bitte, ich warte derweil draußen! Rahel Sommerfeld! Er weiß schon! Alexander schnaufte schwer, bekam wegen der hinter ihm liegenden Anstrengung kaum noch Luft, jeder Atemzug schmerzte brennend im Hals. Widerwillig verschwindet sie im Korridor und meldet, im Sturm draußen steht einer, dessen Frau sich ausgerechnet an so einem Tag anschickt, ein Kind zu bekommen. Es geht um Sommerfelds. Sagen Sie ihm, dass ich gerade erst heimgekommen bin und bestimmt nichts mehr tun werde als schlafen. Ich war so lange unterwegs heute, habe noch nichts gegessen, nichts getrunken, wen interessiert es schon von den Leuten, die einen rufen, wie es einem selber geht! Auch die Pferde können nicht mehr, ich werde sie nicht umbringen. Sagen Sie ihm, seine Frau wird ihr Kind ohne mich kriegen, ich habe sie schon vor Wochen untersucht, es ist alles in Ordnung. Mit diesen Worten ließ er sich aufs Bett fallen und schlief augenblicklich ein, obwohl er gerade noch nachtmahlen wollte. Alexander hörte draußen im Gang Wort für Wort, denn der Doktor schien es extra laut und eigentlich an ihn gewandt zu sagen. Da hören Sie‘s, ruft die Angestellte von drinnen heraus. Alexanders Bitten & Flehen blieben auch das zweite und das dritte Mal unerhört, er bot viel, sehr viel Geld an, versprach einen Nerzmantel, Schmuck, was immer sie verlangten, für die Frau des Arztes, die Köchin, ach, ob er denn nicht wisse, dass der Herr Doktor Witwer sei! Das auch noch! Es war alles gegen ihn! Das Wetter, die Zeit, es gab keine Rettung! In Gottes verschneiter, grausamer Welt fand er keine Hilfe in dieser Nacht, so sehr er sich auch mühte, so viel er auch bettelte & versprach. Es hätte nichts genützt, seinen Kopf auf einem goldenen Tablett darzubringen, sich auf die Knie zu werfen, es war aus, war aus. Schließlich schob ihn die Haushälterin grob & eigenhändig hinaus, knallte die 339 Tür vor ihm zu, löschte das Licht im Gang, nichts mehr als Stille, Kälte, Dunkelheit, sie kam kein weiteres Mal mehr heraus. So machte Alexander sich zutiefst enttäuscht, voller Angst & Ungewissheit auf den Heimweg. Vielleicht war dort die Lage inzwischen ganz verändert, er hoffte auf Besserung, auf die Hebamme, die doch schließlich ihren Beruf verstehen musste. Tausend Gedanken & Erwägungen gingen ihm durch den Sinn, der Sturm hatte nachgelassen, es fing an zu gefrieren, der Schnee war bereits harsch, eisiger Wind fegte Schneefetzen schlierig & flach über den Boden, die Pferde schossen jetzt leicht dahin, unter den Kufen des Schlittens gab es nun ein messerscharfes Geräusch. Knapp vor Mitternacht kehrte er zurück. Ohne sich um die schwitzenden Pferde zu kümmern, eilte er hinein, doch, als er das Haus betrat, schlug ihm eine seltsame, schwere Stille entgegen. Beim Eintreten ins Schlafzimmer traute er seinen Augen nicht, das Schlimmste, das Unvorstellbare schien Wirklichkeit geworden zu sein. Rahel lag reglos & totenblass mit tiefblauen Lippen & aufgerissenen, starren Augen auf dem über & über blutigen Lager. Sie versuchte, ihm die Hände entgegenzustrecken, vermochte es jedoch nicht, bewegte tonlos den Mund, während neben ihr eingepackt & friedlich das Neugeborene schlief. Aus ihrem Unterleib quoll in Schüben dickes, dunkles Blut, schwarz wie erkaltende Lava beinah, dazwischen schoss frisches, hellrotes daher, fast wie aus einer aufgeregt sprudelnden Quelle. Die Hebamme hatte alle Tücher & Fetzen, die sie fassen konnte, in Rahel hineingestopft, presste sich mit dem ganzen Gewicht dagegen, hatte schon auf jede erdenkliche Weise versucht, die Blutung zum Stillstand zu bringen, es sollte ihr nicht gelingen, es konnte ihr nicht gelingen. Alexander beugte sich über Rahel, nahm ihren Kopf in seine Hände, hob ihn auf, drang mit seinem Blick in ihre Augen. Sie versuchte wohl tapfer zu lächeln, es wurde zu einer grausigen Grimasse, ihre Haut, ihre Hände waren kalt wie Eis, obwohl der 340 Ofen neben ihr lichterloh brannte, es im Zimmer schier unerträglich heiß war, doch Rahel konnte diese Wärme nicht mehr in sich aufnehmen, sie hatte ihre Kraft verloren, war zu Tode erschöpft, schien nur noch auf Alexander gewartet zu haben, begann sich fast erleichtert von ihm zu verabschieden. Dann, ………….., dann schaute sie ihn plötzlich verloren & leer an, nein, sie schaute ihn nicht mehr an, Gott weiß, wo sie hinschaute, sie hatte aufgehört zu leben. Er begriff nicht gleich, dass ihre Augen nicht ihn, nicht das Baby, nichts mehr auf der Welt sahen, sondern bereits die Ewigkeit. Als er dies endlich gewahrte, legte er langsam ihren, jetzt unendlich schweren Kopf zurück auf das nasse, erkaltete Kissen. Er starrte auf Rahels Gesicht, das blutdurchtränkte Bett, den reglosen Körper, er spürte, wie ihm schlecht wurde, er kniete nieder, begann zu zittern, zu schreien, hörte seine Stimme nicht, dennoch schrie er ihren Namen, schrie ihn durch das Haus, die Winternacht, die schreckliche Einsamkeit, schrie ihn durch Zeit & Raum, schrie, schrie, als könnte er sie dadurch aufwecken, zurückrufen in sein Leben, diesen Alptraum beenden, schrie, als müsste er jetzt & jetzt zerspringen, die ganze Welt, Himmel & Erde, die Sterne, den Winter innewerden lassen, welches Unglück, welcher Schlag, welches Schicksal ihn, Alexander Sommerfeld, in dieser Nacht getroffen hatte. Raaaaheeeeellllll!!!!!!…………Raaaachhelllllllllll…………. Raaaaheeeeellllllll……………….Raaaachelllllll!!!!!!!! Von den Schreien aber wachte jetzt das Neugeborene auf, erschrak zum ersten Mal auf dieser Welt bis in seine kleine Seele hinein und begann bitterlich & unstillbar zu weinen, zu schluchzen, zu zittern, um Luft zu kämpfen. Es hatte nach der Anstrengung seiner Geburt nichts ahnend & selig geschlafen, bis es vom Schmerz des Vaters aus der warmen Sanftheit, in der es weilte, in die grausame Wirklichkeit seines 341 soeben begonnenen Lebens geholt wurde. Keine zwei Stunden nach seinem ersten Atemzug erfuhr dieses Kind, dass etwas Furchtbares passiert sein musste, etwas Großes, Schweres, Trauriges, doch was geschehen war, konnte es nicht begreifen, und doch muss es zuinnerst erschüttert gewesen sein. Es war auf die Welt gebracht worden und hatte im selben Augenblick die Mutter verloren. Dieses Ereignis, dieses wortlose Leid sollte sein ganzes Leben, sein ganzes Schicksal bestimmen, genau wie das seines Vaters. Alexander schickte die Hebamme fort, sie wollte bleiben, das ihre, wie sie meinte, noch tun, die Tote waschen und frisch betten, doch Alexander schob sie weg, denn er gab ihr innerlich die Schuld an Rahels Tod, genau wie dem Arzt, der nicht mit ihm gegangen war. Er klagte Gott und die Welt an, er hatte mit einem Mal nichts mehr, denn er hatte alles, er hatte Rahel verloren. Die Tränen rannen ihm aus den Augen, der Nase, dem Mund, er ging über, es strömte aus ihm heraus, so übermäßig viel, er weinte & weinte, seufzte, wischte vergeblich. Er versuchte sogar aufzuhören, doch es gelang ihm nicht, in ihm weinte es von selber, in ihm war etwas zerbrochen. Die Zeit stehen geblieben, die Uhrzeiger zu Boden gefallen, die Erde hatte aufgehört, sich zu drehen, die Sterne zu leuchten, das Wasser zu rinnen, die Sonne zu scheinen. Und doch kam ihm ganz, ganz langsam und fast unhörbar leise ein unendlich süßer, ein unendlich tröstlicher Gedanke. Er nahm das Baby auf den Arm, schaukelte es, steckte ihm einen Finger in den Mund, es saugte kraftvoll, hörte nach & nach zu weinen auf. Er legte es vorsichtig neben Rahel, sich selbst neben den Kleinen, und so blieben sie die ganze Nacht beieinander liegen. Er schlief kein Augevoll. Die beiden neben ihm waren still & friedlich, das Neugeborene gab schon wie ein kleines Kraftwerk eigene Wärme ab, die Tote erkaltete mehr & mehr. Eine unendliche Ruhe legte sich über sie und die Nacht. Wir waren eine richtige kleine, neue Familie für eine Nacht, eine 342 einzige, eine allereinzigste Erdennacht. Ich umarmte euch beide, ihr wart meine Familie. Du solltest wenigstens für eine einzige Nacht in deinem ganzen Leben, in das du mutterlos geworfen wurdest, eine Mutter gehabt haben. Du hast mich, als du dich beruhigt hattest, ganz lieb angeschaut, so als würdest du alles verstehen. Viel später wusste ich, wie sehr du alles schon verstanden hattest, denn es gab kein zweites Kind wie dich an keinem Tag deines Kinderlebens und an keinem anderen, den ich mit dir verbringen durfte. Am nächsten Morgen habe ich Deine Mutter gewaschen, angezogen, so schön als es ging, als es mir gelang, ich habe dir alles erklärt, und du hast alles gehört, hast aufgepasst, das konnte man deutlich sehen, du hast mich still und klug angeschaut, genau wie deine Mutter es immer getan hatte, wenn ich mit ihr sprach, so als wolltest du sagen, mach dir keine Sorgen, es wird schon gehen, wir schaffen es, du wirst sehen. Und ich fragte dich sogar: willst du mir und deiner Mutter ein guter Junge sein?, sagte dir, dass du nun mein ein & alles bist, ich für nichts und niemanden mehr da sein werde als für dich, dass ich immer gut für dich sorgen werde, versprach dir, niemals zu heiraten, nichts anderes zu sein als dein Vater und deine Mutter. Dann musste ich mich aufmachen, um die Dinge in die Wege zu leiten, die getan werden mussten, zu allererst Rahels Eltern die Todesnachricht bringen. Von der Hebamme wusste ich, dass man einem kleinen Kind Tee geben konnte, das tat ich. Danach nahm dich mit, du gabst mir Mut und Kraft, du warst brav und verständig, du weintest nicht, und ich durfte es auch nicht mehr, für dich, wegen dir. Ich hatte jetzt einen Sohn. Ich war Vater geworden, ich hatte deine Mutter, meine Frau, ich hatte Rahel verloren, aber sie würde trotzdem bei uns sein, ich würde ihr immer alles erzählen, das beschloss ich an jenem Morgen, es war mir, als hätte sie selbst mir diese Idee eingegeben, hatte es ihr noch in der Nacht, als sie noch 343 bei uns lag, versprochen, und so hielt ich es zu allen Zeiten, ihr alles zu erzählen, meine ich, und nur noch für dich da zu sein. Sie wusste immer ganz genau, was du heute gemacht hast, als du deine ersten Worte sagtest, deine ersten Schritte gingst, dein erstes Lächeln, dein erster Schultag, dein erstes Sehr gut. Sie war immer neben mir wie in jener Nacht, auch wenn nur ich sie sehen konnte. Und von Tag zu Tag wurdest du ihr ähnlicher. *** Sie nannten es „Insertio vellamentosa“, dieses Wort konnte ich nicht vergessen, würde er ihm eines Tages sagen, und der junge Alexander wusste schon durch dieses Wort, was es bedeutete. Die Nabelschnur ist zu kurz, in diesem Fall reißt das Kind in der Austreibungsphase der Geburt den Uterus mit, die Gebärende verblutet, es gibt keine Rettung, nicht unter solchen Umständen. Sein Sohn Alexander hat es ihm Jahrzehnte später so und viel genauer erklärt, sein Sohn, der nun selber Arzt war. *** Der kleine Alexander, sein Name war der Wunsch Rahels gewesen, so wollte es der Brauch, der erste Sohn sollte wie der Vater heißen, das erste Mädchen wie die Mutter, Alexander der Kleine also wurde zunächst mit gewässerter Kuhmilch & Mehl gesättigt. Rahels Eltern brachen zusammen, als Alexander ihnen die Todesnachricht überbrachte. Der Rabbiner ging im Kreis, tobte, schrie, kniete nieder, riss an seinem Schwiegersohn herum, schlug auf ihn ein. Ingrid aber fasste sich schnell, nahm das Kleine unendlich zärtlich in die Arme, erkannte sofort ihre Tochter im ruhigen, noch blassen Gesichtchen des Säuglings, küsste ihn auf die Stirn, die Nase, die 344 Augen, kümmerte sich gleich um ein Fläschchen, lief zur Nachbarin, die vor kurzem eine Geburt gehabt hatte, kam nicht mit leeren Händen zurück. Bald war das bescheidene Rabbinerhaus voll von Frauen, langsam kamen auch die Männer nach, spähten herein, traten scheu über die Schwelle, stellten sich voller Ehrfurcht einer dicht neben dem anderen in der Stube auf. Alle versuchten zu helfen, zu trösten, Angebote zu machen; fast jede brachte etwas mit, Wäsche, Milch, alle erdenklichen Ideen wie: auf das Kleine aufzupassen, es in der Nacht herumzutragen, alle möglichen & nötigen Arbeiten zu erledigen, weil Ingrid sich nur um das Kind kümmern sollte, sich immer wieder ausruhen können musste, sie, die jetzt Großmutter & Mutter in einem war, damit sie ja die Kräfte nicht verließen. Sie hätte Tag & Nacht keinen Finger mehr zu rühren brauchen, und ihrem ersten, und wie sich später herausstellte, einzigen Enkelkind, hätte es trotzdem an nichts gefehlt. Als Alexander, der in einen Kampf mit dem Schwiegervater verwickelt war und nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand, dies sah, da wurde es ihm leichter ums Herz. Dieses kleine Kind war, wie es aussah, bestens versorgt, und trotz des Leids, der Sorge, des Schocks erfasste ihn doch bald ein Gefühl besonderen Glücks. Rahel hatte ihn nicht allein gelassen, sie half ihm gleichsam durch ihre Mutter, als wäre sie selber anwesend, und langsam, ganz langsam begann sich die Unerträglichkeit des Unglücks, das so jäh über Alexander hereingebrochen war, in Zuversicht, ja Freude zu verwandeln. Das unendliche Glück, ein Kind zu haben, ein kleines Neugeborenes, für es verantwortlich zu sein, einen Grund zum Weiterleben zu haben, kam Alexander jetzt vor, als hätte Gott der Herr ihm mit diesem Schicksal auch dessen Heilung mitgeschickt. Er hatte zwar keine Frau mehr, doch war er nicht allein. Es gab für ihn nichts anderes mehr, als für das Kleine zu sorgen, er durfte keine Gedanken verschwenden an irgendetwas anderes, nicht 345 mehr an sich denken, sondern nur noch an seinen winzigen Buben. Welchem Neugeborenen könnte es besser gehen als diesem, das gerade seine Mutter verloren hatte?, so dachte er. Hätte ihm diese Tatsache gestern um dieselbe Zeit jemand gesagt, er hätte es nicht geglaubt. Ingrid nahm ihn zärtlich zur Seite, erklärte ihm den Unterschied von Mann & Frau auf ihre Weise, entschuldigte damit den Rabbiner, nahm ihn in Schutz, denn beim besten Willen, er konnte nicht anders, konnte nichts weiter als hilflos & verzweifelt sein, aber sie würde ihrem schwierigen Gatten zu gegebener Zeit auseinandersetzen, dass es selbstverständlich nicht Alexanders Schuld war, sondern Gottes Wille, darauf könne er sich verlassen. Rahel trug eben diesen Fehler in sich, und hätte sie ein Kind von einem anderen Mann bekommen, es wäre dasselbe gewesen. Dies sagte ihm seine medizinisch völlig ungebildete Schwiegermutter schon damals. Alexander sollte sich später über diese Aussage seiner Großmutter besonders wundern. Mit welcher Treffsicherheit, mit welchem Instinkt sie diesen Defekt erkannt hatte! Diese einfache Frau, die nicht studiert & gelehrt war wie ihr Mann, der sich in allen Lebenslagen, bei allen Problemen auf seine Bücher verließ, behielt die Übersicht, verurteilte niemanden, war gerecht wie ein guter Richter, wie ein weiser Rabbi, behielt kühles Blut im eigenen Schmerz um den Verlust ihrer Tochter. Sogar die kleine Schwester Marie, die jetzt dreizehn Jahre zählte, verstand mehr als ihr Vater, der nur an Rache dachte, mit seinem Schwiegersohn wie Seinem Gott gleichermaßen haderte. Marie stand mit aufgerissenen Augen daneben, konnte nicht fassen, dass ihre geliebte, über alles geliebte, große Schwester, nie mehr kommen würde. Sie erinnerte sich, wie Rahel ihr damals gesagt hatte: was mir gehört, gehört auch dir, ich will alles mit dir teilen, du kannst immer zu mir kommen, pass auf unsere Eltern auf, wenn ich nicht 346 da bin, und, was immer geschieht, pass auf alles und alle auf. Das hieß doch wohl auch, dass sie sich, natürlich mit ‚Mammele‘ zusammen, um das Baby kümmern durfte, sollte, musste. Alexander ließ den kleinen Alexander bei seinen Schwiegereltern, und wenn auch Marie jetzt ihre Schwester verloren hatte, so beugte sie sich wie ihre Mutter unendlich glücklich über das Kind, das sie jetzt im Hause hatten, Rahels Kind. Was mir gehört, gehört auch dir… . Marie ging ihrer Mutter von der ersten Stunde an zügig zur Hand, lernte rasch, damit umzugehen, lebte für die neue Aufgabe, die ihr wichtiger war als die Schule, die Freundinnen, als alles, was es sonst noch geben mochte, wichtiger sogar als ihr eigenes Leben. In der Sorge um den kleinen Alexander reifte Marie schnell heran, wurde nicht einmal heimgesucht von den Leiden des Erwachsenwerdens, sondern schlüpfte vom Nesthäkchendasein direkt in die Rolle der verantwortungsvollen und überaus besorgten Tante. Marie vergaß darüber sich selbst, verzehrte sich nicht wie ihre Freundinnen nach der ersten großen Liebe, ging nicht auf Tanzveranstaltungen, Feste, schmuste nicht heimlich in dunklen Ecken, sondern beschäftigte sich nur mit ihrem & Rahels Baby. Der Rabbiner aber erholte sich von diesem Schicksalsschlag nicht mehr, er hörte auf zu reden, zog sich zurück, auch aus der Öffentlichkeit. Es traf ihn zu sehr, dass sich seine Befürchtung, seine Ahnung, wonach Rahel wegen ihres tödlichen Namens auf die exakt gleiche Weise wie ihre biblische Namenspatronin sterben musste, bewahrheitet hatte. Er verfügte über keine Kraft mehr, mit etwas dieser Größe fertig zu werden. Zu lange hatte er sich mit jener fixen Idee beschäftigt, immer trug er sie im Hinterkopf, gerade so, als hätte er auf die Erfüllung seiner eigenen Prophezeiung gewartet, als wäre es sein persönliches Los gewesen, es von Anfang an zu wissen und doch nichts dagegen tun zu können. Ein Jahr nach der Geburt seines Enkels, ein Jahr nach Rahel starb auch er. 347 Seine Frau meinte, er habe schon bei der Todesnachricht den Verstand verloren, konnte danach keinen klaren Gedanken mehr fassen, verwand den Tod von Rahel nicht. Immer & immer wieder konfrontierte er sie mit dem Vorwurf, der sie jetzt verbitterte, denn nur ein einziges Mal hatte sie sich gegen ihn durchgesetzt, als sie sich gewünscht hatte, dass ihr erstes Kind Rahel heißen sollte. Schon als Mädchen war sie in diese Rahel und ihre Liebesgeschichte mit Jakob verliebt gewesen, sogar in deren beide Kinder Joseph & Benjamin, bei dessen Geburt die biblische Rahel gestorben war, was dem, schon betagten Jakob, das Herz gebrochen hatte. Aus eben diesem Grund wollte der Rabbiner nicht, dass eines seiner Kinder ausgerechnet Rahel heißen sollte. Obwohl er nicht abergläubisch war, ja sogar äußerst streng gegen jede Art von Aberglauben & Wahrsagerei wie er dies bei anderen Leuten nannte, gegen Quacksalber, Hexen, Geisterei und was es sonst noch alles gab, ins Feld zog, so schien er doch in diesem Fall nicht davon abzubringen zu sein, dass ein Name wie Rahel ein schlechtes Omen sei. Schweren Herzens hatte er damals Ingrid ihren Willen gelassen, hinter ihr lagen immerhin ein halbes Dutzend Fehlgeburten, zum Schluss drei Todgeburten. Sogar seine Kollegen, die Nachbarn, Juden wie Christen, standen auf der Seite Ingrids, die ihrer aller Meinung nach, genug gelitten hatte, um diesen Wunsch äußern zu dürfen und erfüllt zu bekommen. Er musste sich diesem Druck beugen und gegen jede Vernunft‚ ja - wider besseres Wissen, wie er meinte, nachgeben. Tatsächlich wurde schon die allerkleinste Rahel sein ein & alles, ein Kind, das den Nachteil, ein Mädchen zu sein, sogar in seinen strengen Augen, mit Leichtigkeit ausglich. Sie war nicht nur auffallend klug, sondern blitzgescheit, hatte keine Mühe in der Schule jemals. Sie steckte jeden Jungen, so dachte sogar der Rabbiner, mühelos in die Tasche. Die Buben, die er in der Judenschul‘ unterrichtete, waren oft 348 begriffsstützig, langsam, faul, desinteressiert, kamen nur, weil sie mussten. Nicht so Rahel, die flugs die alten hebräischen Texte lernte, sie herunterratschte, den weniger begabten Schülern half, ohne überheblich zu sein. Die Lehrerinnen waren angetan von ihr, sie durfte aufs Gymnasium nach Malmö gehen, ein Problem zwar für die finanziellen Verhältnisse des Haushalts, aber Grund zu Stolz & Freude bei ihren Eltern. Als sie alt genug war, übersiedelte sie nach Stockholm, um Deutsch und die Alten Sprachen zu studieren. Sie hatte keinen Augenblick gezögert, sich für diese anspruchsvollen Studien zu entscheiden, denn wenn sie etwas konnte, dann war es jede Menge auswendig zu lernen, sich unbändig viel zu merken. Auch auf der Universität fiel sie bald als besonders aufmerksame & fleißige Studentin auf, avancierte im Nu zum Liebling der Professoren, war immer eifrig bei der Sache, strich einen Prüfungserfolg nach dem anderen ein. Doch dies war längst nicht alles, denn bald sollte sie ihren späteren Ehemann Alexander Sommerfeld kennenlernen, der ihr in allem beistand, vor allem materiell, sie als das Juwel erkannte & liebte, das sie für ihn wurde, die einzige, wirklich große Liebe, die erste & letzte seines Lebens. Diese gemeinsamen Jahre waren seine wie ihre allerschönsten, und was sie nicht einmal wussten, ihre einzigen. Denn wie alle Verliebten meinten sie, es lägen unendlich viele glückliche Jahre vor ihnen, sie hätten jede Menge Zeit und keine Eile. Und doch gab es eine feine Linie in ihrer Beziehung, die in Wirklichkeit keine Pause, keine Unterbrechung des Zusammenseins zuließ, die sie, wenn sie sich denn trennen mussten, auf schnellstem Wege wieder vereinte, so als gäbe es einen Plan, ein Ziel, eine begrenzte Weile in der vermeintlichen Ewigkeit der Liebe. Wenn sie diese Seite ihres Aufenthalts in Stockholm auch zu 349 Hause zunächst & tunlichst verheimlichte, ihre Verliebtheit nicht zeigen & eingestehen durfte, diese Jahre in Stockholm waren das größte Glück, das sie auf Erden erfuhr. Zuerst war sie schüchtern & eigensinnig gewesen, verzopft & verängstigt, verfügte über keinerlei Aufteten in der Gesellschaft, hatte bisher nur Lernen, Hausarbeit, Gehorchen gekannt, das ständige Gefühl der Schuldhaftigkeit des menschlichen Daseins, der Sünde, des Nichtgenügens, wie es im Haus ihrer Eltern, ihres Vaters, des Rabbiners, üblich war. Obwohl verschroben und höchst altmodisch erzogen, wurde aus ihr an Alexanders Seite bald eine elegante, selbstsichere junge Frau, die an erotischen Erfahrungen durchaus interessiert war, sogar die Sexualität mit ihrem Geliebten genoss & auskostete, sie nach & nach brauchte & forderte. Alexanders finanzielle Unabhängigkeit sicherte ihnen und vor allem Rahel die nötige Diskretion. XV Nach Rahels Tod ein neues Leben Jetzt aber, nach ihrem plötzlichen Tod, kehrte Alexander zurück in das, erst vor kurzem erworbene und schon wieder leere Haus in der Nähe von Växjö. Die ersten Tage & Nächte waren schrecklich, er fand keinen Schlaf, keine Ruhe, machte sich wieder & wieder auf zu den Schwiegereltern, bei denen er den neugeborenen, winzig kleinen Alexander zurückgelassen hatte und konnte ihn doch nicht zu sich nehmen, was er am allerliebsten getan hätte. Anfangs warf ihn sein Schwiegervater jedes Mal hinaus, bis auch dieser einsah, dass er dazu kein Recht hatte. Ingrid, die mit ihrem Mann darüber in Streit geriet, was Alexander zutiefst bedauerte, jedoch nicht ändern konnte, brachte ihn 350 schließlich zur Vernunft. Es beruhigte ihn, zu sehen, wie gut der Kleine versorgt wurde, wie viele helfende Hände zur Stelle waren, ja, es sah fast aus, als hätte die ganze Ortschaft beinah auf dieses Ereignis gewartet, um eine gemeinsame Aufgabe zu haben, sich nützlich zu machen, endlich mit dem Rabbinerhaushalt zusammen zu wachsen. Alle waren ausgelastet mit ihrem eigenen Leben, hatten Sorgen genug, doch in diesen Tagen, aus denen Monate & Jahre wurden, schien es nichts anderes zu geben als Rahels Baby. Man wechselte sich ab, die Männer beteiligten sich auf ihre Weise, übernahmen Arbeiten, die sie früher nie gemacht hätten, taten sich hervor mit Einfällen & Vorschlägen, brachten Gefäße voller Muttermilch von dort nach da, ließen auch gerne den Stammtisch ausfallen. Immer hatte jemand Dienst für dieses und jenes, wurde hierhin & dorthin geschickt, genierte sich nicht, Weiberarbeiten zu übernehmen. Die Männer wurden verständiger gegenüber den eigenen Frauen und deren Mühsal mit den Kindern, waren auf einmal heilfroh über ihre eigene Situation, denn wie Alexander Sommerfeld wären auch sie verloren gewesen ohne ihre Ehefrauen, mit einem Kleinkind, ganz allein. Es musste scheinbar diese Katastrophe geben, damit sie begriffen, was es bedeutete, Kinder in die Welt zu setzen. Der eine oder andere ging in sich, mit einem Freund oder einfach dem Nachbarn ins Gericht, sprach ihn direkt auf die sexuellen Gelüste, die Verantwortungslosigkeit, die diesen Trieben inne-wohnt, an. Es herrschte plötzlich Offenheit in den bisher geheimsten Dingen. Es gab etliche Männer, die bereits zum zweiten oder dritten Mal verheiratet waren, weil ihre Frauen im Kindbett gestorben waren, sie erinnerten sich jetzt, wie es ihnen damals ergangen war, gelobten Besserung, änderten sich nach & nach zu ihren und ihrer Familien Gunsten. 351 So wurde Alexander der Kleine nicht nur von seiner Großmutter aufgezogen, sondern war, wie er später selber erzählen sollte, das erste Kind in Schweden, das im Kollektiv aufwuchs. Er wurde selbstverständlich in fast alle Häusern getragen, blieb mal hier mal dort, lief bald selber überall ein & aus, besonders, als kurz nach seinem ersten Geburtstag, der Großvater gestorben war. Nach diesem, zwar traurigen, aber in vieler Hinsicht befreiendem Ereignis war seinem Bewegungsdrang keine Grenze mehr gesetzt, jeden Tag wurde er mehrmals aus verschiedenen Gärten & Richtungen zurückgebracht. Nicht selten saß er irgendwo im Stall, bei den Schweinen in der Koppel, mit den Hühnern auf Feld, neben oder mitten auf dem Weg nahe der nächsten Ortschaft bereits. Seine Oma lief ihm vergebens hinterher, kaum hatte sie sich umgedreht, war er schon wieder über alle Berge. Ihre Beine trugen sie immer schlechter, so hatte er leichtes Spiel. Diese Jahre sollten später zu Alexanders glücklichsten gehören; auch wenn er sich kaum erinnerte, so blieb ihm doch ein Gefühl großer Geborgenheit aus jener frühen Zeit, denn sein Vater erzählte ihm davon so bunt, so farbig, dass es einer persönlichen Erinnerung recht nahe kam. Noch bevor er zur Schule gehen musste, als die Formalitäten dafür bereits erledigt waren, starb seine Großmutter an einer Grippe, aus der schließlich eine Lungenentzündung geworden war, und dies war der Tag, an dem Alexander zu seinem Vater kam, der nun allein für ihn sorgte. In diesen vergangenen Jahren hatte er ihn unzählige Male besucht, ihm von überall Kleider & Schuhe, Spielsachen, Geschenke gebracht, bei ihm geschlafen, mit ihm gespielt, für ihn Vermögen angehäuft, sich nach ihm gesehnt, war unvermittelt draußen gestanden, ohne eine Vorankündigung, einfach, weil er seinen & Rahels Sohn sehen wollte, Rahels Sohn, sagte er oft, was nicht jeder gleich verstand, doch für ihn, für ihn war es eine Gelegenheit, sie beim Namen zu nennen, in aller Öffentlichkeit 352 sogar, denn Rahel gab ihm Kraft & Sicherheit, Rahel, die er in seinem Herzen, seinem Sinn immer bei sich trug. Vor allem Aexanders Geburtstag, den dreißigsten Januar, Rahels Sterbetag zugleich, versäumte er kein einziges Mal, egal wie viel Schnee es gab, welcher Sturm auch toben mochte. Diese Winternacht war sein Ashram geworden, sein Himmelsschrein, Gedenktag des größten Schmerzes wie der höchsten Freude. Er hat dafür geschäftliche Treffen verschoben, Auslandsreisen abgesagt, dann ab einem bestimmten Zeitpunkt war es aus politischen Gründen ohnehin nicht mehr möglich, das Land zu verlassen, sich in Gefahr zu begeben, zu groß wurde seine Furcht, damit seinen Jungen zu gefährden. Mit dem Tod seiner Schwiegermutter ergriff ein Gedanke von ihm vollkommen Besitz, ein Gedanke, der ihn nie mehr losließ. Ihm, dem alten Sommerfeld durfte nichts zustoßen, nicht um seiner selbst Willen, sondern, weil er jetzt Vater war, sein einziges Kind keine Mutter hatte und jetzt auch keine Großeltern mehr. Als die Beerdigung von Ingrid vorüber war und der Haushalt in Växjö aufgelöst, als Marie, seine, inzwischen neunzehnjährige Schwägerin, des kleinen Alexanders Tante also mit ihrer Mutter auch ihr Zuhause verloren hatte, sich ihren eigenen Lebensunterhalt suchen, das Rabbinerhaus verlassen musste, sich entschloss, Lehrerin zu werden und nach Uppsala ging, da holte er zum ersten Mal seinen Jungen zu sich nach Stockholm. Selbstverständlich trug er sämtliche Kosten von Maries Studium, unterstützte sie, bis sie auf eigenen Beinen stehen konnte. An einem Spätsommerabend des Jahres 1941 fuhren Vater & Sohn mit dem Zug in die Hauptstadt. Im Koffer befanden sich Alexanders Habseligkeiten & Erinnerungen. Der erste Abschnitt seiner Kindheit war zu Ende. Er schaute aus dem Fenster, als der Bahnwärter pfiff, niemand stand mehr auf dem Bahnsteig, niemand winkte ihnen, sie waren allein. An diesen Blick aus dem Fenster erinnert sich Alexander sein 353 ganzes Leben. Schwer & langsam setzt sich der Zug in Bewegung, schwarze Wolken steigen auf, und als hätte der Bub die Tragik des Moments verstanden, begann er leise zu weinen. Europa befand sich im Krieg. Deutschland war vor wenigen Wochen in Russland einmarschiert, nicht weit von der schwedischen Grenze entfernt, wurden Schlachten geschlagen. Die Welt hatte sich, seit Rahel nicht mehr lebte, vollständig verändert. Es kamen nur noch traurige & beunruhigende Meldungen über das Radio. Dennoch war Alexander glücklich, überglücklich, dieses Kind bei sich zu haben, neben sich schlafen zu sehen, atmen zu hören. Wenn Rahel sie beide sehen könnte! Doch Rahel sah sie bestimmt. Denn irgendwann vor Jahren bereits war dem alten Herrn Sommerfeld, der er jetzt war und wie er sich selber gerne nannte, diese überaus wichtige, große Idee gekommen. Er hatte auf einmal wirklich begonnen, mit Rahel zu reden, ihr zuerst das eine oder andere, später immer mehr und schließlich so gut wie alles zu erzählen. Anfangs hatte er sie nur bei Unsicherheiten konsultiert, ob er lieber dieses Geschäft oder jenes abschließen sollte, wann er am besten reisen könnte, doch die Gespräche wurden immer länger, immer umfangreicher, immer persönlicher, am Ende ging es fast nur noch um das Kind. Seit er den Buben nun bei sich hatte, vergaß er vorübergehend fast auf Rahel, sie war ja jetzt in Alexanders Gestalt bei ihm, als etwas Lebendiges, das mit ihm leibhaftig redete, sich von einer auf die andere Seite drehte, im Schlaf seufzte, träumte, sogar lachte. Nächtelang lag er wach, um diesen Anblick zu genießen, mit Rahel auf diese Weise eins zu sein, und doch mit Alexander zu sprechen, nein, zu flüstern, denn er durfte ihn ja nicht wecken. Er war kein Phantom, kein Geist, sondern ein lebendiges Wesen, kein Foto, sondern jemand, mit dem er sich bis zum Einschlafen 354 unterhalten konnte, war nicht eins von Rahels Kleidern, das er neben sich legte, er sprach nicht mehr mit der Fensterscheibe, durch welche das Mondlicht fiel, sondern mit einem kleinen und doch schon großen Knäblein, das gleichsam zu ihm gehörte. Natürlich bemerkte Alexander bald, wie sein Vater neben ihm betete, offenbar mit noch jemandem redete. In Wahrheit waren sie beide in Gedanken immer beieinander gewesen, denn wie er, was er auch tat, wo er auch war, an sein Kind dachte, dachte dieses dauernd an ihn. So oft er sich auch losgerissen hatte von seinen Verpflichtungen, es war, das wussten beide, ganz wenig, viel zu wenig gewesen, denn sie wollten nichts lieber, als immer beisammen sein. Für Alexander, der seine Mutter nie gekannt hatte, war sein Vater alles. Seine Großmutter, die er innig liebte, schien ihm, so meinte er später oft, schon ein bisschen alt gewesen, und als er noch ganz, ganz klein war, ahnte er bereits, dass sie ihn nicht lange würde begleiten können, denn Kinder haben ein gutes Gespür für das Alter, für die kleinen Gebrechen, und alte Menschen werden in ihrer zunehmenden Hilflosigkeit den Jungen wieder ähnlich. Was sie vor Erwachsenen verbergen konnte, gelang ihr vor ihrem Enkel keineswegs. Wie oft hatte er sie schwer schnaufen gehört in der Nacht, die Schmerzen, die sie plagten, ließen sie schlecht schlafen, so war sie auch tagsüber manchmal zerfahren, vergesslich, hin & wieder verwirrt, übermäßig müde. Es wurde ihr oft alles zu viel, und obwohl sie es vor den anderen verheimlichen konnte, noble wie harmlose Ausreden für persönliche Katastrophen parat hielt, kannte Alexander, der längst neben ihr im Ehebett schlief, als wäre er ihr eigener Mann, ihre Leiden, wusste, dass sie auf das Lebensende zuging, der Tod vor der Tür stand und bereits ungeduldig wartete. Wäre er nicht gewesen, hätte sie sich nicht so lange aufrecht halten können oder müssen, doch große Aufgaben rufen außergewöhnliche Kräfte herbei, holen aus jemandem das letzte 355 heraus. Als einmal der Arzt in der Nacht kommen musste, weil es ihr so schlecht ging, sie kaum noch Luft bekam, die Schmerzen unerträglich geworden waren, ihre andere Tochter Marie verzweifelt hin & her lief, saß Alexander aufrecht mit aufgerissenen wachen Augen neben ihr im Bett und beobachtete aufmerksam die Handlung des Arztes. Sogar seine kranke Großmutter musste lachen, weil der Kleine sich mit Fragen & Vorschlägen einmischte. Zuerst reagierte der Arzt unwirsch & entnervt, bis er bemerkte, dass er es mit einem ungewöhnlich aufgeweckten Kind zu tun hatte. Er drehte sich also langsam zu ihm, schenkte diesem überaus wachen kleinen Buben auf einmal seine ganze Aufmerksamkeit, sah ihm verwundert & tief in die Augen und kam zu dem Schluss, dass es besser sei, ihn einzubeziehen, als zu versuchen, ihn abzuwehren, denn an diesem langen Tag, an dessen Ende die Visite bei Frau Goldmann stand, hatte er nicht mehr die Kraft, eine Nebenfront zu eröffnen, entschied sich für den friedlichen & diplomatischen Weg. Du bist wohl ein ganz schlaues Kerlchen, wie mir scheint? Was hat meine Oma? Das kann ich nicht genau sagen. Aber Sie sind doch ein Arzt? Ja, aber das heißt nicht, dass ich alles weiß. Nicht alles, aber was ein richtiger Arzt wissen muss. So, so. Was muss denn ein richtiger Arzt alles wissen, deiner Meinung nach? 356 Muss sie bald sterben? Nein, nein. Aber, wenn Sie nicht wissen, was sie hat, wie können Sie ihr dann das richtige Medikament geben und wissen, dass sie nicht bald sterben muss? Gott im Himmel, Junge! Ich gebe ihr etwas gegen die Schmerzen, gegen die Atemnot, für den Kreislauf, etwas zum Schlafen. Das ist aber ganz schön viel. Ja, am Ende kommen bei alten Leuten oft recht viele Dinge zusammen. In Wirklichkeit ist meine Oma einfach schon alt, ich glaube, das ist normal, glauben Sie nicht? Ja, in gewisser Weise hast Du recht. Willst Du auch einmal Arzt werden? Vielleicht, aber zuerst möchte ich wissen, was es noch alles gibt. Wie, was es noch alles gibt? Ja, welche anderen Arbeiten, die man machen kann. Verstehe, Du bist ein ganz ein Schlauer. Auf jeden Fall finde ich es nett, dass Sie mitten in der Nacht gekommen sind. Danke, aber das ist selbstverständlich. 357 Wenn ich vielleicht einmal Arzt werde, will ich es genau so machen. Na, dann habe ich heute Nacht ja allerhand geschafft, freut mich, dass ich Dir ein gutes Bespiel war. Kommen Sie morgen wieder? Ich denke schon. Ich werde auf jeden Fall auch immer kommen, wenn man mich ruft, egal, wie spät es schon ist. Das ist eine gute Einstellung, wenn auch oft schwer einzuhalten. Warum schwer einzuhalten? Ja, weil viele Menschen gleichzeitig Hilfe brauchen, weil jeder denkt, er wäre der wichtigste, weil man nicht überall sein kann, so hetzt man als Arzt von Termin zu Termin, man ist selbst nicht immer gesund, man hat ja nur mit Kranken zu tun, man steckt sich an, ist überarbeitet, trotzdem muss man weiter, die Patienten stehen immer an erster Stelle, nehmen es auch manchmal selbstverständlich, dass man bei Wind und Wetter kommt, vielleicht selbst in Gefahr ist, man darf sie nicht enttäuschen, ach, es ist nicht immer leicht, das darfst du mir glauben. Sind Sie auch manchmal schwer krank? Natürlich. Wir kommen mit vielen Keimen in Berührung, sind erschöpft und daher anfällig für alle möglichen Krankheiten und Infektionen. Wir haben auch eigene Sorgen, was die Patienten nicht verstehen können, daran denken sie einfach nicht, meinen, 358 als Arzt könnte man sich ohnehin selber helfen. Möchten Sie trotzdem gerne Arzt sein? Haben Sie viele eigene Sorgen? Im Augenblick nicht, aber es gab schon andere Zeiten, meine erste Frau ist an einer unbekannten Krankheit gestorben, und obwohl ich Arzt bin, konnte ich ihr nicht helfen. So etwas gibt es. Haben Sie Ihre Frau zu einem anderen Arzt gebracht? Ja, einmal, aber ich habe verstanden, dass es keine Hilfe für sie gab. Niemand hätte ihr helfen können. So bin ich oft zu anderen Patienten geeilt, während meine Frau zu Hause vor Schmerzen geschrien hat. Das war mir eine schwere Zeit, eine große seelische Belastung. Das ist ja furchtbar! Und ist Ihre Frau dann gestorben? Ja, aber das ist schon länger her. Tut es noch weh? Ja, immer. Aber ich habe eine zweite Frau, ich brauchte eine Mutter für meine beiden kleinen Kinder damals. Das verstehe ich. Ist sie eine gute Frau? Ist sie lieb zu Ihren Kindern, obwohl sie nicht ihre Mutter ist? Hat sie auch Kinder? Junge, Junge, du fragst aber viel. Aber, weil es dich so interessiert, will ich deine Fragen der Reihe nach beantworten. Ja, sie ist eine gute Mutter, auch den Kindern meiner ersten Frau, nicht nur den Zwillingen, die sie selber geboren hat. Sie macht keinen Unterschied zwischen ihnen. 359 Das ist gut. Jetzt sind Sie aber doch glücklich, oder? Oh ja. Selten, dass mich jemand nach meinem eigenen Leben und Schicksal fragt. Aber dieser kleine Knabe hier tut es zu so später Stunde, und dafür bin ich ihm sehr dankbar. Du hast mir eine sehr große Freude gemacht, und jetzt musst du mir aber sagen, wie du heißt. Alexander! Alexander Sommerfeld! Alexander! Was für ein schöner, was für ein königlicher Name! Bestimmt wirst du ein besonderer Mensch werden, jemand, dessen Namen man sich merken sollte! Er ließ ihn am Ende durch das Stethoskop horchen, Alexander erkannte die schweren Atemzüge der Großmutter, konnte das Rasseln in der Lunge hören und die verschieden starken Geräusche unterscheiden. Dies war seine allererste Medizinstunde, und noch bevor er erfuhr, wie seine Mutter gestorben war, hatte etwas in ihm beschlossen, Arzt zu werden. Gleichzeitig aber wollte er noch viele andere Dinge lernen, denn es interessierte ihn viel zu viel, ja eigentlich alles, und er konnte sich daher noch lange nicht entscheiden, obwohl die tatsächliche Entscheidung in ihm soeben und wie von selbst beinah, gefallen war. Alexander war ein wissbegieriges Kind, hätte dauernd sinnvoll beschäftigt gehört, was der Großmutter natürlich schwer fiel, ja sie überforderte. Sie musste ihn meistens sich selbst überlassen, hatte Mühe genug, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, ihm einzuschärfen, nicht zu weit wegzulaufen, in Sicht- & Rufweite des Hauses zu bleiben, immer aufzupassen und nichts, was sie ihm gesagt hatte, zu vergessen. So ist er viel unterwegs, treibt sich herum auf den Feldern, im 360 Wald, sammelt Blätter, Blumen, Steine, beobachtet Tiere & Menschen, imitiert Vogelstimmen, legt Listen an, belauscht Gespräche, zeichnet, malt, macht sich Gedanken über Gedanken, unterrichtet & unterhält sich von klein auf im großen & ganzen selbst, legt den ersten & wichtigsten Grundstein für sein späteres naturwissenschaftliches Studium und seine Freude am Lernen & Forschen in diesen frühen Jahren. Von Anfang an beschäftigte er sich also weitestgehend allein, suchte sich Aufgaben, stellte sich Fragen, erfuhr die grundlegenden Erkenntnisse durch seine eigenen Beobachtungen. Als er in die Schule kam, lag hinter ihm bereits ein ernsthaftes Kinderstudium, das sich sehen lassen konnte. Zwar hatte er sich nicht wie einige andere, das Lesen & Schreiben selber beigebracht, doch dafür hatte er gezeichnet, den Aufbau, den Umriss, die Form von Pflanzen, von Tieren, Entwicklungsstadien erkannt & dokumentiert, wusste über vieles schon Bescheid, wovon er erst wieder an der Universität hören sollte. Als er zu seinem Vater zog, lebten die beiden zuerst in einem großen Haus in Stockholm, wo Alexander eingeschult wurde. Doch so konnte es, wie sein Vater fand, nicht bleiben. Später sollte Alexander nicht verstehen, warum sein Vater trotz des bereits damals beträchtlichen Vermögens, arbeiten musste und sich nicht ausschließlich um ihn, seinen Sohn, kümmerte. Was hinderte ihn daran, ihm ganz & gar Vater & Mutter zu sein, für ihn zu kochen, ihn in die Schule zu bringen, abzuholen, mit ihm in den Wald zu gehen, ans Meer? Es wäre leicht möglich gewesen und war sogar üblich, Dienstboten zu halten, Kindermädchen, Gouvernanten sogar. Vielleicht waren es die Ansichten, die Gepflogenheiten der Zeit, dass ein Mann, selbst ein Mann wie der alte Herr Sommerfeld, nicht auf diesen Gedanken verfiel. Stattdessen fuhr er weg, stattdessen verließ er seinen Sohn, um Geld zu verdienen, Geld, mit dem er nichts anzufangen wusste, das in dieser, sich wie von selbst anhäufenden Menge niemand 361 brauchte, denn man lebte zwar in guten Verhältnissen, aber nicht verschwenderisch. Es hätte gereicht, lediglich die Immobilien, das Erbe zu verwalten, und doch ging er immer wieder auf Reisen, machte sich auf in den Norden, um Pelze zu suchen, zu kaufen, weiter zu verhökern, Vermögen auf Vermögen zu häufen. Als Mann war er zu nichts anderem erzogen worden, hatte kaum anderes gesehen als Männer, die Geld verdienten, ihr Vermögen, ihre Besitztümer verwalteten & vermehrten. Er musste in diesen Krieg ziehen, wie er meinte, es blieb ihm keine andere Wahl. Er hätte es nicht geschafft, alleinerziehender Vater zu sein oder glaubte, es nicht zu können, denn das einzige, was von ihm wirklich verlangt gewesen wäre, nämlich ganz allein & ausschließlich für sein Kind da zu sein, tat er nicht, diesen Auftrag erkannte er nicht, traute ihn sich nicht zu, fühlte sich ihm nicht gewachsen. Er machte sich wohl Tag & Nacht ein Gewissen daraus, aber keine wirklichen Vorwürfe, denn für Väter als Mütter gab keine Vorbilder. Er verfiel auf die Idee, Alexander solle eine Mutter haben, so etwas wie eine Mutter, pflegte er sich selbst zu verbessern. Ich möchte dich in die Obhut einer Familie geben, damit du so etwas wie eine Mutter hast!, sagte er eines Tages. Eine Mutter? Ich habe keine Mutter, das hast du selbst gesagt, ich habe nur dich! Ich will keine Mutter! Doch, du sollst wenigstens irgendwie normal werden, und dazu braucht es eine Frau, verstehst du? Endlich überredete & überzeugte er den Siebenjährigen, eine Pflegemutter oder Pflegeeltern zu akzeptieren, damit der Vater seinen Verpflichtungen, die sich scheinbar nicht aufschieben oder ausschalten ließen, nachgehen konnte. 362 Weinen, Schreien, Streiten, schließlich Fügen & Nachgeben, und mit dem nächsten Schuljahr hieß es, sollte Alexander zu einem kinderlosen Bergarbeiterehepaar in den Norden kommen, das sich gemeldet hatte, ein Pflegekind bei sich aufzunehmen. Alexanders Vater hatte ihnen eine Menge Geld versprochen, einen handfesten Vertrag ausgearbeitet, damit sein Sohn ein gutes Leben haben sollte, eine Mutter, so etwas wie eine Mutter, gleichzeitig Schweden kennenlernte, und obwohl er beschnitten war, protestantisch wurde, sich in nichts von anderen Kindern unterschied, auf dass er integriert würde und völlig in der Gemeinschaft, letztlich der Gesellschaft aufginge, kurz gesagt, alles möglichst auf einmal hinbekam. So hätte es auch Rahel gewollt, darin wisse er sich mit ihr eins, dafür hatte er ihren Segen, behauptete er. Schweren Herzens nahm Alexander Abschied von seinem Vater, und das erste Kapitel seines Leidens nahm seinen Anfang. Es wäre Herrn Sommerfeld nicht in den Sinn gekommen, Alexander etwa in ein Internat ins Ausland zu schicken, in die Schweiz, nach England vielleicht, wie es andere taten, denn es hatte nichts mit Schweden zu tun, Schweden aber war seine Heimat, Alexander sollte es durch & durch kennenlernen & liebgewinnen. Was der Junge nicht wusste, es gab etwas in der Vergangenheit der Familie, dem Rechnung getragen werden musste, dem sich der Vater verpflichtet fühlte wie schon dessen Vater, wie schon dessen Großvater. Was es einst für seine Vorfahren bedeutet hatte, Jude zu sein, sollte er später erfahren, denn so wie jetzt, wo man in diesem Land eine Staatsangehörigkeit, ein Bleiberecht, ja, Hab & Gut besaß, war es bei weitem nicht immer gewesen. Was nun aber für Alexander folgte, waren die bitteren Jahre des Heimwehs, des Fremdseins, des sich unsichtbar Machens, es hieß, seinen Anliegen kein Gewicht zu geben, keine Fragen zu stellen, niemandem zur Last zu fallen; alles Gefühle, Gedanken, die für sein ganzes späteres Leben bestimmend werden sollten, für ein 363 Kind von sieben Jahren aber schier unerfüllbar schienen. Ein Bergarbeiterhaushalt bedeutete bescheidene Verhältnisse. Man konnte die Zuwendung eines reichen Juden gut gebrauchen, hatte daher nicht lange überlegt, war froh über die willkommene Aufbesserung, es war wie ein Gewinn in der Lotterie beinah, doch dies war es nicht, worüber der Junge sich beklagt hätte, wenn ihn jemand gefragt hätte, denn die Frau des Hauses war nett zu Alexander, bemühte sich redlich, tat ihr Bestes, hatte eine recht liebevolle Art mit ihm umzugehen. Sie war nicht mehr wirklich jung, und die Dinge gingen ihr nicht leicht von der Hand. Den ganzen Tag, während der Mann abwesend war, beschäftigte sie der Haushalt, rund um die Uhr putzte & kochte sie, wusch die Wäsche, bügelte, versuchte Alexander bei den Hausaufgaben behilflich zu sein. Er erkannte bald, dass er sie damit lieber nicht konfrontieren sollte, denn sie tat sich schwer beim Schreiben & Rechnen, doch sie hatte ein gutes Herz und ein trauriges Gesicht. Warum hast du keine eigenen Kinder?, fragte er sie einmal, als sie beieinander saßen, da traten ihr sofort Tränen in die Augen, sodass es Alexander leid tat, er sein Taschentuch suchte und ihr reichte. Du bist ein guter Junge, ich wünschte, ich dürfte dich für immer behalten! Das ist kein Problem, ich hab‘ eh keine eigene Mutter! In ihren Augen blitzte Hoffnung auf. Glaubst du, dein Vater würde das zulassen? Ich glaube schon, er hat ja keine Verwendung für mich, und sonst hat sich niemand gemeldet, niemand außer dir wollte mich haben. Das darfst du nicht sagen, dein Vater sorgt sich Tag & Nacht um dich, du bist sein ein und alles, nein, du darfst nie für ganz bei mir 364 bleiben, du gehörst ihm, gehörst zu ihm, meine ich. Ich gehöre niemandem. Meine Großmutter ist schon gestorben, ich habe gar niemanden, weil Papa ist immer weg. Aber du denkst doch an ihn. Ja, die ganze Zeit, überhaupt in der Nacht. Ich rede auch mit ihm, und ich kann ihm schon bald richtige Briefe schreiben und er mir auch. Siehst du. Du bist nicht allein. Warum hast du keine Kinder? Das weiß ich nicht. Wie lange bist du schon verheiratet? Dreizehn Jahre. Warst du schon einmal bei einem Arzt? Sie erschrak über die Reife dieses Kindes, wie konnte es wissen, dass es medizinische Gründe für Kinderlosigkeit gab? Woher kommen eigentlich die kleinen Kinder? Von Gott dem Herrn. Warum schickt er dir nicht welche, wenn du so gerne welche hättest? Sie verfiel in Schweigen & Nachdenklichkeit. 365 Alexander reute es, dass er sie traurig gemacht hatte und sagte: Ich finde es ungerecht von Gott, wenn er dir keine Kinder schenkt, weil du bist eine gute Mutter. Findest du? Ja, meine Großmutter war viel ungeduldiger mit mir, aber sie war schon alt. Du darfst nichts Schlechtes über sie sagen. Tu ich nicht, ich sage nur die Wahrheit, ich bin ihr dafür nicht böse, und ich habe sie auch lieb. Du bekommst bestimmt bald Kinder, und wenn nicht, hast du ja mich! Alexander erkannte, dass sie litt. Er ärgerte sie nicht, half ihr im Haushalt, brachte guten Noten heim, bemühte sich, ihr das Leben mit ihm angenehm zu machen. Zahlt mein Vater etwas für mich? Ja, das tut er, er hilft uns damit sehr, so können wir das Haus renovieren und besseres Essen kaufen, uns Medizin leisten und vieles mehr, was andere unseres Standes nicht haben. Außerdem haben wir ein Kind im Haus, das ist das allerschönste für mich. Hast du mich nur deswegen bei dir aufgenommen? Nein, bestimmt nicht, du bist ein ganz, ganz lieber Junge, und ich und mein Mann freuen uns sehr über dich. Aber das hast du doch vorher nicht gewusst, wie ich sein werde, 366 ich könnte auch bösartig sein oder unfolgsam oder frech. Ich habe mit deinem Vater gesprochen, er hat mir auch geschrieben, ich weiß von ihm viel über dich, er hatte recht, du bist ein goldiges Knäblein! Ja, so hat er dich genannt. Ein goldiges Knäblein. Wirklich? Und wenn ich einmal schlimm bin, was machst du dann mit mir? Du bist nicht schlimm. Ich möchte aber auch schlimm sein dürfen, und bestimmt passiert einmal was, was ist dann? Was tust du dann? Wie bestrafst du mich? Dann werden wir darüber reden; und alles wird gut. Ich werde dich bestimmt nicht bestrafen. So saßen sie oft am Küchentisch und redeten miteinander während Alexander die Hausübungen machte, Gedichte auswendig lernte, sie Äpfel schälte, Beeren einkochte, Gemüse einlegte, Teige knetete, strickte & flickte. Wenn er fertig war, half er ihr, wusch das Geschirr ab, trug frisches Wasser herein, ging dies & das vom Krämer holen, verbesserte sogar einige Dinge im Haushalt. Es gefiel ihm längst besser bei ihr als in dem großen langweiligen, weitläufigen, leeren Haus in Stockholm. Außer dass er Heimweh hatte nach seinem Vater, ihm schon kleine, wenn auch noch unbeholfene Briefe schrieb, die er oft nicht abschicken konnte, weil sie von seinen Tränen verwischt waren, außer dass er Heimweh hatte, fehlte ihm nichts. Wenn sein Pflegevater nach Hause kam, drehte sich der Wind. Er kam mit schwarzem Gesicht und schwer schnaufend zur Tür 367 herein, musste sich zuerst waschen, seine Frau hatte jedes Mal bereits Wasser & Handtücher gewärmt, sorgfältig frische Kleider hergerichtet, das Zimmer geheizt, das Essen bereitgestellt. Meistens aß er wortlos, erkundigte sich kaum oder nur oberflächlich nach Alexander, der jetzt ganz still wurde, ihn ängstlich von der Seite betrachtete, beim Wegtragen der schmutzigen Wäsche half, Tee nachschenkte. Dieser Mann war ihm nicht geheuer, schon, als er ihn das erste Mal gesehen hatte, war ihm dieser strenge Blick aufgefallen, er lachte wenig, sah nicht aus, als ob er Spaß verstünde. Einmal hatte er ihn aus heiterem Himmel angefahren: Was glotzst du so? Hast wohl noch nie einen Schwerarbeiter gesehen? Hier bei uns gibt es nämlich keine feinen reichen Herren wie in Stockholm oder Uppsala oder Göteborg. Alfred! Lass den Jungen in Ruh’! Er hat doch gar nichts gemacht. Er ist brav und lieb. Er hat nur geschaut. Alexander war jedes Mal froh, wenn er wieder aus dem Haus war. Wann kommt er zurück? Erst am späteren Abend. Warum ist er so böse auf mich? Er macht mir Angst. Er ist nicht böse, besonders nicht auf dich. Weißt du, er musste schon als Vierzehnjähriger ins Bergwerk arbeiten gehen wie auch sein Vater und sein Großvater. Er hat nicht viel gelernt, ist als Kind oft krank gewesen. Er kann sich nicht so gut benehmen wie die Leute in der Stadt oder die Leute, die du vielleicht kennst, aber er meint es nicht so, das musst du mir glauben. Aber ich habe doch gar nichts getan, wo soll ich denn hinschauen, wenn er neben mir am Tisch sitzt? 368 Du hast recht, mein Kleiner, sei ihm trotzdem nicht böse. Ich freue mich so, dass du da bist, du weißt ja gar nicht, wie glücklich du mich machst. Bitte, bitte bleib immer bei mir, geh nicht fort, sag deinem Vater nicht, dass er dich holen soll, ich will es dir so schön wie es geht, bei uns machen, und mit der Zeit wird es auch mit Alfred besser werden, ganz bestimmt. Ja, Ich mag dich nämlich auch sehr gerne. Du bist ganz, ganz nett. Sie fragte ihn sogar manchmal, ob sie ihn küssen und halten dürfe. Sie musste das Gefühl haben, es sei ihr nicht erlaubt. Ja, ja, das kannst du ruhig machen, das macht mir nichts aus, schließlich bist du ja jetzt meine Mutter, nicht wahr, und Mütter müssen schließlich ihre Kinder liebhaben! Alexander brachte sie oft zum Lachen, vor allem, wenn er seine spontanen Antworten, seine verschiedenen Weisheiten zum Besten gab. Sie wunderte sich, wie klug, wie lebensklug er war, wie verständnisvoll und wie brav. Nie hatte sie so ein Kind gesehen. Es ging von Tag zu Tag besser, auch Alfred wurde netter, weniger gereizt, ging sogar ab & zu mit Alexander Schlittenfahren oder Eislaufen, begann den Jungen, wie es aussah, ins Herz zu schließen, und wenn er es auch nicht richtig zeigen konnte, mochte er ihn doch auf seine Art. Alexanders Verständnis ihm gegenüber wurde auch größer, denn lange hatte er ihn nicht mehr einen reichen, verzogenen Bengel genannt wie noch vor Monaten, auch brummte er nichts mehr über den Buben in sich hinein, was zwar ohnehin niemand verstanden hatte, aber doch deutlich als missgünstige Bemerkung zu erkennen gewesen war. Der Ton, die Stimmung hatten sich 369 geändert, vielleicht, weil es seit Alexanders Anwesenheit im Haushalt finanziell viel besser lief als früher. Er fühlte, wie der Mann ihn zu respektieren begann, sich langsam für seine Schulaufgaben interessierte, beeindruckt war von der Korrektheit, mit der er die Hefte führte, der Freundlichkeit, mit der er über die Lehrerin sprach, die Art wie er seiner Frau zur Hand ging und vor allem, dass er ihm scheinbar seine anfänglichen Ruppigkeiten & Beleidigungen nicht nachtrug. Alexander bemerkte mit Genugtuung & Erleichterung den Sinneswandel, verlor mehr & mehr die Furcht vor ihm, wenn er auch auf der Hut blieb. Was das ausmacht, wenn einer aus einem guten, reichen Haus kommt!, konnte er sagen. Ich komme nicht aus einem reichen Haus! Das war zu viel. Alfred schüttelte Alexander, brüllte ihn an. Du kommst aus keinem reichen Haus? Du kommst aus keinem reichen Haus? Was ist das denn, woher du kommst? Ich komme aus einem leeren Haus. Mein Vater ist nicht da. Meine Mutter ist tot, meine Großmutter ist gestorben. Meine Tante muss selber sehen, wo sie bleibt. Das ist kein reiches Haus! Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich kann nur nicht anders, verstehst du? Ich weiß. Woher weißt du das? Woher willst du wissen, wie es mir geht. Deine Frau hat es mir gesagt, du hast immer schwer arbeiten müssen, schon als Kind, deine Eltern waren hart zu dir. 370 Alfred staunte über dieses Kind. Eine Zeitlang ging es wieder besser. Alfreds Ausraster wurden seltener, es kam kaum mehr zu solchen Dialogen. Dann begann Alexander nachts von seltsamen & beängstigenden Geräuschen im Nebenzimmer, wo das Ehepaar schlief, aufzuwachen. Zuerst konnte er nicht begreifen, worum es ging. Er schlief wieder ein, hatte es in der Früh vergessen. Bis er eines Tages bemerkte, wie geschwollen & gerötet die Augen seiner Pflegemutter waren. Scheu schielte er zu ihr hinüber während sie ihm die Milch wärmte. Die ersten Tage getraute er sich nicht, sie anzusprechen, doch als er sah, wie das ganze Gesicht immer fleckiger, dicker, ja rot & blau wurde, fragte er sie: Darf ich dich etwas fragen? Freilich. Es geht dir nicht gut, nicht wahr? Wie kommst du denn darauf? Du siehst krank aus. Findest Du? Nein, es geht mir gut, es ist nichts. Bin nur etwas müde und zerstreut, manchmal habe ich solche Tage. Ich habe vielleicht nicht so gut geschlafen. Ich weiß. Was weißt du? Ich habe, ich habe, …. ,weil ich was gehört habe. 371 Was hast du gehört? In der Nacht... die Geräusche. Geräusche? Welche Geräusche? Aus eurem Zimmer, ich höre euch in der Nacht. Ich höre schon lange Zeit, dass er dir wehtut. Was macht er mit dir? Sie errötete vollends und schwieg, sie drehte ihm jetzt den Rücken zu, der zu zittern begann. Ich wollte dich nicht weinen machen, entschuldige bitte. Du tust mir so leid, ich möchte, dass das aufhört, geh fort von ihm, komm zu uns, mein Papa soll dich heiraten, dann habe ich eine Mutter und du ein Kind. Sie fiel vor Alexander auf die Knie, umfing sie, schluchzte wie ein kleines Kind. Das kann ich nicht. Ich darf nicht fortgehen, sag‘ das nie mehr. Ich weiß, du meinst es gut, aber eine Frau kann ihren Mann nicht verlassen, egal, wie er ist, und ich habe dir doch gesagt, dass er gut ist, ..... nur nicht anders kann, er hat es nicht besser gelernt. Aber er schlägt dich, er beschimpft dich. Niemand muss lernen, dass man das nicht tut, er ist nicht wirklich gut, verstehst du, ich mache mir Sorgen, und ich habe Angst. Ich getraue mich nicht, zu klopfen oder hinüber zu kommen, aber ich will nicht, dass er dir weh tut. Er tut mir nicht weh. Das verstehe ich nicht. Was macht er dann, und was tun überhaupt die verheirateten Menschen in der Nacht? Warum schlafen sie nicht? Du hast doch selbst gesagt, er muss im 372 Bergwerk schwer arbeiten. Warum ist er dann nicht müde? Ja. Schon, aber ........ Aber? Weißt du, ich weiß nicht, ob ich dir das schon sagen darf. Klar darfst du, du musst es mir erklären. Nein, nicht jetzt, du musst jetzt in die Schule, verstehst du, sonst kommst du zu spät! Schnell, trink deine Milch, iss ein Brot, ich habe es dir schon hergerichtet. Ja, danke, aber, wenn ich heimkomme, erklärst du’s mir, ja? Ja, bestimmt. Als er aus der Schule zurückkam, lag sie fiebrig im Bett. Alexander trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, streichelte ihre Hand, erkannte, wie heiß sie war, ihr Körper glühte, sie verlangte nach Wasser. Er war froh über diesen Auftrag. Soll ich einen Arzt rufen? Nein, das wird schon wieder, ich habe mich nur verkühlt. Das glaube ich nicht. Er fällt in der Nacht über dich her und schlägt dich, nicht wahr? Nein, nein. Um Gottes Willen, sag‘ so was nicht! Doch, ich habe es gehört. Er beschimpft dich, dann schlägt er auf dich ein, ich höre dich weinen und leise schreien, weil du Angst 373 hast, dass ich aufwache, aber ich bin wach. Warum tut er das? Warum lässt du das mit dir machen? Weißt du, er will unbedingt Kinder haben, aber ich bekomme keine, schon dreizehn Jahre nicht. Ich habe schon alles versucht, verschiedene Frauen gefragt, gebetet, tue es immer noch, aber es hilft nichts. Vielleicht ist es nicht deine Schuld? Waaas? Vielleicht ist es seine Schuld, vielleicht können Frauen, die geschlagen werden, keine Kinder mehr kriegen. Wohin schlägt er dich? Überall?, auch in den Bauch? Sie schweigt. Sie friert. Alexander begreift die Tragik dieser Ehe, obwohl er noch keine genaue Vorstellung von den tatsächlichen Vorgängen zwischen Männern & Frauen hat. Er beschließt, etwas zu unternehmen, nachts aufzupassen, diese Vorgänge seinem Vater zu melden, ihm einen richtig ordentlichen Brief zu schreiben, so weit er es schon kann, er ist zuversichtlich, will es schaffen, muss helfen. Papa, denkt er, wird nicht böse sein, wenn ich Fehler mache, weil ich weiß erst ganz wenige Wörter und nicht genau wie man sie schreibt, doch sie müssen reichen. Ich muss es mit wenigen geschriebenen Wörtern sagen können. Diese Nacht bleibt es ruhig. Wortlos schleicht Alfred durchs Haus, nimmt ihn nicht zur Kenntnis. Am nächsten Tag kann sie noch immer nicht aufstehen, Alfred überträgt Alexander die Verantwortung und geht in die Arbeit. In der Schule spricht Alexander seine Lehrerin an und berichtet ihr von der plötzlichen Krankheit seiner Pflegemutter. Sie hört ihm erstaunt & überrascht zu. 374 Und was soll ich da deiner Meinung nach machen? Sie haben ein Telefon in der Schule, verständigen Sie einen Arzt! Aber...., das muss bezahlt werden, das musst du mit deinen Pflegeeltern besprechen. Geld ist kein Problem. Bist du sicher? Ja, sicher. Und woher weißt du das? Woher ich das weiß? Es muss ihr erstens geholfen werden. Jedem kranken Menschen muss man helfen. Sogar zu meiner ganz alten Großmutter ist mitten in der Nacht ein Arzt gekommen. So viel Geld muss überall da sein, um Hilfe zu holen. Haben sie dir gesagt, dass du dich um einen Arzt kümmern sollst? Nein. Ja, doch. Ja oder nein. Nein. Aber sie haben genug Geld. Woher, wenn ich fragen darf? Durch mich, von meinem Vater, der ihnen jede Menge schickt, weil er will, dass sie mich gut behandeln. Dein Vater zahlt ihnen viel Geld? Warum? 375 Weil ich keine Mutter habe und er will, dass ich so normal wie möglich aufwachse. Das haben wir wirklich lang genug besprochen, wenn ich es auch nicht ganz verstanden habe, weil es mir bei ihm sehr gut gefällt und er, das hat er selber einmal gesagt, mein Papa UND meine Mama gleichzeitig ist, was ja auch stimmt. So, so. Haben sich deine Eltern getrennt? Ja. Wann? Bei meiner Geburt, in Växjö, in dieser Nacht. Also ganz genau am 30. Januar 1935, meinem Geburtstag, nein, meiner Geburtsnacht, weil ich bin nicht an einem Tag geboren, und als ich geboren wurde, ist meine richtige Mama gestorben. Oh, mein Gott, mein Junge, Alexander, es tut mir so leid. Verzeih‘ mir bitte, verzeih mir. Das muss Ihnen nicht leid tun, ich habe meine Mama ja nicht gekannt. Später habe ich meine Oma gehabt, Ingrid Goldmann, die Frau des Rabbiners Goldmann, sie hat sich um alles gekümmert, aber sie war schon alt und ist auch schon gestorben. Da bin ich zu Papa nach Stockholm gekommen, aber er sagte, Männer können keine Kinder ordentlich großziehen, nicht ganz allein, und so bin ich hergekommen. Er hat meine Pflegeeltern ausgesucht, und meine jetzige Mutter ist sehr gut zu mir, ich sage sogar Mama zu ihr, weil sie sich darüber freut, und sie ist es ja wirklich, ich habe sonst keine Mama, ich will, dass Sie ihr helfen 376 und einen Arzt rufen, ich bin so froh, dass ich sie habe, verstehen Sie? Es darf ihr nichts geschehen. Er redet atemlos auf die Lehrerin ein, sagt, was ihm gerade einfällt, will ihr Herz erweichen, sie dazu bringen, zum Telefon zu gehen und etwas zu unternehmen. Ja. Gut, auf deine Verantwortung, Alexander, armes Knäblein. Die Lehrerin ruft aufgrund von Alexanders Informationen einen Arzt an, sie schildert die Symptome, die er ihr einsagt, und er tut es exakt. Geschwollenes, gerötetes Gesicht, hohes Fieber, Schweiß-ausbrüche, Schmerzen am ganzen Körper, Traurigkeit, Kinderlosigkeit. Er will möglichst alles sagen, damit eine weitgreifende Hilfe gegeben werden kann. Sowohl die Lehrerin als auch der Arzt wundern sich über die Beschreibung der Symptome durch ein nicht einmal achtjähriges Kind. Als er an diesem Tag nach Hause kommt, ist der Arzt schon da. Eine Nachbarin sitzt am Bett, während Linda schläft. Das Gesicht der Kranken ist von Erschöpfung gezeichnet. Sie ist schon untersucht worden, Alexander, sagt die Frau. Er stürzt zu ihr, schaut den Arzt fragend an, der in aller Seelenruhe seine Tasche schließt und der Nachbarin, Frau Bergström, einen beschriebenen Zettel übergibt. Wie geht es ihr, was hat sie, wird sie sterben, haben Sie ihr geholfen? Alexander überhäuft den Arzt mit Fragen, sein Interesse, aber auch sein Misstrauen sind offensichtlich. Reg’ dich nicht so auf, mein Kleiner, es wird alles gut. Was hat sie, was fehlt ihr? 377 Nichts besonderes, sie hat eine Grippe. Sicher? Sonst nichts? Nein, ich glaube nicht. Sie braucht jetzt Medikamente und ihren Schlaf. Ich komme morgen wieder. Wissen Sie, sie kann keine Kinder bekommen, deshalb schlägt sie ihr Mann in der Nacht, aber sagen Sie nichts. Helfen Sie ihr einfach. Ich tue, was ich kann, doch im Augenblick steht die schwere Erkältung im Vordergrund, wir müssen aufpassen, dass sie keine Lungenentzündung bekommt, aber ich schätze, das kriegen wir mit vereinten Kräften hin. Warst du am Telefon in der Schule? Nein, die Lehrerin. Ja, aber du hast ihr eingesagt? Du bist sehr klug und verstehst weit mehr als andere Kinder in deinem Alter. Woher weißt du, dass sie keine Kinder bekommen kann? Sie hat es mir gesagt. Ich will nicht, dass sie bei diesem Mann bleibt, sondern meinen Vater heiratet, dann hat sie mich und einen Ehemann. Der Arzt schmunzelt, schaut die Nachbarin mit einem vielsagenden Blick an. Weiß dein Vater davon? Nein, aber ich werde es ihm schreiben. Du schreibst es ihm? Der Arzt lächelt wieder, denn in den vielen 378 Jahren, die er nun schon von Haus zu Haus zieht, täglich eine Reihe verschiedenster Leute in seiner Ordination empfängt und weiß Gott einiges gesehen & erlebt hat, ist ihm nicht ein einziges Mal etwas Ähnliches begegnet. Ein Kind, das ihm haarklein Symptomatik & Diagnose liefert, ein Kind, das Lösungen parat hat, sich sprachlich, ja sogar medizinisch einwandfrei ausdrückt, ein solches Kind ist ihm noch nicht untergekommen. Es beschämt & erstaunt ihn gleichermaßen. Ja, weil er würde alles tun, damit ich eine Mutter habe, hört er den Buben weiterreden während er darüber nachsinnt. Ist deine Mutter schon gestorben? Ja, bei meiner Geburt. Verstehe. Aber ich kann natürlich nur meine ärztliche Arbeit machen, weißt du? Und manche Dinge gehen mich nichts an. Ja. Trotzdem müssen Sie mehr tun als gewöhnlich. Es reicht nicht immer, nur seine Arbeit tun. Was meinst du damit? Wenn in der Nacht, in der ich geboren wurde, ein Arzt gekommen wäre, der Arzt, den mein Vater extra durch den Schneesturm holen gegangen ist, wäre meine Mutter noch am Leben. Hat er dir das so erzählt? Ja. Er gibt also dem Arzt die Schuld? Ja, so ist es ja auch. 379 Weißt du, als Arzt kommt man in viele Situationen, unser Beruf ist sehr gefährlich, wir haben sehr viel Verantwortung. Im Laufe unseres Lebens werden wir für alles Mögliche hergenommen. Vielleicht wäre deine Mutter auch, wenn ein Arzt da gewesen wäre, gestorben. Das kann schon sein, aber es war keiner da. Obwohl mein Vater ihm alles gegeben hätte, seiner Haushälterin sogar, ging er nicht mit ihm, als er mit ihm gehen hätte müssen. Wäre er da gewesen und hätte Mama nicht helfen können, hätte mein Vater es verstanden, aber so gibt er ihm die Schuld für alles und für immer. Ja, seufzt der Arzt, also, bis morgen. Du bist ein besonderer Junge. Pass‘ auf Deine Pflegemutter gut auf, gib ihr die Medikamente ein mit einem Glas Wasser, koch ihr Tee, sie muss viel trinken, kannst du das? Klar, kann ich das. Aber verbrenn’ dich nicht. Kannst du einheizen? Ja, ich mach’s gleich. Und kochen tu ich auch für sie und ihn. Was kochst du? Eier und Speck, Tee, dazu ein Stück Brot, ja. Alles, was sie will. Gut. Mach‘ das. Wann kommen Sie morgen? Ich weiß es noch nicht. 380 Sie dürfen nicht vor Mittag kommen, sonst verpasse ich Sie! Wenn Sie nur am Vormittag kommen können, bleibe ich lieber von der Schule zu Hause. Nein, nein, es wird sicher Abend, ich habe viele Visiten zur Zeit. Darf sie aufstehen, um auf die Toilette zu gehen? Auf keinen Fall in die Trissebude ins Freie, nur, wenn sie im Haus gehen kann. Im Haus haben wir keine Toilette, da kann sie nur den Nachttopf benützen, geht das? Ja, das geht. Alexander kümmerte sich um alles, holte Holz & Kohlen, heizte ein, setzte Wasser für den Tee auf, goss ihn auf, seihte ihn ab, flößte ihn Linda löfferlweise ein, lief in den nächsten Ort in die Apotheke um die Medikamente zu bringen, ging mit Linda auf den Nachttopf, leerte & wusch ihn aus, stellte ihn sauber unter das Bett. Trotz ihres geschwächten Zustandes wunderte sich Linda über Alexanders Einsatz, mehr noch über seine Geschicklichkeit, sie flüsterte ständig mein guter Junge, mein lieber Junge, mein kleiner Doktor. Sie war so entzückt, denn niemand hatte sich je in dieser Weise um sie gesorgt. Auch wenn sie schwach & schläfrig war, sah sie, wie sehr Alexander sich aufopferte. Zum ersten Mal im Leben fühlte sie sich sicher & aufgehoben, vertraute sich ganz diesem Kind an, das ihr erst kürzlich ins Haus geflogen war wie ein Engel beinah. Auch Alfred setzt er pünktlich eine genießbare Eierspeise vor, sogar er ist zufrieden, kommt erleichtert aus dem Schlafzimmer, geht bald zu Bett. Alexander hat ihm ein Lager in der kleinen 381 Kammer neben der Küche hergerichtet, Alfred kann beruhigt sein über so viel Obsorge & Verantwortung. Er gibt sich seiner allabendlichen, allnächtlichen Müdigkeit hin und ruht sich aus von der harten Arbeit des Tages, genießt die Entlastung, die das Pflegekind ihm bietet. Dankbar legt er sich nieder, für weitere Gedanken aber fallen ihm die Augen zu, und er versinkt in der Gnade des Schlafes, des Vergessens. Alexander aber bleibt bei Linda. Als der Arzt am nächsten Tag erscheint, staunt er über den Zustand des Haushaltes genauso wie über die Betreuung Lindas durch den Buben. Alles picobello, aufgeräumt, abgewaschen, die Patientin sitzt guter Dinge im Bett, isst eine heiße Griessuppe, die ihr von Alexander zubereitet & serviert wurde. Auf dem Schulweg hat Alexander die Nachbarinnen verständigt. Eine nach der anderen erklärt sich bereit, verschiedene Dienste zu übernehmen: einzukaufen, zu kochen, aufzuräumen, aufzupassen. Er erinnerte sich, wie in seinem Großelternhaus die Leute ein- & ausgegangen waren und selbstverständlich geholfen hatten. Nach diesem Vorbild organisierte er nun das Personal für den aktuellen Haushalt, und wieder ging alles gut. So sollte er es noch oft in seinem Leben halten, wenn er sich auch zunehmend darüber beklagte, da seiner Meinung nach die Menschen vor allem im reicher werdenden Schweden ihre Hilfsbereitschaft mehr & mehr verlieren & vergessen würden. Aber damals halfen wir einander, damals ging es nicht anders, fast alle taten es gerne, sammelten damit eigene Punkte und die Gewissheit, selbst in dieser Hilfsgemeinschaft aufgehoben zu sein. Doch als Linda wieder gesund war, dauerte es nicht lange, bis er wieder die nächtlichen Szenen im Nebenzimmer hörte. Er beschließt, es seinem Vater endlich zu schreiben, wenn er auch in der Zwischenzeit geglaubt, gehofft hatte, es wäre vorüber und mit Lindas Krankheit hätte sich zwischen den Eheleuten etwas geändert. Derweil geht das Schuljahr dem Ende zu, Mittsommer rückt 382 näher. Alexander darf bald zu seinem Vater, der ihn überpünktlich holen kommen wird, ja, längst alle Termine auf diesen einen Tag hin ausgerichtet hat, um nur ja keine Stunde mit seinem Sohn zu versäumen. Er schreibt dennoch diesen Brief in aller Heimlichkeit, schickt ihn nach Stockholm, wo er auf dem Haufen Post landet, welcher bereits auf Alexanders Vater wartet, der selbst noch irgendwo unterwegs ist. Als der Brief weg ist, stimmt es ihn einerseits froh, endlich etwas unternommen zu haben, andererseits fühlt er sich wie ein Verräter. Auch fürchtet er etwaige unbekannte Konsequenzen, die er sich im Augenblick zwar nicht vorstellen kann, doch selbst seiner bescheidenen Lebenserfahrung nach, immerhin in einer Weise möglich sind. Bald beginnt ihn seine Handlung zu reuen, doch sie ist nicht mehr rückgängig zu machen, die Post ist unterwegs, vielleicht weiß sein Vater bereits alles, wenn er ihn holen kommt. Doch, nein, es könnte sein, er kommt direkt von irgendwo, dann würde er, Alexander, vielleicht den Brief noch finden, bevor Vater ihn lesen konnte, und er könnte ihn noch verschwinden lassen. Alexander freut sich aber zunächst auf das Heimfahren, ist gefangen in seiner Vorfreude, die immer größer, unbändiger, übermütiger wird, packt bereits seine Sachen, als es noch viel zu früh dafür ist, überlegt, wartet, rechnet, zählt. Tut er das nicht schon, seit sein Vater das letzte Mal weggefahren ist? Dieses Warten auf das Abgeholtwerden wird sein Kinderleben über viele Jahre bestimmen, das Jahr, die Monate gliedern, das Zählen & Rechnen auf diesen Tag hin wird ihm zur zweiten Natur werden. Heimweh wird ihn darum immer begleiten, wohin es ihn auch verschlägt; am Beginn jeder seiner vielen Reisen wird er die Zeit unterteilen in Etappen, Tag für Tag eintragen, um später Tag für Tag durchzustreichen, Blatt für Blatt abzureißen. Er wird nie reisen um des Reisens Willen, wird immer einen Grund haben müssen, sein Haus, sein Land zu verlassen, wird es jedes Mal bereuen und sich jedes Mal freuen auf die Heimkehr, genau wie 383 damals, genau wie damals. Endlich sitzen sie gemeinsam im Zug. Alexander ist aufgeregt wie ein junger Pudel, sein Vater ebenso, es liegt eine lange & schöne, für den Moment noch unendliche Zeit vor ihnen, wenn sie auch getrübt sein wird von ausländischen Kriegsmeldungen. Dennoch wollen beide möglichst ungestörte & unvergessliche Ferien miteinander verbringen, darauf verwenden sie ihren ganzen Willen, ihre ganze Zuversicht. Alexanders Vater ist bestürzt über die Erzählungen seines Sohnes, die Dinge, welche er bereits erleben & meistern musste. Aus ihm sprudelt es nur so heraus, es überschlagen sich noch im nachhinein schier die Ereignisse, von der Schule redet er kaum, auch nicht von Erlebnissen oder Abenteuern mit seinen Schulkollegen. Herr Sommerfeld hatte nicht die geringste Vorstellung gehabt, dass es Probleme im Haus der Pflegeeltern geben könnte, obwohl er natürlich ständig in Sorge um Alexander war. Keine Idee davon war ihm gekommen, der Junge könnte eingespannt werden für die Belange der Pflegeeltern, die sich doch seiner Ansicht nach um das Kind kümmern sollten und nicht das Kind um sie. Hatte er denn noch zu wenig bezahlt, um sicher sein zu dürfen, dass Alexander gut aufgehoben war? Er war enttäuscht & wütend zugleich. Er wähnte seinen einzigen Sohn in guten Händen, und jetzt das. Was musste er hören, was tat sich da für ein Abgrund auf? Obwohl Alexander sich bemühte, als er die Reaktion seines Vaters sah, die Vorkommnisse im Bergarbeiterhaus herunterzuspielen, wieder ins Lot zu bringen, denn längst tat es ihm leid, etwas gesagt, ja, auch noch einen Brief geschrieben zu haben, er hatte doch Linda-Mama von Herzen gern, er wollte gerade darum bei ihr bleiben, ihr helfen, um da sein, wenn sie jemanden brauchte, obwohl er sich also auf der Stelle bemühte, das bereits Gesagte zu verharmlosen, war es doch schon zu spät. Sein Vater hatte ihn gründlich missverstanden, er meinte, handeln 384 zu müssen und dies in einem ganz anderen Sinn, als Alexander es erhofft hatte. Er hätte Rat gebraucht, um ihr besser beistehen zu können, doch das Gegenteil kam dabei heraus, am Ende musste er seine liebe, liebe Linda verlassen. Den Vorschlag, dass Linda von seinem Vater am besten geheiratet werden sollte, brachte er lieber gar nicht mehr vor. Andere Pflegeeltern wurden gesucht, schließlich gefunden. Alexander war unendlich traurig und beschloss, seinem Vater nie mehr etwas zu erzählen, jedenfalls nicht über jemanden, den er ins Herz geschlossen hatte, der ihn brauchte und den er brauchte. Als die Sommerferien zu Ende gingen, die Reisen durch Schweden beendet waren, packten sie wieder zusammen und zogen ein jeder an einen anderen Ort. Für den kleinen Alexander kam wieder ein neuer Anfang, so sollte es noch oft sein, von Mal zu Mal fiel es ihm schwerer, sich umzustellen, einzugewöhnen, wieder & wieder Vertrauen zu finden zu anderen, zu fremden Menschen. Sein Vater fing an, besonders aufmerksam zu sein, unvermittelt aufzutauchen, sich wie ein Kontrolleur vom Amt ein Bild zu machen über die Zustände, in denen sein Sohn lebte. Er kam mit beinahe geheimdienstlichen Fragen auf ihn zu, fast jedes Jahr fand er jetzt auf seine Weise und nach seinem Dafürhalten Unzulänglichkeiten & Unzumutbarkeiten heraus. Alexander empfand es durchaus nicht immer gleich, es hätte ihm das Normale gereicht, denn er wusste längst, dass es nirgends perfekt und niemand vollkommen war. Die Ansprüche seines Vaters waren nicht die seinen, er durfte sich diese auch nicht zum Vorbild nehmen, denn er musste mit einfachen Menschen & Verhältnissen zurechtkommen. Als er etwa zehn Jahre alt war, lebte Alexander bei einer Familie, deren Haus weit außerhalb der Ortschaft lag, er hatte einen besonders weiten Schulweg. Um kein Aufsehen zu erregen, hatte ihn sein Vater als Protestanten 385 angemeldet, dennoch wusste der Junge, dass er schon mit drei beschnitten worden war und eigentlich dem Judentum angehörte, obgleich ihm nicht klar war, worin der genaue Unterschied bestand. Doch in jenem strengen, endlos langen Winter, als kaum ein Schüler in den Unterricht kommt oder gebracht werden kann, hält ein neuer Pastor, der offenbar etwas gegen Juden hat, die Religionsstunden ab. Man munkelt über das gegenseitige Spähen am Bubenklo bereits, dass Alexander ein anderes Pippi hat, es wird unter den Buben getuschelt & gekichert, sie beobachten ihn. Alexander ist es unerklärlich, wieso das jemand bemerken konnte. Er weiß nichts von Antisemitismus, davon, dass er auffallend gescheit ist, kennt nicht die Legende über den Reichtum seines Vaters, welche die Runde macht, dass er dem Bild des Juden in so gut wie allem entspricht. Er hält sich für einen Schweden durch & durch, hat ja goldene Haare wie alle anderen, vielleicht eine dunklere Färbung seiner Haut nach dem Sommer als die meisten, aber sonst gibt es seiner Ansicht nach nichts, was ihn von seinen Schulfreunden unterscheiden würde. Sogar seine Augen sind blau, wenn auch nicht hellblau, doch so dunkelblau wie der wolkenlose Abendhimmel vor Einbruch der Nacht. In einer der Religionsstunden kommt der Pastor plötzlich auf die Juden zu sprechen, redet davon wie sie Jesus Christus getötet haben, ihn verraten, ausgeliefert, ans Kreuz genagelt. Seither muss dieses Volk die Erde durchwandern, ohne Heimat, ohne Bleibe, von allen verachtet, verjagt, gehasst. Die gerechte Rache des Himmels trifft die Juden überall, als Volk und jeden einzelnen. Es ist, wie wenn jemand etwas Böses getan hat: es erreicht ihn der Zorn Gottes, oft sind es Krankheiten, Unglück oder Verfolgung. Die Kinder sollen aufzählen, was ihrer Meinung nach eine Strafe 386 Gottes ist und sagen, ob sie jemanden kennen, auf den dies zutrifft. Ein bleichgesichtiges rothaariges Mädchen meint, dass Alexander so einer sein müsste, denn er habe keine Eltern, niemand weiß, woher er kommt, er sei nicht wie normale Kinder. Weiß der Himmel, wo sie das herhatte! So, du hast keine Eltern?, fragt der Pastor Alexander interessiert. Doch, ich habe einen Vater, nur keine Mutter. Was ist mit deiner Mutter, ist sie tot? Ja. Seit wann? Seit ich geboren bin. Seit deiner Geburt? Weißt du, wir sprechen heute über die Theorie, die besagt, dass alles Leiden in irgendeinem Vergehen der Vergangenheit seine Ursache hat. Ja. Glaubst du das? Ich weiß nicht. Glaubst du an Gott, den Allmächtigen? Ja. Dann glaubst du auch, dass Gott die Menschen straft! 387 Alexander antwortet nicht. Willst du wohl Antwort geben? Ich weiß es nicht. Was weißt du nicht? Ob Er die Menschen straft. Dein Volk, mein Lieber, dein Volk hat Unseren Herrn getötet, vor fast zweitausend Jahren. Darum seid ihr dazu bestimmt, durch die Welt zu ziehen, keine Heimat zu haben, denn wer Gott tötet, ist verdammt auf ewig. Das Elend tragt ihr als Volk gemeinsam, aber persönlich wird jeder einzeln bestraft. Wer als Jude großes Unglück erfährt, muss sich also nicht wundern, er gehört zu jenen, die Jesus Christus gegenüber ohne Erbarmen waren, er trägt selber Schuld daran. Die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage lässt sogar die anderen erschaudern. Als hätte der Pastor nichts Ungewöhnliches, ja, ohnehin allgemein Bekanntes von sich gegeben, fährt er fort, den Tathergang der Kreuzigung genau zu rekonstruieren. In den folgenden Stunden beginnt er damit, die Szenen aus dem Leben Jesu darstellen zu lassen, tritt als Regisseur dieses Passionsspieles auf, jedes Kind bekommt eine Rolle, Alexander die des Juden, des Verräters, dessen, der rufen muss: Kreuzige ihn! Barmherzig wie die Römer waren, wollten sie Jesus nämlich nicht töten, geben ihm einen scheinbar fairen Prozess, an dessen Ende Pontius Pilatus, dargestellt vom Pastor, laut in die Menge ruft: Ich finde keine Schuld an ihm. 388 Doch Alexander antwortet, muss antworten: Kreuzige ihn! Da lässt der Pastor sich eine vorbereitete Waschschüssel bringen, um seine Hände in Unschuld zu waschen. Es muss schwer für dich sein, keine Mutter zu haben, bei fremden Leuten zu wohnen, als einziger Jude unter Christen zu sein, das tut uns bestimmt allen leid für dich, aber du hast jetzt selbst gesehen, dass es eine uralte Schuld ist. Aber ich bin Protestant geworden! Das ändert doch nichts. Das wurde immer versucht, aber, was geschehen ist, ist geschehen, und niemand kann etwas daran ändern, auch nicht der Übertritt in eine andere Religion. Es gibt diese billige Rettung nicht. Zum Zeichen bist du beschnitten, wie man hört. Seit längerem leidet Alexander tatsächlich unter besonderen Umständen, für die er bisher keine Erklärung hatte. Immer, wenn es darum geht, für etwas gerade zu stehen, etwas zuzugeben, wird er von den anderen vorgeschoben. Auch in der Familie, in der er im Moment untergekommen ist, gibt es vier Kinder, Buben & Mädchen, die allerhand ausfressen, schamlos lügen, Essen aus der Vorratskammer nehmen, Tiere quälen, Doktor spielen, um sich über die Geschlechtsteile herzumachen, Leute ausspähen & erschrecken, sich das Wissen von kleinen Geheimnissen anderer zunutze machen, um sie zu allem Möglichen nötigen, sie zu erpressen. Aus irgendeinem Grund scheint unter ihnen die Übereinkunft zu bestehen, Alexander die Schuld für so gut wie alles & ohne weiteres geben zu können. Als nun der Pastor in dieser hanebüchenen Weise auf die persönliche Schuldfrage des einzelnen Juden zu sprechen kommt, ja, dies unter Beweis gestellt hat, begreift Alexander seine Lage; plötzlich sieht er klar die Ursache für das Ausgeschlossensein, die 389 Benachteiligung, die Selbstverständlichkeit der anderen, ihm ihre Vergehen anzulasten, und Angst & Einsamkeit beginnen ihm vertraut zu werden. Es bleibt ihm, so erkennt er jetzt, eigentlich schon lange nichts mehr übrig, als den Sündenbock für die Schandtaten der anderen abzugeben. Die Pflegemutter, wie die meisten Nachbarinnen, ist nur allzu gern bereit, ihn zu bestrafen, lieber ihre eigenen Kinder schuldlos zu sehen als die Wahrheit herauszufinden, man tut sich ganz leicht, die Gemeinheiten der eigenen Sprösslinge Alexander zuzuordnen. Was für eine Bequemlichkeit! Es wird normal, ihn einzusperren, zu schupsen, zuzuschlagen, an den Ohren zu ziehen, wegzusehen, ihn an den Haaren zu reißen, anzuschreien. Zuerst passiert es wöchentlich, dann mehrmals in der Woche, später täglich, ja mehrmals täglich, ständig muss er gewärtig sein, einer Beschuldigung gegenüber zu stehen. Die Kinder lassen ihn unverschämte Briefe mit Geldforderungen an seinen Vater schreiben. Unter dem Vorwand, dieses und jenes für sich selbst zu brauchen, muss er sich ausbeuten lassen, erkauft sich damit einige Tage Ruhe. Als er einmal versucht, der Pflegemutter davon zu erzählen, wird sie furchtbar böse und schlägt ihm mit dem Nudelholz, das sie gerade in der Hand hat, derartig auf den Kopf, dass er zur Seite torkelt und auf den heißen Herd fällt. So willst du mir kommen? Meine Kinder verklagen! Das lässt du schön bleiben, das gibt’s bei mir nicht, hörst du! Wir sind arme aber anständige Leute, oder glaubst du vielleicht, wir würden dich nehmen müssen, wenn wir so reich wären wie dein Vater? Wenn er nicht wenigstens zahlen könnte? Ein Judenkind! Pah! Nie und nimmer! Wir brauchen das Geld, ihr nicht, wir wisst nicht einmal, wohin damit. Das ist der Unterschied, den ihr nicht begreifen könnt! Und der Grund, warum euch niemand mag! 390 Alexander leuchtete diese Logik zwar nicht ein, musste aber zur Kenntnis nehmen, dass ihm hier niemand half und er mit seinen Sorgen ganz alleine war. Dies war das letzte Mal, Hilfe oder Verständnis bei Fremden zu suchen. Er erkannte, wie schlecht sogar Mütter zu anderen Kindern waren, wie sehr sie nur auf die eigenen schauten, ihnen die geringsten Verdienste & Leistungen haushoch anrechneten, die schlechten aber verziehen oder übersahen, ja, ohne Bedenken anderen anlasteten, nein, eigentlich nur ihm, dem Juden, dem Sündenbock, den er für sie abgab. Das war es also! Und der Pastor, das christliche Gegenstück zum Rabbiner, dachte wohl genauso. Doch die vergangenen Monate seit Schulbeginn waren nur ein Vorspiel gewesen. Nach dem Vorfall mit dem Nudelholz passierte es ihm das erste Mal, dass er nachts einnässte. Entsetzt bemerkte er am frühen Morgen, warum er fror, sein Bettzeug war nass, es roch nach Urin, es wurde sofort bemerkt, es ließ sich nicht verbergen. Großes Geschrei & Gelächter der Kinder, eiliges Herbeirufen, damit es alle sehen konnten, doch in all dem Aufruhr bemerkte Alexander erkennbare Zurückhaltung bei der Pflegemutter, die wohl zuinnerst wusste, dass sie daran nicht unbeteiligt war. Doch es wurde immer schlimmer; wenn sich Streit ankündigte, nur etwas in Gang kam, das man getrost eine einfache Diskussion nennen konnte, es am Tisch lauter wurde, irgendein Problem oder eine Frage auftauchte, selbst, wenn er nicht verstand, worum es ging, machte Alexander sich nass. Er fürchtete sich ständig davor, es könnte ihm etwas angehängt werden, er könnte allein deswegen geschlagen oder bestraft werden, Nervosität begleitete ihn jetzt von morgens bis abends. Es geschah in der Schule, während des Unterrichtes, schließlich reichte es, daran zu denken, was ihn am Nachmittag zu Hause erwartete. Was sie wieder alles von ihm verlangen und ob sie ihn wieder hänseln & verspotten würden, was er womöglich tun 391 musste, um wieder herauszukommen. Endlos war inzwischen die Liste der Peinigungen und übergroß die Furcht Alexanders. Mittlerweile wussten es so gut wie alle. Die Lehrerin ging so weit, ihn die Urinlachen vor aller Augen aufwischen zu lassen, während die anderen lachten und Witze rissen. Sie hatten ja seit der Sache mit dem Pastor die oberste Billigung ihres Benehmens Alexander gegenüber. Schäm dich! Du bist doch kein Baby! Nur Babys machen sich in die Hose!, so die Lehrerin, die als alleinstehendes Fräulein von Kindern und ihren Nöten so viel Ahnung hatte wie ein Bauer vom Studieren. Nun geht es nur noch gegen ihn, so empfindet er es, von niemandem kann er Verständnis oder gar Hilfe erwarten, niemand, niemand hat Erbarmen. Sein Zustand ist schließlich so elend, dass er eines Tags beschließt, nicht mehr nach Hause zu gehen. Lange schlaflose Nächte hat er zuvor damit zugebracht, sich einen Ausweg zu überlegen, seine Lage zu analysieren, Strategien zu finden, eine List vielleicht, doch am Ende dachte er immer öfter an Selbstmord, denn die Tage wurden nicht einfacher, sondern hielten Ereignisse bereit, für deren Bewältigung ihm keine Lösung mehr einfiel, und doch kam nichts den Nächten gleich, in denen er schlaflos & ratlos überlegte, den Nächten, die er mehr fürchtete als den Tod, mehr als den anderen Morgen beinah. Er getraute sich nicht mehr einzuschlafen, um ja nicht ins Bett lullen. So schwer er aufstand, so froh war er, dass es wieder überstanden war das Gespenstische, das Übergroße der Dunkelheit. Doch die anderen hatten wohl auch nicht geschlafen und derweil wieder alles Mögliche ersonnen, üble Scherze & Streiche, außerdem waren sie in der Überzahl. Er sah also eines Tages, eines Morgens keine Chance mehr, war zuinnerst verzweifelt, fühlte sich vollkommen verlassen & verloren in einer feindseligen Umgebung. Als er einmal versucht hatte, seinem Vater einen Brief zu schreiben, war dieser abgefangen worden, aufgerissen und laut 392 vorgelesen wie eine Verlautbarung, wurde zu einer Anklage, einer Spottschrift gegen ihn, als hätte er sein eigenes Todesurteil ausgestellt & unterschrieben. Er selbst lieferte ihnen die Beweise, nach denen sie so heftig suchten, er selbst hatte es und sich erledigt. Konnte es noch ärger werden? So bleibt Alexander eines Tages in der Klasse zurück, lässt alle hinausgehen, räumt langsam & sorgfältig seine Bank aus, so als täte er es zum letzten Mal. Schnell sind alle fort, keiner wartet auf ihn, auch nicht die Kinder aus seiner Pflegefamilie. Er ist fast erleichtert, dass es endlich soweit ist. Sang- & klanglos sind sie verschwunden, ohne ihn zu vermissen, sein Zurückbleiben zu bemerken, eine Tatsache, die ihm für sein Vorhaben zugute kommt. Schon seit dem Morgen fällt dichter Schnee, Alexander nimmt jetzt nicht den normalen Schulweg, sondern watet zunächst querfeldein, dann hinüber zu dem Birkenwäldchen, das er bisher immer nur in der Ferne und im Vorbeigehen gesehen hatte. Als er dort nach etwa einer Viertelstunde ankommt, lässt er seine Schultasche fallen, geht noch ein Stück weiter, setzt sich, zuerst hinter sich blickend, dann in den Himmel, in die Bäume schauend, schließlich hin. Niemand ist ihm gefolgt. Das Plätzchen sucht er akribisch aus, man soll ihn nicht gleich finden, nicht bevor alles vorüber ist, es wird außerdem sein letztes sein auf Erden, das er zu sehen bekommt, von hier werden sie ihn wegbringen müssen, hier wird er sein Ende erwarten, sie haben es nicht anders gewollt. Ob sie etwas wie Schuld fühlen werden? Bedauern vielleicht, Reue? Er wird es nicht mehr erfahren, oder doch? Wo wird er sein, wie wird es ihm gehen, wenn sie anfangen, ihn zu vermissen, irgendwann zu suchen, nach ihm zu fragen? Wie sie wohl vorgehen? Voller Selbstmitleid denkt er daran. Er stellt sich seinen Vater vor, die Unerreichbarkeit des einzigen Menschen, den er hat, der ohne Ahnung ist, dem er unendliches Leid zufügen muss, und doch gibt es kein Zurück mehr. Er will zu seiner Mutter in den Himmel fliegen, nur fort von hier, wohin auch immer, selbst, 393 wenn am Schluss, auf der anderen Seite sich nichts als Finsternis auftäte, alles dünkt ihn leichter als noch länger dieses Leben, diese Angst zu ertragen. Hier will ich bleiben, hier will ich sterben, ich will nicht mehr zurück, nicht in die Schule, nicht zu der Pflegemutter, nicht einmal zu meinem Vater, der mich bei solchen Menschen lässt, ich halte es nicht mehr aus, es ist zu schwer für mich, ich kann nicht mehr. Papa, du hast einmal gesagt, man darf nicht im Schnee sitzen bleiben, auch wenn man noch so müde ist, man schläft ein und wacht nicht mehr auf, erfriert im Schlaf. Leb wohl, Papa, verzeih mir bitte, aber du lässt mich allein, so ganz allein, ich weiß nicht, wo du gerade bist, aber ich möchte jetzt nichts anderes mehr, als sitzen bleiben im Schnee, mir ist überhaupt nicht kalt, es ist leicht und schön zu sterben, weich und angenehm im Schnee zu versinken, warum nur habe ich solche Angst vor diesem Moment gehabt, ich hätte längst hierher kommen sollen, es ist so still und friedlich, bald schon, morgen oder im Frühling, wenn sie mich finden, ist alles vorbei, dann bin ich schon vor langer Zeit eingeschlafen und endlich, endlich bei Mama im Himmel. Er legt sich langsam auf den Boden, lässt sich einsinken in den tiefen Schnee, während es weiter schneit & schneit, seine heißen Tränen indes rinnen ihm aus den Augen, tropfen in den Schnee. Noch Jahrzehnte später wird er in Schuberts „Winterreise“ diese Stelle besonders lieben in schmerzvoller Erinnerung an jenen fernen Tag, wird zutiefst wissen & verstehen, und es werden ihm ob der Schönheit der Melodie, des Textes die Tränen wieder herunter rinnen, genau wie damals. Er ist froh, endlich alles hinter sich zu haben, fast glücklich über seinen Entschluss, bald wird er ausgeführt sein, er will nicht mehr zurück, nur vorwärts, denn es hat sich in ihm bereits entschieden, es braucht kein Zutun seinerseits mehr, es ist vollbracht. So angenehm, so fein, so still, so leicht ist der Weg in die Ewigkeit. Durch die Müdigkeit nach dem langen anstrengenden Stapfen 394 durch den tiefen Schnee, die tanzenden Schneeflocken, fällt ihm nichts leichter, als das sich Gleiten-, Gehen-, Fallenlassen. Er friert nicht im mindesten, im Gegenteil, es ist ihm wohlig warm, fast heiß, er hat schon die Orientierung verloren, um ihn & über ihm dreht sich alles wie es im Schneesturm leicht geschieht, er hat keine Ahnung mehr, wo er ist, hat es vergessen, es ist ihm egal geworden, langsam übermannt ihn die Müdigkeit vollkommen, und so gleitet er hinüber in eine sanfte, seltsam angenehme Schläfrigkeit, während um ihn herum lautlos die Flocken weitertanzen & wirbeln. Sein Kopf wird leicht & schwer in einem, viele schöne Bilder sieht er durcheinander, sie sind wie die Blätter eines Buches: das Klassenzimmer, der Pastor, das Gesicht des Vaters, die Küche bei den Pflegeeltern, eine grüne Wiese mit gemusterten Kühen darauf, ein Feld mit wogendem goldenem Weizen wie sein Name Sommerfeld, ein weißes Schiff, der Strand in Gotland, das Haus in Stockholm, die Schürze der Großmutter, die Papa immer aufgehoben hat mit den rosaroten winzigen Blumen, das Muster auf Lindas Vorhängen, eine bunte Entenfeder - verloren im Wasser, ein Strohhut mit Bändern & Rosen. Dann wird alles plötzlich weiß, der Schnee lässt sich auf ihm nieder wie ein lieber alter Freund, der bei ihm bleibt und zu ihm hält. Kein Laut durchdringt die Stille, von der er nun ein Teil geworden ist. Wind ist aufgekommen, er kann nichts mehr sehen, nur das Wehen & Stauben des Schnees vor seinen Augen, die sich wie von selber schließen. Stunden vergehen, es wird bereits nach ihm gesucht, doch, da er abseits der üblichen Strecke gegangen ist, finden sie ihn nicht. Die Straßen & Wege sind inzwischen derartig zugeschneit, dass kaum noch Hoffnung besteht. Er befindet sich außerhalb der Ortschaft, noch weit von seiner Unterkunft, am Rande eines kleinen Waldes und in der Nähe eines einfachen Hauses, einer Hütte beinah, wo eine alte Frau allein mit 395 ihren beiden Hunden lebt. Die Nacht bricht vollends herein, es schneit & schneit & schneit als hätten alle Himmel sämtliche Schleusen geöffnet, als gäbe es auf der Welt nichts als Schnee, wie weiße Tücher treibt der Sturm ihn vor sich her. Überall machen sich Leute auf mit Laternen, rufen & schreien, schaufeln die ständig sich verschüttenden Wege wieder frei. Die Lehrerin und die Pflegemutter teilen die Trupps ein, geben Anweisungen, später beteiligen sich auch die Männer des Ortes, der Pastor, seine Frau, doch von Alexander fehlt jede Spur. Um Mitternacht wird nach Ermessen & Gutdünken aller Beteiligten die Suche eingestellt. Schließlich ist es aussichtslos, bei Nacht weiterzusuchen, es rufen die Pflichten des nächsten Tages, und die Stimmen der Vernunft, der Müdigkeit, der Vergeblichkeit gewinnen die Oberhand, denn alles muss am Ende auch ein Ende haben. Ungeachtet dessen, dass ein Mensch im Schnee eine solche Nacht nicht überlebt, einigen sie sich darauf, die Suche abzubrechen, ziehen sich erschöpft in ihre Häuser zurück. Sie können sich niederlegen und guten Gewissens, das Ihre getan zu haben, den verdienten Schlaf genießen, es existieren keine anderen Gedanken als die der Pflichterfüllung, der Regelmäßigkeit des täglichen Lebens, sogar eine Hilfeleistung hat ihre Verhältnismäßigkeit. Es gibt einfach keinen Platz für derart Unvorhergesehenes im engen Rahmen des Daseins, keine Zeit und keinen Raum für Geschehnisse dieser Art, man sieht keinen Zweck darin, genauer nachzusehen, die Suche auszudehnen oder anders zu organisieren. Man will erst wieder am Morgen weitersuchen, und so trennt man sich. In aller Herrgottsfrühe des nächsten Tages werden die beiden Huskys von der alten ahnungslosen Frau, die weitab der Ortschaft, doch nahe am Wald in einer Hütte lebt, ins Freie gelassen. Sie sind lieber draußen, es ist ihnen viel zu heiß in der geheizten Stube, 396 auch noch, als diese gegen Morgen längst ausgekühlt ist. Es dauert nicht lange, da werden sie unruhig, strecken ihre Nasen in die Luft, schnüffeln, nehmen Witterung auf, beginnen sich zielstrebig durch den meterhohen Schnee zu arbeiten. Es gelingt ihnen, zu Alexander vorzudringen, ihn frei zu kratzen, ihn zu fassen, sie zerren an seinen Kleidern, ziehen ihn mit den Zähnen aus der Mulde, schleifen den Leblosen zum Haus ihrer Herrin. Zwar sind es ausgediente Schlittenhunde, doch immer noch Hunde, auf die man sich verlassen kann, Hunde, die ein Menschenkind als das ihre betrachten können, sich speziell bei höchster Gefahr ihrer Verantwortung bewusst sind, Hunde, welche schon manches Leben gerettet haben, Hunde, auf die mehr Verlass ist als auf jede Suchmannschaft. Wie die Wölfe in uralten Legenden machen sie Alexander zu ihrem Wolfskind. Sein Atem geht nur noch ganz, ganz leise, so oberflächlich, dass sich der Brustkorb nicht mehr hebt, der Körper ist starr wie ein Brett, die Kleidung angeeist, die Wimpern & Brauen tragen pelzigen Frost. Keine Schwierigkeit für die Huskys, sie haben in ihrem Hundeleben wertvolles Wissen gesammelt, sie reagieren wie erfahrene Ärzte beinah, erkennen den ernsten, beinah hoffnungslosen Zustand des Buben, doch sie geben niemals auf, sie gehen an die Grenze ihrer eigenen Kräfte, tun nichts Falsches, nur das Wichtigste, sie bringen Alexander in Sicherheit. Die alte Dame und jetzige Mascha der Huskys nimmt ihn entgegen, heizt schnell nach, sodass es zu lodern beginnt, greift mit dem Schürhaken die Eisenringe aus dem Ofen, setzt den großen Kessel in die Glut, läuft um Schnee, den es rasch zu schmelzen gilt, wärmt auf diese Weise Wasser, verteilt es in weitere Waschschüsseln, läuft wieder & wieder um Schnee. Nun badet sie seine Hände & Füße, schüttet bald wieder heißes Wasser nach, heizt nach, zieht ihn aus, legt ihn ins Bett, wickelt ihn in dicke Felle & Decken, legt, im Backrohr gewärmte Tücher, auf sein Gesicht, seinen Hals, setzt sich zu ihm, betrachtet ihn endlich im Schein ihrer Petroleumlampe, Stunden vergehen, Stunden sind 397 vergangen. Mit einem Spiegel prüft sie seine Atmung, er läuft an, langsam wird das Gesicht rosig, die Nasenflügel bewegen sich leicht. Zwischendurch heizt sie wieder nach. Sie hat alle Hände voll zu tun. Die Hunde verfolgen das Geschehen, die Handgriffe ihrer Mascha überaus genau, geben keinen Mucks von sich, wollen ihre Lebensrettung zu Ende geführt sehen, warten darauf, gelobt und mit anerkennenden Worten bedacht zu werden, denn längst wissen sie, dass es gerettet ist, das Menschenkind. Darum ließen sie nichts aus den Augen, was jetzt geschah, legten Nachdruck in ihre Beobachtung, ihre Aufmerksamkeit, ihre Herrin arbeitete gewissermaßen unter ihrer strengen Kontrolle. In den Schneeländern weiß grundsätzlich jeder, was in so einem Fall zu tun ist, immer war es so gewesen, seit Menschengedenken gab es den weißen Tod, es geschah beinah täglich irgendwo, und doch war es jedes Mal wie ein Wunder, wenn es gelang, einen Gefundenen durchzubringen, es konnte leicht zu spät sein oder zu früh aufgegeben, zu geringer Nachdruck in die Handlungen gelegt werden, zu wenig Wissen & Erfahrung, nicht genug Engagement verfügbar sein, auch beim Retten kommt es auf den Willen an, die Hoffnungsgläubigkeit des Helfers, sodass Leben & Tod sich die Waage hielten, denn auf einen Geretteten kam in jenen Tagen so gut wie immer ein Erfrorener. Es bestand bei einer solchen Schneelage ohnehin keine Aussicht, an einen Arzt zu kommen, also musste in der Regel der einfache Hausverstand, der allerbeste von allen Verstanden, genügen. Unter der dicken, aber lockeren Schneedecke hatte Alexander ausreichend Luft zum Atmen und vor allem Wärme gehabt, um nicht zu erfrieren, um keinen wirklichen Schaden zu erleiden. Entscheidend aber für sein Überleben war gewiss die rechtzeitige Auffindung durch die Huskys gewesen. Als er nach einigen Tagen & Nächten, war es nur Schlaf oder Bewusstlosigkeit?, die Augen aufschlägt, neben ihm zwei Hunde auftauchen und er in das freundliche Gesicht einer alten Frau 398 blickt, glaubt er im Himmel zu sein. Sie sitzt nur da und schaut ihn an, sagt gar nichts, das gleiche tut Alexander, und ebenso die Hunde. Lange starren sie einander an, lange sagen sie nichts, es ist wie eine stumme, wortlose innige Feier der Augen, der Wärme, der Geborgenheit, ohne jede Grenze zwischen Mensch & Mensch, zwischen Mensch & Tier. Alexander spürt, dass er hier in Sicherheit ist, keine Angst zu haben braucht, obwohl er sich nicht im geringsten auskennt. Langsam aber setzt er die Figuren, die ihn umgeben zu einer Geschichte zusammen, allmählich erkennt er in ihnen seine Lebensretter, eine alte Frau und zwei Hunde. Nach & nach erzählt er ihr, wie und warum er sterben wollte, von seiner Verzweiflung nach den Geschehnissen des Herbstes in der Schule, im Haus der Pflegeeltern, in den letzten vergangenen Tagen. Wie ihm das Herz so schwer geworden war, seine Traurigkeit ihn überwältigt hatte, er das Leid nicht mehr ertragen konnte, den Mut verloren und keinen Ausweg mehr gesehen hatte. Sie ist erschüttert von den Worten dieses Jungen, dessen Schicksal sie zutiefst beeindruckt. Was für eine Geschichte, und wie er sie erzählt! Sie sieht, was für einen besonderen Gast sie in Alexander hat. Als er wieder schläft, weicht sie dennoch nicht von seiner Seite, sie betrachtet ihn wie ein Geschenk, das unversehens mit den Schneeflocken vom Himmel vor ihre Tür, in ihr bescheidenes Haus gefallen ist. Ihr ganzes Leben hat sie allein verbracht, nur mit ihren Tieren gelebt, in den Gemeinden die Post ausgetragen und allerhand Arbeiten in verschiedenen Haushalten und auf Bauernhöfen erledigt. Sie gehörte nicht zu den besseren Leuten in der Gegend, niemand kümmerte sich weiter um sie seit sie nicht mehr in der Öffentlichkeit arbeitete, es gab jetzt jemanden anderen, der ihre Gänge machte. Die Leute waren vergesslich & gleichgültig, lebten von Tag zu Tag, waren mit ihren eigenen Sorgen & 399 Angelegenheiten beschäftigt. Und jetzt dieses Ereignis! Tiefe Dankbarkeit & Freude überkamen sie, seit einer Ewigkeit rannen zum ersten Mal wieder Tränen aus ihren Augen, spürte sie, wie ihr warm & leicht ums Herz wurde. Zuerst verschwamm ihr das Gesicht des Knaben, dann weinte sie wie ein kleines Kind, sie streichelte Alexander, kochte ihm Tee, Suppe, war flink & geschäftig, fühlte sich jung, unendlich glücklich, war mit einem Mal verliebt wie ein junges Mädchen in dieses fremde Wesen in ihrem Bett, fürchtete, plötzlich aufzuwachen und womöglich allein im kalten Zimmer zu liegen. Doch es geschah nicht, alles war Wirklichkeit, kein Märchen, keine Illusion, keine Einbildung der einsamen Alten, die sie schon so lange war, sondern wirklich, wirklich wahr. Alexander indes beobachtete, wie sie die Möbel umräumte, Kommoden von a nach b verschob, Wäsche herbeischaffte, die Vorräte überprüfte, hin- & her überlegte, beruhigt nickte. Allem Anschein nach hatte sie vor, ihn bei sich zu behalten. Willst du mich behalten?, fragte Alexander also. Sicher! Oder glaubst du, Gott der Herr, gibt mir in meinem Alter noch eine andere Chance? Nein, du bleibst bei mir, dich gebe ich bestimmt nicht mehr her, und wenn du keine Mutter hast und dein armer Vater dich zu fremden Leuten geben muss, dann kannst du auch bei mir bleiben. Schau, ich werde dich gut behandeln, habe genug zu essen für uns beide, bin ja ganz allein, und es waren meine Hunde und ich, die dir das Leben gerettet haben. Dein Vater wird das bestimmt einsehen, meinst du nicht? Glaubst du, dass er dich mir lässt? Glaub‘ ich schon. Oder möchtest du nicht bei mir bleiben? 400 Oh ja, sehr gerne, aber, ob das geht? Hauptsache, du willst bei mir sein, alles andere kann man regeln. Bei allem, was du hinter dir hast, verspreche ich dir und deinem Vater, gut für dich zu sorgen, wenn es dir hier nicht zu bescheiden ist? Ich will sehr gerne bei dir bleiben, es ist wunderschön hier. Na, dann ist ja alles gut. Bleiben wir also zusammen. In den ersten Tagen kommt ihm die alte Dame etwas seltsam vor, doch bald hat er sich an sie und ihre Eigenheiten gewöhnt, zumal sie so lieb & freundlich zu ihm ist. Warum eigentlich sollte er nicht bei ihr bleiben wollen, so schön & ruhig wie es hier war? Keine Quälgeister, keine keifende Pflegemutter, kein streitendes Ehepaar, keine gemeinen Kinder. War er denn nicht auch hier schon im Himmel? Die Schneeverhältnisse lassen keine Verbindung zur Außenwelt zu, man verfügt im Waldhäuschen natürlich über kein Telefon, ja, nicht einmal über einen Stromanschluss, Adele, so heißt die alte Frau, denkt nicht dran, die Hunde mit einer Nachricht ins Dorf zu schicken. Später wird man ihr dies zum Vorwurf machen. Schließlich erfährt Alexanders Vater durch die Schulleitung von der Abgängigkeit seines Sohnes. Drei Wochen nach Alexanders Verschwinden trudelt ein Brief im Haus in Stockholm ein, doch Herr Sommerfeld, der auch telefonisch erreichbar gewesen wäre, wird auf diese umständliche Weise kontaktiert. Als er die dürren amtlichen Zeilen liest, begreift er nicht sofort, was das bedeuten soll. Sehr verehrter Herr Sommerfeld! Wir möchten Sie davon in Kenntnis setzen, dass Ihr Sohn 401 Alexander Sommerfeld, seit dem achtundzwanzigsten Jänner nicht mehr in der Schule war. Die Suche nach ihm wurde drei Tage darauf ergebnislos abgebrochen. Bitte setzen Sie sich mit uns oder den Pflegeeltern Ihres Sohnes in Verbindung. Mit vorzüglicher Hochachtung! Die Schulleitung...... Er liest immer wieder diesen absurden Text, bis ihm der Zettel aus den Händen gleitet. Die Haushälterin, die erst am nächsten Morgen kommt, erschrickt zu Tode, sie findet ihren Dienstgeber wie versteinert und völlig ergraut in seinem Sessel vor. Er scheint die ganze Nacht nicht geschlafen zu haben, er ist nicht in der Lage, ihr zu antworten, obwohl seine Augen offen stehen. Schließlich sieht sie das Papier am Boden liegen, ahnt einen Zusammenhang, hebt es langsam lesend auf. Erst nach Tagen und intensiver ärztlicher Behandlung kann er reisen. Er nimmt seine beiden Schlittenhunde, die ihn immer begleiten, mit. Es ist alles tief verschneit, Schweden scheint in diesem Jahr im Schnee unterzugehen. Als er endlich ankommt, ist sogar die Schule geschlossen. Ein Lehrer, welcher im ersten Stock des Schulhauses wohnt, gibt ihm die erste Auskunft. Er erwähnt nichts von den Vorfällen in den Religionsstunden, nichts von den längst bekannten Problemen mit den anderen Kindern, verlegt sich auf immer denselben Text. Wir wissen praktisch nichts. Er ist an jenem Nachmittag nicht zu Hause, also bei seinen Pflegeeltern, angekommen, obwohl er pünktlich wie alle anderen nach dem Unterricht die Klasse verlassen hat. Es war starkes Schneetreiben, die Kinder sind davongeeilt, haben sich aus den Augen verloren, das kommt vor. Die ganze Gemeinde hat sich an der Suche nach dem Kind beteiligt, doch sie blieb ohne Ergebnis. Nach drei Tagen wurde die Suche eingestellt. 402 Was ist mit Hunden? Mit Hunden? Ja, haben Sie keine Suchhunde eingesetzt? Nein. Es haben sich alle beteiligt, und wenn es Hunde darunter gab, so haben sie nichts gefunden. Seit zwei Wochen ist die Schule geschlossen, die weiter draußen gelegenen Häuser und Gehöfte sind von der Außenwelt abgeschnitten, von ihnen wissen wir nichts. Haben diese sich auch an der Suche beteiligt? Manche, nicht alle, da ja nicht alle davon wussten oder in Kenntnis gesetzt werden konnten. Diejenigen, die keine Schulkinder haben......... Könnte er also irgendwo untergekommen sein? Haben Sie keinen Kontakt mit diesen, weiter entfernten Haushalten aufgenommen? Wir haben alles absuchen lassen, auch die beiden nächsten Ortschaften wurden informiert, aber es gab keine Meldungen, keine Beobachtungen von dort. Gab es irgendein Problem mit meinem Sohn? Nein, jedenfalls keines, das ein Verschwinden erklären würde. Hat er mit Klassenkameraden das Gebäude verlassen oder allein? Allein. Warum? 403 Mein Gott, warum?! Er hat wohl getrödelt. Welche Stunde war die letzte? Religion. Aber fragen Sie doch bitte die Kinder .........., diejenigen, die verfügbar sind. So begann Alexanders Vater mit seiner eigenen Suche nach Alexander. Schritt für Schritt, Wort für Wort, Frage für Frage. Wie ein Puzzle setzte er die Teilchen zusammen, bis er trotz aller ausweichenden, abweichenden & unvollständigen Antworten eine Vorstellung vom Grund des Verschwindens bekam. Die Auskünfte waren widersprüchlich, die meisten Leute hüllten sich in Schweigen, was ihm verdächtig vorkam, andere beschuldigten offen den Pastor, einige die Kameraden, aber auch auf die Pflegefamilie fiel ein schiefes Licht. Von gelegentlichen Hänseleien war die Rede, von Spott, vom „Sich-nass-Machen“ Alexanders. Langsam, doch immer sicherer erkannte er, dass der Junge aus Kummer ausgerissen sein musste. Es war also kein Unfall, kein Unglück, sondern eine Flucht gewesen. Das gab ihm Hoffnung auf der einen, beunruhigte ihn fürchterlich auf der anderen Seite. So viel Zeit wie vergangen war seither! Wenn er nicht irgendwo Aufnahme gefunden hatte, lebte er nicht mehr, denn es ist ausgeschlossen, im Freien im Winter und noch dazu so lange, zu überleben. Möge er nicht erfroren sein! Möge er den Tod nicht gesucht haben! Länger als eine Woche sucht Herr Sommerfeld in alle Richtungen. Der Schneefall hat aufgehört. Schließlich führen ihn seine Hunde auf die richtige Spur. Wie ein Wunder taucht dieses einfache Holzhaus, das bis zu den 404 Fenstersimsen verschneit ist, vor ihnen auf, und als wäre das nicht genug, gucken aus den erleuchteten Fenstern zwei Köpfe heraus, geradeso als hielten sie nach jemandem Ausschau. Herr Sommerfeld traut seinen Augen nicht, wähnt sich in einem Traum, schlägt sich auf die Wange, legt schließlich sein Gesicht an die Scheibe, sieht, sieht, was er nicht glauben kann, sieht Alexander und eine alte Dame gegenüber. Unmöglich, denkt er, ich muss jeden Moment aufwachen. Plötzlich fällt alle Spannung von ihm ab, er sinkt in den Schnee, kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, nach den Tagen & Nächten, die hinter ihm liegen, schläft er auf der Stelle ein, ist nicht mehr zu wecken. Als er wieder zu sich kommt, liegt auch er in einem Bett, sieht Alexander neben sich, Adele, wie er später erfahren wird, heißt der Engel, der seinen Sohn und ihn gerettet hat. Er sieht sich von unendlicher Wärme & Herzlichkeit umgeben. Trotz seiner Müdigkeit, seiner Schlaffheit, ahnt er wie sehr sie sich um ihn bemüht haben mussten, um ihn so weit zu kriegen, ihn in seinem steinschweren Zustand in diese Bettstatt zu hieven. Einen Tag und eine Nacht soll er durchgeschlafen haben, ohne jede Regung, ohne jede Bewegung. Sein Körper wie auch sein Geist schienen vollkommen abwesend gewesen zu sein. Die nächsten Jahre darf Alexander bei Adele verbringen. Es geht ihm so gut bei ihr, dass ihm die üblichen Gemeinheiten, denen er als Außenseiter, als der er hier nun einmal gesehen wird, ausgesetzt ist, nichts mehr ausmachen. Manche nennen ihn daher arrogant, doch er ist in seinem Glück gleichzeitig quasi unverwundbar geworden. Es ficht ihn nichts mehr an, denn er hat seine Angst verloren. Bei Adele gibt es nur Liebe & Verständnis, tiefe Geborgenheit statt Leid & Furcht. Er ist aufgehoben bei ihr und sie bei ihm. Nach der Schule eilt er zu ihr, hilft ihr im Haus, im Garten, spielt mit den Hunden, hackt Holz, kauft Farbe, streicht alles an & um, 405 kümmert sich um die Hühner, die Eier, geht einkaufen, sogar mit Adele am Sonntag zur Messe. Sie leben beinah wie ein glückliches Ehepaar oder wie eine Großmutter mit Enkelkind, es gibt kein einziges Mal Streit oder Missverständnisse, es sieht aus, als wären sie füreinander geschaffen und, als könnte nichts sie je wieder trennen. Der alten Frau geht es so gut wie nie zuvor. Alexanders Unterhaltszahlungen ermöglichen beiden ein sorgenfreies, in Adeles Augen sogar luxuriöses Leben. Sie kochen gemeinsam, denken sich neue Rezepte aus, Alexander bringt die Lebensmittel vom Dorf mit nach Hause, bestellt Spezialitäten beim Kreisler, lässt von seinem Vater alles Mögliche mit der Post schicken. Tag & Nacht sind sie mit tausenderlei Dingen beschäftigt. Während Alexander die Hausübungen macht, sitzt Adele still daneben und denkt, was sie auf ihre alten Tage noch für ein Glück haben darf. Du, Alexander?“, kann sie dann leise fragen, so vorsichtig wie es geht, um ihn ja nicht zu stören, Alexander? Ja, was ist? Gell, schön haben wir’s hier. Ja, sehr schön. Willst du nicht für immer bei mir bleiben? Ja. Ja, das will ich. Aber, wenn die Volksschule für dich vorbei ist, musst du in eine höhere Schule gehen, die gibt es hier aber nicht. Ah, mach dir keine Sorgen, Adele, da wird uns schon was einfallen. 406 Glaubst du? Ja, bestimmt. Das beruhigte sie, doch immer & immer wieder stellte sie diese einzige, für sie zentral gewordene Frage, denn sie wollte dieses Glück, diese Glückseligkeit, nie mehr verlieren. Es war ihr erstes und letztes in ihrem bisher einsamen und bescheidenen Leben, das fühlte sie. Sie war arm geboren und arm geblieben, und hätte sie nicht durch Zufall diese alte aufgelassene Hütte gefunden, die ihr Gott sei Dank niemand streitig gemacht hatte, wer weiß, wo sie hingekommen wäre und ob es sie überhaupt noch gäbe. Die Zuversicht dieses Kindes war überraschend für sie, es kam ihr oft so vor, als wäre es in etwas Großem aufgehoben, als hielte jemand vom Himmel herunter die Hand über Alexander. Sogar Herr Sommerfeld verbringt jetzt die Feiertage am liebsten im Waldhaus, kommt zu Weihnachten, bleibt über Neujahr, taucht zwischendurch, manchmal unangekündigt, auf, und wenn es nur für ein paar Tage ist, erholt sich, wird von Adele & Alexander verwöhnt, genießt die Wärme dieser Bescheidenheit, die Herzlichkeit und fühlt sich genauso wohl wie die beiden, hat Heimweh nach seinem Sohn nicht nur, sondern sogar nach den kleinen Verhältnissen, nach Adele, der Lebensretterin, den Hunden, die so gescheit dreinschauen, als wüssten sie über alles Bescheid, als wüssten sie mehr als er selbst. Vor allem aber will er ganz nah bei Alexander sein, mit den zweien feiern & reden, lachen & scherzen. Adele aber überlegt, wie sie Herrn Sommerfeld ihre Bedenken, ihre Freude, ihr Glück, ihre Angst zur Kenntnis bringen könnte, diesem gebildeten schönen Mann, der die Macht hat, seinen Sohn jederzeit wieder zu sich zu nehmen oder ihn ihr zu lassen. So spricht Adele ihn eines Abends darauf an, was ihr schon so lange & wehmütig durch den Kopf geht, schwer auf dem Herzen liegt. 407 Herr Sommerfeld, ich möchte Sie etwas fragen. Ja? Gerne. Was mir Sorgen macht, weil, Sie müssen wissen, ich habe mich so an Alexander gewöhnt, er ist wie ein Himmelsgeschenk für mich, ich kann mir nicht vorstellen, ihn wieder hergeben zu müssen. Das freut mich, Frau Adele, und wie es aussieht, möchte auch er hier bleiben und nie wieder fort. Aber, er wird bestimmt auf eine höhere Schule gehen bei seiner Herkunft und seiner Gescheitheit. Ja, aber er kann hier so lange bleiben wie er will und wie es geht. Er muss nicht unbedingt sofort dorthin, und sollte er einmal fort müssen, wird er immer wieder zurückkommen, das dürfen Sie mir glauben. Mir ist es viel wichtiger, dass er glücklich ist, nach allem, was er schon durchmachen musste, es kommt auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht an. Soll er, wenn er möchte, auf der Volksschule bleiben, meinetwegen bis zum äußersten Ende, er ist klug genug, um später das eine oder andere nachzulernen. Ich denke daran, ihm Bücher zu schicken, damit er später gleichzeitig und neben der Volksschule her, mehr lernen kann. Er kann darüber Prüfungen ablegen und mit den anderen später gleichziehen. Oh, das wäre wunderbar, aber er macht ohnehin schon so viel bei mir, hilft mir bei allem, muss alles alleine lernen und begreifen, ich kann ihm gar nicht helfen, ich bin doch eine ungebildete Frau. Ich möchte nicht, dass ihm eines Tages alles zuviel wird oder ihm das Bleiben bei mir zum Nachteil gereicht. 408 Nein, Sie sind keine ungebildete Frau. Er hat sie sehr, sehr gern, sie sind jetzt seine Mama, seine Oma, einfach alles, er muss das haben, es ist wichtiger als jede Schule, glauben Sie mir, ich bin so glücklich und beruhigt, dass wir Sie gefunden haben oder besser gesagt, Sie – uns. Nach & nach ließ Alexanders Vater gute Möbel kommen, Spiegel, gefütterte Vorhänge, ordentliche Wäsche, warme Decken, Kleider für Adele, Pelze sogar, in den Sommermonaten Wasser einleiten, neue Fenster einsetzen & abdichten, eine Toilette im Haus installieren, das Häuschen in jeder Weise streichen & renovieren, sodass sie bald bei Nacht & Nebel nicht einmal mehr die alte Trissebude aufsuchen mussten, sondern über ein Wasserklosett, ja ein kleines Bad im Haus verfügten und es nicht mehr wie früher durch die Fenster & Ritzen zog. Es wurde aus dem baufälligen & einfachen Häuschen langsam so etwas wie eine winzige schnuckelige Landvilla. Bald kam eine verglaste, beheizbare Veranda hinzu, sodass sie ein Zimmer dazu gewannen, das Dach wurde erneuert, angehoben, und ein niedriges Dachgeschoß zum Schlafen entstand. Die Treppe in den ersten Stock, also unter das Dach, wurde fertig angeliefert, passte auf den Zentimeter genau. Adele staunte nicht schlecht darüber, was es alles gab, und was sich machen ließ, wenn man nur genügend Geld & Wissen besaß. Im Dorf wurde bereits geredet, gemutmaßt, getratscht. Es war das erste Mal in Adeles Leben, dass sie beneidet wurde, man sie zuerst grüßte und mit Respekt behandelte. Tatsächlich ging Alexander auch, als er die Schule bereits hätte verlassen können, noch weiter dorthin, etwas, was niemand verstand, doch sie wussten auch nichts von seinem schönen Leben bei Adele, denn nie lud er jemanden ein, obwohl sie es ihm gerne erlaubt hätte, doch er hütete dieses Geheimnis, dieses Glück wie einen Goldschatz. Er versprach ihr sogar, dass er, wenn er in ein Internat müsse, in 409 den Ferien bei ihr wohnen und zu ihr nach Hause kommen würde, nicht etwa nach Stockholm oder Uppsala, wo sein Vater Häuser besaß. Doch Adele war schon alt, und eines Tages erlitt sie einen Schlaganfall, sie konnte nicht mehr reden, nicht mehr aufstehen, hatte ein schiefes Gesicht, der Speichel lief ihr aus dem Mund. Es war passiert, als Alexander in der Schule war, sie lebte noch einige schwere Tage, dann starb sie in seinen Armen. So kam es, dass er sie früher als geplant verlassen musste, doch nicht er war fortgegangen, sondern sie. Nie hatte er daran gedacht, dass sie sterben könnte, und nun war sie tot. Es geschah etwa um seinen vierzehnten Geburtstag, mitten im achten Volksschuljahr. Wie er die Tage der Beerdigung überstanden hat, wusste er später nicht mehr. Als Adele gestorben war, muss er zum Pastor gelaufen sein, ihm atemlos berichtet haben, danach geschah alles ohne seine Wahrnehmung. Man holte sie ab, läutete die Glocken, sodass einige Leute aus dem Dorf herbeikamen, senkte sie hinab in ein kaltes Grab, schüttete steinige Erde auf sie, steckte ein Holzkreuz hinein und entfernte sich. In welchem Zeitraum sich dies alles abgespielt hatte, wusste er zu keiner Zeit, denn Alexander war abwesend von diesem Geschehen, schien nur ab & zu aufzuwachen. Allein blieb er den Rest des Tages zurück an diesem schmucklosen Grab, vielleicht die halbe Nacht, bis lange nach Einbruch der Dunkelheit. Heim kam er in ein finsteres leeres Haus, konnte nun endlich weinen, während ihn die Hunde, die auf ihn gewartet hatten, traurig & eindringlich anschauten, ihn zu fragen schienen, was jetzt mit ihnen geschehen würde. Fürs erste änderte sich nichts, er war halt nun allein, kochte für sich, versorgte das Haus und die Tiere, welche er genau wie Adele über alles liebte. Er beendete zu Schulschluss die Volksschule, ging ein letztes Mal nach Hause, wartete auf seinen Vater, versperrte die Haustür, nahm die Schlittenhunde mit, die ihm 410 ängstlich folgten, ihn fragend anschauten, nicht von seiner Seite wichen, rechts & links so dicht bei ihm gingen, dass er kaum vorwärts kam, so als fürchteten sie, er könnte sie zurücklassen, verschenken wie die Hühner oder gar erschießen. So verließ er mit ihnen die Ortschaft, die so lang, so schön seine Heimat gewesen war. XVI Wieder Abschied & Aufbruch Ende der Kindheit Im Sommer des Jahres 1948 beginnt Alexander mit seinem Vater zu reisen. Er lernt Schweden nun von einer anderen Seite kennen, den äußersten Norden, unbekannte Orte & Menschen, die mit ihren Rentieren auf der Wanderschaft sind, ein bescheidenes, aber freies Leben führen. Abends sitzen sein Vater & er mit diesen Nomaden & Halbnomaden am Lagerfeuer, im Zelt, essen, tanzen, musizieren mit ihnen. Alexanders Vater besitzt eine Ziehharmonika, auf der er zum Tanz aufspielt, zu der er Lieder singt & singen lässt, Stimmung in die Abende zaubert. Alle umringen seinen Vater wie einen besonderen Gast, behandeln ihn gleichzeitig wie einen der ihren, mit großem Wohlwollen & Respekt. Er ist derjenige, mit dem sie Geschäfte machen wie mit niemandem sonst, denn über viele Jahre hat er sich ihr Vertrauen erworben. Er kauft ihnen die Felle ab, erstmals zahlt jemand ohne wenn & aber in barem Geld für ihre Produkte, bringt Scheine & Münzen dafür. Er schätzt ihre Waren, ihre Arbeit richtig ein, haut sie nicht übers Ohr, versucht, sie nicht herunterzuhandeln. Sie danken es ihm mit allem, was ihnen zu Gebote steht. Sie geben ihm ihrerseits wieder Aufträge, möchten Anzüge wie er, Mäntel, Schuhe, Hüte, etwas von jener eleganten Machart eben, 411 einen Hauch von dem, was es drunten im warmen feinen Süden Schwedens so selbstverständlich gibt, denn Smaland, das klingt für sie bereits wie für die Stockholmer Rom oder der Tessin, klingt nach dem Land, wo die Zitronen blühen. Junge Samojeden arbeiten für Alexanders Vater, er nimmt sie mit nach Uppsala, Göteborg, Malmö, einige sogar ins Ausland, auf Auktionen, gibt ihnen Arbeit & Ausbildung, eine Ahnung von dem, was es bedeutet, Handel zu treiben, ein Geschäftsmann zu sein. Ein erstes Mal sehen sie Herren, die, ohne einen Finger zu rühren, hohe Geldbeträge bezahlen, verdienen, verschieben, in Sicherheit bringen, Felle in Pelze und Pelze in Gold verwandeln. Längst hat er sich eine eigene, weit verzweigte Struktur des Pelzhandels aufgebaut, verfügt über Angestellte, die in seinem Sinne und in seinem Auftrag für ihn an verschiedenen Orten tätig sind. Sogar Alexander wusste bisher nicht, dass es in allen Städten Schwedens eine Niederlassung des Unternehmens seines Vaters gab, mit ungläubigen Augen sah er am Ende dieses Sommers die imposanten beleuchteten Schriften golden & schwarz hinter Glas gemalt Pelzhaus Alexander Sommerfeld: in Uppsala, in Göteborg, in Malmö, in Stockholm. Alexander staunt & staunt, als er sieht wie sein Vater, fast einem König gleich, bewundert & geachtet wird, obwohl er, der Bub, sich das alles so wenig vorstellen kann wie Adele es gekonnt hätte oder die beiden jungen Nomaden, die sie nun begleiteten und genauso daneben standen wie er. Wo immer sie in diesem Sommer hinkommen, laufen zuerst die Kinder herbei, später dann die Erwachsenen, lauschen Alexanders Vater, der ihrer Sprache mächtig ist, einer Sprache, die sein Sohn nicht versteht. Zum ersten Mal sieht er wie sein Vater wirklich lebt, wie & womit er Geld verdient, ihm gefällt diese Seite seines Lebens in Freiheit, die Schönheit des Einfachen, Alexander lernt aber auch, welch‘ große Verantwortung er trägt. Wohin sie auch fahren, überall 412 werden sie längst erwartet und aufs herzlichste begrüßt. Sie kommen voll bepackt mit Paketen, Kleidern, Schuhen, Süßigkeiten, Kaffee, Delikatessen, allen möglichen Gegenständen & Geschenken in den Norden, alles in allem Aufträge & Wünsche, die sein Vater im letzten Jahr entgegengenommen hat und jetzt auslieferte. Herr Sommerfeld ist so beliebt, dass er immer von Leuten umringt wird, einerlei, ob sie mit ihm persönlich zu tun haben oder nicht, allein sein Erscheinen löst Entzücken & Freude aus, bringt Abwechslung & Überraschungen ins Dorf. Nicht selten lädt er abends ins Gasthaus, in den Pfarrhof ein, wo er für Speisen & Getränke für alle aufkommt, und während er Gespräche führt, Verträge unterschreibt, verhandelt, dürfen alle feiern, essen & trinken, ohne etwas bezahlen zu müssen. Dass er ihnen nun seinen Sohn vorstellt, dessen Geschichte bereits alle kennen, hebt ihn in die allerhöchsten Regionen der Beliebtheit empor. Junge wie alte Frauen fühlen sich aufgerufen, sich um den jungen Alexander zu kümmern, sich ihm bewundernd zu nähern, ihn zu berühren, zu betrachten, einzuladen, zu verwöhnen, ihre Mütterlichkeit wird durch ihn angesprochen, wieder aufgefrischt. So ein feines stilles Kind haben sie noch nie bei sich gehabt. Alexander ist zwar schüchtern & zurückhaltend, doch ihm können sie unverhohlener als seinem Vater, zu dem sie als erwachsene Frauen ja einen bestimmten Abstand einhalten müssen, ihre Sympathie & Dankbarkeit zeigen. Alexander überrascht die warme Freundlichkeit, die ihm von Fremden entgegengebracht wird, besonders. Hier ist es nicht wie in der Schule, wo er gehänselt & ausgegrenzt wurde. Er darf nun den Schutz und das Ansehen seines Vaters genießen, erkennt zum ersten Mal, was es heißt, nicht einzeln in der Welt zu stehen, nicht allein zu sein mit allen Situationen & Problemen, sondern sich zurücklehnen zu können und seinen Vater für sich handeln & reden zu lassen. 413 Hatte er sich nicht oft leid gesehen an den anderen, die an der Hand der Mutter in die Schule, die Kirche gekommen waren, immer jemanden hatten, der für sie die Kohlen aus dem Feuer holte oder einfach jemanden, der den anderen Respekt einflößte, sodass sie sich nicht mehr gerade alles trauten. Ja, es war schon so, ein Kind ohne Mutter, ohne Eltern ist ganz & gar verloren, so dachte Alexander jetzt. Wie oft hatte ihm seine Schüchternheit zu schaffen zu gemacht, doch immer musste er sie überwinden, um die Lage zu meistern. Niemand redete für ihn, gab ihm Ratschläge, stand ihm zur Seite. So lernte er die Dinge & Menschen kennen, von Anfang an und von ganz unten. Wo konnte er schon hingehen, um sich auszusprechen, Fragen zu stellen, zu weinen? Adele, die liebe, liebe Adele war die einzige gewesen in den letzten Jahren, doch er hatte sie nicht mehr. Hier aber lachte ihn keiner aus, sein Vater schenkte ihm seine ganze Aufmerksamkeit, las ihm jeden Wunsch von den Augen ab, obwohl er, Alexander, keinen anderen hatte, als dass es immer so bleiben möge. In anderen Ferien machten sie noch viel weitere Reisen, fuhren ins Ausland, nach Dänemark, Norwegen, England, Deutschland, Frankreich, immer weiter fort, sogar bis nach Spanien. Doch in Alexanders Erinnerung blieb die schönste Fahrt jene allererste in den Norden in dem Sommer, der auf Adeles Tod gefolgt war. Wo sie in einfachen Gasthäusern übernachteten, eng beieinander unter einer Decke lagen, sein Vater ihm Geschichten erzählte, sich nicht genierte, ihn zu herzen und zu küssen, etwas, wofür dieser eines Tages meinte, eine Erklärung schuldig zu sein. Er hatte gespürt, wie sehr es den Jungen nach Nähe & Zärtlichkeit verlangte und er, der Vater, es anfangs fast nicht wagte, sie ihm zu geben, zum Ausdruck zu bringen, was ihm doch selber so sehr fehlte und am Herzen lag. Weißt du, es ist, weil du keine Mutter hast, verstehst du das? 414 Ja. Weil es nicht üblich ist, dass Väter ihre Söhne küssen. Nicht? Warum nicht? Was ist falsch daran? Tust du es nicht gerne? Natürlich tue ich es gerne. Ich muss für dich doch Papa UND Mama sein, nicht wahr? Ich möchte es auch für dich tun, ich möchte ganz dicht bei dir liegen und dich festhalten. Und so sollte es bleiben. Am liebsten war es beiden, wenn es Abend wurde und sie beieinander liegen konnten, um eng umschlungen einzuschlafen. In den gemeinsamen Sommern, die sie zur Gänze miteinander verbrachten, erzählte Alexander seinem Vater die Erlebnisse & Vorkommnisse des vergangenen Jahres, alles, was ihm einfiel, manchmal sogar mehrmals. Nie unterbrach ihn sein Vater, immer hörte er zu, lauschte den Worten seines Sohnes, auch, wenn es ab & zu vorkam, dass er bereits hinüber glitt in einen sanften Schlaf. Die Ferien, in denen sie in fremde Länder reisten, sollten vorerst die einzigen bleiben, denn Alexander zog es in den Norden, wo er in vertrauter Umgebung und bei netten Menschen mit seinem Vater eins & allein sein konnte. Die Sehenswürdigkeiten im Ausland freilich, sie waren gewiss interessant, es gehörte, wie es hieß zur Bildung, Bauwerke, Museen, Gotteshäuser zu besuchen, aber die Mühsal des Reisens durch andere Länder, die Organisation, mit der sein Vater zwangsläufig beschäftigt war, absorbierte, lenkte, so fand Alexander, vom Wesentlichen ab, ließ sie einander zeitweise vergessen. Sie lebten quasi in der Öffentlichkeit von Hotels & Restaurants unter den Augen Fremder, das alles trennte sie 415 voneinander, machte vor allem Alexander schüchtern & unsicher. Es beleidigte & erschreckte ihn, wenn er bemerkte, dass Frauen seinem Vater nachschauten, ihn verstohlen beobachteten, man sich Gedanken über sie beide zu machen schien, ihnen vielsagende Blicke zuwarf. Wahrscheinlich ist die Mutter gestorben, tuschelten sie vielleicht, sie sind auf der Durchreise, sie sollen aus dem Norden kommen… . Die Verschiedenheit und die Menge der Eindrücke, die vielen Menschen durcheinander, die fremden Sprachen, es war ihm zu viel, er sah nicht ein, was daran gut sein sollte, seinen Vater wie einen Reiseleiter ermüdet zu sehen. Auch wollte er ihn nicht teilen, er hasste es allmählich, wenn abends jemand an ihren Tisch kam, seinen Vater ansprach, mit ihm ein Gespräch, von dem er nichts verstand, anfing, ihnen damit ihre kostbare Gemeinsamkeit raubte. Er empfand diese harmlose & freundlich gemeinte, durchaus übliche Gepflogenheit als Störung, als Unverschämtheit, als einen gewaltsamen Akt, der ihm seinen Vater wegnahm, die kurze Zeit, die er mit ihm verbringen durfte, verkleinerte. Er fühlte sich dann wieder ausgegrenzt & einsam, für scheinbar Wichtigeres zur Seite geschoben. Genau so wenig mochte er es, wenn sie ihn nur aus Höflichkeit beachteten, irgendetwas Oberflächliches fragten, denn was ging sie das an, und was kümmerte ihn, dass der & der Herr, die & die Dame eine Tochter ähnlichen Alters besaßen! Nein, er wollte zurück nach Schweden, mit seinem Vater wieder in den Norden fahren, nichts anderes, nichts anderes! Nur dies, dass sie beide ganz allein & innig beieinander seien. Sich wieder aufmachten zu den einfachen & guten Menschen, wie Alexander meinte, solchen, die es schwer hatten wie er, auf ihre Weise das Leben so tapfer meisterten, wo Fragen des Überlebens gestellt wurden und nicht etwas wie Gesellschaftsspiele von Bedeutung waren. Sein Vater hatte es gut gemeint, er wollte ihm die Welt zeigen, doch für den jungen Sommerfeld zählte nichts als das Zusammensein mit seinem Vater, der, wie er selbst einst gesagt hatte, für ihn doch Vater UND 416 Mutter sein musste, die Zeit also verdoppelt statt halbiert werden sollte. Schon in jenem allerersten Sommer ist Alexander überwältigt von der Landschaft, dem Himmel, den Tieren des Nordens gewesen. Er fühlt sich wohl in dieser Einschicht, ist zum ersten Mal so lange mit seinem Vater zusammen, wünscht sich insgeheim nichts anderes mehr. Weit mehr als ein halbes Jahrhundert später sollte er zurückkommen, sich an jene ferne Zeit mit seinem Vater, an damals, erinnern, wieder in den bescheidenen Dörfern, der weiten grenzenlosen Landschaft den Sommer verbringen, mit den Nomaden leben, ihnen bei der Arbeit helfen, mit ihnen musizieren, tanzen, von Sommer zu Sommer besser ihre Sprache verstehen. Manche, die damals Kinder waren wie er, werden ihn noch kennen, wie eine Fata Morgana wird er ihnen vorkommen, denn er ist dem alten Herrn Sommerfeld von damals ganz ähnlich geworden, ja, wie aus dem Gesicht geschnitten. Am Ende dieser ersten, zur persönlichen Legende gewordenen, beinahe mythologischen Zeit, die Alexander durch sein ganzes Leben trägt wie einen Schatz, kommt er auf die Höhere Schule nach Uppland, nicht weit von Uppsala. Das Haus, in dem er aufgenommen wird, liegt etwas abgelegen in der Gegend zwischen den kleinen Ortschaften Osterbybruk und Tärnsjö. Diesmal ist es ein Pastorenhaushalt, ein großes klassizistisches Haus mit einem antiken weißen Portikus, ganz aus Holz, sodass es überall knarrt & kracht, rot gestrichen mit hellen Fensterstöcken, ringsherum ein weißer Lattenzaun mit einem lustigen Postkasten daran, der aussieht wie ein Vogelhaus und oft von den Vögeln dafür gehalten wird. Alexander gefällt es sofort, denn wie bei Adele hängen an den 417 Fenstern weiße Spitzenvorhänge, leuchten abends Laternen, wie überhaupt das Innere sehr gemütlich & geräumig ist. Das Pastorenpaar hat eigene Kinder, die Söhne sind bereits aus dem Haus, doch es gibt noch ein allerliebstes Mädchen, namens Astrid, genau so alt wie Alexander, und, als ob dies nicht genug wäre, gehen sie miteinander zwar nicht in dieselbe Schule, doch überwiegend den gleichen Weg. Astrid besucht ein Mädcheninstitut für wirtschaftliche Frauenberufe, Alexander das Gymnasium. Da sie bereits beim ersten Anblick aneinander Gefallen finden, fällt Alexander der Abschied von seinem Vater nicht so schwer wie er befürchtet hatte. Herr Sommerfeld ist nach diesem so überaus schönen Sommer zwar traurig über die Trennung, doch insgeheim froh über die sichtbare Zuneigung Alexanders zu Astrid. Es ist nicht leicht für ihn, seinen einzigen Sohn immer wieder bei fremden Leuten zurückzulassen, wo er sich von neuem umstellen muss, einrichten auf die Gegebenheiten, sich arrangieren, dareinfinden, letztlich wieder ohne ihn, neuen, unbekannten Problemen gegenübersteht. Doch wenigstens wird er nicht so einsam sein, denkt er. Noch dazu ein Mädchen, süß, mit blonden Locken, wie ein kleiner Engel. Vielleicht, so hofft er, kann er auf diese Weise den Verlust von Adele leichter überwinden. Die Zimmer der Kinder liegen direkt nebeneinander, abends sitzen sie lange am Gang mitten auf dem Boden und reden miteinander, vergleichen & überprüfen gegenseitig ihre Hausübungen. Am Tisch beim Essen stoßen ihre Stühle aneinander, berühren sich manchmal ihre Ellbogen, rückt Astrid das eine oder andere Mal näher als nötig an ihn heran. Alexander & Astrid helfen gemeinsam beim Abwaschen & Kochen, beim Vorbereiten der zahlreichen Zusammenkünfte im Pfarrhaus, kneten Teige für Kuchen, backen Kekse, belegen Brötchen für Pfarrabende & Sonntagskaffees, sind bald 418 eingebunden in die umfangreichen Arbeiten eines öffentlichen Haushalts wie diesem. Der anfangs schüchterne Alexander taut nach & nach auf, denn Astrid ist natürlich & offen, ohne irgendwelche Vorurteile, findet es nach dem Auszug der Brüder gar nicht komisch, sondern aufregend & interessant, wieder einen Jungen im Haus zu haben. Die Buben sind ihr ohnehin seit jeher lieber als die Mädchen gewesen. Auch die Kolleginnen aus ihrer jetzigen Klasse langweilen sie mit ihren Tratschereien und kitschigen Ansichten. Sie kann mit Alexander gut umgehen, es kommt sogar so weit, dass sich die Pflegeeltern beinah aus der Kindererziehung zurückziehen und sich ihren umfangreichen sozialen Aufgaben in der Gemeinde besser widmen können. Manchmal scherzen sie darüber, wie wenig die beiden sie in Anspruch nehmen, wie gut sie sich verstehen, wie froh sie selbst darüber sind, ja, wie überflüssig sie sich als Eltern zuweilen vorkommen. Das Haus des Pastors mit dem schönen Namen Lindström ist sehr gesellig, auch über die Pfarreinladungen & –belange hinaus. Es gibt Zeiten, wo jeden Abend Gäste kommen, eine Menge zu tun ist, jede Hilfe gebraucht wird, und so wächst Alexander ganz selbstverständlich in die Aufgaben eines evangelischen Haushaltes hinein. Wie alle anderen besucht er den Religionsunterricht, die Sonntagsschule, liest die Bibel, lernt Psalmen auswendig, schaut dem Pastor beim Schreiben seiner Predigt über die Schulter, der sich nicht geniert, ihn ab & zu um seine Meinung zu fragen. Später diskutieren sie immer öfter miteinander theologische Fragen, der jüdische Junge lernt über einen christlichen Priester sein eigenes Volk und dessen religiöse Geschichte kennen. Der Pastor schätzt das analytische & kritische Denkvermögen Alexanders, seine launigen, oft witzigen Anmerkungen, seine mitunter gefinkelten Fragen, ja, er lässt die Predigten bald von ihm gegenlesen, berät sich in kniffeligen Fragen mit ihm. Der 419 kleine Jude, wie er ihn manchmal scherzhaft nennt, nimmt die biblischen Dinge nicht so ernst wie er & seinesgleichen, und doch lernen beide voneinander, verstehen sich ausnehmend gut, um Häuser besser als früher der Pastor mit den eigenen Söhnen, die an seinem Beruf kaum Anteil nahmen, denen das ewige Predigtgerede, das ständige hin & her, das Abwiegen der Wörter auf der Goldwaage des Gewissens auf die Nerven ging. Seine Buben hatten dieses Interesse nie wirklich aufgebracht, konnten eines Tages den ganzen Kram überhaupt nicht mehr hören, weigerten sich, die ständigen dörflichen & kleinstädtischen Probleme für wichtig zu erachten. Sie waren es leid, die persönlichen Verhältnisse so gut wie aller Gemeindemitglieder zwangsläufig zu kennen, die zahlreichen Besuche zu ertragen, Botschaften entgegenzunehmen, Verständnis für ihre Sorgen aufzubringen, weiterzuleiten. Sie wollten, vor allem, als sie älter wurden, die Offenheit des Hauses und die Öffentlichkeit des Privaten nicht mehr, ihr Leben in diesem Schaufenster, den Druck innerhalb der Familie, die Vorbild-funktion, die sie innehatten. Ihre privaten Nöte wurden nicht erörtert, es durfte sie einfach nicht geben, immer waren die anderen, war die Gemeinde, war dieses & jenes wichtiger. Schließlich sahen sie sogar ein, dass es sich tatsächlich so verhielt, denn was waren ihre eigenen Dinge wirklich gegen die endlose Kette des Leidens, gegen die Ausweglosigkeit, die Krankheiten, die eines Tages jeden ereilten, die Abgründe, in die sie oft schauten, die seelische & materielle Armut. Sogar die Ehe der Eltern lag unter einem Berg von Verantwortung & Gewissenhaftigkeit begraben, kaum, dass sie einmal locker & frei sein durften wie andere Paare, schon der harmloseste Witz, der kleinste Spaß wurde mit Argwohn gehört, mit unstatthaftem Übermut in Verbindung gebracht, das Aussehen der Frau Pastor fast täglich kommentiert, ihre Pflichten & Aufgaben begutachtet & kritisiert. Ein Haus wie dieses musste makellos sein, Modell des göttlichen 420 wie des menschlichen Handelns für die Gemeinde. Jeder Tag, jede Nacht ein Spagat zwischen Liebe & Disziplin, ein kaum zu bewältigender Spitzentanz. Sie selbst konnten sich oft nicht entscheiden zwischen ihrer Rolle als Eltern und der als Ehepaar, zwischen Privatheit & Öffentlichkeit. Es existierte längst mehr Strenge als Zuneigung, es gab keine Linie mehr zwischen dem einen und dem anderen. Die persönliche, die eheliche Liebe fiel mehr & mehr den täglichen Anforderungen zum Opfer, war manchmal kaum noch zu erkennen, obwohl es der Gemeinde nicht auffiel, diese wohl meinte, vom Pastorenpaar alles verlangen & erwarten zu dürfen. Mit Alexander aber kam nicht nur ein anderes Gesicht ins Haus, sondern ein neuer, ein fröhlicherer Blick auf die Ereignisse, ein frischer Wind, eine andere Welt beinah. Zwar musste auch er sich den Regeln anpassen, durfte nichts ohne Absprache oder Anfrage entscheiden, doch von Beginn an hatte er eine Sonderstellung inne, gerade so, als hätten sie auf ihn gewartet. Von Anfang an galt er als etwas Besonderes. Die Frau Pastor behandelte ihn milder als einst ihre eigenen Söhne, vertraute ihm Aufgaben & Geheimnisse an, die sie mit anderen nie geteilt hätte, bat ihn sogar in Kleiderfragen oder ihren Mann betreffend, um Rat. Als sie einmal krank war, pflegte Alexander sie, als hätte er nie etwas anderes getan, sodass sie gar meinte: Also, wenn du nicht einmal Arzt wirst! Auch schrieb sie an seinen Vater nur das allerbeste, lobte den Buben in den höchsten Tönen, lud Herrn Sommerfeld sogar in aller Form ein, doch die Weihnachtsfeiertage bei ihnen zu verbringen. Ein Wunsch, dem dieser mit Freuden und sofort nachkam, sodass er bereits etliche Tage vor dem Heiligen Abend mit seinem Wagen vor der Tür stand, den Rücksitz, den Kofferraum, den Platz neben sich voller Geschenke, kaum dass er noch schalten & lenken konnte, und als ob das nicht genug wäre, 421 hatte er noch Koffer & Taschen auf dem Wagendach, war nicht weniger aufgeregt als Alexander oder Frau & Herr Lindström. Wie bestellt, hatte es eine Woche vor dem Fest zu schneien begonnen, in dicken, dichten Flocken, und es sah nicht aus, als wollte es so bald wieder aufhören. Es sollte eine unvergessliche Weihnacht mit einem riesigen, über & über mit Sternen, Figürchen & Süßigkeiten behängten Tannenbaum & Gaben für jedermann werden. Herr Sommerfeld hatte die Einladung derartig ernst genommen, sich so geehrt gefühlt, dass er so gut wie nichts ausließ, mitzubringen und damit zu einem außerordentlichen Gelingen des Festes beitrug. Obwohl die Weihnachtsfeiertage im Pastorenhaus auch normalerweise nicht gerade bescheiden von statten gingen, war dieser großbürgerliche Stil doch überaus ungewöhnlich. Die honorigen Leute, die, wie jedes Jahr zu Tisch geladen und jene, die so arm waren, dass sie sich ihr Weihnachtsessen vor der Tür draußen abholen durften, staunten alle in seltener Eintracht, als sie diesen neuen Glanz zu Gesicht bekamen. Vorsichtig lugten sie um die Ecke, bemühten sich, die Geräusche, das Gläserklingen & Lachen zu hören, die feinen Gerüche zu definieren oder wenigstens einen Blick in das Innere dieser warmen & hellen Herrlichkeit zu erhaschen. Gleich nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag machte sich daher Alexanders Vater mit seinem Wagen auf nach Uppsala, um Nachschub zu besorgen. Es war ihm peinlich, all die Menschen an den Fensterscheiben zu sehen, die Ärmeren der Gemeinde mit milden Gaben abzuspeisen und sie, wissend geworden über die reichhaltige Wirklichkeit anderer Leute, fortgehen zu lassen. Wie sich später herausgestellt hat, sollte es drei dieser großartigen Weihnachtsfeste geben, ja sie würden zu Ostern und allerlei Anlässen eine Art Wiederholung erfahren. Herr Sommerfeld pflegte nun sogar zu Mittsommer zu erscheinen 422 und an alles & jeden zu denken, denn er konnte sich nichts Schöneres & Wichtigeres vorstellen, als seinen einzigen Sohn unter so vielen Menschen glücklich zu sehen. Wozu sollte er schließlich arbeiten, Geld verdienen, was ihm doch so leicht fiel und wofür ihm eigentlich keine andere Verwendung einleuchtete, als es für Alexander aufzuheben oder für Marie auszugeben. Er unterstützte Rahels kleine Schwester, hatte ihr Studium, ihren Unterhalt bezahlt, ihre Ausstattung, ihre Tanzkurse, sie wohnte jetzt in seinem Stadthaus in Stockholm, als wäre es ihr eigenes, verfügte über eine Hausangestellte, konnte sich bestellen & wünschen, was sie wollte. Er tat es immer noch, obwohl sie zunehmend versuchte, es abzulehnen, denn schließlich verdiente sie als Lehrerin einer angesehenen Mädchenschule in Stockholm bereits ihr eigenes Geld. Wie hätte er ahnen sollen, wie sehr sie in ihn verliebt war, wie viel sie von Rahel über ihn wusste! Nichts hätte sie lieber getan, als mit ihm gelebt! Er indes gab ihr zwar alles, las ihr, wie man so sagt, quasi jeden Wunsch von den Augen ab, überhäufte & überraschte sie mit Geschenken, führte sie zum Essen aus, ging mit ihr, wenn seine Zeit es zuließ, ins Theater, in Konzerte, auf Bälle, doch was sie so heiß ersehnte, worüber sie Tag & Nacht in Aufruhr war, darauf kam er nicht. Nie trat er ihr zu nahe, nie war er etwas anderes als charmant, ihr Tanzpartner & Begleiter, doch nie bekam sie mehr als einen Handkuss, einen Händedruck, eine Verbeugung, und niemand, niemand hätte ihnen geglaubt, dass sie kein Liebespaar waren. Er war einfach loyal gegenüber Rahel und ihrer Familie, fühlte sich für Marie verantwortlich, so, als wäre sie sein Kind, genau wie Alexander, und schließlich blieb sie ja seine Schwägerin, auch ohne lebendige Rahel. Jedenfalls kam Herr Sommerfeld in jenen Jahren & Tagen mit Schachteln & Säcken voller Spezialitäten, und jeder, der bei 423 Lindströms vorbeischaute, durfte hereinkommen, sich an den Tisch setzen & mitessen. Mit Scheu taten sie es, mit Schüchternheit & Neugier zugleich, ungläubig, als würden sie träumen, ihren Augen & Ohren nicht trauen. Dass es so dermaßen reiche Leute überhaupt gab, hier in Schweden, das hätten sie im Schlaf nicht geglaubt. Alexander hatte sich von Anfang an gut in der Schule gemacht, in der Pastorenfamilie, in der Gemeinde, sich schnell eingewöhnt, sah vollkommen glücklich & zufrieden aus. Es war sogar in der Ortschaft niemandem entgangen, wie sehr er & Astrid sich mochten. Sein Vater freute sich besonders darüber, hatte Alexander doch wieder jemanden gefunden, mit dem er gerne zusammen war, noch dazu ein so liebreizendes Mädchen. Die Sorge also, er könne sich, nach allem, was hinter ihm lag, nicht wieder irgendwo einleben, schien nun unbegründet. Die Furcht des Vaters, der Junge würde wieder Heimweh haben, sich vernachlässigt fühlen, verlassen, gar einsam, verflüchtigte sich allmählich, denn oft hatte Herr Sommerfeld in endlosen & schlaflosen Nächten diese Gedanken gehabt. Ständig hatten ihn Fragen über Fragen beschäftigt, verursachten ihm ein schlechtes Gewissen, einen schweren Kopf, verschlossen seine Augen & Sinne für andere Dinge. Doch nun schien sich alles zum Guten gewendet zu haben, und er konnte endlich wieder aufatmen. Indes bewunderten ihn die Frauen, redeten über ihn, begehrten ihn, Marie nicht nur, sondern auch viele andere. Er hätte jede Frau auf der Stelle haben können, war er doch Witwer, allein erziehender Vater, reich, gut aussehend, ach, was gab es in aller Welt Besseres, als so einen Mann! Das Mitleidsmoment schien besonders anziehend zu sein, doch jede noch so sanfte Annäherung von weiblicher Seite erwies sich als vergeblich. Er war resistent, weil gefangen in seiner Welt, lebte privat ein beinah mönchisches Leben, wie sehr ahnte nicht einmal Alexander, doch eines Tages würde ihm ein Licht aufgehen, er 424 Zeuge einer Szene werden, die mit einem Schlag das oft seltsame Verhalten seines Vaters erklärte. Noch lange jedenfalls und immer wieder redeten die Leute des Ortes und der Gegend über den unverhofften Segen, der mit dem mutterlosen Jungen über den Pastor, seine Frau und letztlich sie alle gekommen war. Alexander & Astrid sind ein Herz und eine Seele, schrieb der Pastor wörtlich an Herrn Sommerfeld, uns beide beneidet man um unsere prächtigen Kinder! Ich wage mir gar nicht vorzustellen, dass sie eines Tages ein Paar werden könnten und wir die gemeinsamen Großväter! Was für eine verwegene Vorstellung, nicht wahr? Seien Sie einem alten Mann nicht gram über solch‘ senile Gedanken! Ihr Sohn ist etwas ganz Besonderes, darüber reden meine Frau und ich oft miteinander, unsere eigenen Jungen waren nicht so, sie passten weniger zu einem Pastorenehepaar als Alexander, der uns darum wie ein eigner Bub geworden ist, aber, was Gott der Herr mit uns Menschen vorhat, ist halt unergründlich. Wir sind glücklich, dass wir Alexander bei uns aufnehmen durften und fühlen uns Ihnen in aller Demut zu großem Dank verpflichtet. Seien Sie stolz über die außerordentliche Klugheit und Liebenswürdigkeit dieses Kindes! Auch, wenn er uns einmal verlassen sollte, wird er immer in unseren Herzen sein. Seien Sie gegrüßt und gesegnet! Möge allen Ihren Unternehmungen Erfolg beschieden sein. Wir freuen uns, wenn Sie wieder zu uns kommen und einige Zeit mit uns und Alexander verbringen. Seien Sie unbesorgt, es ist alles in bester Ordnung, dies rufe ich Ihnen zu, wo immer Sie sein mögen, wann immer Sie diesen Brief vorfinden, Ihr Sohn ist gut aufgehoben, wir behüten und lieben ihn wie unsere eigenen Kinder! Und haben Sie in unserem Namen und im Namen der ganzen Gemeinde den innigsten Dank für ihre außerordentliche Großzügigkeit, die wir alle genießen dürfen. 425 Ihr ergebener Pastor Gustav Per Lindström mit den herzlichsten Grüßen und Wünschen auch von der Frau Pastor. Groß ist die Freude, als Herr Sommerfeld diesen Brief erhält, ihn überglücklich zu seinen wichtigsten Schriftstücken legt. Doch eines Tages wird er ihn wieder & wieder lesen, genau wissen, wo er ihn einst verwahrt hat, denn mit einem Mal ist alles anders geworden. Drei Jahre sind vergangen, Astrid ist fünfzehn, Alexander sechzehn. Vorbei die gemeinsam gefeierten Feste, die Freude darüber, die Herrn Sommerfeld überall hin begleitete. Es hatte damit begonnen, dass Herr & Frau Lindström zu einem Pastorentreffen in eine, für damalige Verhältnisse, weit entfernte Ortschaft eingeladen wurden. Später wird Alexander sich wundern, wie lange & präzise die Vorbereitungen dafür waren, denn bald wurde über nichts anderes mehr gesprochen, beratschlagt, diskutiert, man konnte es, wie es aussah, nicht genau genug damit nehmen. Alexander & Astrid sollten zum ersten Mal allein das Haus hüten, auf alles aufpassen, nichts vergessen, eine würdige & adäquate Vertretung darstellen. Alexander fand es nicht weiter schwer, freute sich auf die Tage mit Astrid, wollte alles zur besten Zufriedenheit erledigen, begann auf seine Weise, sich mit den Anforderungen, die auf ihn zukamen, auseinander zu setzen. In Wahrheit dachte er besonders daran, wie sie wohl bis spät in der Nacht in der Küche, auf der Treppe oder am Gang zwischen ihren beiden Kammern ungestört sitzen könnten, schier endlos alles Mögliche besprechen, Karten legen, einander vorlesen, sich eine Kleinigkeit aus der Vorratskammer holen, später wieder weiter reden, jede Stunde, ja, jede Viertelstunde genießen dürften. Wie oft hatte sie, mal lauter, mal leiser, an die gemeinsame Wand geklopft, ihn damit quasi einzuladen versucht, hinüber zu kommen. 426 Doch er hat es nicht getan, nie ihr Zimmer betreten, obwohl sie immer wieder von Neuem damit anfing, sogar tagsüber vielsagend zwinkerte, Bemerkungen fallen ließ, ihr jeder noch so fadenscheinige Vorwand recht war, ihn so weit zu bringen, sie endlich zu besuchen. Einmal erschreckte sie ihn so sehr, dass er an ihre Tür eilte & glaubte, es wäre tatsächlich etwas Schlimmes passiert, so wie sie drüben jammerte & weinte. Dennoch war er nicht hinein gegangen, vielmehr kam sie auf sein Klopfen hin, selber heraus, schüttelte sich vor Lachen, musste sich den Bauch halten über seine Besorgnis, war voller Freude & Übermut darüber. Ab & zu kam es zu einem flüchtigen Kuss auf die Wangen während sie, eingehüllt in ihre Decken, auf dem Boden zwischen den Zimmern saßen & flüsterten & kicherten, was das Zeug hielt. Alexander wunderte sich später selber, wie sie so viel hatten schwatzen können, nie wieder in seinem Leben hatte er so viel zu sagen gehabt. Sie konnten über alles & jeden reden, über seine Lehrer, ihre Lehrerinnen, über ihre Eltern, seinen Vater. Sie imitierten die seltsamen Gestalten der Gemeinde, wetteiferten in ihren Beobachtungen & Erkenntnissen, wurden zu ansehnlichen Schauspielern, unterhielten sich hervorragend, verstanden sich prächtig in jeder Weise. Sie spielten am liebsten „Leute erraten“, wobei sie diese immer exakter charakterisierten, sich gegenseitig in der Darstellung zu überbieten versuchten, darüber Wetten abschlossen, Tränen lachten. Astrid ging so gut wie nicht mehr zu ihren Freundinnen, welche sie mit ihrem Getue längst zu Tode langweilten, doch, was ihr besondere Genugtuung verschaffte, sie zutiefst um Alexander beneideten. Er erzählte ihr aber auch von seinen Großeltern, die in seinen Augen einen ähnlichen Haushalt geführt hatten wie ihre eigenen Eltern, von seinen Reisen und anderen Erlebnissen, davon, was ihm bisher widerfahren war, von seiner unvergesslichen Adele gar, die ihm immer noch schmerzlich fehlte, und deren Verlust er ohne 427 Astrid wohl nicht überwunden hätte. Miteinander waren sie lustig & traurig, schätzten & ehrten sich, so empfand es Alexander. Sie plauderten über ihre Berufswünsche, ihre Vorstellungen vom Leben draußen in der Welt, hatten jede Menge Träume für die Zukunft, der Gesprächsstoff ging ihnen niemals aus. Doch eigentlich wollte Astrid nach der Schule nur schnell irgendeine Stelle finden, so bald wie möglich heiraten und Kinder kriegen, Hausfrau sein und nie mehr etwas lernen müssen. Sie war nicht der Typ zum Studieren, das wusste sie selbst am besten, daher bewunderte sie Alexander, für den nichts anderes in Frage kam. Am liebsten wollte sie einen Mann wie ihn haben, auf den sie stolz sein konnte, auch sie würde man in so einem Fall Frau Doktor, Frau Professor nennen, so war es damals, so gut wie keine Frau fand es nötig, selbst zu studieren, und üblich war es ohnehin nicht. Ihre Mutter hieß Frau Pastor, die Frau des Schuldirektors Frau Direktor und so weiter, soweit musste sie es auch ohne anstrengende Ausbildung bringen. Und schließlich, was war verkehrt daran, Hausfrau & Mutter zu sein, es gab Arbeit genug auf diesem Sektor, und sie ging Tag & Nacht nicht aus. Die meisten ihrer Mitschülerinnen in der Haushaltungsschule, die sie besuchte, wollten auch nichts anderes, ließen sich dort dafür ausbilden, eine Ehe, einen Haushalt zu führen. Sollten sie eine bessere Partie machen, würden sie wissen, wie man Hausmädchen beaufsichtigte, was von ihnen erwartet werden durfte, wie man die Schwiegermutter beeindruckte, Gäste bewirtete. Alexander hörte von Astrid, was sie in der Schule kochten & nähten, ja, sie brachte ihn soweit, zu den Schulempfängen & Ausstellungen zu kommen und von den Leckereien zu kosten, die auf langen, weiß gedeckten Tischen gezeigt & dargereicht wurden, die Werkstücke wie gestrickte Babygarnituren, mit Spitzen umrandete Nachthemden, bestickte Tischdecken, üppige Torten, selbst gewebte Teppiche, reichlich verzierte Polster, geflochtene Körbe, selbst kandierte Früchte, gestrickte Pullover & 428 Socken, und all die vielen, handgemachten & nützlichen Dinge zu bewundern. Und es war nicht einmal so, dass es Alexander nicht interessiert oder er es komisch gefunden hätte, im Gegenteil, er genoss diese Herrlichkeiten. Es wusste ja niemand, wie sehr er das Handwerkliche schätzte und sich danach sehnte, ebenso geschickt zu sein. Dies sollte sich in seinem ganzen Leben nicht ändern. Nie, so dachte er, könnte er so etwas zustande bringen. So kam er zu der Ansicht, nur Frauen seien dafür geschaffen, was für einen Mann unmöglich ist, vom Himmel zu zaubern. Er war außerstande, einen Unterschied zu erkennen zwischen dem, was von ihm verlangt war und was Astrid täglich in dieser Mädchenschule leisten musste. Seine Gleichungen, sein Latein, sein Altgriechisch, sein Französisch fand er trocken & spröde dagegen. Kein Vergleich mit dem Genuss eines duftenden Essens mit Suppe, Hauptspeise und Dessert. Er kannte keinen Burschen, der ein Knopfloch nähen oder einen Pfannkuchen hätte irgendwie braten können. Astrid erklärte ihm tausendmal, wie wenig das mit Hexerei oder Genialität zu tun hatte, sondern das Einfachste von der Welt war, wie sie hingegen niemals seine Aufgaben lösen oder auch nur die Fragestellung begreifen könnte. Und wirklich war es so, dass seine Schulkameraden nicht den geringsten Respekt vor diesen fraulichen Tätigkeiten empfanden, die Mädchen trotzdem für dämlich hielten und lediglich aus Eigennutz mit ihnen herumknutschten. Wenn sie zu ihren Schulveranstaltungen überhaupt gingen, dann weil man sich dort vollfressen konnte, und es gab immer jemanden, der eine Schwester dort hatte oder sonst jemanden kannte, der ihnen den freien Eintritt ermöglichte. Alexander aber trug das Heiligenbild einer Frau im Herzen, wie sein Vater es ihm dargestellt hatte, die Ikonen seiner Mutter & seiner Großmutter. Jedes Mädchen war für ihn etwas Besonderes, 429 allen voran Astrid, die im Augenblick zwar noch als freche Göre auftrat, doch bald werden würde, was alle Mädchen schließlich wurden: Ehefrau, Hausfrau, Mutter, und eines Tages sogar Großmutter. Nein, nein, das sagst du nur aus Bescheidenheit, konnte er antworten, wenn sie ihm widersprach. Alexanders Herz schlug jetzt oft wie eine Trommel, sein Blut strömte durch den Körper wie ein reißender Fluss, nichts in ihm ließ sich mehr von ihr ablenken. Doch es durfte nichts geschehen, es musste mehr denn je, alles so bleiben wie es endlich, endlich geworden war. Je mehr er seine wilde Verliebtheit gewahrte, umso mehr hielt er sich von Astrid fern, ging auf Distanz, fürchtete sich vor dem Funken, der jederzeit überspringen und ihn & sie verbrennen könnte. Wenn sie gemeinsam die Hausübungen in Angriff nahmen, rückte Astrid absichtlich immer öfter ganz nahe an ihn heran, ließ ihre bereits wohlgeformten Brüste beiläufig seinen Unterarm berühren, hob sich ein wenig und legte sie ihm wie einen besonderen Leckerbissen auf das offene Buch, tat, als könnte sie seine Erklärungen, um die sie ihn so dringend gebeten hatte, um nichts in der Welt begreifen, ließ ihn immer wieder von vorne beginnen während sie die Wirkung ihrer Annäherung genau beobachtete. Sie wusste natürlich, wie sehr sie ihn erregte und damit in Verlegenheit brachte. Ihrer besten Freundin hatte sie schon alles Mögliche & Unmögliche über ihre Beziehung zum jungen Sommerfeld, wie er allgemein genannt wurde, erzählt. Nicht dass es gestimmt hätte, doch sie machte sich damit unheimlich wichtig & interessant. Je mehr man ihr zuhörte, umso mutiger wurde sie, am Ende glaubte sie es schon selber. Wer konnte schon behaupten, von einem so wunderschönen, blitzgescheiten jungen Mann wie Alexander verehrt & begehrt zu werden, imstande zu sein, ihn verrückt zu machen, ihn nach ihren Küssen lechzen zu lassen, soweit gebracht zu haben, dass er so 430 gut wie alles dafür tun würde. Nicht weniger nämlich hatte sie dieser Freundin schon öfters berichtet, die mit der heißen Information nichts Besseres zu tun wusste, als ins nächstbeste Haus zu rennen und es weiter zu sagen. Überhaupt redete sie von den angeblichen Erlebnissen mit Alexander in einer Art Fortsetzungsroman, der sie selbst am meisten fesselte & unterhielt. Sie fand Spaß daran, die Reaktionen von Iris zu beobachten, auszuloten, wie weit sie gehen konnte, was diese ihr noch glauben würde. Iris aber, die in solchen Dingen völlig unerfahren & ausgehungert war, stachelte sie unbewusst sogar zu weiteren Lügengeschichten über ihre Affäre an, stellte jedes Mal genauere Fragen zu den Details. Immer verwegener erzählte Astrid, wie sehr er sie begehre, wie er sie nachts aufsuche und sie bedränge, dass er sie später heiraten werde, dass sie drauf & dran sei ein Kind von ihm zu erwarten, es also bereits zum äußersten gekommen war. Mit offenem Mund starrte die andere sie an, traute ihren Augen & Ohren kaum, hatte nie etwas Spannenderes gehört, nichts dergleichen in einem Film gesehen. Und das von einer Pastorentochter, was schließlich der eigentliche Skandal daran war! Gerade noch hatte sie ihr den nackten Bauch als Beweis ihrer, wenn auch äußerst frühen & sehr wahrscheinlichen Schwangerschaft gezeigt, betasten & behorchen lassen, und schon beim nächsten Mal erschien sie mit gut gespielter Verzweiflung über den plötzlichen Verlust des Babys, das unversehens ins Klo gefallen war, begleitet von schrecklichen Schmerzen & Blutungen, die sie allerdings für ihn und seine Liebe ertragen müsse, wie es das Los jeder Frau sei. Diese Szene gab sie mehr als einmal zum Besten. Dennoch wolle sie ihn gleich wieder bei sich liegen lassen, damit er wiederholen könne, was inzwischen zu seinem Recht gehöre, denn er schlafe keine Nacht mehr, ohne in sie eingedrungen zu 431 sein. Mit solchen Kitschigkeiten & Geschmacklosigkeiten hielt sie Iris in Atem, die naiv & leichtgläubig genug war, um wenigstens anfangs daran zu glauben. Doch niemand ist weniger geeignet, derlei für sich zu behalten, als die beste Freundin, und kein Geheimnis ist schwerer zu verwahren als dieses. Nur, was unter dem Siegel der Verschwiegenheit geredet, unter Schwüren & Versprechungen geflüstert wird, ist von Interesse, es weiterzutragen. Und so wussten bald auch andere, was Astrid zusammenphantasiert und selbst verbreitet hatte. Alexander indes war ohne die leiseste Ahnung, was die Mädchen hinter seinem Rücken über ihn zu wissen glaubten, was sie tuschelten, mit welch‘ heißem Eisen, wie sie es nannten, sie sich die Zeit vertrieben. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, es könnte etwas nicht stimmen, vor allem lag es außerhalb seiner Vorstellung, dass Astrid für ihre ganz persönliche Öffentlichkeit, um sich besonders wichtig zu machen, ein Bild gezeichnet haben könnte, das auch nur eine Silbe über ihrer beider erste Liebe verlauten ließ. Die Verantwortungslosigkeit aber, mit der sie Alexander missbrauchte und seine ehrliche Verliebtheit verriet, seine Ehre in den Schmutz zog, war nur ein Vorgeschmack auf das Ende, das sie mit einer noch dreisteren Behauptung so jäh herbeiführen sollte & musste. Auch andere Mädchen schwärmten von ihm, denn er unterschied sich gänzlich von den normalen Jungen, die entweder abweisend waren oder fordernd auftraten, keinen Gedanken an Weiberkram verschwendeten, ja, ihre Männlichkeit in der Ablehnung alles Weiblichen fast prahlend zur Schau stellten. In Wahrheit noch nicht in der Lage, in dieser Sache auf einen grünen Zweig zu kommen, wandten sie sich lieber ab und führten ein rudel- & rüpelhaftes Betragen vor. Astrid war die „Jüdischkeit“ Alexanders bekannt, als 432 Pastorentochter war ihr so etwas nicht ganz fremd, darin sah sie auch den Grund für seine Andersartigkeit, seine Scheu, seine Poesie, seine Intelligenz, seine Verletztheit & Verletzlichkeit. Sie wusste, dass er viele Dinge nicht durfte oder nur auf eine bestimmte Weise. Er hatte ihr außerdem einiges über seine persönliche Herkunft erzählt, darüber, wie sehr er seinem Vater in allem verantwortlich war, wie streng dieser ihn bei aller Liebe erzog und wie allein er sich damit unter den anderen fühlte, die weder religiösen noch familiären Zwängen dieser Art unterworfen waren. Von ihm hatte sie die biblischen Geschichten ganz anders gehört. Für ihn waren die Juden nicht die Feinde des Christentums. Das, wovon er wusste, war viel größer & komplizierter als die enge Auslegung & Auffassung von Religion, die sie kannte, Christus darin nicht der Mittelpunkt, sondern einer von vielen. Langsam sah sie mit seinen Augen, begriff, wie das Pastorenhaus, in dem sie aufgewachsen war, nicht die einzige Wahrheit, die es gleichwohl beanspruchte, besitzen konnte. Es machte Alexander nichts aus, auch protestantisch erzogen zu werden, quasi aus Selbstschutz konvertiert zu sein. Astrid erkannte, dass sein Kopf und sein Herz in eine weit größere Dimension reichten, als es ihr & ihren Eltern vorstellbar war. Auf den Gedanken eines Verrats ihrer unschuldigen Liebe also wäre er nicht gekommen, vertraute ihr ganz & gar, noch weniger glaubte er, sie könne etwas Verwerfliches über ihn sagen. Der Tag der Abreise von Astrids Eltern rückte indes näher. Es wurden bereits die letzten Instruktionen gegeben, Notizen aufgeschrieben, Vorräte eingekauft. Die Frau Pastor kochte Eintöpfe für Astrid & Alexander im voraus, sorgte dafür, dass die Speisekammer gut gefüllt war. Endlich begleiteten die beiden das Ehepaar zum Bahnhof, trugen ihre Taschen, winkten ihnen nach, blieben stehen, bis der Zug nicht mehr zu sehen, sein Geräusch verklungen war, die 433 Rauchspur der Dampfeisenbahn sich langsam in den Tiefen des Himmels auflöste. Sonst hatte Alexander manchmal seinen Vater auf diese Weise verabschiedet, ihm endlos lang nachgeschaut, war traurig & ängstlich zurückgeblieben. Zum erstem Mal stand er nicht allein auf dem Bahnsteig, zum ersten Mal ermahnte ihn jemand, dass es Zeit sei, zu gehen, es keinen Sinn mehr habe, weiterhin in die Leere zu starren. Astrid zupfte ihn am Ärmel, zog ihn weg, zerstreute seine wehmütigen Erinnerungen. Schon damals versank er leicht in der Vergangenheit, in jenem großen Bild, das er sich nach & nach gemacht hatte, der Melancholie über den Verlust, den er immer mit der Abfahrt eines Zuges in Verbindung brachte. Jeder Abschied hatte ihn in Verwirrung gestürzt, Tränen ausgelöst, das Gefühl von Verlassenheit auf unbestimmte Zeit in ihm zurückgelassen. Doch diesmal gab es Astrid, dieses süße Mädchen, das er anhimmelte & bewunderte, mit dem er jetzt ganz allein sein durfte, welches ihm, Alexander, anvertraut war. Er würde mit seinem ganzen Herzen auf sie aufpassen, dem Pastorenpaar einen schönen Empfang bei ihrer Rückkehr bereiten, allem gerecht werden, sie davon überzeugen, dass sie in Zukunft jederzeit sorglos verreisen könnten. Er war sich des Vertrauens, das man ihm insgeheim geschenkt hatte, wohl bewusst und stolz darauf, wie sehr seine Pflegeeltern, nichts Geringeres als ein Pastor und seine Frau, auf ihn bauten. Sie vertrauten ihm sogar ihre Tochter an, auf die er aufpassen wollte wie ein Adler, mit der er jetzt für ein paar Tage & Nächte allein sein durfte, sie beschützen, behüten, und er versprach bei den Sternen, die über ihnen im klaren Herbsthimmel leuchteten, alles zur besten Zufriedenheit auszuführen. Doch Astrid zupfte wieder, zog ihn mit sich fort und fing auf der Stelle an, ihre Version von der, vor ihnen liegenden Zeit, 434 darzulegen. Die ersten Sätze hatte Alexander nicht gehört, doch als sie sich bei ihm unterhakte und ihren Plan lauter & präziser ausführte, traute er seinen Ohren nicht. Was willst du? Leute einladen? Eine Party feiern? Ein Fest geben? Ja, genau! Nein, das geht nicht. Wie kommst du darauf? Warum nicht?, wann denn sonst, wenn nicht jetzt? So lange will ich das schon, jetzt ist es endlich soweit. Das darfst du aber nicht! Ach was, du hilfst mir dabei, außerdem habe ich es schon den anderen erzählt! Den anderen?, was für anderen? Ja, du weißt schon, den anderen eben! Deinen Freundinnen? Ja, aber nicht nur, es kommen natürlich auch Burschen, wir werden tanzen, essen, trinken, verstehst du? Eine richtige Party feiern. Atemlos redete sie drauf los, schien nicht mehr zu bremsen zu sein. Alexander blieb schier der Verstand stehen, er traute dem soeben Gehörten nicht, bekam es mit der Angst zu tun, als er merkte, dass sie es nicht im Spaß sagte, ihn nicht einfach schrecken wollte, wie sie es schon manchmal getan hatte, sondern es ernst meinte. Wie 435 konnte sie, ohne je mit ihm darüber gesprochen zu haben, ohne die Erlaubnis ihrer Eltern, plötzlich diese fix & fertige Idee daherplappern? Wie hatte sie es überhaupt vor ihm verbergen können, wo sie doch dauernd zusammen waren, miteinander über alles redeten? Während er angestrengt und immer noch ungläubig nachdachte, als sich bei ihm im Kopf schon alles drehte, führte sie parallel die Einzelheiten ihres Planes aus, doch er hörte ihr nicht wirklich zu, begriff die völlig neue Situation noch nicht, versuchte recht hilflos, vorerst eine gewisse Ordnung in seine Überlegungen zu kriegen. Dennoch beschloss er bei sich, nicht mit ihr zu streiten, hoffte, dass sie über Nacht wieder Vernunft annehmen würde und morgen in der Früh diesen Unsinn wieder vergessen hätte. Sie trennten sich ohne Aufhebens vor ihren Zimmern, blieben nicht wie sonst, beieinander sitzen, sondern zogen sich einzeln zurück, Astrid schmollend über Alexanders Ablehnung, Alexander, um nicht mehr daran denken zu müssen, sie ausspinnen zu lassen, einen Gegenentwurf zu entwickeln. Kein trautes Zusammensitzen in der Küche, wie er es sich für den ersten Abend allein mit Astrid vorgestellt hatte. Natürlich war an Schlaf jetzt nicht zu denken, zu schwer wog das Gewissen, das er sich daraus machte. Wie sehr hatte er sich gefreut gehabt, doch kaum war der Zug außer Sichtweite, waren Freude & Glück zerstoben, überwogen Sorge & Enttäuschung. Tatsächlich ging Astrid schon tags darauf daran, ihre gestrigen Ankündigungen in die Tat umzusetzen, die Vorräte im Keller zu plündern, Brötchen zu streichen, zu belegen, zu verzieren, Kuchen zu backen, anzuzuckern, Schritt für Schritt wie sie es in der Haushaltungsschule gelernt hatte. Endlich kamen ihr die erworbenen Fertigkeiten zugute, jetzt machte sie Gebrauch davon, jetzt ergab alles einen praktischen Sinn, jetzt ging es ans Eingemachte. Als Alexander von der Schule nach Hause kam, schaffte sie ihm sogleich an, in den Weinkeller zu gehen und eine Menge Flaschen 436 heraufzuschleppen. Er sah zu seinem Erstaunen das vorbereitete Buffet, war hingerissen von der fachkundigen Zubereitung, doch gleichzeitig stockte ihm fast der Atem. Hatte er nicht Astrids Eltern, seinen lieben Pflegeeltern, hoch & heilig versprochen, nicht nur auf Astrid aufzupassen, sondern auch auf das Haus, um alles vorzufinden, wie sie es verlassen hatten, zu keinerlei Beschwerden Anlass zu geben? Ja, genau das hatte er getan. Seine bereits ausgeprägte, innere Verzweiflung schlug angesichts Astrids organisierter Geschäftigkeit & Begeisterung in äußere Resignation um. Astrid redete nur noch von ihrem Fest, wen sie aller eingeladen, wer nicht aller zugesagt hatte, vom Tanzen, der Musik, den Speisen. Sie war nicht zugänglich für vernünftige Argumente, schwebte im siebenten Himmel, ging auf Wolken, am Ende schrie sie den widerstrebenden Alexander sogar an. Weißt du was, du bist genau wie mein Vater, der die ganze Zeit jeden Spaß und jede Freude mit seinem Verstand und seiner Anständigkeit im Keim erstickt, bis kein Mensch mehr atmen kann. Nein, Astrid, ich will dir bestimmt nicht den Spaß verderben, aber... Aber, was? Was tust du denn gerade, bitte sehr? Genau das sagt Papa auch immer, er will mir nichts verderben, tut aber nichts anderes, weiß alles besser, ist immer gescheiter. Ich frage mich, wie meine Eltern sich je geliebt haben können mit dieser Einstellung …, da war nie eine Übermütigkeit, verstehst du, nie etwas anderes, als das, was die Leute verlangen, das Übliche eben. Immer sind die Augen der anderen entscheidend, auf einen gerichtet, immer muss man für sie leben & leiden, immer tun, was andere erwarten. Es ist nicht einmal für Gott, verstehst du, sondern einfach nur für die Leute. Sich bloß nichts selber 437 ausdenken. Meine Brüder haben deswegen dieses Haus verlassen, sobald es ging. Damals habe ich es noch nicht verstanden, aber jetzt, jetzt bin ich alt genug, hörst du! Ich bin nicht wie die ganzen Kirchgänger und Lektoren und Vorbeter, die Sänger und Organisten. Ich will leben, noch was anderes sehen, ich will was mit Männern haben, will …, will was von der Welt sehen, nicht in einem Pastorenhaus versauern! Sie nehmen die Bibel wie ein Gesetzbuch, wie eine Gebrauchsanweisung, sie begreifen nicht, dass sie ein Ersatzleben führen, ein Ersatzleben predigen, das bestimmt ist von Pflicht und Sorge. Astrid, ich verstehe dich ja, aber du musst auch an mich denken. Schau, ich habe kein Elternpaar wie du, das doch nur das Beste für dich will, für die Gemeinde, wohl auch nicht immer einer Meinung ist, was bestimmt schwer ist. Ich stelle mir die Vorbildfunktion, die sie ein Leben lang einnehmen und annehmen müssen, sehr, sehr schwer vor, aber sie versuchen alles gut zu machen, so soll es doch sein. Sie tun, was für sie, für die Gemeinschaft zu tun ist. Wir müssen im letzten alle so werden, glaube ich. Ein jeder auf seinem Platz. Schau, im Rabbinerhaus meiner Großeltern war es letztlich genauso. Ich verstehe dich zwar, aber ich verstehe auch deine Eltern, wie ich auch meine Großeltern verstehe. Gewiss ist es oft schwer für die Kinder, für die Mädchen besonders, aber glaub‘ mir, so oder so ähnlich muss es auf der ganzen Welt sein, damit es Ausgewogenheit gibt, Verantwortung füreinander und Frieden im kleinen wie im großen, denn der Frieden, das Verständnis, das glaube ich ganz fest, beginnt und endet in jedem einzelnen. Ach, Alexander, du redest wie ein alter Mann. Du hast einen guten Vater, der alles für dich tut, dich nicht immer bevormundet, nicht Tag und Nacht kontrolliert. Bei mir aber ist es anders. Ich kann nie etwas Verbotenes oder auch nur Verborgenes tun, immer sieht 438 es jemand, wenn nicht die Eltern selber, dann jemand anders. Gleich heißt es wieder: Das Pastorenmädchen, ist eh klar, der verwöhnte Fratz, bräuchte mal eine Trachtprügel. Ist es das, was du auch einmal willst? Ja, wenn du damit meinst, dass ich mich immer nach so einer Familie gesehnt habe, will ich gern ein alter Mann sein, darfst du mich gerne so nennen. Hier bei Euch, bei dir ist es so schön, ich möchte bleiben dürfen, verstehst du das nicht? Aber du kannst doch bleiben, warum solltest du, weil ich ein einziges Mal eine Party gebe, nicht bleiben können? Ich weiß nicht, es ist nicht erlaubt, man weiß nicht, was dabei herauskommt, wir dürfen nicht den Wein deiner Eltern trinken, ihre Vorräte, die nicht für uns bestimmt sind, verbrauchen. Was heißt „wir“, ich gebe eine Party, ich verantworte es, was geht das dich an? Du scheinst vergessen zu haben, dass sie mir die Verantwortung übertragen haben, ich ihnen versprochen habe, dass sie sich keine Sorgen während ihrer Abwesenheit machen müssen. Ja, ja, es ist nichts dabei, glaub` mir, sie werden es überleben, das mache ich schon. Lass uns mit anderen zusammen einen schönen Abend verbringen, das ist alles, es ist nichts Böses, Wein kann man wieder kaufen, Lebensmittel auch, und es kostet nicht die Welt, oder? Und das Geld, um alles wieder zu besorgen, wo willst du es hernehmen, die Zeit? 439 Also, Alexander, wirklich, ich denke, dein Vater hat genug übrig, um eine so harmlose Feier zu bezahlen, oder etwa nicht? Hast du nicht einmal gesagt, du kannst ihn um alles bitten? Sie rechnete also bereits mit Alexanders Vater, hatte ihn ganz selbstverständlich in ihre Berechnungen einbezogen. Alexander stutzte, das war nicht in Ordnung, denn es suggerierte ein Übereinkommen mit ihm, welches es nicht gab, Astrid kalkulierte bereits mit seines Vaters Geld, wie konnte sie nur! Er hatte sich verschätzt, schon wälzte sie die Abtragung dieser Schulden auf ihn ab, als hätte es darüber eine Abmachung gegeben, seine Einwände tat sie als spießig & geizig ab, es ist doch nur Geld, das doch bei seinem Vater in Hülle & Fülle vorhanden sei. Wie Astrid es angekündigt hatte, trudelten bald die Gäste ein, nach & nach kamen sie daher, Alexander sah mit Bestürzung, dass auch Burschen aus seiner Klasse darunter waren, aus höheren Stufen sogar. Er wunderte sich, wie Astrid an sie herangekommen war. Gewiss lag es daran, dass sie die Tochter des Pastors war, als die sie besonderes Ansehen genoss. Auch viele Mädchen kamen, die eine oder andere brachte Essbares mit, half in der Küche. Ein Grammophon wurde aufgestellt, es knisterte & kratzte, Musik erfüllte bald die Räume, zauberte schnell Stimmung ins Haus. Zunächst schien alles in sanfter Ordnung, die meisten waren zurückhaltend, respektvoll, nur langsam begann man zu tanzen, es wurden Wein & Likör herumgereicht, Brötchen verzehrt, dort & da ließ man sich in den Sesseln & Sofas nieder, rückte näher zusammen. Da die jungen Leute keinen Alkohol gewohnt waren, ihn nicht vertrugen, waren sie bald beschwipst, bewegten sich schwebend & kichernd durch die Zimmer, verloren langsam ihre Hemmungen. Je mehr Zeit verging, umso mehr wurde geknutscht, Alexander beobachtete jede Einzelheit ganz genau, war angespannt, rührte 440 nichts an, keinen Wein, keinen Likör, um die Übersicht nicht zu verlieren, die Kontrolle zu behalten, nichts aus den Augen zu lassen. Es entging ihm daher nicht, dass Astrid mit dem Sohn des Rechtsanwalts, der sogar mit Alexander dieselbe Klasse besuchte, schamlos herumschmuste. Nach dem ersten Schreck dachte er, Astrid wolle ihn vielleicht nur eifersüchtig machen. Es gefiel ihm ganz & gar nicht, sie trieb es bereits zu weit, nach kaum zwei Stunden war jene Harmlosigkeit verflogen, mit der sie ihre Party dargestellt hatte, schon schien alles vergessen zu sein. Um noch etwas zu ändern oder aufzuhalten, war es längst zu spät, nicht nur für Astrid, sondern auch für einige andere. Das Spiel mit Alkohol & Sex nahm seinen verhängnisvollen Lauf. Alexander überlegte indes, wie er das, was da vor seinen Augen geschah, später irgendwie erklären könnte, und es tat ihm unendlich leid, Astrid nicht entschiedener entgegengetreten zu sein, er machte sich große Vorwürfe wegen seiner Nachgiebigkeit, seiner Leichtgläubigkeit, seiner Blindheit. Er musste jedoch erkennen, wie wenig er verhindern oder Einfluss nehmen konnte, es blieb ihm nur noch zu hoffen, dieser Tag möge ohne größere Vorkommnisse und allzu schlimme Folgen zu Ende gehen. Doch es wurde nicht einmal richtig Abend, ehe es zum äußersten kam, denn bald lagen sie durchwegs auf dem Boden, Mädchen & Jungen dicht nebeneinander, aufeinander am Sofa sitzend oder sie tanzten eng umschlungen, in jener Zeit ein Skandal, wenn man nicht verlobt oder verheiratet war, während wieder andere sich in den ersten Stock verdrückten, einfach irgendwohin verschwanden oder ins Freie gingen. Als die leeren Weinflaschen herumrollten, gab es auch kaum mehr jemanden, der ansprechbar oder halbwegs vernünftig war. Plötzlich verschwand Astrid mit Gustav, so hieß der Sohn des Anwalts, oder war er Notar? Es hatte keinen Sinn mehr, hinter ihr her zu sein oder aufzupassen. Sie waren wie vom Erdboden 441 verschluckt. Alexander ging in sein Zimmer hinauf, wollte nichts mehr sehen & hören, hielt es aber nicht aus, verließ es also wieder, ging am Gang auf & ab, drückte sich herum, war verzweifelt, denn niemand würde ihm dies hier später glauben. Werden sie nicht etwa ihm die Schuld an allem geben, würde es wieder ein großes schweres Ende sein, müsste er womöglich wieder fort von diesem schönen Ort wie schon so oft? Man würde wohl wieder einen Sündenbock brauchen, ein Opfer, um sich rein zu waschen. Warum war er Astrid nicht heftiger entgegen getreten? Warum hatte er sie nicht daran gehindert? Warum nicht mit ihr diskutiert, warum, warum… ? Doch wer hätte wissen können, dass es soweit kommen würde, er war schließlich auch kein alter, ja nicht einmal ein erwachsener Mann. Auf jeden Fall war es jetzt viel zu spät, das Unglück nahm seinen Lauf. Aus Astrids Zimmer drang indes Gekreische, Gelächter, Gekicher, am Ende Stöhnen, schrille Schreie. Brauchte sie Hilfe, was war los? Was tat sie, was geschah ihr? Was sollte er tun? Lange schlich er am Gang, wo er so oft mit ihr gesessen war, auf & ab, horchte angestrengt durch die Tür, die Wand, während unten das Durcheinander weiterlief, Lärm heraufdrang, einige an ihm vorbeieilten, andere sich auf der Treppe amüsierten. Es war noch nicht einmal wirklich dunkel, dennoch schien die Welt bereits aus den Fugen geraten zu sein. Es dröhnte & hämmerte in seinem Kopf, sein Herz raste, er fühlte sich fiebrig, fror gleichzeitig. Die Geräusche aus Astrids Zimmer wurden immer eindeutiger, dringlicher, gewaltsamer wie er meinte. Er hielt es nicht mehr aus, öffnete langsam & ganz leise die Tür, wurde im selben Moment Augenzeuge eines schier unglaublichen Geschehens. Gustav, der Schnösel, der mit ihm in die Klasse ging, dort so gut wie nichts kapierte, nur reich & privilegiert war, lag mit seinem ganzen Körper kerzengerade auf Astrid, während sie ihre nackten 442 Schenkel weit auseinanderhielt. Alexander starrte wie ohne Verstand auf die Szene vor sich. Sie bemerkten ihn nicht einmal, doch eins wurde ihm sofort klar, dies hier war keine Vergewaltigung, sondern bestes Einvernehmen. Nachdem die Schrecksekunde vorüber war, ging er lautlos & rückwärts hinaus. Es war deutlich erkennbar gewesen, dass Astrid sich aktiv beteiligte, nicht einfach überfallen worden war, sondern Spaß daran fand, denn sie lachte laut & ordinär. Pass auf, dass du mir kein Kind machst!, waren die Worte, die er im Hinausgehen zu hören bekam. Sie sagte es unter Kichern & Stöhnen, so, als wäre es ein Witz. Alexander achtete auf nichts mehr, sodass ein plötzlicher Luftzug die Tür hinter ihm laut zufallen ließ, er hatte sie nicht mehr erwischt, so groß war sein Schock gewesen. Sie schreckten nun beide auf. Es dauerte einige Minuten, bis sie begriffen, dass jemand da gewesen war und sie gesehen hatte. So schnell war Gustav noch nie in seine Kleider gestoßen und aus einem Zimmer gestürzt wie jetzt. Draußen traf er auf Alexander, der abwesend am Stiegengeländer lehnte und in die Tiefe starrte, kein Zweifel, er war der derjenige, der sie ertappt, schlimmer noch, beobachtet hatte, so der erste Gedanke Gustavs, der sein schlechtes Gewissen ja irgendwie beschwichtigen musste, Alexander, der Voyeur, der Spanner, der wirklich Perverse. Gustav warf sich, ohne nachzudenken, auf ihn, stieß ihn einfach die Treppe hinunter. Unten angekommen, rappelte Alexander sich auf und lief aus dem Haus. Der andere verfolgte ihn, es kam zu einer Rauferei, in deren Verlauf Gustav, auch für Alexander erkennbar, den Spieß umdrehte. Er sah darin seine einzige Chance, sich auf der Stelle reinzuwaschen, jemandem anderen seine Tat aufzubürden, nicht er war jetzt der Schuldige, sondern Alexander. Gustav beschimpfte ihn bestialisch, nannte ihn einen räudigen 443 Hund, einen geilen Judenbock. Alexander konnte sich nicht vorstellen, wie er darauf kam. Er spürte eine große Leere im Kopf, seine Arme, seine Beine waren wie gelähmt, er hörte auf, sich zu wehren, während der andere seine Haut zu retten versuchte, indem er Alexander das eigene Vergehen anlastete und wie ohne Verstand auf ihn eindrosch, so übergroß muss sein Schuldgefühl gewesen sein, dass er sich keinen anderen Ausweg mehr wusste. Die ganze Partygesellschaft oder der Rest, der übrig war, stand jetzt draußen auf der Straße und war der Meinung, Alexander hätte mit Astrid etwas Furchtbares angestellt. Später würden sie so gut wie alle Gustavs Version bestätigen, als Zeugen gegen Alexander auftreten, ohne etwas anderes als diese Szene gesehen zu haben. So gut es ging, rannte Alexander davon, stolperte, fiel hin, stand wieder auf, entfernte sich vom letzten Haus seiner Kindheit, seiner Jugend sogar, flüchtete von dem Ort, der ihm so viel bedeutet hatte. Wie in einen Theater sah er das soeben Geschehene vorüberziehen, was ihm noch vor Minuten alles bedeutet hatte, seine Heimat gewesen war, ist abrupt zu Ende gegangen. Astrid, die Pflegeeltern, wie könnte er ihnen jemals wieder unter die Augen treten, seinem Vater!, oh Gott, sein Vater!, der ihm schon jetzt leid tat. Wie sollte er es anstellen, dass ihm noch jemand zuhörte oder glaubte? In richtig guter Rechtsanwaltsmanier nämlich hatte Gustav Zeugen beigeschafft, im Handumdrehen Alexander angeklagt, verurteilt, zum Schuldigen gemacht, zum Hurensohn und damit noch an Ort & Stelle seinen eigenen Kopf aus der Schlinge gezogen. Würden nicht alle auf Gustavs Seite stehen, so überlegte Alexander, dem Sohn des Notars? Gehörten sie denn in Wahrheit nicht zusammen, war nicht vielmehr er der Außenseiter? Wie auch immer, hierher würde er jedenfalls nicht zurückkommen können, nicht mehr in dieses Haus, nicht mehr in diese Schule, nicht mehr in diesen Ort. 444 Als ob er mit Astrid tatsächlich geschlafen hätte, fing er an, seinen Abschied vorzubereiten, es war ihm vollkommen klar, dass ihm niemand glauben würde, auch wenn er ihnen nichts anderes als die Wahrheit erzählen konnte während der andere die Anklage verfasste, untermauerte und eine einwandfreie & glaubhafte Strategie verfolgte. Nach einer Weile setzte Alexander sich irgendwo im Wald auf den Boden, vor ihm lag ein Teich, oder war es ein See? Er musste unbedingt nachdenken, Ordnung in seine Gedanken bringen, Ruhe finden, Durchblick gewinnen, eine Analyse anfertigen, eine Verteidigung ausarbeiten, seine Unschuld nachweisen, im Grunde musste er vorgehen wie Gustav. Was war geschehen? Träumte er vielleicht nur? Bestimmt würde er bald zu sich kommen, und alles wäre wie vorher. Die Sache mit der Party würde sich früher oder später als eine Art ein Alptraum herausstellen müssen. Doch nichts dergleichen geschah, es war zu Ende, es war aus mit ihm. Er wachte nicht auf, sondern befand sich in der echten rauen Wirklichkeit. Erbarmungslos. Zahllose Gedanken zwischen Zuversicht & Resignation gingen ihm durch den Kopf, doch eine Lösung fiel ihm nicht ein, denn wenn ihm die Wahrheit keiner glaubte, gab es auch keine Hoffnung, sie schwand immer mehr, entfernte sich wie eine letzte sinnlose Illusion. Er hatte das Vertrauen seiner Pflegeltern, die so gut zu ihm gewesen waren, verraten, Astrid gewähren lassen, sich ihr nicht widersetzt, vielleicht hätte er es verhindern können, vielleicht war auch er schuld. Dies würde unabsehbare Folgen haben. Wieder ging eine Zeit für ihn zu Ende, wieder war das Schöne vorüber, wieder musste er einen, ihm lieb gewordenen Ort verlassen. Doch, was es für ihn tatsächlich bedeuten würde, war ihm nicht wirklich klar, denn er konnte nicht ohne weiteres fortgehen, musste sich rechtfertigen, wurde zur Verantwortung gezogen, er musste sich stellen, früher oder später. Vor ihm lag der 445 schmerzliche Prozess des Abschiednehmens. Angst machte sich in ihm breit, eine furchtbare, nicht gekannte, eine entsetzliche Angst vor allem vor dem, was unmittelbar vor ihm lag. In was war er da hineingeraten, wie konnte das geschehen, warum war er so nachgiebig gewesen, warum hatte er Astrid bei den Vorbereitungen zugesehen, warum war er ihr nicht richtig entgegengetreten, was wäre schon dabei gewesen! Er kannte sich in Wahrheit selber nicht, war wieder einmal ratlos gewesen wie er reagieren sollte, wollte Astrid nicht verärgern oder beleidigen trotz seiner Bedenken. Obwohl er es eigentlich besser wusste, hatte er gegen seine eigene Einsicht gehandelt, darin lag sein wirkliches Versagen, der Grund für dieses Geschehen, er hätte wenigstens versuchen müssen, Astrid zur Vernunft zu bringen, ihr diese Idee auszureden. Seine Unfähigkeit mit ihr zu streiten, seine Furcht, sie zu verletzten, zu verlieren, waren der Anfang und die Ursache dieses Unglücks gewesen. Doch Astrid wird bestimmt trotz allem zu ihm halten, sie wird ihm als einzige helfen, so hofft er. Wie wenig er sie doch kannte! So geht & stolpert er weiter, immer weiter, beginnt zu frieren, zu zittern, zu niesen, trägt nichts außer Hose & Hemd am Leib. Er hat keine Ahnung, was er machen soll, ob es nicht das beste wäre, sich das Leben zu nehmen oder ob es einen anderen, vielleicht doch besseren & leichteren Ausweg gibt. Da stößt sein Fuß plötzlich gegen etwas Weiches. In der Finsternis des Unterholzes liegt jemand auf dem Boden. Zwei große runde Augen sehen ihn ängstlich & eindringlich an, so deutlich, als fragten sie ihn etwas. Zuerst denkt er an einen Menschen, doch, als er die Zweige zur Seite biegt, traut er seinen Augen kaum. Es ist eine Rehmutter, und neben ihr liegt das tote Neugeborene. Oh, mein Gott! Alexander kniet nieder, streichelt vorsichtig das Reh, das sich nicht rührt, es hat Tränen in den Augen, es atmet angestrengt, es ist ganz warm, fast heiß. Es scheint vor kurzem ihr Junges geboren haben, war es eine Totgeburt oder ist es unter der Geburt 446 gestorben? Sogar die Tiere weinen, denkt er, auch sie fühlen Schmerz wie wir, sind traurig & verzweifelt. Während das Reh sich liebkosen lässt, tropfen dessen heiße Tränen auf Alexanders Hände, sodass er selber zu weinen beginnt. Er beschließt, hier fürs erste zu bleiben und sich nicht umzubringen, seinem Vater nicht anzutun, was dieses Reh jetzt erlebt. Hat er denn nicht schon Rahel, seine Frau und Alexanders Mutter, verloren? Gewiss würde ihm wenigstens sein Vater glauben, außerdem wäre sein Selbstmord ein Schuldeingeständnis, er könnte sich ja nicht mehr rechtfertigen, seinem Vater nicht die Wahrheit sagen. Das Reh ist ganz ohne Scheu, in einer Art Ausnahmezustand, so gebrochen & gelähmt wie er selber, vielleicht spürt es die Gemeinsamkeit des Leidens, das sie beide verbindet. Es kann nicht fort, genau wie er, es möchte lieber trauern, bei seinem Jungen bleiben, trotz der Gefahr, der es sich aussetzt, trotz der Gefahr, die selbst dieser Mensch ihm sein könnte, doch es ergeht ihm wohl genau wie Alexanders Vater in jener Nacht, als Rahel starb. Es ist eine Welt zerbrochen, der Schmerz so unermesslich groß, dass alles seine Bedeutung verloren hat. Alexander spürt die Wärme des Muttertieres und wie das Kleine dennoch immer kälter wird, wie es auch die Mutter seltener abschleckt, sich mit der Wirklichkeit langsam abzufinden beginnt. Er beschließt also, da zu bleiben, es wird ihn hier niemand finden, ja, es ist sogar recht bequem auf dem weichen Waldboden. An einen Baum gelehnt, schläft er irgendwann getröstet ein, wie ein Junge in einem Märchen. Doch, als er aufwacht, ist der Platz neben ihm leer. Er deckt die kleine Leiche mit Zweigen & Ästen zu, macht sich wieder auf den Weg, streift weiter ziellos durch den Wald, später weiß er nicht, wie lange; zwei oder drei Tage und Nächte? Dann ist er soweit, zurückzugehen, fühlt sich halbwegs stark genug, um sich dem Unausweichlichen zu stellen. Er muss es hinter sich bringen, sein Leben wieder in die Hand nehmen, muss 447 tapfer sein, vielleicht sogar den Stier bei den Hörner packen. Schon von weitem sieht der das Haus erleuchtet, und es steht auf dem Kopf, das ist leicht zu erkennen. So viel Mut wie er jetzt braucht, denkt er noch bei sich, gibt es auf der ganzen Welt nicht, und geht hinein. Es kommt ihm so vor, als würde ihn jemand von hinten anschieben, und doch gleichzeitig zurückhalten. Die Familie sitzt in der Küche beisammen, auch Astrids Brüder sind da, was Alexander völlig aus der Fassung bringt, damit hatte er nicht gerechnet. Schon beim ersten Blick ahnt er, dass Astrid nicht die Wahrheit gesagt hat. Um sich selbst zu retten, hat sie ihn, hat sie ihn!, hat sie ihn - Alexander, geopfert. Sie schaut ihn kein einziges Mal an, nicht einmal, als der Pastor mit dem Lederriemen auf Alexander eindrischt, ihn nicht zu Wort kommen lässt, seine Wehrlosigkeit ausnutzt & genießt, ihn an den Ohren, den Haaren reißt, dass sie ihm büschelweise in der Hand bleiben, ihn gegen den heißen Herd schleudert, er blutend auf dem Blech vor dem Ofen zu liegen kommt, am Griff der Ofentür hängenbleibt, und als ob das nicht genug wäre, schlägt Astrids Vater nun weiter mit dem Schürhaken auf ihn ein. Zerbrochen an Leib & Seele kann Alexander sich kaum erheben, es gibt kein Mitleid mit ihm, keinen Menschen hier, der ihm glauben würde, es ist alles aus, es gibt keine Rettung, sie haben ihm nicht die geringste Chance gegeben. Sogar ein Verbrecher hat einen Verteidiger, darf zu Wort kommen, seine Sicht darlegen, doch nicht Alexander, nicht in diesem Haus, nicht hier und nicht jetzt, nicht in so einem Fall, nicht wenn Sexualität im Spiel, von Vergewaltigung die Rede ist. Noch am selben Abend packt Alexander seine Koffer, übernachtet im Gasthof des Ortes, wo er schief angeschaut wird, wo man bereits alles weiß und mit eindeutigen Blicken und beleidigenden Bemerkungen nicht hinter dem Busch hält. Er telegraphiert vom Postamt aus seinem Vater, der sich im Augenblick in Uppsala aufhält. Dieser kommt, so schnell er kann, 448 regelt alles mit dem Pastor, der Schule, ohne vorher mit Alexander gesprochen zu haben. Man hat ihm eine schauerliche & unerträgliche Geschichte in allen Einzelheiten aufgetischt, ihn als Vater eines solchen Bastards entwürdigend behandelt, ihm zu verstehen gegeben, wie wenig man darauf aus war, so jemanden in einem anständigen Ort wie diesem, wohnen zu haben. Herr Sommerfeld macht sich Selbstvorwürfe, fühlt sich schuldig, hat seinen Sohn, wie ihm nun selber vorkommt, grob vernachlässigt. Er hätte ihn öfter besuchen sollen, ihm ausführlicher schreiben, hellhöriger sein müssen, ihn nicht allein lassen mit seinen Problemen, so lange Zeit mit fremden Menschen, hätte ihnen wie ihm nicht ganz & gar vertrauen dürfen. Er hatte sich sicher gefühlt, sich einlullen lassen, war träge & unaufmerksam geworden, wie es zuweilen geschieht, wenn alles so besonders gut zu sein scheint. Doch hatte Alexander ihm gerade in letzter Zeit einen ruhigen & ausgeglichenen Eindruck gemacht, seine Briefe waren so voller Zuversicht gewesen, seine Schulleistungen besonders gut. Als sie endlich im Zug sitzen, ganz allein in einem Abteil, draußen langsam die Landschaft vorbeizieht, da laufen Alexander zum ersten Mal, seit dies alles geschehen ist, Tränen über die Wangen, und als sein Vater dies sieht, geht es ihm genauso, er nimmt ihn bei der Hand und fragt: Warum hast du ihnen nicht gesagt, dass du es nicht warst? Du warst es doch nicht, oder? Nein. Mehr redeten sie nicht darüber. Ich werde dich nie wieder irgendwo zurücklassen, das verspreche ich dir. 449 Ab jetzt bleiben wir zusammen. Ich werde deine Tante Marie bitten, sie ist jetzt fertige Lehrerin, bei uns zu wohnen, das Haus ist groß genug. Wir sind jetzt eine eigene Familie. Wir wollen nicht mehr auf Fremde angewiesen sein. Ich will sie nicht mehr fürstlich bezahlen, damit sie gut sind zu meinem Sohn. Die Menschen sind nicht gut, das weiß ich jetzt. Es ist genug. Du hast genug gelitten, ich habe mich geirrt. Ich wollte doch nur, dass du eine Mutter hast. Bist du einverstanden, mein Junge? Ja. Danke. Ich danke dir auch und bitte dich gleichzeitig, mir zu verzeihen. Ja. Nein. Es gibt nichts zu verzeihen, Papa, ich bin nur froh, dass du mir glaubst, das war meine einzige Sorge, dass auch du mir nicht glauben könntest. Als sie in Uppsala ausstiegen, war aus der abgrundtiefen, aussichtslosen Verzweiflung, die noch vor wenigen Stunden bestanden hatte, Erleichterung & Zuversicht geworden, das Leid durch himmelhohe Freude beinah ersetzt. Zum ersten Mal durfte Alexander ohne wenn & aber, ohne Einschränkungen, ohne Vorbehalte bei seinem Vater bleiben. Für immer war jetzt gekommen, für immer, hatte er jedes Mal gebettelt in den vergangenen Jahren, für immer möchte ich bei dir bleiben, Papa, einmal nur für immer. XVII UPPSALA 450 Für Alexander brach nun eine ganz neue Zeit an. Zum ersten Mal durfte er bei seinem Vater leben, in seines Vaters Haus wie es so schön hieß in jenen Tagen, bei seinem eigenen Vater, der nicht gleich wieder abreisen, sondern seinen Sohn in ein neues Leben geleiten würde. Mit Beflissenheit wie Unbeholfenheit in einem war er bemüht, es ihm so angenehm wie möglich zu machen. Am Anfang, solange er noch nicht zur Schule musste, war auch Alexander fast glücklich, wenigstens tagsüber. Nachts aber konnte er kein Auge zutun, nachts kamen die vergangenen Tage zurück. Im Traum wie in der Schlaflosigkeit sah er immer die gleichen Bilder, wieder & wieder die Ereignisse, die so plötzlich über ihn hereingebrochen waren. Der Pastor, welcher ihm so vertraut gewesen war, mit dem er all die tiefgründigen Gespräche geführt hatte, derselbe Pastor, der auf ihn niederfährt, auf ihn einhaut wie auf einen Ochsen. Nie hätte er eine derartige Grausamkeit, so viel Hass wie dazu nötig war, und schon gar nicht die körperliche Kraft in dem so beherrschten & disziplinierten, manchmal fast zerbrechlich wirkenden Mann vermutet. Für einen verständnisvollen Gottesmann hatte er ihn gehalten, für jemanden, der wenigstens auch den anderen fragt, ihn zu Wort kommen lässt, ihm wie ein guter Richter die Möglichkeit zur Verteidigung & Gegendarstellung geben würde, quasi im Sinne des lateinischen Begriffs „audite ad altera pars“, „höre auch die andere Seite“, eine Art Grundlage des antiken Römischen Rechtes, die auch heute noch in aller Welt beachtet wurde, wie der Professor für alte Sprachen im Unterricht vor kurzem begeistert erklärt hatte. Doch diese Tugend schien im Pfarrhaus unbekannt zu sein. Auch die Pastorin war in ihrer Vertatterung keine Hilfe gewesen, hatte ihr sonst so ausgeprägtes & vielschichtiges Mitleidsdenken wie es schien, plötzlich & völlig vergessen gehabt, starrte auf die Szenen, die sich ihr boten, als ginge es sie nichts an, als hätte sie 451 den Verstand verloren, als wäre sie abwesend oder säße in einem Theaterstück, dem sie nichts abgewinnen konnte. Auch sie fragte kein einziges Mal, tat den Mund nicht auf, würdigte niemanden eines Blickes, schaute meistens nur auf ihren Mann, als hätte sie nichts Wichtigeres zu tun als ihn nicht aus den Augen zu lassen. Was waren das im Nachhinein gesehen, überhaupt für Leute? Für wie einzigartig hatte er sie noch vor einer Woche gehalten! Wie konnten sie sich alle auf einmal derartig verändern? Sie glaubten nur Astrid, der Vater legte ihr die Worte der Anklage gegen Alexander geradezu in den Mund, Worte, welche sie bereitwillig ohne Zögern bejahte, mit Kopfnicken bestätigte, sich durch sie zum unschuldigen Opfer machen ließ. Je länger er über alles nachsann, umso unglaublicher erschien ihm Astrids Rolle, ihr Charakter, die Enttäuschung & Verletzung, die sie ihm kaltblütig zukommen hatte lassen. Dieses Mädchen mit seinem lieblichen Aussehen, in das er so verliebt gewesen war, hatte sich als eine vollkommen falsche Person entpuppt, die ohne Bedenken ihre gemeinsamen Geheimnisse verraten hatte, ohne Gewissen und ohne Regung. Konnte es tatsächlich sein, dass sie glaubte, damit durchzukommen? Würde es sie nicht später einmal zutiefst reuen? Was, wenn sie einander eines Tages irgendwo begegneten? Doch für den Augenblick war alles unvorstellbar, für den Augenblick hatten sie über ihn gesiegt, äußerlich zwar, aber immerhin. Sie waren fürs erste durchgekommen, hatten lieber den Lügen geglaubt als nach der Wahrheit gesucht. Vielleicht, weil sie geahnt hatten, was wirklich geschehen sein könnte, es darum erst gar nicht wissen wollten, vielleicht, weil sie meinten, der Schande durch einen, in Alexander gefundenen Sündenbock entfliehen zu können, wie es ja auch einst die biblischen Juden getan haben sollen, als sie ein armes nichtsahnendes Tier beladen mit den eigenen Vergehen in die Wüste schickten, um es einem grausamen Sterben zu überlassen und damit ihre Schuld vergeben & vergessen glaubten. In der Früh war Alexander meist nicht wach zu kriegen, schlief 452 nächtelang überhaupt nicht oder nur wenige Minuten, in denen ihn immer dieselben Träume heimsuchten. Schon in den nächsten Tagen zog Tante Marie zu ihnen. Sie hatte eine Lehrerinnenstelle in einer Mädchenschule, wo sie Französisch & Hauswirtschaftlehre unterrichtete, inne. Alexander hatte sie lange nicht mehr gesehen, und er erschrak fast über ihre Schönheit, welche ja schon früher beträchtlich gewesen war, aber nun vollkommen zu sein schien. Sie kam immer erst am späten Nachmittag oder abends nach Hause, hatte dann noch Stöße von Heften zu korrigieren, für nächsten Tag den Unterricht vorzubereiten, vor allem für das Fach Hauswirtschaftslehre, was mitunter verlangte, dass sie kochte, Gerichte ausprobierte oder sich bestimmte Details praktisch überlegte, sodass sie Entwürfe anfertigte, Rezepturen & Menüs zusammenschrieb, Gewürze mischte, Kalkulationen berechnete, Telefonate über Lebensmittelbestellungen führte, Servietten faltete, Dekorationen zeichnete, tausenderlei zeitaufwändige Dinge tat, von denen Alexander noch nie etwas gehört, geschweige denn, gesehen hatte. Alexander war zuinnerst froh über die Liebenswürdigkeit, mit der sie ihm begegnete, froh auch, dass sie seine wirkliche Tante war und nicht wieder eine fremde Frau, von der er nicht wusste, als was sie sich eines Tages offenbaren würde. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Schwester seiner Mutter ihm etwas Böses wollte, dennoch blieb er vorsichtig und auf der Hut. Er wollte sie nicht enttäuschen, verschrecken, überfordern, aber auch nicht falsche Hoffnungen in sie setzen. Bestimmt war es auch für sie nicht einfach, plötzlich auf einen, noch dazu männlichen Jugendlichen aufpassen zu müssen. In ihrer Schule gab es ja nur Mädchen, womöglich mochte sie gar keine Buben, so hatte er sogar befürchtet. Wer könnte es ihr verdenken? Er versuchte, ihren Standpunkt zu verstehen, sich in sie hineinzuversetzen, ihre Gedanken zu lesen, ihren Gesichts-ausdruck zu deuten, wenn er ihr unter die Augen trat, 453 obwohl davon keine Rede sein konnte, denn er war bereits um einiges größer als sie. Nur langsam kamen sie einander näher. Marie ließ es sich nicht nehmen, für Alexander selbst zu kochen, bereitete gleichzeitig damit ihren Unterricht für den nächsten Tag vor. Tagsüber arbeitete eine Haushälterin im Haus, zwischendurch kam eine Putzfrau, verschwand wieder. Alexander gefiel seine Tante überaus gut mit ihren blonden aufgesteckten Haaren, ihrer bescheidenen und zugleich stolzen Eleganz, ihrer Gewissenhaftigkeit, ihrer gedanklichen wie praktischen Genauigkeit. Eines Abends, als sie gemeinsam & allein beim Essen saßen, tat er etwas, wozu er seinen ganzen Mut brauchte, und was er sich schon lange vorgenommen hatte; er erzählte ihr aus seiner Sicht den Vorfall im Pastorenhaus. Als er noch nicht einmal fertig war, legte sie das Besteck aus der Hand, stand auf, nahm seinen Kopf in die Hände, küsste seine Wangen, seine Stirn, seine Augen. Ihre heißen Tränen, so kam es ihm vor, bedeckten ihn fast ganz, sein Gesicht nicht nur, sondern seine Haare, seinen Hals, ihre Tränen rannen ihm in den Kragen, sie schluchzte, sie weinte laut, sie klagte, seufzte, wischte ihren Rotz in sein Hemd, es war ihr einerlei, wie es aussah. Er konnte die Worte, die sie zu sagen versuchte, zuerst überhaupt nicht hören, erst in der ständigen Wiederholung fand er ihren Sinn heraus. Mein armer, armer Junge! Wenn Rahel, deine Mutter, das wüsste! Von da an war das Eis gebrochen, verstanden sie einander ohne Worte. Sie hatten eine gemeinsame Geschichte der Liebe wie auch eine des Leidens, keine Heimlichkeiten, keine Vermutungen, keine Zweifel, keine Verdächtigungen mehr, sondern ein Geheimnis, das zur Grundlage ihrer Lebensbeziehung werden sollte. Sie hatte ihm geglaubt! Sich nicht beeindrucken lassen von den Reaktionen des Pastors und seiner Familie, genau wie sein Vater. 454 Tante Marie, ich verspreche dir, ich werde dich nie enttäuschen! Ich verspreche Dir, dass auch ich immer für dich da sein werde, was immer du brauchst, ich werde kommen, ich will es für dich tun, ich will dir geben, was immer ich kann, was immer ich habe. Wer weiß, Alexander, vielleicht gehören wir beide ja zusammen. Vielleicht komme ich eines Tages zu dir wie du heute zu mir. Wer kann wissen, wie unser Leben verlaufen wird. Ich danke dir, dass du mir glaubst. Ich hatte solche Angst, du könntest auf die anderen hören, zu viel würde in deinen Augen gegen mich sprechen. Niemals. Du bist mein einziger Neffe, mein einziges lebendiges Andenken an meine Schwester, an meine ganze Familie. Und wirklich, viele, viele Jahre später wird sie es sein, die ihn bittet, bleiben zu dürfen, ihr ein Zuhause zu geben, eine Heimat, eine Familie bis ans Ende ihrer Tage. Wieder wird etwas großes Schweres geschehen sein, wieder werden sie auf allein kommen, um diesmal für immer beieinander zu bleiben. Als hätte Marie es schon damals geahnt, versicherte auch sie sich nun seiner. Sie erzählte ihm ganz andere Dinge über seine Mutter als sein Vater, nein, nicht die Dinge waren eigentlich anders, sondern wie sie diese sah. Auch wie sie einst als Mädchen zusammen gespielt, gelernt, gelebt hatten. Wie ihre Eltern, seine Großeltern, gewesen waren. Von den Streichen & Geheimnissen, den Sorgen & Freuden, die sie mit Rahel, ihrer Schwester, auch wenn sie viel älter als sie gewesen war, geteilt hatte. Erzählte von einer Rahel, welche ihr großes Vorbild geworden war, von ihrer Klugheit, ihrer Verliebtheit in seinen Vater, den Schwierigkeiten, die dadurch mit ihren Eltern entstanden waren. 455 Wie mutig sie war und wie arm, als sie dem großen, reichen Sommerfeld, wie sie ihn zu Beginn genannt hatten, begegnete, wie er sie in Verlegenheit brachte mit seiner Art, sie auszuführen, ihr Kleider zu kaufen, damit er sich nicht mehr mit ihr schämen musste. In Wahrheit hatte er sich ihrer alles andere als geschämt, es ging ihm nur darum, sie standesgemäß zu sehen, ihre Schönheit am besten zur Geltung zu bringen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, als unser Vater aufbrausend wie er war, Rahel anfauchte, als wäre er der Löwe von Juda: Meine Rahel, meine Tochter, keine meiner Töchter wird einen ungebildeten Pelzhändler heiraten! Marie erzählte so lebendig, dass es Alexander vorkam, als sähe er seine Mutter leibhaftig vor sich. Deine Eltern haben sieben Jahre miteinander in Stockholm als Mann und Frau gelebt, illegal, verstehst du, und es war Rahels Idee, eine Rabbinertochter und ein Pelzhändler ohne Trauschein mitten im Lotterbett, wenn das unser Vater gewusst hätte! Sie wollte unbedingt schwanger werden, damit sie ihren Alexander auf jeden Fall heiraten konnte, ja, sogar Vater, dein Großvater noch froh sein musste, wenn sie nicht sitzengelassen wurde! Sie hat mir alles erzählt, ich habe sie bedrängt, gezwungen, mir die Details zu berichten, denn ich sehnte mich wie jedes Mädchen danach, in einen Mann verliebt zu sein, einmal einen Freund, nein, einen Geliebten! wie Rahel zu haben, obwohl ich viel jünger war als sie. Aber wen sonst hätte ich fragen können? Und wem als mir hätte sie es anvertrauen dürfen? Sie war ja selbst so voll und musste es jemandem sagen. Und, hat sie dir wirklich alles erzählt? Oh ja. 456 Auch das, wofür es keine Worte gibt? Auch das, Alexander. Glaub mir, Romeo und Julia waren nichts dagegen, nichts gegen deinen Vater und meine Schwester. Wenn sie in den Ferien heimkam, lagen wir wie früher nebeneinander in ihrem Bett, ich schlüpfte zu ihr unter die Decke, kuschelte mich an sie, war gierig und ungeduldig nach ihren Geschichten mit dem herrlichen Sommerfeld, der ein wirklicher Gentleman war. War, warum war? Ja, ich meine, ist, ein richtiger Gentleman ist. Bist du auch verliebt in ihn? Ich, nein, wie kommst du darauf? Na, du könntest ihn doch jetzt haben. Alexander! Sag so was nie mehr, hörst du! Nein. Aber, was wäre denn Schlimmes dran? Schließlich bist du Rahels Schwester, ihr lebt zusammen, mindestens, wenn er da ist. Wir leben nicht zusammen, um Himmels willen, Alexander! Sag‘ ja deinem Vater kein Wort von unseren albernen Gesprächen. Natürlich nicht! Aber schön wär‘s schon. Ich würde dich gerne als Stiefmutter haben. Wirklich? 457 Ja, und wenn ihr noch Kinder haben wollt, ich habe nichts dagegen. Also, das geht nun wirklich zu weit. Wenn das dein Vater wüsste, was wir reden, während er unterwegs ist und all das Geld verdient, das wir in diesem wunderschönen Haus verbrauchen dürfen oder zum Fenster hinauswerfen! Tun wir das? Ja, sicher. Oder glaubst du, eine Anfangslehrerin wie ich, würde recht viel mehr als das Existenzminimum verdienen? Weiß ich nicht. Nein, Alexander, bestimmt nicht. Nur, weil ich auf dich aufpassen darf, da sein, damit du nicht alleine bist, kann ich diesen Luxus hier nutzen und genießen. Ich verlange keine Bezahlung und doch ist es mehr als Geld, was ich dafür bekomme. Marie war längst rot geworden, verlegen, sie schaute zu Boden, betrachtete mit übertriebener Aufmerksamkeit ihre Füße. Es war ihr jetzt peinlich. Wie hatte sie so weit gehen können, sich auf derartige Abwege locken zu lassen, solche Aussagen zu machen, was Rahel ihr einst unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte, einfach weiter zu erzählen? War sie denn von Sinnen, fühlte sie sich nicht mehr an ein Versprechen gebunden? Wie hatte dieser Bengel erkannt, dass sie in seinen Vater verliebt war wie eine junge Gans, damals wie heute, besonders heute. Tatsächlich dachte sie an nichts anderes. Feuer & Flamme war sie für diesen Mann, und als er ihr den Vorschlag, sich um seinen & Rahels Sohn zu kümmern, unterbreitete, wäre sie fast zerplatzt vor Freude, wollte ihm um den Hals fallen, ihn küssen, nein, sich lieber von ihm küssen lassen. Er würde ihr den jungen Alexander und damit alles anvertrauen, hatte er gesagt, er hätte viel früher 458 drauf kommen können, aber, na ja, rechtfertigte er sich, sie war noch nicht mit ihrem Lehramtsstudium fertig gewesen, und am Ende hatte es Alexander doch so gut bei den Pastoren gefallen und auch bei der Frau davor. Maries Hoffnungen wurden größer & konkreter, hatten aufgehört, einfach Jungmädchenträume zu sein, sondern waren mit ihrem Einzug ins Haus Sommerfeld quasi wahr geworden, auch wenn Alexanders Vater sonst keine Anstalten machte, sie nicht hofierte, nicht sogleich als Frau wahrzunehmen schien, aber dies würde gewiss noch kommen. Die kurze Zeit konnte eben nicht ausreichen für alles. Er war ein bedeutender Geschäftsmann mit tausend Terminen, ging auf Reisen hinauf in den Norden, mutmaßte sie in ihrer Naivität, ins Ausland, hatte gerade die Unannehmlichkeiten mit dem Pastorenhaus durchgestanden, Alexanders Übersiedlung & Umschulung abgewickelt, das Haus in Uppsala für die neuen Gegebenheiten umgestaltet, alles in Windeseile. Sie musste ihm Zeit lassen, auf ihn in Ruhe warten, durfte nicht ungeduldig werden, sondern musste ihn zunächst mit der Beaufsichtigung seines Sohnes entlasten, ihm den Kopf, den Rücken freihalten. Auf keinen Fall ließ sie sich, wie sie meinte, Alexander gegenüber etwas anmerken. Weder ihm noch seinem Vater gegenüber. Doch sie war bis über beide Ohren verliebt, hatte bis dahin, was aber in jener Zeit nichts Außergewöhnliches war, keinen Freund gehabt, keine Ahnung von einem wirklichen Mann außer jener, welche ihr ihre Schwester vor Jahren über exakt diesen hier, gegeben hatte. Längst hatte sie sich zurecht gelegt, was sie ihm, wenn es darauf ankäme, antworten würde. Ohne Trauschein keine Chance, ja Empörung ihrerseits, obwohl sie in Wallung geriet, sobald sie nur an ihn dachte und erst recht, wenn er zur Tür hereinkam. Sie wäre ihm am liebsten entgegengestürzt, hätte ihn sofort umarmen, umhalsen, abschmusen mögen. 459 Doch bisher war es zu keinerlei Zärtlichkeiten zwischen ihnen gekommen. Er gab vor, die Korrektheit & Distanziertheit in Person zu sein, so dachte sie jedenfalls. Daher blieb auch ihr nichts anderes übrig, als sich nichts zu vergeben. Sie tat auf keinen Fall den ersten Schritt, gab sich in seiner Anwesenheit besonders dienstlich & beschäftigt. Er rief zwischendurch an, erkundigte sich nur nach Alexander, seinen Noten, die allerdings in letzter Zeit zu wünschen übrig ließen, denn in der Schule verhielt er sich ganz anders als bei Marie, die er nicht beunruhigen wollte. In Wirklichkeit verbarg er seinen Kummer, dies, womit er nicht ohne weiteres fertig wurde, tief in sich. Er saß teilnahmslos im Unterricht, hing traurigen Gedanken nach, passte nicht auf, hörte nicht zu, kannte sich zum ersten Mal nirgends aus, lernte auch zu Hause nichts mehr. Ständig dachte er an Astrid, was sie wohl jetzt machte, wie es ihr ging, ob sie auch so allein war wie er. Dann wieder überkamen ihn Zorn, Rache, Scham. Immer wieder tauchten die Bilder auf, wie der Pastor ihn vor Astrids Augen herumgestoßen, beschimpft und schließlich auf ihn eingeschlagen hatte. Während der Stunden in der Schule, selbst wenn ein Lehrer genau vor ihm stand, zogen diese Ereignisse an ihm vorüber, war er nicht imstande, irgendetwas anderes zu sehen, zu denken, zu hören. Seine Leistungen fielen ab, erreichten nicht nur seinen eigenen persönlichen Tiefpunkt, sondern den Tiefpunkt der Klasse. Er fand sich plötzlich mit den Schwächsten in einer Reihe, wurde in einem Atemzug mit ihnen genannt. Alles lief auf die Wiederholung dieses laufenden Jahres hinaus. Er war fest davon überzeugt, dass ihm dieser Rückschlag von Anfang an bestimmt gewesen war, hätte es sonst selbst nicht verstanden, fühlte sich von allen guten Geistern verlassen, war nicht mehr imstande, auch nur geringstes Interesse für 460 irgendetwas aufzubringen. Alles erschien ihm sinnlos, nutzlos, aussichtslos, es gab keinen Ausweg, kein Entrinnen vor dem Schicksal, dachte er pathetisch. Wie ein gefangengenommener Fisch hing er an einer Angel, jede Bewegung, jeder Gedanke an Widerstand, an Kampf, Flucht verursachte ihm nur neue, schier unerträgliche Schmerzen. Jemand hatte es auf ihn abgesehen, war hinter ihm her, warum sonst musste er immer wieder fort, weg von schönen Orten, von liebgewonnenen Menschen, die sich in Furien verwandelten, immer wieder von vorne anfangen, immer wieder Enttäuschungen hinnehmen? Die guten Jahre waren nun vorbei, schnell verflogen wie es eben nur die besten tun. Wie ein ferner, unendlich schöner Traum erschienen sie ihm jetzt. Nie mehr würde es die endlosen & tiefen Abendgespräche mit Astrid geben, ihre kleinen & größeren Geheimnisse, wo waren sie überhaupt hingekommen?, sie trug doch die seinen mit sich und er die ihren, die gemeinsamen Nachmittagsstunden, die Hausarbeiten, die Hausübungen, die Predigten, vorbei auch seine Zeit als Klassenprimus, als etwas Besonderes, denn jenen Ort, an dem dies alles geschehen war, gab es nicht mehr und würde es nie mehr geben. Er zählte jetzt zu den Dummen, zu denen, die nichts kapierten, Nachhilfestunden benötigten oder es einfach dabei beließen. Selbst Gegenstände, die ihn noch vor kurzem gefesselt hatten, in denen er gewöhnlich glänzte mit Aufzeigen, Referaten, Aufsätzen, freiwilligen Zusatzarbeiten, waren ihm längst egal. Er scheiterte an Prüfungen, die er normalerweise leicht bewältigte. Die Lehrer wunderten sich über seine guten Zeugnisse in den Vorjahren, manche glaubten an einen Schwindel, sie kannten ihn ja nicht, oder ein pubertäres Problem vielleicht, etwas Persönliches, Familiäres, das in seiner Vergangenheit liegen mochte, womit sie ja auch recht hatten. Es fiel damals niemandem ein, in einem Schüler etwas anderes als einen Schüler zu sehen, keinesfalls einen ernst zu nehmenden Menschen mit seinen Nöten & Ängsten. Und, Gott sei Dank!, wussten sie nichts von den 461 tatsächlichen Gründen des Schulwechsels, denn, wer weiß, ob sie Alexander überhaupt genommen hätten und unter welchen Bedingungen & Vorbehalten! Zu Hause war er meist still, in sich gekehrt, bemühte sich aber seiner Tante gegenüber einen Anschein von Unbekümmertheit zu geben. Marie erkundigte sich nach seinen Schularbeiten, doch, was dies betraf, gab er sich verstockt, gleichgültig, wortkarg. Als es ihr allzu seltsam vorzukommen begann, sie an seinen Auskünften zweifelte, weil er ja nie Hefte herzeigte, nichts unterschreiben ließ, offenbar keine Hausaufgaben hatte, auf keine Prüfungen lernen musste, beschloss sie in seine Schule zu gehen, um sich an Ort & Stelle zu erkundigen. Sie ließ sich beherzt einen Termin beim Direktor geben, war voller Zuversicht, als Lehrerin einen guten Draht zu ihrem Kollegen zu finden. Entgegen ihren Erwartungen aber setzte dieser eine besorgte Miene auf und unterrichtete sie über den traurigen Stand der Dinge. Alexander Sommerfeld, liebe Kollegin Goldmann, ist ein Sorgenkind der schlimmsten Sorte. So fing er an, während er sich eine Zigarre aus der Kiste, die mitten vor ihm stand, herausnahm, sie interessiert herumdrehte und gleichzeitig genervt zu sein schien. Eine Auskunft wollte diese Frau & Tante über einen dieser Schüler, welche ihn in ihrer Renitenz nichts als anwiderten, diese ekelhaften, depperten „Pubertierer“, wie er sie bei sich nannte, diese Hormonpatzen, diese verzogenen Laffen. Ach, wie er sie hasste & verachtete, diese Rangen, und jetzt war er wieder einmal in der Lage, über so einen reden zu müssen, als hätte er nichts Besseres zu tun, als hätte er dafür studiert, als würde er dafür bezahlt! Am liebsten hätte er ihr einfach die Wahrheit ins Gesicht geschleudert, damit wenigstens eine mal kapierte, worum es ging und wie jede Mühe, solange sie so waren, die Burschen, vergeblich war. Nichts war zu machen, das wusste er im Schlaf, hätte es in Bewusstlosigkeit & Ewigkeit nicht 462 vergessen können. Lange schon war sein Verständnis erschöpft für derlei Nieten, im Grunde hatte er sie nie mögen, doch jedes Jahr kamen sie aufs Neue daher, entwickelten sich früher oder später größtenteils in diese Richtung. Die nettesten Jungen waren auf einmal so unausstehlich wie hässlich. Sobald sie sich in dieser Art präsentierten, verlor er das Interesse an ihnen, gab seinen Lehrerkollegen bei jeder Gelegenheit die schroffe Antwort, ihn damit in Ruhe zu lassen, erlaubte ihnen beinah wortlos so gut wie jede Methode, die ihnen einfiel, gegen diese Schüler anzuwenden, um mit ihnen fertig zu werden. Er selbst war ein Herr der alten, der ganz alten Schule, streng von fremden Menschen und der Gesellschaft erzogen, aus einfachsten Verhältnissen stammend, tiefreligiös, ohne Verständnis für Eigenmächtigkeiten, ein Verehrer des absoluten Gehorsams. Da, wo er herkam, hatte es keinen wie ihn gegeben, nur er hatte es geschafft, aus dem Stall, in den er hineingeboren worden war, herauszukommen, hatte für seine Ausbildung einst jede Arbeit verrichtet, jede Demütigung hingenommen, jede Härte ertragen, hatte in Buden gehaust, gehungert, gefroren, gedarbt. Ihm konnte niemand etwas vormachen, er war die falsche Adresse für Jammereien, für Weichlichkeiten, für den Mütter-, Tanten-, Weiberkram, für die endlosen Diskussionen über die angeblichen Nöte der Pubertät, ein Wort übrigens, das es in seiner Jugend nicht gegeben hatte. Jetzt referierten sie bereits in der Pädagogik, auf Fortbildungstagungen, zu denen man heutzutage als Direktor eines Gymnasiums extra nach Stockholm reisen musste, über dieses Wort, diesen Zustand, als hätte es nicht jeder durchgemacht und zu unterdrücken gehabt, egal, wie es ihm dabei ergangen war. Für ihn und viele andere, die es zu etwas gebracht hatten, hatte es den Luxus einer eigenen Meinung, das Ausleben eines gewissen Hormonüberschusses nicht gegeben, nicht geben dürfen, nicht für sie und nicht für ihre Vorfahren, soweit man zurückdenken 463 konnte. Schluss aus. Amen. Diese modernen Ideen hielt er für Humbug, Rosstäuscherei, für was auch immer, hörte sich die Vorträge zwar pflichtschuldig an, gönnte sich dann aber ein üppiges Abendessen, das einzige, worauf er sich freute in diesem Zusammenhang, mit einer guten Flasche Wein, zusammen mit einigen anderen Kollegen vor der Rückfahrt nach Uppsala und ließ die neuen Informationen & Erscheinungen in Stockholm zurück wie einen alten, schon schäbigen Regenschirm, den man absichtlich vergisst. Nach diesen Gedanken & Überlegungen holt er mit einer schlampigen, etwas herablassenden Handbewegung, einem beinah unmerklichen & nebensächlichen Lächeln Maries Erlaubnis ein, in ihrer, einer Dame Gegenwart, rauchen zu dürfen. Obwohl sie keine Reaktion zeigt, was ihn umso mehr verstimmt, zündet er in einem längeren Ritual umständlich & langsam, als wäre es die wichtigste Sache der Welt, sein Räucherwerk an. Paff, paff ........ . Mit einem silbernen Schneidegerät kappt er den Verschluss, zündet die Zigarre mit einem langen Streichholz an, denn alles liegt am Tablett bereit wie vor einem Opferaltar, sofort glüht die Zigarre auf, intensive Rauchentwicklung, das Streichholz wird ausgeblasen, landet nur geringfügig angekohlt in einer silbernen Schale, und bald liegen zwischen ihnen grauweiße Wolken und ein scharfer Geruch. Nicht wirklich unangenehm, denkt sogar Marie, die für derlei männliche Rituale eigentlich nichts übrig hat, dennoch findet sie es in einer Weise schick, fast verführerisch, auf jeden Fall zutiefst gebieterisch. Weiters genehmigt er sich einen weit in die Ferne schauenden, fast entrückten Blick, bevor er beiläufig fortfährt: Mein liebes Fräulein Goldmann! Ihr Neffe ist doch nicht der einzige, der nicht auf diese Schule gehört, verstehen Sie das nicht? So was kommt in den besten Familien vor. Marie blieb fast das Herz stehen. Sie spürte, wie ihr plötzlich schlecht wurde, sah sich außerstande zu sprechen, zu atmen, 464 muss, wie sie später erzählte, mit offenem Mund und starrenden Augen vor dem Direktor gesessen haben. Sie konnte auch nicht nachdenken, kämpfte nur noch mit den Tränen, einem Schmerz, welcher ihr im Halse steckte, sich im Mund & Rachen, in der Nase breit machte, so, als müsste sie diese unfassbare Offenbarung erst einmal hinunterschlucken, was ihr aber nicht gelingen wollte. Was bedeutete dieser Satz überhaupt? Sie war doch nur gekommen, um sich die Versicherung abzuholen, dass mit Alexander alles zum Besten stand, war nicht vorbereitet auf einen Schicksalsschlag dieser Größenordnung. Jetzt aber sah es so aus, als sei es höchste Zeit gewesen, in der Direktion zu erscheinen, als wäre ihr in der Abwesenheit von Alexanders Vater einiges entglitten. Vor ihr tauchte das Schreckenswort „Schuld“ auf, Schuld, ja, das war ihre Schuld, sie hatte bereits von Anfang an zu wenig aufgepasst, ihre Wahrnehmung nicht überprüft, war nachlässig & leichtfertig geworden, hatte die, ihr anvertraute Aufgabe unterschätzt, Alexander vertraut & geglaubt, doch ein wirkliches Schulproblem war außerhalb ihrer Vorstellung gelegen. Das, das .........., das darf doch nicht wahr sein, stotterte sie endlich, wunderte sich noch, wie sie wenigstens diesen geistlosen Satz herausbrachte. Nicht wahr sein? Was darf nicht wahr sein, mein liebes Fräulein? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, oder heißt es umgekehrt? Es ärgerte sie seine witzelnde Anrede. Was hieß hier „mein liebes Fräulein“? Er hielt sich für was Besseres, für einen Mann, für ihren Vorgesetzten, der es sich leisten konnte, mit ihr zu reden wie mit einem Dienstmädchen. Fast hätte sie ihn darauf aufmerksam gemacht und sich darüber mokiert, doch, lieber wollte sie es über sich ergehen lassen anstatt Alexander womöglich noch mehr zu 465 schaden. Wie meinen Sie das, Herr Kollege? Er ist ein ausnehmend kluger Junge, hatte bis jetzt die besten Zeugnisse, hat brav gelernt, immer ganz allein, tat sich leicht in allem. Ja - tat, hatte, war! Sie sagen es selber, es ist vorbei. Das alles war vielleicht einmal - irgendwann in der Vergangenheit, wenn überhaupt. Auch muss man wissen, dass die Schulen nicht alle gleich sind. Dort und da auf dem Land nimmt man es nicht so genau. Aber wir in Uppsala sind eine traditionelle, eine ehrwürdige Schul- und Universitätsstadt. Da kann es auch mal ein böses Erwachen geben. Das ist schon manchem passiert, glauben Sie mir, mein liebes Fräulein Goldmann! Die Herrschaften wähnen sich oft als etwas Besseres als sie tatsächlich sind, das ist immerhin die leichteste und am meisten verbreitete Form des Selbstbetrugs, so mancher Lebenslüge, aber so leicht geht das nicht. Man kann gegen das Schulsystem sicher einiges sagen, aber für eines ist es gut, es trennt den Weizen von der Spreu, es zeigt, wer was kann und wer nicht, irgendwann, glauben Sie mir, auch wenn es länger dauern kann, irgendwann kommt es an den Tag. Ginge es nach Müttern und Großmüttern wären alle Kinder geborene Genies und wir Lehrer allesamt unfähig, diese Genialität zu erkennen. Wir hier haben nur die besten Lehrer, unser Haus zählt zu den angesehensten Anstalten des ganzen Königreiches. Wir haben Prinzen und Prinzessinnen unterrichtet, und selbst sie mussten sich unterordnen, kamen hierher, um es zu lernen. Ich will Ihnen etwas zeigen. Er zog eine Mappe aus einer der Schubladen, schlug sie auf, entnahm eine Liste mit Alexanders Noten. Hier haben Sie die Zensuren von Alexander Sommerfeld, er steht 466 in fast allen Fächern auf Nicht genügend, wie Sie sehen. Wenn er nicht freiwillig geht, muss er auf jeden Fall die Klasse wiederholen. Und noch etwas, richten Sie seinem Vater aus, er möge möglichst sofort bei mir vorsprechen. Es ist nicht unsere Gepflogenheit an dritte Auskunft zu geben. So gesehen, habe ich bereits viel zu viel gesagt. Aber immerhin sind wir Kollegen, und ich bin Ihnen daher entgegen gekommen. Mit diesen Worten erhob er sich, eine ziemlich spontane Geste, wie es Marie vorkam, womit er ihr zu verstehen gab, dass er das Gespräch für beendet betrachtete. Sicher war ihm die Tatsache, mit einer Frau, eigentlich einem Fräulein, so Schwerwiegendes zu besprechen, schon schwer genug gefallen. Der abrupte Abbruch, der keine Antwort, keine Frage von Marie mehr zuließ, keine Hilfe anbot, keinen Trost beinhaltete, keine Lösung in Aussicht stellte, war besonders verletzend. Blass & niedergeschlagen verließ Marie die Direktionskanzlei, ging wortlos, gedankenverloren an anderen wartenden Eltern vorüber, nahm sie nur als Ganzes, nicht im einzelnen wahr. Später erinnerte sie sich daran, dass es ihr damals ein Trost gewesen war, wenigstens nicht die einzige mit Schulsorgen zu sein. Lange dachte sie darüber nach, ging ziellos durch Uppsala. Nicht nur ihre Gefühle, sondern auch ihr Verstand waren völlig durcheinander, sie versuchte, Klarheit zu finden, aber ihr Kopf war dumm & leer, das Denken fiel ihr schwer, sie zitterte, weinte. Das Kind ihrer toten Schwester machte ihr und überhaupt jemandem zum ersten Mal begründete Sorgen, jetzt aber trug sie die Verantwortung für Rahels Sohn, sie allein. Gleich, wenn sie heimkam, wollte sie mit dem Jungen reden, ihn auf sein Versagen ansprechen, dann wieder tat er ihr in der Seele leid, und als sie nach langen hin & her das Haus betrat, in seinem Zimmer oben nur das Nachtlicht brennen sah, war es ihr nicht möglich, hinaufzugehen & anzuklopfen. Als sie später beim gemeinsamen Abendmahl saßen, für das 467 Marie sich besondere Mühe gegeben hatte, erkannte Alexander sofort, dass etwas nicht stimmte. Tante Marie, was hast du? Sie konnte nicht antworten. Warst du in meiner Schule? Ja. Haben sie über mich geschimpft? Der Direktor hat mich über den Stand der Dinge informiert. Hab’ ich mir gedacht. Gut, dass es vorüber ist. Alexander, was machen wir denn jetzt? Weiß ich nicht. Bist du mir auch böse? Nein, natürlich nicht. Aber ich möchte dir gerne helfen, und ich muss es deinem Vater mitteilen. Ich bin für dich verantwortlich, dafür bin ich ja da, verstehst du? Ja, aber ich kann nicht anders. Ich bin so traurig. Ich glaube, mein Herz ist zerbrochen. Alexander, Schätzchen, Liebes, Junge, mein großer, kleiner, armer, gescheiter, dummer Bub! Sie stand auf, umarmte ihn von hinten und flüsterte ihm ins Ohr die Worte, die er nie vergessen würde: Ich werde immer zu dir halten, egal, was geschieht. Wirklich? Danke, ich danke dir viel tausendmal. 468 Wichtig ist, dass du wieder ganz gesund wirst, deine Melancholie überwindest. Du wiederholst das Jahr, das macht nichts. Ein Jahr ist nichts auf ein ganzes Leben gerechnet. Ich werde deinen Vater verständigen und die Erlaubnis einholen, dich den Rest des Jahres von der Schule zu nehmen, damit du dich erholen kannst. In den Sommerferien können wir gemeinsam verreisen, alles vergessen und im Herbst neu anfangen. Und so geschah es. Im Herbst 1951 gingen sein Vater, Tante Marie und er auf ihre erste gemeinsame Reise. Diese führte sie nach Frankreich, wo Marie ihr Französisch einsetzen konnte, ihnen jeden Weg ebnete, in den beiden ihre größten Bewunderer fand, obwohl sie überall, wo sie hinkamen, allein schon durch Maries Schönheit und erst recht durch ihre Sprachgewandtheit Aufsehen erregten. Da sie & sein Vater für ein Paar gehalten wurden, gab es, außer heimlichen Blicken, keine Annäherungsversuche fremder Männer. Alexander entging es nicht, dass Marie in seinen Vater verliebt war. Doch sie schlief immer allein in ihrem Einzelzimmer, was ja auch anders gar nicht möglich gewesen wäre, hielt respektvolle Distanz zu Herrn Sommerfeld, während sie beide jeweils, wie in alten Tagen, ein großes Doppelbett in einem eigenen Zimmer belegten. Freilich war ihm nicht wirklich bewusst, wie sehr Marie unter diesem Zustand litt, sie Tag & Nacht, jeden Augenblick, auf ein winziges Zeichen hoffte, während sein Vater nicht im geringsten eine Veranlassung sah, seine Schwägerin als junge Frau wahrzunehmen, die vielleicht ganz natürliche Bedürfnisse hatte, sich nach Liebe & Zärtlichkeit sehnen könnte. Selbst wenn er soweit gedacht haben sollte, meinte er wohl, dafür sei er nicht zuständig oder es gehöre sich nicht. Marie müsse einen anderen, jüngeren Mann finden, nicht jemanden wie ihn, sondern einen ihrer Wahl, ihres Alters, ihrer Generation. Vielleicht wollte er sie auch nicht in die Verlegenheit bringen, sich ihm verpflichtet zu 469 fühlen, ihre Freiheit aufzugeben, ihre Jugend unnötig früh zu beenden. Wie dem auch war, in Wahrheit bewunderte er sie, ihre Schönheit, ihre Gewandtheit & Klugheit, denn sie erinnerte ihn schmerzlich an Rahel und daran, wie auch sie genauso gewesen war. Sein Vater machte ihm kein einziges Mal Vorwürfe wegen seines Versagens in der Schule, denn er verstand ihn, vertraute ihm, ja achtete ihn dafür. Sein Sohn gehörte nicht zu jenen, die ein solches Ereignis einfach wegsteckten, den Ort wechselten und zur Tagesordnung übergingen. Es war nach all den Verlusten, die hinter ihm lagen, der bisher vielleicht schwerste gewesen. Mit seinen sechzehn Jahren hatte er bereits seine erste Liebe auf die grausamste Weise verloren. Sein Vater tat alles zu seiner Aufheiterung, alles, um ihn vergessen zu lassen, was ihn bedrückte. Er überschüttete Alexander mit Aufmerksamkeit, verwöhnte ihn mehr denn je, legte beim Gehen den Arm um seine Schulter, nahm ihn während des Essens bei der Hand, streichelte sie, kleidete ihn aufs allerfeinste, bedachte ihn mit Großzügigkeit & Milde, ließ ihn nicht aus den Augen. Dieser Sommer sollte in die Familiengeschichte eingehen wie einst die Reise mit Rahel nach Italien, wo bereits alles, was jetzt erst geschah, seinen Anfang genommen hatte. Es war in vieler Hinsicht wie damals, denn Marie konnte in ihrer Art, die Dinge rasch aufzufassen, täuschend nah an Rahel herankommen, ja nicht darin nur, sondern in allerkleinsten Bewegungen & Begebenheiten, die Herr Sommerfeld genau registrierte, auch wenn Marie keine Ahnung davon hatte, nicht wusste, wie sehr sie ihn erinnerte, ihn anrührte, ihn auf zärtliche, träumerische Gedanken kommen ließ. Auch wenn sie sich äußerlich nicht ähnlich gesehen hatten, so fiel es Alexanders Vater schwer, nicht in beinah jedem Augenblick an Rahel zu denken. Bedrückend wurden ihm die Erinnerungen zuweilen und doch so süß, so heimelig, so allerliebst. In Marie lebte Rahel quasi fort. Nichts an ihr war ihm wirklich 470 fremd, ja, sie sagte manchmal Dinge, die auch ihre Schwester fast wortwörtlich geäußert hatte. Marie war unschuldiger als Rahel. Ein jeder konnte leicht erkennen, dass sie noch mit keinem Mann näher bekannt geworden war. Rahel war in diesem Alter anders gewesen, hatte sexuelle Begierde & Ansprüche gehabt, eine deutliche Vorstellung von ihrer Zukunft mit Alexander Sommerfeld, stellte sich gegen ihren Vater, den Rabbiner, was in einer Weise so viel hieß wie gegen Gott und die Welt, den es war in jenen Tagen weder üblich noch vorstellbar, als Frau eigene Wünsche zu äußern. Ohnehin durfte Rahel entgegen den damaligen Gepflogenheit im Judentum wie in allgemeinen, studieren, fort von daheim, sich allein in der Öffentlichkeit bewegen, was sie weidlich ausnutzte und in Form einer geradezu skandalösen Beziehung mit Alexander Sommerfeld ausgiebig genoss. Marie hingegen führte sich tadellos auf, fungierte als Gouvernante, Gesellschafterin, Übersetzerin, war unendlich dankbar für diese schöne, große Reise, auf der sie wertvolle Erfahrung als Französischlehrerin sammeln konnte. Nie hätte sie sich selbst etwas dergleichen leisten können. Fast mit Ehrfurcht nahm sie dieses Geschenk entgegen. Ihre Liebe zu Herrn Sommerfeld, ihrem Schwager, hielt sie geheim, verschlossen in ihrem Herzen, ihrem Sinn. Nachts schmachtete sie, träumte von ihm, aber das waren derweil Hirngespinste. Er schlief auf der anderen Seite der Wand, manchmal hörte sie die beiden lachen, rumoren oder zu später Stunde noch weggehen. Nie hätte sie, wie ihre große Schwester, gewagt, an mehr zu denken, zu glauben, schon gar nicht initiativ zu werden. Ja, Rahel war verwegen gewesen, dies hatte sie ihr mehr als einmal verdeutlicht. Jetzt dachte sie wieder daran, was sie damals in den Nächten in Växjö alles geredet hatten, und noch heute nach all den Jahren, in denen Rahels & Alexanders Sohn, der aus dieser Verwegenheit hervorgegangen war, heranwuchs, sein Geburtstag 471 zugleich Rahels Sterbetag - wie der junge Alexander alles, alles in Erinnerung brachte und noch heute, da ihr derselbe Mann, von dem Rahel gesprochen hatte, gegenübersaß, es ihr nicht möglich war, ihm ihre tiefe Liebe zu gestehen. Wenn er nicht selbst auf sie zukäme, sie ihm nichts bedeutete, er weiterhin nur für Rahel leben sollte oder wollte; sie könnte den ersten Schritt nicht tun, und schon jetzt ahnte & fürchtete sie die Tragik, die damit für sie verbunden war. So kehrten sie nach dem französischen Sommer zurück nach Schweden. Es war zwischen ihr und ihrem Schwager zu keiner Annäherung gekommen, zu nichts, was über die üblichen Höflichkeiten & Gepflogenheiten hinausging. Freilich war er großzügig & zuvorkommend ihr gegenüber, sie hatten Spaß gehabt, Wein getrunken, waren redselig gewesen, doch am Ende eines ausgelassenen Spaziergangs etwa, am Ende eines unterhaltsamen Abends, am Ende von allem, was immer es war, am Ende küsste Herr Sommerfeld ihr nur die Hand, brachte sie bis vor ihre Zimmertür, verabschiedete sich mit einer Verbeugung und ging mit Alexander. Marie unterrichtete wieder, Alexander begann mit der Wiederholung seines verpatzten Schuljahres, Sommerfeld ging seinen gewohnten Geschäften nach, fuhr fort, Vermögen anzuhäufen, zu sichern, Alexanders Erbe zu verwalten. Der junge Alexander hatte sich erholt, sein Schmerz war nicht mehr frisch, wenn auch unvergessen. Es gelang ihm nun langsam wieder, sich auf das Lernen zu konzentrieren, seinen Geist zu sammeln. In diesem vergangenen Jahr, im vergangenen Sommer hatte er etwas Klarheit gewonnen über sich, die Liebe, die Zukunft, war vielleicht erwachsen geworden. Nicht mehr & nicht weniger als dies, dachte er bei sich selbst, ich bin erwachsen geworden. Sein Zusammenleben mit Marie gestaltete sich nicht nur erträglich, sondern erfreulich. Er hatte sie jetzt privat & einfach erlebt, losgelöst von der Verantwortung, die sie trug für und mit 472 ihm, ihren Schmerz gespürt, fühlte sich zu ihr hingezogen, bewunderte sie für ihre Haltung, ihre Beherrschung, ihre Sprachkunst. Es fiel leicht, sie zu lieben; ihre Schönheit, ihr Benehmen, ihre Anständigkeit, alles an ihr nahm einen für sie ein. Es begannen die Jahre, in denen sie miteinander nicht nur lebten, sondern auch gemeinsam arbeiteten, Bücher lasen, ins Konzert, ins Kino, ins Theater gingen, lange Abende miteinander verbrachten, er mit ihr Französischhefte korrigieren durfte, Aufsätze lesen, viel von ihr lernte, wo sie Menüpläne zusammenstellten, sie gemeinsam kochten, probierten, einander bei allen Vorbereitungen halfen. Wenn Herr Sommerfeld von der einen oder anderen Reise zurückkehrte, fühlte er sich zuweilen fehl am Platze. Er wurde das Gefühl nicht los, in eine äußerst private Sphäre einzudringen und fremdes Glück zu stören, doch insgeheim war er voller Freude darüber, legte sich zufrieden zu Bett, reiste erleichtert wieder ab, hatte gesehen, wie sehr Alexander & Marie inzwischen zusammengewachsen waren, zusammengehörten, einander verstanden & ergänzten, er sich keine Sorgen zu machen brauchte, kein schlechtes Gewissen, sondern jederzeit beruhigt gehen & wiederkommen konnte. Beide wussten nichts mehr Rechtes mit ihm anzufangen, zeigten kaum Interesse an seinen Erfolgen & Misserfolgen. Zwar empfingen sie ihn überaus herzlich, mit aufrichtiger Freude, kochten für ihn, umsorgten, verwöhnten ihn, doch sie hatten sich ein eigenes Leben aufgebaut, waren eine Art Ehepaar geworden, das sich selbst genügte. Herr Sommerfeld war für sie beide fast so etwas wie eine Aufgabenstellung, die sie lösen mussten, geworden, auf die Art wie, was mache ich mit einem plötzlich auftauchenden Gast? Oder: ein warmer Empfang an einem bitterkalten Winterabend - wie geht es am schnellsten? So oder so ähnlich jedenfalls kam es Alexanders Vater manchmal vor. Im Stillen war Herr Sommerfeld froh über diese Entwicklung, zumal er feststellte, wie Alexander von der Schule wieder seine 473 gewohnten Noten heimbrachte, ohne größere Mühe vorankam, Zeit & Freude für die Schönen Künste aufbrachte, mit Marie das kulturelle Leben in der Stadt genoss und wie bei ihm zu Hause trotz seiner Abwesenheit alles zum Besten stand. Er schmunzelte über die hektische Arbeitsweise, die sie beide in solchen Situationen an den Tag legten, wie selbst Alexander in einer Schürze herumlief, geschäftig in der Küche, in der Speisekammer verschwand, während er als Gast sie beide beschwor, sich doch keine Umstände zu machen. Im Handumdrehen war ein hurtiges, überaus köstliches, ja sogar heißes, dampfendes Abendessen herbeigezaubert, Wein auf den Tisch gebracht, Kerzen entzündet und alles zum Feinsten bestellt. Dann das Gejammer darüber, dass er nicht angerufen hatte, sie nichts hatten vorbereiten können, man deswegen in Verlegenheit war und so weiter und so fort. Genauso musste es bei langjährigen Ehepaaren zugehen, dachte der Vater dann und freute sich über das Glück seines Sohnes und die Verlässlichkeit Maries, über die ganze Idylle, die sich ihm darbot, wenn er von weit her nach Hause kam. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich einsam gefühlt, überflüssig & lästig, wie ein Störenfried beinah. Etwas enttäuscht & erleichtert zugleich reiste er wieder ab, froh, dass alles gut geworden war, traurig, weil man ihn nicht brauchte. Es konnte geschehen, dass Tränen der Freude wie Tränen der Wehmut, wenn er dann allein im Zug, im Wagen saß, über seine Wangen rollten, während er die Bilder des Glücks vorüberziehen ließ. Ach, was war es doch Seltsames mit dem Leben, Freude & Leid, Glück & Unglück lagen so nah beieinander, dass er sie fast nicht zu unterscheiden vermochte. Dass diese frühe gemeinsame Zeit von Marie & Alexander ein Omen sein könnte, ein Entwurf, eine Generalprobe für das, was so viele Jahre später seine Fortsetzung finden würde, wenn auch unter ganz anderen Umständen, darauf wäre niemand gekommen, wohl nicht einmal die beiden selbst. Alexander wurde, wie konnte es anders ein, zum Schwarm von 474 Maries Schülerinnen, denn nicht selten holte er sie von der Schule ab, brachte ihr etwas vorbei, wurde mit ihr zusammen beobachtet, beim Einkaufen, Spazierengehen, Eislaufen, auf Veranstaltungen. Eines Tages jedoch geschah es, dass Marie in die Direktion gerufen wurde und über ihre Lebensumstände Auskunft zu geben hatte. Immerhin unterrichtete sie an einem privaten, religiös orientierten Mädchenlyzeum, dessen Ruf keine halben oder fadenscheinigen Verhältnisse duldete. Fräulein Kollegin Goldmann, wie es aussieht, wie man hören muss, leben Sie nicht gerade in geordneter Weise mit einem Mann zusammen? Wissen Sie nicht, dass Sie entweder ledig oder verheiratet sein müssen und über jede Änderung Meldung zu erstatten haben? Gerade wie bei Alexanders Direktor vor nicht allzu langer Zeit, fiel ihr buchstäblich das Herz in die Schuhe. Diesmal saß ihr zwar eine Frau gegenüber, doch dies erleichterte die Sache keineswegs. Als sie sich gefangen hatte, versuchte sie so gelassen wie möglich zu sagen: Wenn Sie auf Herrn Sommerfeld, meinen Schwager, anspielen, kann Ihnen sagen, ich beaufsichtige und betreue an meiner verstorbenen Schwester statt ihren Sohn, da Herr Sommerfeld beruflich viel unterwegs ist und es die Umstände nun endlich erlauben, mich um den jungen Alexander, meinen Neffen, zu kümmern. Danach habe ich nicht gefragt, sondern vielmehr danach, welches Verhältnis Sie zu Herrn Sommerfeld haben. Wenn es stimmt, was mir zu Ohren gekommen ist, könnten Sie auf keinen Fall an dieser Schule bleiben. Darf man vielleicht erfahren, was Ihnen und vor allem von wem zu Ohren gekommen ist? 475 Von wem nicht, sehr wohl aber, was, doch das dürften Sie längst selber wissen! Das also war es. Es ging um die wilde Ehe, die sie in den Augen und in der Phantasie der anderen mit Alexanders Vater führte, auch wenn es mitnichten so war. Sie hatte also unter Beobachtung gestanden die ganze schöne, glückliche Zeit, nicht bemerkt oder bemerken wollen, wie sehr sie beneidet wurde von so gut wie allen, die sich leid sahen, die ihr dieses besondere Glück missgönnten. Was für eine Hybris! Gott strafte sie, Gott drohte ihr in Gestalt der Gesellschaft, in Gestalt ihrer Vorgesetzten sogar, ganz konkret und ganz persönlich. Ich lebe nicht mit Herrn Sommerfeld zusammen, wir sind nicht Mann und Frau, wenn Sie das meinen, es ist nur dasselbe Haus. Ich bin die Tante seines Sohnes, des Sohnes meiner Schwester Rahel, die bei der Geburt ihres ersten, dieses Kindes gestorben ist. Nun musste sie sich rechtfertigen, sogar ihre Liebe verraten, denn tatsächlich wäre ihr nichts lieber gewesen, als diesen stillen feinen Mann, von dem sie so viel wusste, den sie verehrte & bewunderte, zu liebkosen, zu heiraten, mit ihm leben zu dürfen auf ganz legale Weise. Doch er machte keine Anstalten, nicht den geringsten Versuch, ihr näher zu kommen, während doch ihr Herz Tag & Nacht für ihn schlug. Im Augenblick aber verleugnete sie ihn, ihre Verliebtheit, ihr Geheimnis, platzierte ihn an einen weit entfernten Ort, dichtete ihm andere Beziehungen an, stellte sich als seine Haushälterin & Kinderfrau dar. Als sie dies irgendwie zum Ausdruck gebracht hatte, ohne ihre wahren Gefühle zu zeigen, so hoffte sie wenigstens, da erhielt sie den zweiten Schlag ins Gesicht, dieser war noch infamer als der erste. 476 Und wie steht es mit dem Jungen? Oh, es geht ihm wieder gut, er schreibt die besten Noten, bringt uns nur Freude ins Haus. Sie scheinen jede Frage misszuverstehen. Ich fragte Sie nach dem ganz persönlichen Verhältnis zum jungen Sommerfeld. Er ist mein Neffe. Meine Schwester starb bei seiner Geburt wie ich schon gesagt habe. Das ist alles. Verstehen Sie, ich muss Sie das fragen, es ist auch mir sehr unangenehm, das dürfen Sie mir glauben, aber gibt es auch zu ihm keine, wie immer geartete Beziehung, wenn Sie wissen, was ich meine, können Sie mir das unterschreiben? Nein, ich weiß überhaupt nicht, was Sie meinen? Auf was für eine Art von Beziehung, in Gottes Namen!, spielen Sie an? Na, so etwas wie eine sexuelle Beziehung zum Beispiel? Marie hätte beinah die Fassung verloren. Sie verstand nichts mehr, spürte Übelkeit aufsteigen, Brechreiz, Schwindel. Was wurde da über sie geredet, gedacht? Wie konnte es soweit kommen? Wer setzte solche Fragen, solche Verdächtigungen oder gar Anschuldigungen in die Welt? Jetzt erst sah sie Alexander zum ersten Mal als jungen und vielleicht für andere sogar bereits begehrenswerten jungen Mann. Es fiel ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen, ja, es war, als zöge man einen Vorhang beiseite. Wie hatte sie das übersehen können? Für sie war er ihr Neffe, ihr Kind, das Kind ihrer Schwester gewesen, ihre Familie. Es war ihr nicht möglich, etwas anderes in ihm zu sehen, auch jetzt nicht. Sie war doch seine Tante. Tante Marie, wie er sie liebevoll nannte, 477 worauf sie so stolz war, auch wenn sie versuchte, es nicht zu zeigen. Es war ihr gelungen, einen Faden zu ihm zu finden, eine persönliche Bindung aufzubauen. Wessen man sie verdächtigte, die Art wie man sie fragte, deutete doch darauf hin, dass man ihr Inzest unterstellte. Was fiel den Leuten ein? Was erlaubten sie sich? Wie konnten sie sich das trauen? Es gibt Gerüchte, fuhr die andere fort, denen wir nachgehen müssen, wir sehen uns unangenehmen Fragen seitens der Eltern unserer Schülerinnen ausgesetzt, Ich bitte Sie wirklich, Fräulein Kollegin, mich zu verstehen und nicht zuletzt um Ihrer selbst willen aufrichtig zu sein, Verantwortung zu übernehmen, ganz persönlich Ihr Gewissen zu erforschen, um mit sich ins reine zu kommen und letztendlich die Konsequenzen zu ziehen. Niemand zahlt das hohe Schulgeld, wenn er nicht sicher sein kann, dafür das beste für sein Kind zu bekommen. Es geht um den Ruf einer religiös orientierten und hochangesehenen Mädchenschule, im letzten um Ihre wie auch meine Existenz. Die Zöglinge kommen aus dem ganzen Land zu uns, ihre Eltern sind Pastoren, Ärzte, Geschäftsleute, Beamte, aber auch einfache Bürger, die sich die Ausbildung ihrer Kinder mitunter vom Munde absparen. Es darf nicht den leisesten Zweifel an der Integrität unserer Lehrpersonen geben, begreifen Sie das? Das Verhör, wie sie es später nannte, ging endlich damit zu Ende, dass Marie zwei Texte unterzeichnete, welche die Direktorin der herbeigerufenen Sekretärin in die Maschine diktierte. Sogar sie erfuhr nun brühwarm diese unsagbare Geschichte. Sobald sie mitbekam, worum es ging, lief sie bis zu den Ohren rot an, starrte auf das Papier, schien den Wörtern, die sie hörte, nicht zu trauen, verschrieb sich mehrmals, musste daher öfters eine neue Seite einspannen. Man war nicht einmal um die geringste Diskretion bemüht, eine Taktlosigkeit seitens der Direktorin, welche die paar Zeilen mit Leichtigkeit selbst hätte tippen können, sodass es wenigstens unter vier Augen geblieben wäre. Gewiss hatte sie diese Demütigung beabsichtigt, indem sie tat, als wäre es eine 478 selbstverständliche amtliche Handlung oder eine schriftliche & hochoffizielle Gesprächsnotiz für die Akten der Schule. In Wahrheit unterschrieb Marie eine Erklärung, wonach sie lediglich als Dienstmagd im Hause Sommerfeld angestellt war, doch wenigstens, so dachte sie, war nicht von ihr verlangt worden, eine Unterschrift ihres „Dienstherrn“ beizuschaffen. Marie überflog das Papier, denn während des Diktats des Textes durch ihre Vorgesetzte, hatte sie so gut wie nichts verstanden, und so unterfertigte sie, um an der Schule weiter unterrichten zu dürfen, die, ihr vorgelegten Zeilen. Sie musste durch ihre Unterschrift bestätigen, dass sie zu beiden Sommerfelds keine wie immer geartete unsittliche Beziehung unterhielt, sondern lediglich gegen Bezahlung den Haushalt führte, den Jugendlichen beaufsichtigte & bediente. Danach erhob Marie sich zitternd, verließ ohne ein weiteres Wort die Direktion. Man rief ihr noch etwas hinterher, sie hörte es nicht mehr. Später meinte sie, es wäre um eine Durchschrift gegangen. Draußen vor dem Schultor wartete Alexander, der nichts wusste von dem, was vorgefallen war. Warum bist du so bleich, Tante Marie, geht es dir nicht gut? Ist etwas passiert? Sie war nicht sofort imstande, zu reden. Er knöpfte ihr den Mantel zu, schlang ihr den Schal, der ganz gegen ihre Art aus ihrer Tasche hing, um den Hals, nahm ihr Schultasche & Handtasche ab, stellte alles in den Schnee, umarmte sie. Am besten, wir gehen jetzt eislaufen, sagte er, das wird dich aufmuntern. Sie wurden indes beobachtet, aus der Direktion, aus anderen Fenstern heraus, das spürte Marie, doch ergab sie sich einfach dem Halt, den Alexander ihr bot und den sie jetzt dringend brauchte, selbst um den Preis, erneut unter Verdacht zu geraten. Er hielt sie ganz fest, fragte nicht weiter, doch spürte er wie schlaff & schwach sie war und dass etwas ganz Schwerwiegendes geschehen sein musste. 479 Wie sein Vater, konnte er einem mit Stille Sicherheit geben, das ganze Verständnis, dessen er fähig war, damit zum Ausdruck bringen. Sie genoss seine Kraft, seine Zärtlichkeit und das unter den Augen der Lehrerinnen, die Marie & Alexander in dieser Umarmung durch die Scheiben über ihnen, sehen konnten. War es nicht das Gegenteil von dem, was sie gerade unterschrieben hatte, sah es etwa nicht genauso aus? Später zu Hause wollte sie ihm erklären, was vorgefallen war, doch, als er sah, wie schwer es ihr fiel, meinte er: Ich kann mir ungefähr vorstellen, worum es ging. Sie beneiden dich und mich und meinen Vater, uns alle zusammen. Wir wissen, was wir einander bedeuten, sie denken und reden nur schlecht, genau wie bei mir und Astrid damals. Weil sie es sich nicht anders erklären können. Vergessen wir sie. Lassen wir sie nicht herein in unser Haus, in unsere Gedanken, in unser Leben. Es geht sie nichts an. Es gehört nur uns. Lade niemanden von der Schule mehr ein. Sie spionieren dich aus. Zeigen wir ihnen nicht mehr, wie schön es bei uns ist. Versprich es mir! Sie können es nicht verstehen, sie sind nicht glücklich genug, nicht glücklich wie wir. Sie sind nur traurig, nur neidisch. Aber Alexander, ich liebe deinen Vater wirklich, ich kann nicht anders. Ich weiß. Bitte, du darfst es ihm nie sagen, hörst du? Wirklich nicht? Alexander! Bitte, bitte! Nein, ich sage nichts. Ich glaube, er lebt in einem Traum mit meiner Mutter, er ist in ihm verloren gegangen, verstehst du? 480 Vielleicht ist er nicht einmal mehr ganz normal. Vielleicht sieht oder glaubt er nichts anderes mehr. Alexanders damalige Ahnung sollte sich viel später bestätigen, jetzt war es nur ein Verdacht, ein Trost. So vergingen die Jahre, die sie beide in ihrer Weise genossen. Wenn sein Vater zurückkam, verwöhnten sie ihn nach Kräften, sodass er sich zuweilen selber wie ein Kranker vorkam und einmal sogar danach fragte. Auch er brachte seine ganze Liebe mit, die väterliche für Alexander, die besondere für Marie, nannte sie beide seine Heimat, seine Freude, seinen Schatz, seinen Hausaltar, seine Familie, hinterließ ihnen reichlich Geld, wenn er ging, fragte nie nach dessen Verbleib, mokierte sich über nichts, befand alles für rechtens & gut. In der Schule indes war Marie eine strenge Lehrerin, sie unterrichtete mit Französisch & Hauswirtschaft zwei zutiefst bürgerliche Fächer. Sie saß oft bis spät in die Nacht über den Heften, stöhnte, korrigierte, ärgerte sich, machte Notizen, lächelte, wenn etwas gut gemacht war, doch oft & oft musste sie zufrieden sein mit den bescheidenen Ergebnissen, die ihr vorlagen. Manchmal setzte sich Alexander zu ihr, ermahnte sie, zeitiger zu Bett zu gehen, es für heute gut sein zu lassen, endlich zu schlafen. Du wirst alt werden vor der Zeit, Tante Marie, wenn du so weitermachst, konnte er sagen, komm jetzt, sei vernünftig, du frierst, bist noch nicht einmal gewaschen! Ja, Alexander brachte sie manchmal sogar in ihr Zimmer, legte sie aufs Bett, deckte sie zu, löschte das Licht. Doch ihre Abende waren auch ausgefüllt mit langen Gesprächen, mit gegenseitigem Vorlesen, mit Musik. Alexander bekam sein erstes Klavier, nahm Stunden bei einer Kollegin von Marie. Sie verlebten vollkommen glückliche Jahre miteinander, bis Alexander nach Stockholm ging, um Medizin zu studieren. 481 Der einzige Wermutstropfen, den es gab, war Maries vergebliche Liebe zu Alexanders Vater - Alexander dem Älteren. Alexander den Ersten, den Großen, titulierte sie ihn zuweilen, um die beiden Alexander zu unterscheiden, und dennoch hätte sie nicht sagen können, welcher ihr mehr bedeutete, der kleine oder der große, der alte oder der junge. Doch auch, als Alexander der Zweite an der Universität studierte, besuchte Marie ihn so oft es ihr möglich war, in Stockholm, oder er fuhr übers Wochenende zu ihr, und sie machten es sich so bequem & fein wie früher, ja es kam sogar vor, dass er auf seinen Schlittschuhen von Stockholm nach Uppsala reiste, so als wären sie Niels Holgersons Gänse oder Aladins fliegender Teppich, etwas, das er später mit seiner jungen Frau Sonja in Erinnerung an jene Zeit, wiederholen sollte. Viele Jahre später, wenn Alexander den Schmerz, der ihm bestimmt war, den Schmerz seines Lebens überstanden haben wird, wenigstens äußerlich, wird wieder Marie es sein, die wartet, wartet auf ihn mit treuer Verlässlichkeit, wartet darauf, dass er sie bittet, bei ihm zu bleiben, zu ihm zu ziehen, bei ihm zu wohnen, mit ihm zu leben für immer. Und sie wird da sein, ja, sie wird nichts anderes getan haben, als diese Stunde abzuwarten, Alexander kommen zu lassen, ihr Versprechen, immer & immer für ihn da zu sein, einzulösen, ihn zu empfangen wie ihren eigenen, endlich heimgekehrten Sohn, um ihn nie wieder herzugeben, nie wieder zu teilen, seine Herrin wie seine Dienerin zu sein, die einzige Frau seines Hauses zu werden, allerliebste Tante & Mutter zugleich. Genau wie damals, und alles, was eine Frau imstande ist, darzustellen, wird sie ihm sein. Die Liebe, die sie dem, inzwischen verstorbenen Alexander Sommerfeld, Alexanders Vater, nicht geben durfte, hatte sie für seinen Sohn aufgehoben, geläutert, veredelt, gleichsam vergoldet war sie während dessen langer Abwesenheit in aller Stille auf ihn übergegangen. 482 So brannte Marie, als er eines Tages bei ihr erschien, sie stand in Flammen als ganzes, traute ihren Augen & Ohren nicht, konnte sich nicht satt sehen an Alexander, der sie erschaudern ließ ob der Ähnlichkeit mit seinem Vater, ob der Größe des Geschehens, ihrer tiefsten Sehnsucht, die nun in Erfüllung ging. Sie war bereit, bereit für alles, was es auch wäre, bereit ihr Leben vollkommen zu ändern, es hatte in einem einzigen Augenblick seinen Sinn zurückbekommen, ihre Tränen, ihre einsamen Nächte waren nicht vergeblich gewesen, denn sie, Marie! war es, und nur sie durfte es sein in aller Welt, niemand sonst. Ihre Träume, ihre Gebete, ihre geheimsten Wünsche, alles, was sie entbehrt, so heiß, so innig begehrt hatte, war nicht umsonst gewesen. Sie, die kinderlos geblieben, deren Jugend vergangen war, ohne einen einzigen Geliebten in all den Jahren gehabt zu haben, keine noch so kleine Zerstreuung genossen, sich nur auf ihre Arbeit konzentriert, in Bescheidenheit von ihrem Lehrerinnengehalt gelebt hatte, sie war jetzt die Person der Stunde, auf sie kam es nun an, es hatte keine Vergeblichkeit gehabt mit der Geduld, denn Alexander, Alexander! Alexander war zurückgekommen - zu ihr! Doch war diese lange, schier endlose Zeit, nicht einmal das Schlimmste gewesen, das Schlimmste war, dass sie ihre Jugend vergangen wähnte, in ihren eigenen Augen alt geworden war, alt ohne Sinn & Zweck, ohne Freude, ohne Liebe, ohne Zukunft. Eine Frau, die sich zwar selbst durchbrachte, ihre Arbeit mit Anstand tat, aber was zählte das schon vor der Gesellschaft, und was zählte es vor Gott dem Herrn. Niemand fand etwas dabei, denn für die anderen, die Kolleginnen, die Nachbarn war sie nichts weiter als ein lediges, alterndes Fräulein, das keinen Mann gefunden, die Zeit übersehen hatte, eine halt, für die alles so gut wie zu spät kam. Sie war schließlich nicht die einzige, denn es kam nicht selten vor, dass gerade Lehrerinnen übrig blieben, sei es, weil sie nichts außer gescheit waren, ihr Äußeres zu wünschen übrig ließ, allein in der Stadt lebten, also von niemandem ausgeführt wurden oder auch, weil sie sich als etwas Besseres 483 vorkamen, nichts für gewöhnliche Männer waren, diese gar verachteten oder weil sich keiner an sie herantraute. Tausenderlei Gründe konnte geben, doch für Marie gab es nur den einen: der Mann, den sie geliebt hatte, war bereits vergeben gewesen, er hatte nicht genug Gefühl aufgebracht, wenigstens einmal, ein einziges Mal in ihr nicht seine Schwägerin, sondern eine verliebte Frau zu sehen. Sie hätte, das wusste sie, genau so gut nicht existieren können. Längst hatte sie sich aus allem zurückgezogen, wusste selbst am besten wie es mit ihr stand, dass sie ihre Zeit vergeudet hatte, ihre Liebe verschwendet, ihre Schönheit für nichts gewesen war. Sie war nicht imstande, ihren Stolz zu überwinden, um sich ein anderes Leben vorzustellen, sich zu öffnen für andere Männer, die sie gewiss bewundert hatten, begehrt sogar, doch sie zeigte ihnen nicht das geringste Entgegenkommen. Sie brachte Sommerfeld nicht aus ihrem Kopf, was wussten die anderen, die einen solchen Menschen nie gekannt haben, was wussten sie! Auch wollte sie niemanden unglücklich machen, niemanden mit ihm vergleichen, an ihm messen, und das hätte sie gewiss eines Tages getan, denn zu märchenhaft war es gewesen, zu märchenhaft. Anders war es nicht einzusehen, nicht zu verstehen, warum ausgerechnet diese, so überaus schöne & gebildete Frau alleine lebte. Sie wurde bewundert, immer noch, wohin sie kam, wohin sie ging, denn sie war nicht nachlässig geworden, ihre Schönheit war tief & ernst, ihr Gesicht madonnengleich. Oh, ja, sie hatte sich unendlich gesehnt, in den vielen leeren Stunden, jemandem zu haben, für jemanden da zu sein. Alexander, ihr Pflegekind, der Sohn ihrer lieben verstorbenen Schwester Rahel, hatte flott studiert, bald geheiratet, so als gäbe es seine Tante nicht mehr, nicht einmal gefragt hatte er sie, obwohl, … obwohl er einmal da gewesen war mit Silvia, und sie war so enttäuscht gewesen über dieses naive Mädchen, das ihren Alexander bekommen sollte, so sehr, dass sie es wohl nicht ganz verbergen hatte können. Wie oft hatte ihr das seither leid getan! 484 Wie gerne hätte sie diese, ihre damalige Kälte zurückgenommen! Wie sehr bereute sie es! Wieviel musste sie dafür leiden! Was hätte sie gegeben, um ihre leise Herablassung, ihre Enttäuschung, die sie nicht verborgen hatte, ungeschehen zu machen. Sie hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, sie um Verzeihung zu bitten, Silvia war nicht mehr, Silvia, Alexanders Frau, die sein Kind getragen hat, Silvia, die so tragisch zu Tode gekommen war, lebte nicht mehr, und sie hatte von ihr ein schlechtes Bild mit in die Ewigkeit genommen. In Wahrheit war die eifersüchtig gewesen, verbittert, enttäuscht, so voller Trauer über den Verlust. Manchmal, manchmal, sollte sie später sagen, manchmal muss ein Mensch leiden, weil er ist, wie er ist, nicht, weil Gott ihm Schweres widerfahren lässt. Der Mensch leidet an sich selbst, das ist sein Schicksal. XVIII Marie, immer wieder Marie Als ich zum ersten Mal, zum zweiten Mal und viele weitere Male zu Anfang meiner Beziehung zu Alexander komme, ist da immer seine Tante Marie, die ich nicht einschätzen kann, die mir nicht wohl gesonnen ist, die Alexander gegen mich zu verteidigen scheint, in Schutz zu nehmen versucht, mit der es zu beunruhigenden Szenen, schließlich zu Auseinandersetzungen kommt. Ich weiß ja zu dieser Zeit, in diesen wenigen gemeinsamen & eiligen Stunden zu Beginn jener außergewöhnlichen Beziehung, die mir bevorsteht, nicht, was die beiden miteinander erlebt haben, welch‘ unzerreißbares Band sie verbindet, bin nervös, unsicher, unglücklich. Die ganze Weite & Schwere wird sich erst nach & nach erschließen, auftun wie ein Abgrund. 485 Marie glaubt, Alexander ein weiteres Mal zu verlieren, befürchtet das Äußerste, unternimmt so gut wie alles, um mich loszuwerden, rauszuekeln, fühlt sich von mir angegriffen, verdrängt. Plötzlich scheint ihr, das in allen Einzelheiten wohlgeordnete Leben mit Alexander, ihrem Neffen, aus den Fugen zu geraten. Nichts aber lag mir ferner, als irgendetwas in jemandes anderen Leben zu ändern, und wenn es mir möglich gewesen wäre, ihr diese Furcht auszureden, ich hätte dieses Projekt in Angriff genommen, doch es musste sich alles langsam lösen, ergeben, entwickeln. Es gab Momente, wo sie eigens so weit Deutsch gelernt hatte, um mich als „Hure“ zu beschimpfen. Sie tat es nach einer Liebesnacht mit ihm, als er mich zurückgelassen hatte in seinem eigenen Bett, um auf Visite ins Krankenhaus zu fahren, tat es, wenn wir von einem Spaziergang, einer Fahrt ins Sommerhaus zurückkamen. Während er kurz wegging, zischte sie mir dieses Wort ins Ohr. Als sie nicht & nicht davon abließ, kam es soweit, dass ich mich in meiner Verzweiflung einmal in Alexanders Anwesenheit vor ihr niederkniete, ihn bat zu übersetzen und ihr die Hand, beide Hände küsste. Ich kam nicht auf die Idee, diesem Widerstand zu begegnen, ihm irgendwie, wenigstens teilweise, ein Ende zu setzen, mir fehlte die Kraft, denn ich hatte momentan zuviel zu bewältigen. Jemandem wie Marie, dieser alten feinen Dame, entschieden entgegen zu treten, wäre das letzte gewesen, was für mich in Frage kam. Wir waren aus meiner wie aus ihrer Sicht, nicht auf Augenhöhe. Es sollte aber eines Tages eine Zeit anbrechen, in der sie mich auf Händen tragen, nichts mehr über mich kommen lassen würde, aber so war es nicht von Beginn an gewesen, und so weit war es jetzt noch lange nicht. Denn der Anfang war schwer, für mich, für Alexander, für sie, besonders für sie, nein, der allererste Anfang war ganz leicht, nichts könnte leichter sein, doch dann, wenn er vorüber ist, eine Weile vergangen, erkennt man, dass es mit dem ersten Anfang 486 nicht zu Ende ist, man will nicht wahrhaben, dass man noch umkehren könnte, vielleicht sogar rasch umkehren & vergessen sollte, erkennt nicht diese letzte Chance, fängt bereits an zu konservieren, zu konvertieren, versucht den ersten Funken hinüberzuretten in etwas, das man nicht einmal kennt, kann nicht loslassen, konstruiert, beginnt sich einzurichten, ist mit allem einverstanden, Hauptsache man verliert es nicht, erwartet, hofft und weil man nicht aufhören kann, sich keine Vergeblichkeit eingesteht, weil die Dummheit, die Wehleidigkeit, die der Verliebtheit innewohnen die Oberhand gewinnen, lässt man sich ein, lässt man sich ein. Es gibt aber kein Glück ohne Preis, kein Glück ohne Unglück, kein Licht ohne Schatten. Sie glaubte, fürchtete Alexander zu verlieren, sah ihr Lebenswerk in Gefahr, alles, was sie aufgebaut hatte, die Macht, die sie besaß über ihn, sein Haus, seine Angestellten, sogar über Niels, seinen Chauffeur & Privatsekretär, der gewiss kein leichtes Leben neben ihr hatte, denn immer & immer verdächtigte sie jeden, der mit Alexander zu tun hatte, auch, wenn er ihn brauchte, ihn ihr, Marie, persönlich wegzunehmen. Freundlichkeit wie Reserviertheit Alexander gegenüber waren falsch, beides kreidete sie an. Es war schlicht unmöglich, mit Alexander richtig zu verkehren, denn sie konnte & wollte ihn nicht teilen. Wir wussten nicht mehr, wie wir uns verhalten sollten oder durften, und dies einte uns von Anfang an, ja, es war sogar so, dass Niels richtig froh über mein Auftauchen in Stockholm war. Niels, der mir, schon, als er mich zum ersten Mal sah, wie er es weit später selbst ausdrückte, aus der Hand fraß, in mir eine Verbündete sah, Niels, der liebe Niels, der so alt war wie ich, eine ähnliche Geschichte hatte, mitnichten in diese Schicht geboren war, auf Niels hatte Marie es besonders abgesehen. Niels, der meinetwegen bald einen Deutschkurs besuchte, jedes Mal mehr Wörter & Sätze zu mir sagen konnte, mich mit seiner Gelehrsamkeit in Verlegenheit brachte, in gewissen Zugzwang 487 sogar, Niels, der noch so viel für mich tun sollte, für Alexander, seinen Dienstgeber, für uns als Paar, Niels, der liebe, unentbehrliche Niels hatte es besonders schwer. Ich kann nicht sagen, wie oft er mir unendlich leid tat, wie oft er uns rettete, in Schwierigkeiten unseretwegen steckte und wie ritterlich er sich immer verhielt. Niels war unter schwierigen Umständen eine Art Adoptivkind Alexanders geworden, aber das ist eine andere Geschichte. Ich hoffe wirklich, dass mir innerhalb dieses Romans noch ein Kapitel bleibt, das ich nur ihm widmen kann, denn ohne ihn wäre diese außerordentliche und in vieler Hinsicht skandalöse Beziehung nicht möglich gewesen oder noch sehr viel komplizierter verlaufen. Er war es, er uns tausendmal den Sand aus dem Getriebe holte, uns aus peinlichen Situationen half, Diskretion wahrte, die Augen verschloss vor so vielem, uns mit einfallsreichen Ausreden entschuldigte, Treffen erst ermöglichte, auch Alexander mit seiner persönlichen Hilfsbereitschaft entlastete, manchmal sogar ersetzte. Bis auf ein einziges Mal gab es nie eine Beschwerde von uns, bis auf dies einzige Mal keinen Fehler von seiner Seite. Als Alexander begann nach Wien zu reisen, um sich mit mir zu treffen, war in Stockholm die Hölle los. Ihm gegenüber blieb Marie lammfromm, unterwürfig, verständnisvoll, gelassen. Wie eh & je packte sie seine Koffer, bereitete alles für ihn vor, ließ sich nicht das Geringste anmerken. Dass es irgendwo etwas gab, geben könnte, was sie bedrohte, von dem sie nicht wusste, wie es enden würde, wenn es auf sie zukäme, war ihre immerwährende Angst gewesen, und jetzt spürte sie ein Wanken, das bis in die Mauern des Hauses, bis in Innerste ihres Herzens drang. Als ich dann eines Tages in Stockholm erschien, verlor sie ihre gewohnte Haltung & Ruhe. Auch Alexander musste sich auf einmal hysterische Szenen gefallen lassen, hässliche Vorwürfe, Beschimpfungen, und zum ersten Mal gab es Streit im Hause Sommerfeld, meinetwegen, seinetwegen, wegen meiner Liebe zu 488 ihm, seiner Liebe zu mir, die mich doch selbst getroffen hatte wie ein Hammerschlag. Denn, was konnte im letzten ich dafür, dass ich aussah wie seine verstorbene Frau, wie Silvia, die nicht mehr lebte. Was konnte ich dafür, dass Alexander seither mit keiner Frau mehr schlafen konnte oder besser gesagt, dass es ihm plötzlich wieder möglich war. Was konnte ich dafür, dass dies geschehen war? Was konnte ich dafür, dass wir uns begegnet waren, vor so vielen Jahren, und dass er nun auf wundersame Weise zurückkam, mich suchte & fand, was konnte ich dafür, dass mir, ausgerechnet mir, dies widerfuhr? Wer könnte einen Hengst davon abhalten einer Stute zu folgen, die er sich in den Kopf gesetzt hat, ein Kamel aufhalten, das die Koppel niedertrampelt, durch eisige Schneestürme rast, einen Kater stoppen, einen Stier bändigen, nicht einmal ein Marienkäfer würde sich davon abbringen lassen und koste es sein Leben. Gewiss, ich war ihm freudig & willig auf den Tanzboden gefolgt, später mit ihm durch den Schnee gestapft, hatte seinen Charme genossen, mich einwickeln lassen von seiner Prominenz, seinem Auftreten, seiner Eleganz, seiner vornehmen Reife, seinem Begehren, seiner Leidenschaft, seiner Ruhe. Auch nach Wien hätte ich nicht kommen dürfen, jedenfalls kein zweites Mal, ihn nicht einladen sollen, ich war selber längst zu weit gegangen, es war ein Fehler, eine völlige Absenz meines Verstandes gewesen, doch konnte ich beim besten Willen keine Ahnung davon gehabt haben, was in ihm vor sich ging, woran er wirklich dachte, warum er mir nachlief, mich nicht mehr aus den Augen ließ, ja, von der Idee, mich wieder zu sehen, besessen war. Ich indes spielte nur, denn wann würde mir so ein besonderer Mann je wieder begegnen? Ich wähnte mich in meinen eigenen Verhältnissen in absoluter Sicherheit, mein Ehering, meine Kinder, mein kleines, aber schnuckeliges Zuhause, ich hatte doch alles, es fehlte mir nichts, ich war zufrieden, glücklich, äußerst bescheiden in materiellen Dingen, was ich nicht einmal wusste, 489 denn für mich war nur mein Leben mit Ottokar von Bedeutung, diese Liebe ertrug wohl einen kleinen Flirt, eine Aufregung, war ja nichts Gefährliches, Bedrohliches, so dachte ich. Ich bekam oft bewundernde Blicke, es war nichts Außergewöhnliches daran, auch Komplimente, Blumen sogar von fremden Männern. Als ich einmal, nicht lange nach der Geburt meines zweiten Sohnes, abends ins Kino ging, schenkte mir mitten auf der Straße ein Afrikaner, mir nichts dir nichts, eine einzelne rote Rose, einfach so. Als ich sie nicht nehmen wollte, sagte er in makellosem Deutsch: Es ist für Ihre Schönheit. Nehmen Sie sie, ich will nichts von Ihnen, glauben Sie mir, ich bin homosexuell. Er war den Sommer über in der Stadt, arbeitete für Künstler der Sommerakademie als Aktmodell. Solche Szenen gab es durchaus, weswegen ich auch jetzt nicht völlig überrascht war. Wie hätte ich annehmen können, dass dieser ältere Herr nicht selbst verheiratet war, keine Kinder hatte, über kein privates Liebesleben verfügte? Natürlich dachte ich daran, er könnte vielleicht geschieden sein, in seinem Alter heutzutage nichts Außergewöhnliches, aber da ich mich ohnehin mit keinem ernsten Gedanken dahingehend auseinandersetzte, sah ich nur den glückseligen Augenblick, der mir gegeben war, sog die Wonne, welche seine kurze Gegenwart für mich barg, gierig ein, ließ sie mir auf der Zunge zergehen, in mich hineinfließen wie süßen aber leichten Wein. Doch der Betrug schleicht auf leisen Sohlen einher, nimmt einen in Besitz. Zu willkommen ist die Schmeichelei, die Verführung, das Glück, schließlich die Hybris, der Übermut. Und doch, viel später, eines gar nicht fernen Tages in Wien auf einer ganz normalen Parkbank, einer von tausenden gesichtslosen, abgenützten, angekritzelten, öffentlichen Sitzgelegenheiten die Folgen dieses Leichtsinns, denn nichts geschieht ohne Grund: das Gebot der Stunde, der Augenblick der Entscheidung, eine Angelegenheit von wenigen Sekunden vielleicht, eine Schwäche nur und doch bereits Sünde, Todsünde, aber auch Opfer, Barmherzigkeit, Angst sogar & Schande, Scham wie 490 Schamlosigkeit, das große Wort, das Ehebruch heißt, welches bisher in weiter Ferne lag, plötzlich ist es da; alles, was ich wusste, gelernt, gesehen, gelesen hatte, in diesem Moment war es gegenstandslos, nicht auffindbar, vollkommen in Vergessenheit geraten, ohne Bedeutung und doch in aller Gewaltsamkeit gegenwärtig, aber das Schlimmste, das Schlimmste, es sollte erst kommen. Zuerst gab es keinen anderen Gedanken, als dies hier hinter mich zu bringen, doch dann erhob sich ein anderes Problem, ein schier unlösbares. Was hatte ich getan? Es erging mir wie Kain, der plötzlich erkannte, was er angerichtet hatte, was geschehen war. Es war für mich & Alexander ungeheuerlich, unvorstellbar, ich hatte meinen Mann betrogen, vielleicht meine Ehe zerstört, würde von nun an gezwungen sein zu lügen oder mein altes Leben zu verlassen, und vor allem, wir konnten nicht mehr zurück, es war etwas Irreversibles. Dieser heimliche Liebesakt machte uns zu Komplizen, zu Sündern, zu etwas ganz Gewöhnlichem. Als Marie begriff, worum es ging, wie viel bereits geschehen sein musste, war sie nicht in der Lage, etwas für sie so Schweres, Unbegreifliches anzunehmen. Ein Geschehen dieser Größenordnung war an und für sich inakzeptabel. Es lag nicht mehr auf ihrer Linie, sich Alexander mit einer anderen Frau vorzustellen, egal, was es für mich bedeutete, egal, dass meine Ehe daran scheitern konnte, egal, wie es mir ging, wie sehr ich litt, denn Leute, so dachte sie wohl, lassen sich wegen viel weniger, vor allem aber deswegen, scheiden. Die Tatsache, dass ich verheiratet war, brachte das Fass zum Überlaufen und war gleichzeitig der Punkt ihres Ansatzes. Obwohl sie ja Silvia gekannt hatte, sah sie nicht sogleich meine außerordentliche Ähnlichkeit mit ihr, zu weit lag alles zurück, zu wenig hatte sie mit so etwas noch gerechnet, zu fern lag ihr eine solche Vorstellung. Mir und sogar Alexander warf sie Skrupellosigkeit vor, doch natürlich gab sie in Wahrheit nur mir die Schuld, vor allem für mein dreistes Erscheinen in Stockholm. 491 Wie hatte Alexander sich so weit von Anstand & Sittlichkeit entfernen können, um sich an eine verheiratete Frau heranzumachen? Sie konnte nicht allein mich verantwortlich machen, auch, wenn sie es äußerlich tat, die wahre Enttäuschung & Entrüstung aber galt Alexander, der ihr ein & alles war und nun so tief gestürzt vor ihr stand, dass sie ihn nicht mehr ertrug. Ich aber lebte in keiner desolaten Partnerschaft, wie sie meinte, sei drauf & dran, mich scheiden zu lassen, sondern liebte meinen Mann wie am ersten Tag, und dennoch hatte ich aus Mitleid, aus Verständnis und aus allen Gründen, die man selbst nicht versteht, mit einem fremden Mann geschlafen. Ja, es hatte eine kleine Verliebtheit, eine wehmütige Erinnerung, eine winzige Szene gegeben zwischen uns, aber es lag doch alles noch im Rahmen dessen, was eine Frau in diesen modernen Zeiten hier im Westen, in Schweden zumal, dürfen sollte, leicht wieder unter Kontrolle bekommt, bestimmt noch als Flirt oder halbwegs verzeihlicher Seitensprung durchgehen konnte. Täglich kam so etwas irgendwo in Europa vor, obwohl es für mich bis dahin völlig undenkbar gewesen war. Doch es war schließlich eine große & unerwartete Freude, eine Überraschung für mich nach zwei Geburten, nach vierzehn Jahren Ehe, noch immer begehrt zu sein von einem Fremden, eine Dummheit zwar, doch immerhin, eine Affäre vielleicht, weiter nichts. Ich wollte mich selbst glauben machen, es sei nichts dabei, bagatellisierte, was mich bereits gefangen nahm, so übermäßig stolz machte, sank zurück in eine Zeit, in der ich von einem Prinzen genau dieser Art geträumt hatte, welches Mädchen schließlich hat es nicht getan! Infantil, gerade wie die Leute zu Weihnachten zurückfallen in eine Art Märchenwelt, doch ich konnte nichts dagegen tun. Dass zwanzig Jahre zwischen uns lagen, störte mich nicht, ich reagierte nicht anders als eine Durchschnittsfrau, eine Illustriertenleserin. Alexander, der er für mich war, Professor Sommerfeld für alle anderen, Alexander war im besten 492 Mannesalter, hatte alles, was ein Frauenherz begehrt, den ganzen Kitsch, das Klischee mit Schönheit, Eleganz, Reichtum, Gelehrtheit; der Traummann, der Fernsehdoktor. Von außen gesehen, wirklich nichts weiter als eine einzige Peinlichkeit, ich selbst hätte eine andere, die in meine Lage gekommen wäre, mit Verachtung belegt, keinerlei Verständnis aufgebracht, und ich wusste, mir würde es nicht anders gehen, doch was kümmerte mich das! In Wahrheit aber kämpften Gott & Teufel in mir, hatten längst damit angefangen, mich zu zermürben, entzogen mir die Möglichkeit zu entscheiden, zu verzichten, zuzustimmen, abzulehnen. Ich spürte, dass sich etwas ereignete, auf das ich keinen Einfluss hatte, das Platz griff in mir, bereits mein Herz, wenn nicht gar meinen Verstand tangierte. Ich hätte Alexander nicht zu meiner Buchpräsentation einladen dürfen, das wusste ich eigentlich im Augenblick, als ich es tat. Ich spielte mit meiner plötzlichen Besonderheit, als wäre es nicht genug, als, eben noch einfache Kinderkrankenschwester, ein Buch zu veröffentlichen. Als bräuchte es dazu illustre Gäste wie einen schwedischen Medizinprofessor, während ich meinen Mann Ottokar babysitten ließ. Dieser eigene & eigentliche, sehr wohl beabsichtigte Schritt war mein Zutun gewesen, mein ganz persönliches Grenzgängertum. Ich gefiel mir in dieser Rolle, sie schmeichelte mir. Nach langer braver Ehezeit, nach Wochenbett & Hausfrausein schnupperte ich den Geruch der Freiheit, einer Welt, die ganz anders lief als bei mir, bei uns daheim. Da gab es erfolgreiche Männer & Frauen, die es sich aussuchen konnten, mit wem sie zu Abend speisten, mit wem sie die Nacht verbrachten, in welches Auto sie stiegen, welche Klamotten sie trugen, eine Welt, in der Geld keine Rolle spielte, man allenthalben unter sich war, egal, ob diskret zu zweit, allein oder offiziell in großer Gesellschaft. Und obwohl mir nie daran gelegen hatte, ja, es das war, was ich im Innersten verachtete, sah ich plötzlich doch diese Seite des Lebens vor mir. Ein ganz anderes Buch schlug sich auf, 493 Dinge, die ich schon für versäumt hielt, schienen wieder möglich zu werden, ich sehnte mich nach Öffentlichkeit, nach Abwechslung, Zerstreuung. Hatte ich denn in den letzten vierzehn Jahren nicht alles für meine Familie, meine Ehe getan? War ich etwa nicht Sekretärin, Kindermädchen, Hausfrau, Kranken-schwester, Schwiegertochter gewesen? Hatte ich denn nicht alles angenommen & durchgestanden, hinuntergeschluckt & akzeptiert, ohne Rücksicht auf mich selbst? Mehr oder weniger bewusst wog ich bereits Einnahmen & Ausgaben ab, fing an zu überlegen, aufzurechnen, gegenüberzustellen, und auf einmal sah ich alles mit anderen Augen, Augen zwar, mit denen man es durchaus betrachten konnte, Augen aber, die Ottokar gegenüber nicht erlaubt waren, denn was, wie, warum es geschehen war, lag in der Natur dessen, was es heißt, eine Familie zu haben und nicht darin, was außerhalb einer einmal getroffenen Entscheidung, die auf nichts als Liebe beruht, gedacht, getan oder entschieden werden darf. Unsere Gesellschaft unterstützt die Ehe nicht, auf keinen Fall die Treue, das Biedere & Naive, das damit zu tun hat, die Geduld, die Demut, das Verständnis, das man in dieser ziemlich schweren Zeit bräuchte, findet sich nirgends. Dem anderen zu dienen, ist abgekommen, längst keine Tugend mehr, sondern eine Sache von Klosterschwestern und anderen Zurückgebliebenen. Solche Anschauungen wirken tagtäglich auf jeden ein, werden einem vor Augen geführt, entmutigen uns, es sei denn, es gelingt, sich möglichst nahtlos einzureihen in den Klub der Moderne, sich von alten Moralvorstellungen loszusagen, die Frechheit aufzubringen, sich darüber hinwegzusetzen, oberflächlich genug zu sein, sich zu nehmen, was sich einem gerade bietet. Genau an dieser Stelle lag meine Schuld, genau an dieser Stelle hieß es, zu büßen, und das wusste ich von Anfang an. Es hätte hier noch die Möglichkeit gegeben, nein zu sagen, zu widerstehen, aufzuhören. Alles andere hätte nicht geschehen können, hätte ich diesen verlockenden Anfang nicht zugelassen. Ich selbst hatte mir 494 dieses Abenteuer genehmigt, in aller Heimlichkeit und weiblichen Verwegenheit herausgenommen. Was für eine Hybris! Aber ich war schwach & verantwortungslos, bedachte nicht die Folgen für andere, war nicht bei Verstand genug, denn ich genoss es, von einem Mann wie Alexander bewundert zu werden, und die Rechnung schien aufzugehen. Ich gefiel mir bereits darin, alles für diese Liebe auf mich zu nehmen, für sie zu kämpfen, Verständnis zu erwarten, ja, zu verlangen fast, für diese Sündhaftigkeit. Wie auf Befehl beinah erschien er zu meiner Lesung. Ich hatte, wie es aussah, schon Macht über ihn. Er musste wirklich in mich verknallt sein, wenn er denn an einem gewöhnlichen Wochentag nichts Gescheiteres zu tun hatte als sich ins Flugzeug zu setzen, eine Menge Geld dafür auf den Tisch zu legen und zu kommen, weil ich es wollte. Mein Selbstbewusstsein war längst nicht mehr auf dem höchsten Stand gewesen, ich hatte mit den täglichen Anforderungen als Mutter von zwei Kindern genug zu kämpfen, und doch gelang mir jetzt etwas dieser Größe, ich schwebte im siebten Himmel. Nicht einmal schlank war ich mehr, hatte die Höhen & Tiefen der Ehe kennengelernt, Leidenschaft wie Streit & Ärger, fühlte mich zwar noch jung & geliebt von einem Mann, der nichts Geringeres als Künstler war und doch auch vernachlässigt, zu wenig gewürdigt oder geschätzt, obwohl ich wusste, dass es nicht so sein konnte. In jenen Tagen überkam mich oft das Gefühl, meine Jugend, meine besten Jahre zu vergeuden mit Neben-sächlichkeiten, mit Kinderkram, denn auch dies gibt es, die Ratlosigkeit als Mutter, die Verzweiflung, den Zorn, das Zurückgelassenwerden von den anderen, die stattdessen & inzwischen Karrieredamen geworden sind, immer noch begehrt und allabendlich unterwegs, in meiner Phantasie jedenfalls, die ihre Augen überall hatten & haben durften, Bewunderung einheimsten, flirten konnten ganz ungeniert bei vollem Genuss & Verstand. Unsereins aber war gebunden, verloren, in einer Weise einsam. Mein Hunger nach Erlebnissen, nach Abenteuern wuchs 495 zeitweise ins Unermessliche, und es gelang mir kaum, der Sehnsüchte und geheimen Gedanken Herrin zu werden. Mein Mann vergötterte mich, war nach der Geburt unseres kleinsten Sohnes mehr denn je in mich verliebt. Dieses Kind, das so schwer erkämpft war, für das ich Operationen hingenommen hatte, Hormonbehandlungen, jahrelange Enttäuschungen, dieses Kind sollte unser Glück vollenden, und genauso war es, wir hatten zwei Buben, einen größeren, der schon ins Gymnasium kam und einen kleineren, ja, einen ganz kleinen. Vom ersten Augenblick an gab es nur Freude & Fröhlichkeit mit diesem Kerl, der so besonders hübsch war, so besonders klug zu werden versprach. Für die anderen ist man verheiratet, vergeben, und es gehört sich so, denn du sollst ja nicht begehren deines Nächsten Frau. Keiner kommt mehr auf die Idee, einem schöne Augen zu machen, selbst sieht man davon ab, hält es für unzulässig. Gewisse Dinge sind um diese Zeit erledigt, müssen vorbei sein und sind es doch nicht, werden es niemals sein. Just in diesem Augenblick taucht jemand aus der Vergangenheit auf, Erinnerungen werden wach, unerfüllte Wünsche trotz allem, es ist wie leichte Musik, noch einmal wie die erste Verliebtheit, eine Art Liebelei, die zwar nichts ist als nur die Tändelei mit der Liebe, ohne Tiefe, ohne Schwere, und doch etwas, das wir das ganze Leben suchen und nie wieder finden, das wie bittersüße Schokolade ist, Sehnsucht eben, die niemals endet, denn kaum ist sie erfüllt, fliehen wir sie oder ist sie verschwunden. Die Tiefe der Liebe sehnt sich nach der Leichtigkeit, die Leichtigkeit nach der Tiefe, nach Verlangen ohne Ende, Verlangen dort wie da, und im letzten ist es nichts als die Flucht, die Furcht vor dem Tod, die Suche nach der Ablenkung, Ausdruck der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit im Gefängnis unseres Lebens, das uns von Tag zu Tag mehr entgleitet, zurast auf die letzten Jahre, die letzten Stunden, den Tod, mit dem wir uns nicht abfinden wollen, den wir noch in weiter Ferne wähnen, und doch hat er Besitz von uns ergriffen, Platz genommen mitten in uns und sich breit gemacht. 496 Die Liebe hat ihn uns kurz vergessen lassen für eine kleine, inzwischen vergangene Weile. Da kommt Alexander aus dem Norden, und er ist auch nicht gerade irgendwer, kein dahergelaufener Dandy, sondern jemand, den man getrost einen Gebrochenen, einen Geprüften nennen könnte. Einer, welcher den uralten Schmerz der Einsamkeit, der Verlassenheit in sich trägt, sodass davon zu reden, klingen muss nach einem Groschenroman, und doch sind aus dieser Wolle Ereignisse gestrickt, die ein, zwei, mehrere Leben verändern können, eine andere Liebe, eine Ehe sogar zu zerstören imstande ist. Von Anfang an wusste ich, dass ich nie, niemals meine Ehe gefährden oder gar aufgeben würde, sie war heilig, in Stein gemeißelt, vor einem Altar geschlossen & gesegnet, mit Brief & Siegel vor Gott und den Menschen, vor staatlichen & kirchlichen Zeugen wie es geschah seit Anbeginn, und so musste es bleiben in Ewigkeit, darüber gab es keine Diskussion. Wie das gehen könnte, war mir selber schleierhaft, denn als ich mit Alexander auf der Parkbank saß, konnte ich einfach nichts anderes tun, als mit ihm zu gehen, mit ihm zu schlafen trotz Herzklopfens bis zum Hals, trotz meines allerheiligsten Ehegelöbnisses, mit kalten Füßen zwar, heißen Ohren, dem stechenden Blindarm dazu, und wer weiß, was mich sonst noch plagte in jener Nacht der Entscheidung. Diese Verwegenheit hätte mir gewiss niemand zugetraut, am wenigsten ich selbst, doch haben wir keine Ahnung, wozu wir fähig sind, und so war es mir möglich, mit diesem fremden Mann zu gehen und Ottokar zu betrügen, weil er mir eine rührselige Geschichte erzählte und ich für rührselige Geschichten anfällig war. Erbarmen hatte für alles & jeden, seit ich mich erinnern konnte, das Mitleid schien mir in die Wiege gelegt worden zu sein, denn wo andere nicht einmal, wie es so schön heißt, mit einer Wimper zuckten, geschweige denn sich ein Gewissen draus machten oder wenigstens kurz innehielten, flossen bei mir bereits 497 reichlich die Tränen. Die Geschichte, die sich Jahrzehnte früher in Afrika zugetragen hatte, war bestens dazu angetan, in mir so gut wie alles auszulösen, mich aufzumachen, denn das Mitleid ist ja kein rationales Moment, sondern ein zutiefst emotionales, das erst gar nicht den langen harten Weg über den Verstand nimmt, obwohl man auch aus Vernunft warmherzig handeln kann. Die genauen Ereignisse, die vorangegangen waren, sollte ich freilich erst nach & nach & viel später erfahren, denn sie werden über weite Strecken unsere Abende, unser zukünftiges & spärliches Beisammensein besetzen & einnehmen, verschönern & vertraurigen. Für jene Stunde in Wien aber war ich bereits zu weit gegangen, hatte ihm zu lange zugehört, ihn zu viel erzählen lassen, mich schon zu tief eingelassen, um noch Distanz oder Flucht als Auswege zu sehen. Langsam veränderte sich etwas in mir, gewann die Oberhand, ich konnte nicht mehr zurück, denn ich war sitzengeblieben, hatte die Zeit verstreichen lassen, war nicht imstande gewesen, aufzustehen, die Linie zwischen hier & dort, ihm & mir, damals & jetzt zu ziehen; der seidene Faden, die unsichtbare Grenze war überschritten, es gab keine zweite Möglichkeit mehr. Noch ein Satz, ein Detail, und es war geschehen, dem Zuhören musste nun etwas von meiner Seite folgen, jetzt konnten wir uns nicht einfach wieder trennen, es war zu spät. …. seither kann ich mit keiner Frau mehr schlafen, war nur das letzte, was ich deutlich hörte, während alles andere bereits verschwommen war. Dauernd hatte ich mich gefragt, warum er mir das erzählt, was es damit auf sich hat, was mich das angeht, was ich da gehört und was genau er wirklich gesagt hatte. Bis, ja, bis er sagte, dass ich seiner Frau aufs Haar gleiche, dass er darum verrückt nach mir sei, längst die Kontrolle verloren habe, nicht anders gekonnt hätte, es seit unserer allerersten Begegnung in sich trug - dieses ungeheure Geheimnis. 498 Das Geheimnis nämlich, dass es jemanden gab, eine Frau, mit der ich vielleicht, vielleicht schlafen könnte. Wie er selbst nicht glauben, nicht begreifen konnte, dass er Silvia in mir noch einmal begegnete, wie es über ihn gekommen war, groß & schwer, leicht & süß, unglaublich, unbegreiflich. Es ist mir nicht möglich, die tatsächlichen Worte, die er in diesen Minuten verwendete, wiederzugeben. Sie verlieren sich in einem Nebel wie schon damals, und dennoch erfuhr & begriff ich augenblicklich, dass dies etwas mit Schicksal, mit Fügung zu tun hatte, mit etwas Besonderem, ganz Außergewöhnlichem, in einer Größenordnung von geradezu antiken Ausmaßen lag. Was er wirklich sagte, darüber habe ich mir später wieder & wieder den Kopf zerbrochen, denn obwohl ich gut verstand, was er meinte, könnte ich bis auf den heutigen Tag, gleichwohl ich mir Sätze & Texte ohne weiteres zu merken vermag, nichts davon wiedergeben. Es war, als kämen sie aus einer Sphäre von weit außerhalb, von einem anderen Stern vielleicht, so, als hätten sie gar nichts mit dieser Welt zu tun. Sein zweites Leben seit unserer allerersten Begegnung in jener Nacht auf der Intensivstation, dieses Leben auf einmal, es warf ihn aus der Bahn, brachte ihn an den Rand seiner Existenz, des Wahnsinns, wie er es nannte. Seine Beschäftigung mit Phänomenen wie Wiedergeburt, Seelenwanderung, Wiedergängertum, Aberglauben, Täuschung, Halluzination gehörte seither zu seinem Alltag. Es kam die Zeit, in der er seine Sommer in spanischen Klöstern verbrachte, als Namenloser unter anderen Namenlosen, unter Männern, die sich zeitweise oder für ganz von der Welt abgewandt hatten. Die einen, um Ruhe zu finden, andere, um Schuld zu tilgen, sich über etwas klar zu werden, sich dem Jenseits zuzuwenden, alles hinter sich zu lassen, über das Wesentliche nachzudenken, einen Schmerz zu ertragen, zu vergessen, als Person, als Individuum zu verschwinden. 499 Alexander aber, der Jude, der Protestant, der Agnostiker, der er längst zu sein glaubte, Alexander suchte hinter diesen dicken kalten Mauern eine Antwort auf dieses beunruhigende Geheimnis, diese, ihn nun zermürbende Frage, eine Antwort auf die Verlockung, die Versuchung par excellence. Gab es einen Teufel, der seine Seele dafür wollte, einen Gott, der ihn prüfte, ging es um ihn ganz allein, seine brennende Sehnsucht, seine verinnerlichte Schuld, die ihn einer gewaltigen Einbildung aufsitzen ließ, lief er einem Trugbild hinterher, hatte er den Verstand verloren? Die klösterliche Einsamkeit, die Versenkung in biblische Texte, das Fasten, die Kasteiung, die meditativen Chorgesänge der Mönche, nichts war stark genug, ihn wirklich abzulenken, seine, ihn verzehrende Sehnsucht, seine Verlust, seinen Schmerz zu überlagern, zu verdrängen. In Wahrheit gab es für ihn nur das Eine, das immer & einzig Eine, das gleichermaßen im Menschlichen wie im Göttlichen mündet. Es blieb am Ende, am Ende aller noch so hohen Erkenntnis nichts anderes, nichts anderes, wofür sich alles, alles lohnte, man alles auf sich nahm, wohin alles lief & strebte. Nichts anderes als die Liebe, die Vereinigung von Mann & Frau, Körper & Seele im Unendlichen & Ewigen, jene großen Worte, die keiner versteht, und doch existieren keine anderen dafür! Es ist immer am selben Ort, derselben Stelle die Grenze, die letzte Frage, der seidene Faden. Einst hatte er sie besessen diese Liebe, seine Sehnsucht war nicht allgemein, sie hatte ein Bild, einen Namen. Nichts kam & wurde dieser Liebe gleich, nie & nimmer, seine Gedanken kreisten unablässig um diese Frage. Die größten und zugleich hilflosesten Menschenworte sind Gott & Universum, denn sie stehen für Anfang & Ende, Geburt & Tod, Liebe & Ewigkeit, Zeit & Raum, Sinn & Sinnlosigkeit, vor allem aber für die Liebe und die Ewigkeit, denn diese beiden hängen zusammen zuinnerst, so sehr wie Leben & Sterben, Freude & Leid, Weinen & Lachen ja ein- & dasselbe sind. 500 War denn das Suchen all der Männer in der Klausur einer schattigen, beinah frostigen und dennoch selbst gewählten Abgeschiedenheit eines Klosters etwas anderes als die Suche nach Liebe, ausgelöst durch den Verlust der Liebe? Die Konfrontation mit der menschlichen Einsamkeit, die Hinwendung zu etwas Größerem, die Abkehr von allem Äußeren, von sich selbst sogar, die Kontemplation & Konzentration, nichts anderes als ein endloses Gebet um Erlösung? Die Nacktheit, die Armut, die Strenge, das Fasten führten Alexander schmerzlich und doch im letzten glücklich zu einer bisher nicht gekannten Gelassenheit, brachten ihm am Ende des ersten Sommers bereits die Erkenntnis, in Demut sein Schicksal annehmen zu müssen, zu dürfen, die Erkenntnis aller Erkenntnisse: was nicht zu ändern ist, hinzunehmen, sich zu unterwerfen, wenn es sein muss, für einen inzwischen Gläubigen aber wie ihn, musste es vor allem bedeuten: Gottes Willen zu akzeptieren, sein ganz persönliches Schicksal zu tragen in Tapferkeit, ohne Groll & Zorn, ohne Hader & Neid, ohne Vergleiche anzustellen, ohne Jammern & Bitterkeit. Später im kalten Herbst & Winter Schwedens holten ihn Depression & Zweifel wieder ein, denn ein Mann bleibt ein Mann, ein Mann sehnt sich nach nichts anderem, als mit einer Frau zu leben, dafür wurde er geschaffen, in die Welt geworfen, dafür hat er Kriege geführt, seine Gegner getötet, dafür ging er durch Feuer & Eis, brandschatzte, mordete, schändete, raubte, rackerte in grenzenloser Verzweiflung, dafür, dafür, für nichts anderes. Niemals. Was sonst wäre es denn wert, Schuld auf sich zu laden, seine Hände mit Blut zu beflecken, seine Gedanken zu beschmutzen, was sonst? Es sind alle geistlichen Praktiken, Exerzitien, Entbehrungen zugunsten höherer Erleuchtung nicht der Liebe gleich geworden, sind im letzten ein schwacher Trost nur, ein vorübergehender Ersatz, eine Illusion. Die Verzückung der Heiligen, ihre Glorie, 501 die vergöttlichte Jungfräulichkeit Mariens, die Gottesliebe sind nichts anderes als der Schrei nach der Vereinigung mit einer Frau, mit einem Mann. Der Respekt vor dem Geist, ja allem Geistlichen ist zuweilen unermesslich, aber die Liebe zwischen Mann & Frau, jene Nächte, jene wenigen Minuten, Sekunden sind nicht erreichbar, nicht auf Erden. Gewiss kann man die Sehnsucht, das Begehren abtöten, quasi ad acta legen, verleugnen, verlieren, ja vergessen, nicht aber die Liebe. Die Liebe ist unvergleichlich, die Liebe ist das einzige Himmlische, das wir haben, denn sie verbindet uns mit dem Universum, sie ist der Himmel auf Erden, der Himmel im Himmel, nur die Liebe erreicht die Unendlichkeit. Diese Erkenntnis, diese Kraft, diese Sehnsucht hat Alexander zu mir geführt, ihn verrückt werden lassen nach dieser Möglichkeit, denn vergeblich hatte er durch die Jahre versucht, seine Frau, seine Silvia zu vergessen, um nicht mit dem Verlust leben zu müssen, doch plötzlich stand sie in meiner Gestalt noch einmal vor ihm, und er konnte nicht anders, nicht Verstand noch Gefühle betrügen, noch vergessen, was ihm widerfahren war. Wenn es noch einmal möglich wäre, noch einmal… , dann wäre das Leben noch nicht zu Ende, gäbe es noch Hoffnung auf Glück & Glückseligkeit. Dies & nichts anderes brachte uns zusammen, dies & nichts anderes ist die Erklärung. XIXX Alexanders Frau Silvia Die Tochter eines Landarztes in Nordschweden. Ihre Mutter war 502 an Krebs gestorben, als sie nicht einmal dreizehn Jahre zählte. Ein Schock, der, wie sich herausstellte, das ganze Leben des Mädchens beeinflussen sollte. Das lange Sterben der noch jungen Frau war qualvoll gewesen, zog sich über viele Jahre. Silvias Vater, ein verbitterter, stur gewordener Herr, der sie bis in den Tod begleitet hatte, war nicht mehr im Stande, sich etwas anderes vorzustellen, als dass die einzige Tochter für immer bei ihm bleiben musste, sozusagen als Erinnerung, als Entschädigung für die verlorene Ehefrau. Diese einzige Rolle hatte er seiner Tochter nun zuerkannt, eine andere brauchte sie nicht auszufüllen, dafür schien sie ihm geboren worden zu sein, sein eigenes Fleisch & Blut, das einzige Kind, das ihm & seiner Frau geschenkt worden war. Da kam es ihm nur natürlich vor, wenn sie bei ihm im Hause blieb, auf ihn wartete, für ihn kochte, ihm in der Ordination half. Er würde ohnehin nichts dagegen haben, wenn sie eines Tages heiraten wollte, Enkelkinder zur Welt kämen, das so lang so stille Haus wieder mit Lachen & Lärm erfüllt wäre. Die letzten Jahre waren bestimmt gewesen von Tränen & Schmerz, von immer geringer werdender Hoffnung, von Angst & Traurigkeit. Doch, nun, da es vorüber war, eine langsame Erholung & Erleichterung eintrat, wurde er mit einem anderen, vielleicht noch größeren Leid konfrontiert, dem drohenden Verlust seines Kindes, das nicht & nicht davon abzubringen war, fort zu wollen, in den Süden des Landes zu gehen, um noch etwas anderes kennenzulernen als dies hier, wie es, das Kind, das sie einst Silvia genannt hatten, meinte. Nach vielen langen, ja endlosen Diskussionen, Bedenken, Erwägungen & Streitereien erklärte er sich zum äußerst für ihn Denkbaren bereit, Silvia, in Gottes Namen! nach Stockholm gehen zu lassen, um Krankenschwester zu werden. Für dies und nichts anderes, nichts anderes, hörst du, und dass du mir nicht mit noch irgendetwas anderem daherkommst! Die Zeit, in der sie fort sein würde, sah er als Leiden an, als 503 einen letzten harten & schweren, persönlichen Weg, den er zu gehen hatte, als etwas, das sich nicht umgehen ließ, aber nur von kurzer Dauer war, solang, bis sie ihre Ausbildung beendet haben würde und zu ihm zurückkehren konnte. Was er im Geheimen fürchtete, trat ein, Silvia kam nicht einfach mehr zurück, es war unmöglich, zurückzukommen, so, wie sie fortgegangen war. Es wurde, basierend auf diesem Ereignis eines Tages alles anders, es ließ sich der einmal verlorene Faden nicht wieder finden, ein unterbrochenes Gespräch nicht Jahre später fortsetzen, Silvia fand den Ort, den sie verlassen hatte, nicht mehr, obwohl er für ihren Vater der alte, immer gleiche, geblieben war. Es war nicht ihre Schuld, denn sie hatte sich verändert, verändern müssen, ihre Augen sahen nun etwas anderes in den alten Dingen, den vergangenen Zeiten, sie war erwachsen geworden, hatte Schweres ganz allein bewältigt, dem Vater keine Sorgen machen, ihn nicht belasten wollen, also nichts davon in ihren Briefen erwähnt. Sie wusste jetzt, was es hieß, von daheim wegzugehen, wusste auch, was der Vater gemeint hatte und wovor er sie so innig hatte bewahren wollen. Es war unerträglich für den alternden Mann, schier unmöglich einzusehen, auch noch diesen Kelch austrinken zu müssen, daher flüchtete er sich während Silvias Abwesenheit wider besseres Wissen & Ahnen in die Illusion einer bedingungslosen Rückkehr, ließ keinen anderen Gedanken zu, lebte quasi von ihm, gab ihm willig statt von Tag zu Tag, nährte Hoffnungen, schmiedete Pläne, produzierte Seifenblasen, Luftgeschichten, Zukunftsträumereien. Zwischen den Extremen tiefer Sorge & Depression, froher Erwartung & Freude lebte er seine Tage, füllte sie randvoll aus, um sie schneller vergehen zu machen, riss Blatt für Blatt vom Kalender, schrieb für Silvia vieles auf, damit sie es einmal lesen konnte: wann das Gimpelpärchen wieder zum ersten Mal gekommen, die Schwalben aus dem Schuppen verschwunden, das gescheckte Eichhörnchen wieder frech gewesen war, wie es diesen & jenen, auch ihr bekannten Patienten, Freundinnen, 504 Nachbarn erging, wer geboren und wer wann verstorben, wann der erste, der letzte Schnee gefallen war. Wer nach ihr gefragt hatte, Besuche, die gekommen waren, wie viele Junge die Katze bekommen hatte, die Hündin von Jokke dem Nachdenklichen, wie listig die Hasen wieder einmal gewesen waren, um sich die Rüben aus dem Keller zu holen oder die sorgfältig vergitterten Jungbäumchen trotz aller Mühe zernagt hatten… . Kleine Dorf- & Alltagsgeschichten, Zeichnungen, Notizen, aufgehobene Zettelchen, Eintrittskarten, Zeitungsausschnitte, die am Ende eine hübsche, ansehnliche Sammlung von Kuriositäten ergaben, alles hob er auf, nichts war zu klein, zu gering, zu unwichtig, aber auch große Ereignisse, wie als der König in den Norden gekommen war und jemand Photographien davon angefertigt hatte, eingepackt wie ein Eskimo war Seine Majestät darauf zu sehen, gerade wie jedermann, wenn er Eisfischen ging. Er wartete in dieser Weise auf seine Tochter, vertrieb sich die Zeit der schier endlosen Abende damit, diesen Tüttelkram zu sortieren, mit Ort & Datum zu versehen, einzukleben, aufzustapeln, wartete auf sein Mädchen, das er jedem neidete, auch wenn oder gerade, weil es für andere womöglich nichts Außergewöhnliches war, wohl aber für ihn. Seine einsamen Abende vergingen am Kamin in einem inzwischen heruntergekommenen Haus bei kaltem Essen und der Art von männlicher Gemütlichkeit, die selbst ihm nicht behagen konnte, auch wenn es über weite Strecken nicht einmal dazu kam, denn noch immer fuhr er Tag & Nacht zu seinen Patienten, war rund um die Uhr in Bereitschaft, ja, es war sogar so, dass er nicht wie andere Ärzte, das Klingeln des Telefons fürchtete, sondern darauf wartete, es herbeisehnte, um sich die Stunden zu verkürzen, das Alleinsein ohne Silvia, seine einzige, allerliebste Tochter, zu bewältigen. Silvia war zwar ein schwieriges, einzelgängerisches, aber auch normales Mädchen, welches bald nach den ersten Schrecknissen der Großstadt begann, sich nach Burschen umzusehen und abends 505 schon einmal die strengen Ausgehzeiten des Schwestern-schülerinneninternats ohne besondere Gewissensbisse überzog. Zum ersten Mal sah sie, dass es noch etwas anderes gab als drängelnde, fordernde, jammernde Patienten, späte abendliche Visiten wie sie es von zu Hause kannte, wenn der Vater nach einem langen Tag neuerlich gerufen wurde und nicht zurückkam, bevor sie irgendwann, in Sorge auf ihn wartend, eingeschlafen war. Wenn sie anderntags aufwachte, war er meistens bereits wieder fort oder ein weiteres Mal fort gewesen, im Winter sogar. Die Kranken gingen ihm nicht aus, wurden nie einfach und endlich gesund, sie verlangten nach ihm, ob es wichtig war oder nicht, ob er ihnen helfen konnte oder nicht. Er hätte nie einen Besuch abgelehnt, auch nicht, als seine Frau schon schwer krank gewesen war, auch nicht, wenn es aussichtslos war, sein Gewissen, sein ärztliches Ethos ließen es nicht zu, es hätte ihm keine Ruhe gelassen, er wollte immer alles versucht haben, sich nichts leicht machen, alles geben, dafür war er Arzt geworden, in den rauen Norden gegangen, dorthin, wo keiner seiner Kollegen jemals hinwollte, dafür hatte er studiert & dafür würde er gelebt haben. Alle wussten das, alle brauchten ihn, dachten nicht lange nach, ließen ihn ins Haus kommen, auch, wenn es nicht immer um Leben & Tod ging, fühlten sich sicher in seiner Obhut, genossen diesen Luxus mitten auf dem abgeschiedenen Land in vollen Zügen. Selbst wenn offensichtlich hysterische Leute zum wiederholten Mal anriefen, verlor er nicht die Contenance, setzte sich auf sein Motorrad und fuhr los. Jedes Mal, wenn er von einer Visite zurückkam, betankte er es wieder, ging, bevor er sich endlich hinlegen konnte, in sein Arbeitszimmer, schrieb die Namen, die Diagnosen, die Bemerkungen, die Medikation, die Daten in ein großes schwarzes Buch, begab sich in die Ordination, bestückte seine Arzttasche neu, kontrollierte alles zwei Mal, machte sich noch Notizen für 506 den nächsten Tag, steckte Zettel für Zettel auf einen Spieß oder tat sie ordentlich in eine Schachtel neben dem Telefon, hängte Mantel & Hut auf den Haken an der Haustür, legte die Handschuhe über die Tasche, sodass für den nächsten Einsatz alles bereit stand und er aus dem Schlaf heraus blind nach den Dingen greifen konnte, die er brauchte. Silvia hatte immer seine Professionalität & Disziplin bewundert, seine Geistesgegenwart, seine Genauigkeit, seine Korrektheit. Tausendmal hatte sie diese Vorgänge beobachtet, manchmal übermüdet, manchmal aufgekratzt, ungeduldig & geduldig in einem, aber es hatte keinen Sinn, den Vater zu drängen, endlich ins Bett zu kommen, sich zu waschen, es gut sein zu lassen, auf die späte Uhrzeit hinzuweisen, den längst vergangenen letzten, den bereits angebrochenen nächsten Tag, denn die Dinge, so hatte er ihr jedes Mal erklärt, die Dinge mussten ganz & genau getan werden; das kleinste Detail zu vergessen, konnte jemandes Tod bedeuten, ein Aufschub, eine Gedankenlosigkeit seine eigene Existenz. Später erst, als sie bereits Schwesternschülerin war, wusste sie, dass es Liebe gewesen sein musste, die ihn alles auf diese feine & besondere Art machen ließ, eine Liebe, die sie selber für fremde Menschen nicht aufbringen konnte. Eigentlich mochte sie den Krankenhausbetrieb überhaupt nicht, die Nachtdienste, die Bereitschaftsdienste, die grantigen, oft launischen & falschen Oberschwestern, das Gehaben der Ärzte bei den Visiten oder in der Nacht, wenn sie gerufen wurden, das ständige Rennen, die Strenge und den Ernst, welche die Atmosphäre des Spitals als ganzes ausmachten. Kein einziges Mal hatte sie ihren Vater über eine Arbeit jammern gehört, denn seine Patienten betrachtete er als seine Dienstgeber, sodass er mehr als einmal darauf angesprochen, sagen konnte, was täte ich ohne sie, hat sich das einmal jemand gefragt? Ist es denn nicht das, wofür ich auf dieser Erde bin? Eine bequeme Facharztstelle in der Stadt kam für ihn nicht in Frage, geregelte Ordinationszeiten, abends Gesellschaften, 507 bürgerliche Allüren, dafür hatte er nichts übrig, verachtete es, lehnte zuinnerst & zuäußerst ab, wofür nicht wenige Kollegen, mit denen er studiert hatte, so gut wie alles gaben. Manche mochten ihn seltsam & kratzbürstig finden, doch er wollte schon immer der Arzt einfacher Menschen sein, kleiner Leute, um die sich niemand kümmerte, in einer Gegend, wohin sich keiner verirrte. Geld & Ansehen, die sich in den größeren & kleineren Städten gewinnen ließen, waren bestimmt nicht seine Sache. Lieber lebte er bescheiden in der Einschicht einer ländlichen Gegend als in einem verzierten Stadthaus, wo er sich wie im Glaskasten vorgekommen wäre, ausgestellt wie eine Schaufensterpuppe in einer sich besser dünkenden Gesellschaft. Der verpflichtende Umgang mit den Honoratioren dieser Orte wäre ihm ein Graus gewesen, Balltänze mit Kollegen-, Apothekers-, Anwaltsgattinnen mochte er sich erst gar nicht vorstellen. So war er gelandet, wohin er gehörte, wo es ihm gefiel, er wusste, woran er war, welchen Schatz er sich gesichert hatte. Den Respekt, den er genoss, verdiente er sich tagtäglich selber, wie ein Schauspieler auf der Bühne gab er bei jeder Visite sein Bestes, hörte nicht auf, sich zu bilden, Erfahrungen zu sammeln, eigene Aufzeichnungen & Studien anzufertigen, ein Archiv anzulegen und immer weiter auszubauen. Er war nicht einfach jemand gewesen, der eine Ordination übernommen hatte, er musste sie sich selbst aus dem nichts erarbeiten, kam aus keiner Ärztefamilie wie viele andere, die mit ihm studiert hatten, aber er war jetzt der Herr des Nordens, so nannten ihn seine Patienten, und darauf war er richtig stolz wie ein Bauer, der seinen Hof mit eigenen Händen erschaffen hat, anstatt ihn vom Vater zu übernehmen, wie dieser ihn bereits übernommen hatte und nur noch seine Geschwister hinauszuwerfen brauchte. Wie in einer gewaltigen Islandsaga konnte er aufstehen, das Glas erheben und scherzhaft sagen: Ich, der Herr des Nordens, so nennt man mich, ich sage euch also….. Ach, Silvia dachte oft an ihn, öfter, als er sich vorstellen konnte, 508 voller Rührung & Traurigkeit, mit Bangen & Liebe, was er im Augenblick wohl tat, was für Dinge ihn beschäftigen mochten, ob er es alleine schaffte, ihm ab & zu jemand zur Hand ging, sich auch seiner erbarmte. Ob sie es wahrnahmen die anderen, die Nachbarn, die Kranken, wie es ihm ging? Später erinnerte sie sich an keinen einzigen gemeinsamen & ungestörten Abend. Vielleicht hatte es den einen oder anderen gegeben, aber sie dürften so rar gewesen sein, dass das Mädchen sie unter die anderen rechnete. Am schlimmsten war es nach dem Tod der Mutter. Sie blieb nun vollkommen allein daheim, fürchtete sich vor der Dunkelheit, jedem Geräusch im einsamen Holzhaus, ängstigte sich vor scharrenden & piepsenden Mäusen genauso wie vor der knatternden Fahne auf dem Dach, dem heulenden Wind, den knarrenden Balken, hörte bald Stimmen & Flüstern, Kratzen & Kichern, sah Schatten & Gespenster. Oft schrien die läufigen Katzen, dass sie meinte, es würde da draußen jemand umgebracht. Sie fürchtete sich vor dem Geist der Mutter, den sie überall vermutete, getraute sich nicht aufs Klo. Sie erschien ihr unzählige Male im Traum, in der Dämmerung, im langen kalten, dunklen Winter des Nordens. Sie sehnte sich nach ihr genauso wie sie diese befremdliche Welt verabscheute. Sie hätte ab & zu bei Freundinnen übernachten können, war eingeladen, doch ihr Vater ließ es nicht zu. Sie durfte das Haus weder in seiner Abwesenheit noch während seiner Anwesenheit verlassen. Er hielt sie wie eine seltene chinesische Porzellanpuppe, die sein alleiniger Besitz war, deren Wert nur er kannte, stilisierte sie zu einer Art Reinkarnation ihrer Mutter, die er so innig geliebt hatte und in seiner Tochter wieder zu finden hoffte. Nie würde er zulassen, dass sie ihn verließ, womöglich mit einem Mann fortzog, woanders eigene Kinder haben wollte, ein Glück ohne ihn. Dieser ungeheuerliche Gedanke war für ihn undenkbar & ungedacht, denn er konnte nichts mehr tragen, auch, wenn es 509 normal war, naturgegeben, auch, wenn er immer ihr Vater bleiben würde, die erste Stelle einnähme, er glaubte es nicht, konnte darauf nicht vertrauen. Als Meister der Verdrängung vermied er, daran zu denken, was aus Silvia werden sollte, wenn er einmal nicht mehr war. Solange sie bei ihm blieb, mochte sie alles haben, sogar einen Mann heiraten, Kinder bekommen, doch nur hier bei ihm, vor und unter seinen Augen, nirgendwo anders, er selbst konnte nicht mehr fort, denn alles, was ihm etwas bedeutete, lag an diesem Ort, seine Arbeit, das Grab seiner Frau, die Menschen, die er liebte & brauchte, nicht weniger als sie ihn, die sein täglich Brot waren, aber auch & vor allem seine Erinnerungen, sein Leben, sein Glück wie sein Unglück. Diese letzte Bastion gab er nicht auf, sie brach ihm das Herz. Auf Knien hatte er Silvia angefleht, zu bleiben, nicht zu gehen, hatte geweint wie ein kleines Kind, immer wieder, auch, wenn alles längst und wiederholt beschlossen war, gerade wegen seiner Rückfälle. Er ließ unendlich lang nicht locker, tat jedes Mal wieder, als hätten sie nichts ausgemacht. Szenen, die das Mädchen nie vergaß, ihr das Leben schwer machten, den Abschied und letztlich alles, was auf sie zukam. Nie konnte sie auf jemanden einfach zugehen, auf etwas sofort reagieren, denn sie wusste nicht, wie man sich verhielt, was normal war, wie die anderen Mädchen tickten. Sie hatte sich nach dem Tod der Mutter selbst erzogen, deren Aufgaben, so gut es ging, übernommen, wollte ein braves Kind sein, liebte, ja, vergötterte den Vater, der nun beides für sie war, Mama & Papa, Papa & Mama. Silvia dachte mit vierzehn, fünfzehn Jahren nicht an dieselben Dinge wie ihre Schulfreundinnen, dafür war es bei ihnen zu Hause zu einsam & seltsam, etwas anderes als ihr Vater lag außerhalb des Hauses, in einem anderen Land. Es war ihnen zu vieles gemeinsam, die persönliche Geschichte & Sicht auf die Dinge, die Erinnerungen, die seltenen, doch 510 einzigartigen Gespräche abends am Kamin über Gott und die Welt, über Anfang & Ende, Freude & Leid, ja, sie sahen sich als Einheit, unzertrennlich, obwohl beide wussten, dass Silvia einmal Erfahrungen außerhalb dieser geschlossenen privaten Welt sammeln, andere Menschen & Dinge kennen lernen musste, wenn sie nicht Schaden nehmen und irgendwann vereinsamen sollte. Dennoch taten sie so, als existierte dieser, über allem liegende Gedanke nicht, und je dringlicher er wurde, umso mehr wandten sie sich von ihm ab. Er wurde eines Tages kein einziges Mal mehr erwähnt, obwohl der Abschied Jahr um Jahr, Monat um Monat näher rückte. Mit dem Älterwerden Silvias begleitete & beobachtete er sie zusehends, folgte ihr auf Schritt & Tritt, hütete sie wie ein neugeborenes Entlein. Tausendmal hatte ihr der Vater das Versprechen abgenommen, ihn nicht zu verlassen, und tausendmal hatte sie es ihm in aller Unschuld zugesichert. Er sah in Wirklichkeit keine Notwendigkeit mehr für ein Fortgehen, denn was sie brauchen würde, könnte sie bei ihm lernen. Wer besaß schließlich mehr Erfahrung im Umgang mit Kranken & Sterbenden als er? Was konnte sie schon lernen dort in Stockholm, was er ihr nicht beibringen konnte, was nützte ein Diplom draußen in der Wildnis, wo man sein Bestes geben musste oder es bleiben ließ und unterging, was war denn schon so ein papierenes Dokument in Wirklichkeit? Er kannte doch die Ärzte, die dort jetzt die Professoren & Vorstände waren, hatte mit ihnen studiert, kannte ihre Verhältnisse, ihre Bequemlichkeit, ihren wissenschaftlichen Ehrgeiz, ihre gegenseitige Eifersucht, ihre Selbstüberschätzung, mit der sie sich über seinesgleichen erhoben, die Nasen rümpften, sich grinsend Wichtigerem, wie sie meinten, zuwandten. Sie saßen an den fetten Töpfen der Medizin, dort, wo es Ruhm & Geld zu holen gab. Doch seine und damit Silvias Aufgabe lag hier draußen, hier oben im Norden, wo jede Hilfe gebraucht wurde. Würde sie nicht womöglich in einem Krankenhaus verschwinden, einen eintönigen Dienst verrichten, den jede andere Krankenschwester 511 ebenso tun konnte? Was hatten sie drunten in Stockholm, im verwöhnten Süden schon für eine Ahnung von den Anforderungen eines Landarztes, einer Gemeindeschwester? Dort gab es genug von allem, war alles im Handumdrehen zu haben. Sie wussten ja nicht einmal, dass es keine geregelten Dienstzeiten gibt und geben kann, so dachte er; und würde Silvia nicht am Ende Gefallen finden am faulen & bequemen Leben in der Hauptstadt und ihr Versprechen vergessen? Wie in alten Zeiten, so fand er, sollte man ohnehin bei den Altvorderen studieren, immerhin die beste aller Schulen, bei verständigen Leuten wie damals, als das Wissen noch von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Mehr & mehr verherrlichte er in sich diese längst vergangene Zeit, liebte die alten Geschichten, versetzte sich in sie hinein, bereute, Silvia gehen gelassen zu haben. Er hatte ja selbst studiert, wusste, wie sich altes & neues Wissen zueinander verhielten und dass er so gut wie alles bereits gelernt & begriffen hatte, bevor er in einer Vorlesung davon quasi offiziell in Kenntnis gesetzt wurde, vor allem wie die Dinge viel einfacher und gleichzeitig komplizierter waren, denn das Wesentliche, dies, was ihn ausmachte, hatte er beinah schon immer, ja, bereits als kleiner Junge gewusst, beobachtet, notiert, in Heften aufgeschrieben. Vieles hatte er später gar nicht mehr lernen müssen, denn der Liebe zu den Bäumen, den Kühen, den Vögeln, den Hasen, jedem einzelnen Lebewesen verdankte er sein umfassendes und ihn ganz einnehmendes Interesse an der Natur, seine Empfindsamkeit, seinen genauen Blick auf das große Ganze wie auf das kleinste Detail. Dabei verachtete er die Wissenschaft keineswegs, schätzte sie zuinnerst, hatte Respekt vor den großen lateinischen Wörtern, den fachlich korrekten Bezeichnungen, sie beeindruckten ihn, er lernte sich richtig auszudrücken, war auch jetzt alles andere als ein Naturdoktor. Dennoch gab er seinen Patienten immer mehr als das rein Medizinische, kümmerte sich auch um die Verhältnisse, nahm sich Zeit, hörte zu, und nicht selten genügte es schon, mit einem Kranken ein Gläschen Tee zu 512 trinken, ein wenig zu reden, nach der Visite noch eine Weile sitzenzubleiben anstatt Tabletten hinzulegen, ein Rezept auszustellen und weiterzueilen. Über die Jahrzehnte war er auf diese Weise eins geworden mit den Orten, die er kannte, den Menschen, ihren Tieren sogar, ihren Sorgen & Freuden. Die Menschen liebten & achteten ihn dafür, waren ihm dankbar, und doch profitierte er von ihnen genauso viel wie sie von ihm. Er behandelte sie nicht von oben herab, gab ihnen nicht das Gefühl arm & unwissend zu sein, sondern war selber dankbar, ihnen helfen zu dürfen und helfen zu können. Was sprach dagegen, war es denn nicht das Vernünftigste? Hier oben im Norden würde sich das Leben nicht so schnell ändern wie im Süden oder gar in Stockholm, wo alles selbstverständlich & international war, jeder einer Mode nachlief, wo die Arbeit mit Kranken lediglich eine Verdienstmöglichkeit darstellte, nicht aber mit Leidenschaft getan wurde. Also war es doch besser, wenn alles, wenigstens hier oben, noch lange, lange beim Alten blieb. Schließlich zogen ja die Samojeden immer noch wie in früheren Jahrhunderten herum, hatten ihre Rentiere, ihre alten Wege & Bräuche. Sie waren in seinen Augen angewiesen auf verständnisvolle Menschen, die nicht nur medizinisches Wissen hatten und nach der Visite wieder verschwanden, und sogar die vollkommen sesshaft Gewordenen konnten auf einen Arzt, eine Kranken-pflegerin, eine Hebamme nicht verzichten. Es war eine ruhige, einschichtige Welt mit einer Kirche in der Mitte einer jeden Ansiedlung. Daneben ein Pastorenhaus mit Spitzenvorhängen & Rüschen an den Scheiben, ein wenig zu putzig vielleicht, doch im Grunde genau das richtige mit einem Pastor darin, der ein großes Gebiet betreute, dessen stiller Frau, der freitäglichen Pfarrgemeindeversammlung, wo die Bibel gelesen & erklärt wurde. Danach gab es Brötchen & Tee, am Samstag Nachmittag Kaffee & Kuchen für die Senioren, Limonade für die Kinder. Was war verkehrt daran? Gab es 513 irgendwo etwas Besseres, Richtigeres? Alle kamen sie: der Krämer mit seiner blinden Gattin, der Schuldirektor und sein behinderter Sohn, ab & zu gab es Musik & Tanz, das alte Grammophon des Doktors sorgte für Stimmung & Zerstreuung. Der Kirschenschnaps, der Walderdbeerlikör, der Hollersekt, je nach Jahreszeit, taten ein Übriges, und so wurde gekichert, getanzt, schließlich gesungen, sich umarmt & weinselig geküsst. Für wenige Stunden waren die Sorgen vergessen & verloren in der Unendlichkeit des Winters und seiner Kälte, den verregneten Frühlingen, den kurzen hellen Sommern des hohen Nordens. Am Sonntag lud man sich gerne gegenseitig zum Essen ein, sodass ein ständiges Kommen & Gehen herrschte, man immer in verschiedenen Häusern eingeladen war, aber sich auch reihum, wenn es an der Zeit war, revanchieren musste. Die Damen wetteiferten mit ihren Gerichten, Kuchen & Säften, mit bunten Tischgedecken, üppig bestickten Vorhängen wie Polstern, mit blumigen Tapeten, phantasievoll gestrichenen Fenstern & fruchtigen Desserts. Jede Beere musste schließlich erst gefunden, gesammelt, eingekocht, eingeweckt, bezuckert werden. Der Doktor hatte schon recht, wenn er sagte: Hier gibt es doch alles, ich weiß nicht, was wo anders schöner, besser, wahrhaftiger sein könnte! Wusste vielleicht einer, wie lange es dauern würde, bis man all diese Seligkeit anderswo fände! Silvia war selbst lange dieser Meinung, doch beinah alle ihre Schulfreundinnen gingen fort, um zu studieren, einen Beruf zu erlernen, sodass sie ins Sinnieren kam und ihren Vater eines Tages um die Erlaubnis fragte, nach Stockholm gehen zu dürfen, um Krankenschwester zu werden. Etwas anderes, das wusste sie, könnte sie ihm ohnehin nicht vorschlagen. Wenn er überhaupt etwas dieser Art einsähe, dann vielleicht dies. Oh je! Großer Auftritt, Türenzuschlagen, aus dem Haus laufen, Weinen & Händeringen, Schluchzen die ganze Nacht. Völlige 514 Stille am nächsten Morgen, keine Antwort, keine Spur vom Vortag mehr. Es vergehen Wochen, Monate, Silvia führt weiterhin den Haushalt, hilft in der Ordination, traut sich nichts mehr davon zu erwähnen. Dennoch gelingt es ihr irgendwann, den Vater dazu zu überreden, noch einmal darüber nachzudenken und ihr zu erlauben, einzig zum Zweck, den Krankenschwesternberuf ordentlich zu erlernen, nach Stockholm gehen zu dürfen. Er sieht schließlich doch ein, dass es für später besser so ist, wenn er tot sein wird, tot!, und Silvia sich unter Fremden und eigenständig behaupten muss. Aber was, wenn Du einen Mann kennen lernst, der dich heiraten will, dir ein Kind anhängt und dich sitzen lässt? Also, was jetzt, er kann ja nicht gut beides tun! Sei nicht so frech! Doch die Vernarrtheit ihres Vaters in sie war grenzenlos, die Sorge um sein kleines Mädchen, das sie immer bleiben musste, soweit war er gegangen, sich dies versprechen zu lassen, grenzenlos aber auch die Furcht vor der Einsamkeit, der langen Zeit ohne sie, die Angst vor dem Näherkommen des Todes, der ganzen verschiedenen Trauer um seine beiden Frauen. Den Schmerz, den er mit einem Mal vor sich liegen sah wie ein weites trostloses Feld, wie sollte er ihn allein & verlassen, ertragen können? Wie um Himmel Willen, wie? Als sie das erste Mal gehen sollte, täuschte er einen Herzinfarkt vor, das zweite Mal einen Erstickungsanfall, das dritte Mal eine schlecht gespielte Verwirrtheit mit lallender Rede. Es war ein langer qualvoller Abschied, mit bitteren Vorhaltungen und schlechtem Gewissen, mit Eimern voller Tränen wie in einem alten Märchen, für Silvia, aber auch für den Vater, der längst wusste, dass er verloren hatte. Doch als sie endlich & wirklich fort war, erlitt er seinen ersten 515 Schlaganfall, den niemand mehr bemerkte. Als Silvia im Jahr darauf zu Mittsommer heimkam, fand sie einen alten abgemagerten Mann vor, der sein bestes tat, um seinen kläglichen Zustand zu verschleiern, sich lieber beschwerte & jammerte, warum sie nicht geschrieben hatte, als wäre einzig die Langeweile in all der Zeit sein größtes Problem gewesen. Aber, Papa, ich habe dir geschrieben, sooft ich konnte. Angerufen hast du auch nicht. Papa, du weißt, wie teuer das kommt, ich habe nicht so viel Geld. Bezahlen sie euch denn für all das nicht einmal? Ich frage mich, wozu dieser Stuss gut sein soll! Warum bist du fort gegangen, mein gutes Mädchen? Silvia hatte die ganze Zeit geschuftet, keinen einzigen Feiertag gehabt, kaum einen Sonntag, einzig dafür, um im Sommer länger daheim bleiben zu dürfen, und nicht einmal dies war leicht gewesen, kämpfen hatte sie müssen mit den Vorgesetzten, die keinen Verstand für Extrawünsche aufbrachten, ihr Steine in den Weg legten, und wo immer es ging, nichts als Schwierigkeiten sahen & machten. Dabei wollte sie sich nur um ihren Vater kümmern, wieder bei ihm sein, ihn trösten, ihm endlich alles erzählen, es aussehen lassen wie früher, wenigstens für einige Zeit, allein dafür hatte sie alles getan und auf sich genommen. Sie hat ihn, Gott weiß es, wie schmerzlich vermisst, so heiß & süß an ihn gedacht, die Kissen voll geweint in manchen Nächten, die für sie genau so einsam waren wie für den Vater. Sie hatte die Gedanken an ihn schier nicht ausgehalten, stellte sich die Küche, die Zimmer, jeden Gegenstand beinah vor, den Vater in seiner häuslichen Unbeholfenheit. Wie oft war sie seither im Kopf durchs Haus, den Garten gegangen, hatte gewartet, bis er zurückkam, sich zuweilen sogar vorgestellt, wo er so lange blieb. 516 Bei allem, was sie zu bewältigen hatte, flogen ihre Gedanken zu ihm, weit hinauf in den Norden, in das kleine Doktorhaus. Die Sorge um ihren Vater, dass er ihr erhalten blieb, während sie von ihm fort war, die übergroße Angst, sie könnte zurückkehren und alles hätte sich verändert, waren ihre ständige Befürchtung, um die sich alles drehte. Es gelang ihnen recht & schlecht, die Zeit miteinander so gut wie eben möglich zu nützen, für einige Stunden sogar zu genießen, sich genügend zusammenzunehmen, über vieles hinwegzusehen. Als sie zum Mittsommerfest gemeinsam im Pfarrhaus erschienen, sahen alle, wie alt beide geworden waren in einem knappen einzigen Jahr. Silvia gereift, kein kleines unwissendes Mädchen mehr, Doktor Winterblom gebeugt, schlohweiß. Einem Fremden wäre er verwahrlost vorgekommen, doch die Anwesenden kannten ihn seit Jahrzehnten, sie achteten & ehrten ihn, es war ihnen egal wie er aussah, sie kannten keinen Unterschied, denn wenn man einen Menschen immer sieht, ihn schätzt & liebgewonnen hat, sind seine Veränderungen unsichtbar. Jeder einzelne war ihm für etwas Besonderes dankbar, auch wenn es Jahre zurückliegen mochte. Nie war er nicht gekommen, auch wenn es sich nur um eine hysterische Hausfrau handelte, die, obwohl sie am selben Tag noch bei ihm in der Ordination gewesen war, nachts wieder anläutete für ein- & dieselbe Sache. Sie alle hatten hilflos und mit aufgerissenen Augen miterlebt, wie des Doktors Frau zugrunde ging, ohne dass er ihr helfen konnte, obwohl er doch immer Rat wusste, jeden mit Erfolg behandelte, ihm aber bei ihr, bei seiner eigenen Frau, alles versagte. Er hatte sie selbst nach Uppsala gebracht, von berühmten Leuten untersuchen lassen, sie war in Stockholm operiert worden, doch niemand konnte die Krankheit aufhalten oder gar heilen. Der Unterleibkrebs schritt unbarmherzig fort, zerstörte die schöne junge Frau, die vor Schmerzen schrie, in ihrem Zustand seine Hände umklammerte, bis ihre wie seine blau & gefühllos waren. 517 Der um zwanzig Jahre ältere Mann tat Buße für alles, litt unter den Selbstvorwürfen, ihre Krankheit zu spät erkannt zu haben. Er, der für alle da war, Tag & Nacht, fand keinen, der ihm half. Diese Bilder waren in seinen Patienten allgegenwärtig, das tragische Wissen um sein Schicksal verband sie für die Ewigkeit. Sie fühlten mit ihm, als wäre es ihnen selbst geschehen, wortlos teilte sich die Gruppe, als sie kamen, an jenem Abend zu Mittsommer ins Pfarrhaus, weit oben in Schweden, wo sich Fuchs & Hase, Wolf & Rentier gute Nacht sagen. Silvia war heimgekommen, endlich! Man war froh darüber, hoffentlich blieb sie für länger, so dachten jetzt alle, hoffentlich gelang es ihr, ihn aufzurichten, bis sie wieder kommen konnte, und hoffentlich kehrte sie eines Tages wieder für immer hierher zurück! Es sollte ein selten heiterer Abend werden. Bei Likör und gutem Essen vergaßen sie beide und alle anderen die vergangenen Monate, das letzte schwere Jahr, aber auch die Zukunft. Solche Feste musste es geben, solche Nächte & Tage, so war es wohl seit Menschengedenken gewesen, ob im kalten Norden oder im tiefen Süden. XX Silvias Kinderleben Silvia kannte bald nach dem ersten Schultag nichts anderes mehr als die weinende, wimmernde Mutter, die fragte, fragte nach dem Sinn dieser Krankheit, des Leidens, das ihr, warum ihr!, so plötzlich auferlegt worden war, ein Leiden, das alles zerstörte, ihre Schönheit, ihre Reize, ihre Lieblichkeit, ihr Glück mit sich riss. Zur Einschulung waren Silvias Eltern mit ihr zum letzten Mal gemeinsam in der Öffentlichkeit gesehen worden. Dieses 518 glückliche Foto, welches eine Nachbarin beinahe zufällig gemacht hatte, sollte die einzige sichtbare Erinnerung bleiben, die sie später immer bei sich trug, das einzige Bild, das sie mit ihren Eltern als Familie zeigte. Die strahlende Mutter, so besonders herausgeputzt für den großen Tag ihrer Tochter, im Kreise der anderen Mütter, die alle viel einfacher, aber nicht weniger sorgfältig gekleidet waren. Silvia sogar spürte, wie ihre Mama angeschaut & bewundert wurde, sie, die Frau des Arztes, die Frau Doktor, wie man sie respektvoll nannte, sah, wie ihre Mutter es genoss, im Mittelpunkt zu stehen, an der Seite ihres Mannes zu glänzen. Silvias Mutter liebte die Leichtigkeit des Lebens, das, was einem zufiel ohne Mühe, anders war sie es nicht gewohnt, sie stammte aus einem guten, einem besseren Haus, wie es hieß, war in der wohlhabenden Schicht Schwedens aufgewachsen, hatte das verwöhnte Mädchenleben einer höheren Tochter geführt. Sie gehörte zu Leuten, die Sommerhäuser besaßen, über Bedienstete verfügten. Der einzige Luxus, den ihr Vater sich leistete, so sagte er zuweilen selbst im Scherz, war sie, vielleicht als Ausgleich für seine Arbeit mit dem Elend, das ihm in den bescheidenen Hütten & Bauernhäusern begegnete, als Lohn & Freude quasi, wenn er nach Hause kam. Dort wartete sie auf ihn, fragte lieber nicht nach seinem Tag, wie er gewesen war, seinen Patienten, sondern spielte am Klavier die eine oder andere leichte Weise oder legte eine Platte auf, kam ihm tänzelnd entgegen, umarmte & küsste ihn, und schon hatte er alle Mühsal, alle Sorgen vergessen. Schon von weitem hörte man im Sommer die Klänge des Klaviers durchs offene Fenster, leicht flatterten die Vorhänge im Wind, es ging heiter zu wie auf einem Familienbild von Carl Larsson beinah, dem schwedischen Maler ländlicher Idylle. Dieses Heimkommen bedeutete ihm alles, darauf freute er sich, seit er verheiratet war. Sie kam ihm bald mit einem Kind auf dem Arm entgegen, die Kleine glich ihrer hübschen Mutter, wie man so 519 sagt, aufs Haar. Sie leisteten sich ein Hausmädchen, denn Frau Winterblom sollte nur die Frau des Hauses sein, auch eine Kinderfrau war anwesend, wenn auch nicht immer, doch wurden die pflegerischen Tätigkeiten von dieser übernommen, sodass sie sich weder mit dem Windelwaschen noch mit verklebten Töpfen in der Küche plagen musste und stattdessen all ihren Neigungen & Zerstreuungen nachgehen konnte wie in jungen Mädchentagen. Immerhin hatte sie aus Liebe die Einsamkeit des Nordens gewählt, einen einfachen Landarzt geheiratet, weshalb man eigentlich nicht noch mehr von ihr verlangen konnte. Für ihre Verhältnisse war sie bereits recht weit entgegengekommen, hatte sich wirklich herabgelassen, aber was konnte sie dafür, dass sie sich in diesen Mann verliebt hatte. Seufzend & bedauernd hatte sogar ihre Familie dies anerkennen müssen. Was nicht lange nach dem allerersten Schuljahr im Hause Winterblom geschah, ließ das Mädchen bald verstummen, es hörte nach & nach zu reden auf. Unter den vielen Wörtern, die es schon gelernt hatte, gab es keine mehr dafür. Silvia, das Plappermäulchen, welches es schon gewesen war, verschloss sich mehr & mehr, wandte den Blick nach innen. Über ihre Kindheit begann sich nun ein Schatten zu senken, und die kommenden Jahre legten wohl den Grundstein für den schwierigen Charakter, der Silvia immer nachgesagt wurde. Dagegen waren die Abende mit dem Vater ganz allein, später, als die Zeit des Leidens vorüber war, die Zeit, von der sie meinten, sie würde nie mehr vergehen, das reine Vergnügen. Denn vor dem Schulkind, das Silvia nun geworden war, lagen Jahre der Verzweiflung, der absoluten Dunkelheit, der glühenden Hoffnung am Anfang, der zunehmenden Hoffnungslosigkeit gegen Ende. Während die anderen Kinder ihrer Klasse sich mit dem Alphabet beschäftigten, den Rechenaufgaben, den Hausübungen, dem Lesen von kleinen Gedichten bereits, überall Fortschritte machten, 520 alleine wie gemeinsam lernten, Steinchen für Steinchen die Grundlagen der Bildung erwarben, konnte Silvia sich keinen Augenblick auf die Schule konzentrieren. Sie war gefangen von dem, was sich bei ihnen zu Hause abzuspielen begann. Zuerst begriff sie nicht, was mit den Eltern plötzlich los war, sie schienen schlecht gelaunt zu sein in einem fort, fuhren einander an, schliefen jetzt in verschiedenen Zimmern. Der Vater kam nicht eilig wie früher nach Hause, sondern immer später. Bald verreisten ihre Eltern für Tage und Wochen nach Stockholm, nach Uppsala, nach Göteborg, nach Malmö, sogar nach Deutschland, um Ärzte zu konsultieren, dann wieder kamen welche ins Haus, von Geld war die Rede, von Krediten und weiteren Reisen. Nichts davon half. Es wurde mit Mama immer schlimmer. Wenn sie nur endlich zu schreien aufhört!, war in diesen Jahren häufig Silvias einziger Gedanke, die Erleichterung dann, wenn die Mutter endlich einschlief, genug unter Morphium gesetzt, das schlechte Gewissen des Vaters darüber, den sie wiederholt anflehte, doch dem unerträglichen Lärm ein Ende zu machen. Die Leere danach, die unnatürliche Stille im Raum, das langsam beginnende leise Weinen des Vaters, das überging in Schluchzen, dieses Schluchzen eines erwachsenen Mannes, es machte ihr Angst, seine Verzweiflung, sein Wachbleiben am Bett, auch wenn ihm die Augen zufielen, er aus schweren Träumen hochschreckte, plötzlich zusammenfuhr, gar nicht mehr schlafen konnte, seine Treue, seine Aufopferung, seine Demut im Annehmen des Schmerzes, der ihm auferlegt war, alles sah Silvia mit an, erinnerte sich ihr ganzes Leben daran, an Dinge sogar, die der Vater nicht wahrgenommen oder vergessen hatte. Kinder besitzen ein eigenes, ein besonderes Gedächtnis, eine ganz andere Auffassung als Erwachsene, sie sehen noch mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand. Das Schlimmste, sollte sie später sagen, das Schlimmste ist nicht der Tod, sondern, dass man sich diesen Tod gewünscht hat, den Tod der eigenen Mutter, obwohl man damit alles verliert. 521 Das Mädchen sehnte sich anfangs noch danach, mit den anderen zu spielen, wenigstens eine kleine Weile, doch wenn der Vater unterwegs oder in der Ordination war, musste jemand bei der Kranken bleiben. Man konnte schließlich nicht dauernd die Nachbarinnen und Freiwilligen in Anspruch nehmen. Silvia ahnte, nein, wusste bald, dass die Mutter früher oder später sterben musste und ihre letzte gemeinsame Zeit miteinander angebrochen war. Die entsetzliche & abgrundtiefe Angst vor diesem Verlust nahm Besitz von ihr, die Frage, was ohne Mama, was aus ihr werden würde. Ununterbrochen quälte sie dieser Gedanke, den sie sich freilich nicht vorstellen konnte, sie ging mit ihm zu Bett, sie stand damit auf. Silvia war abwesend von allem, was immer es war, in der Schule, im Garten, auf der Straße, von ihrem achten Geburtstag, oder war es der siebte, der neunte, nicht ansprechbar für anderes als für diese eine, sie ganz einnehmende & ausfüllende Frage: Was mache ich ohne Mama? Die Zeit musste dringend genutzt werden, denn das Datum, wo sie tatsächlich nicht mehr da war, kam mit jedem Tag, jeder Nacht, ja, jedem Atemzug näher, der Tag also, wo dieses Bett leer steht und alles noch unerträglicher & einsamer sein würde als jetzt. Irgendwo existierte bereits jener Tag, jene Stunde, welche die letzte sein würde, unaufhaltsam näherte sie sich der Erde, stürzte wie ein Komet herab auf dieses zerwühlte, verschwitzte, blutige Bett ihrer ärmsten Mutter. Niemand hatte ihr jemals gesagt, dass Mama sterben könnte, doch für Silvia war diese Erkenntnis, diese Wahrheit glasklar zu sehen, denn ein Leben unter diesen Umständen konnte nicht möglich sein, auch wenn sie es noch so gerne geglaubt hätte. Silvia war zwar ein unwissendes Kind, das sahen alle, was die Schule, das gewöhnliche Wissen anbetraf, doch von außerordentlicher Reife, was ihre persönliche Entwicklung anging. Solange sich der Brustkorb hob & senkte, sie nach Wasser & Tabletten verlangte, nach Suppe, Obst & Tee, solange war noch 522 nicht alle Hoffnung vorüber, solange gab es noch das Glück, eine Mutter zu haben, Glück, von dem die anderen Kinder nichts wussten, denn für sie war, eine gesunde Mutter daheim, nichts weiter als normal. Silvia aber erkannte, obwohl sie noch so klein & schmächtig war, so unwissend & abwesend, die Unendlichkeit des Glücks in einer winzig kleinen Zeitspanne bereits, sah die Zeit mit ihrer Mutter trotz des Leidens als Geschenk, als Gnade und zum größten, allergrößten Teil, als schon vergangen an. Die wenigen Stunden, in denen so etwas wie Schmerzfreiheit bestand, waren überhaupt die vollkommensten, und niemand ahnte die Freude, welche dann im Doktorhaus herrschte. Wenn sie und Papa bei Mama im Bett hockten, obwohl sie kaum Platz hatten, lachten & scherzten sie, als gäbe es nichts sonst. Diese Momente wurden immer seltener, immer kostbarer, je seltener sie wurden. Diese Tiefe der Freude sollte Silvia ihr ganzes Leben suchen und wohl nicht wieder finden. Sieben lange & sieben kurze Jahre vergingen mit dem Sterben der Mutter. Danach gab es keine Zeit mehr. Danach war alles wie erloschen. Silvia konnte mit dreizehn weder richtig schreiben noch lesen, verstand die einfachsten Rechnungen nicht, hatte keine Ahnung vom großen Einmaleins oder gar vom Dividieren, aber sie verstand etwas von Krankenpflege, von Medizin, vom Sterben und also vom Leben. Die Atemnot, die Silvia erfasst hatte, als der letzte Atemzug, das letzte Aufbäumen, der letzte Kampf vorüber, der Tod endlich & wirklich gekommen war, ihre Augen, ihrer Mutter! Augen für immer geschlossen wurden, für immer geschlossen blieben, ließ sie fast ersticken, auch noch, als sie später immer wieder daran dachte. Es war ein Krampf tief hinten im Kehlkopf, der sich kaum lösen ließ. Der Doktor war mit der Feststellung des Todes, den damit zusammenhängenden Formalitäten beschäftigt, und es dauerte 523 lange, bis er gewahrte, dass jetzt Silvia um Luft rang. Er hatte sich auf die Ebene des Arztes begeben, um diese Minuten, diese Sekunden, die letzte Sekunde oder was es war, ertragen zu können, hatte sich in die altbewährte Routine geflüchtet, die ihm, doch nur ihm offenstand, nicht aber seiner Tochter, welche nicht über einen derartigen Ausweg verfügte. Da erfasste ihn plötzlich Panik, er verstand nicht, sein Kopf war leer, seine Kraft am Ende. Er wusste absolut nichts mehr, hätte ebenso gut ein herbeigerufener, ahnungsloser Installateur oder sonst ein Fremder sein können. Er stürzte sich auf das Mädchen, konnte nichts tun, als es von Mund zu Mund beatmen, Herzmassage zu machen, zu beten, zu weinen, zu schreien. Um Himmelswillen, Herrgott, nimm mir nicht alles, nicht alles, hörst Du! Oh mein Gott! Verlass mich nicht! Endlich, endlich sah es aus, als kehre das Kind zurück, es begann sich ganz leicht zu regen, hörte wieder auf, ließ den Kopf zur Seite sinken, atmete keineswegs. Der Arzt, der Ehemann, der Vater, was war er in diesen Minuten, oder waren es Stunden gar, war ratlos, verzweifelt, wusste nicht mehr, was er tat, was er tun sollte, tun müsste. Silvia reagierte schließlich doch noch das auf das Zwicken, Schütteln, Ohrfeigen, Schlagen, und ganz, ganz langsam, zunächst fast unmerklich, verschwand die dunkle Cyanose, die bläuliche Verfärbung des Gesichtes, es wurde zuerst fleckig, dann hellblau, schließlich leicht rosig, ging über in eine Art helle Cyanose, eine helle, doch auch rosige Bläue. Sie atmete nach & nach wieder von selbst, zögerlich zwar, ruckartig, als überlege sie noch, ja, als hätte sie durchaus die Möglichkeit, sich anders entscheiden, dort zu bleiben, der Mutter zu folgen, ihr hinterher zu sterben. Doch etwas muss den Ausschlag für das Leben auf Erden gegeben haben, vielleicht die entsetzlichen Schreie des Vaters, vielleicht die Foltergriffe, mit denen er sie sowohl vom Tode erwecken als auch ins Jenseits befördern konnte. Zwischen diesen beiden Extremen 524 lag wohl irgendwo der legendäre zarte Faden, an dem zuweilen alles hängt, die Linie zwischen Leben & Tod, zwischen Rettung & Abgrund. Hauptsache Puls, welcher auch immer, etwas Tastbares, Hörbares, eine Amplitude, eine Regung, irgendeine, und sei sie noch so klein, so unscheinbar, so außerirdisch. Unhörbare, doch spürbare, oberflächliche Herzschläge, ein, wie verrückt flatternder, gänzlich unregelmäßiger Puls zwar, aber das war jetzt egal. Man war bescheiden geworden, Hauptsache, sie lebte, erlangte das Bewusstsein bald wieder. Es war vielleicht nichts gewesen, als dass sie die Mutter noch ein Stück auf ihrem Weg in die Ewigkeit begleiten, sich ein letztes Mal verabschieden wollte, da draußen in der Dunkelheit & Ferne des Himmels oder wie immer es genannt wird, das eine eben, das alles eben, das Nichts, das niemand kennt. Gott der Herr aber hatte ihn, den stolzen Agnostiker, den Witwer, der er nun war, so empfand er es selbst, erhört, nicht vollkommen zu Hiob gemacht, sondern wahrhaft göttliches Erbarmen gezeigt. Nicht dass er je zu einem wirklich gläubigen Mann geworden wäre, nicht einmal während der schlimmsten Zeiten der letzten Jahre, doch etwas hatte Doktor Winterblom verändert, so sehr, dass auch er nicht anders konnte, ihm nichts Moderneres in den Sinn kam angesichts der Größe des Schicksals, als jedem anderen Menschen in ähnlicher Lage, und so fiel er in aller Form auf die Knie und betete, betete wie ein kleiner Bub, erinnerte sich der großen Worte seiner Religion, die er einst gelernt hatte, hielt Silvia fest im Arm; gab ihn nicht mehr her, den kleinen, erschöpften Körper seiner einzigen Tochter, versprach ihr und dem Herrgott, nur noch für sie da zu sein. Der Stolz auf seinen Intellekt, die Klarheit seines Denkens, sein, nur in der Vernunft begründetes Mitleid mit den Menschen, die trotz aller Aussichtslosigkeit glaubten, denn dies war es gewesen, was er so oft empfunden & gesehen hatte, wenn er in die Häuser trat, wo gebetet & gekniet, alle Hoffnung an einen Gott, ein unsichtbares, nicht existentes Wesen gehängt wurde, während sie 525 auf ihn, den Doktor, der ihnen wirklich helfen konnte, warteten; dieser Stolz in ihm, der Stolz, den er wie eine Krone auf dem Kopf getragen hatte, er war nicht mehr. Heiße Tränen der Dankbarkeit, der Einsicht, des Verstehens rannen nun auch über seine Wangen, seinen Bart. Wo kam nur all das Wasser plötzlich her, denn seit er kein Kind mehr war, hatte er nicht mehr geweint. Es mochte an die vierzig Jahre zurückliegen, er erinnerte sich nicht. Jetzt erst verstand er, was Verlust, was Leben & Sterben bedeuteten, jetzt erst wusste er, was die Menschen bewegt hatte, wenn er gekommen war, um den Tod festzustellen oder eben noch einmal helfen konnte. Jetzt erst war er wirklich gleich & eins mit ihnen, jetzt erst trennte Arzt & Patienten nichts mehr, weder dicke Woll- noch feine Seidenfäden. Die Zerbrechlichkeit der menschlichen Verfassung, die Zufälligkeit des Glücks wie des Unglücks, die Nutzlosigkeit der Intelligenz bei einem Schicksalsschlag von solcher Größe, die Heilsamkeit des Scheiterns waren ihm klar geworden, dafür hatte er durch die Hölle gehen müssen, einzig, um zu begreifen, wie klein & hilflos ein jeder Mensch ist, wie verloren & aufgehoben in etwas, das nun sogar er Gott den Herrn nannte. Die nachtschwarze Verzweiflung aber, die nie stattgefundene unbeschwerte Kinderzeit, die frühe persönliche Reifung führten wohl zu dem schwierigen Charakter, der Silvia später oft nachgesagt wurde. Der Umgang mit ihr war so kompliziert wie einfach, jedenfalls so, dass niemand sich diese Strapaze antat, obwohl sie nichts lieber wollte, als Freundinnen zu haben, endlich normal zu sein, sich wirklich um die anderen bemühte, die indes in ihr eine irrlichternde, verwirrte, hysterische Person sahen, die ihnen zuweilen Angst machte, nur weil sie nicht ohne weiteres sein konnte wie sie. Sie wusste selbst, dass sie sich nicht richtig entwickelt hatte, aber, 526 was bitte, was wäre unter ihren Umständen richtig gewesen? Hätte sie so tun sollen, als wäre dies alles nicht geschehen? Nie war sie in der Lage zu erkennen, was andere von ihr erwarteten, nie wusste sie, wann etwas genug war, was verlangt wurde, wie man sein sollte. Mitunter reagierte sie zu extrem, wobei es in alle Richtungen gehen konnte, einmal war sie zu gleichgültig, ein anderes Mal zu dramatisch, zu mitfühlend. Manches nahm sie zu ernst, anderes zu leicht, es fehlte ihr das rechte Maß der Gefühle, der Einschätzung. Ganz im Rahmen liegende Vorkommnisse, vor allem später als Schwesternschülerin, konnten sie übermäßig ängstigen, sie zu Fehlurteilen verleiten, während sie oft wirkliche Verschlechte-rungen oder Auffälligkeiten bei Patienten nicht bemerkte oder falsch deutete. Mit ihr Dienst zu haben, war gewiss nicht leicht, obwohl man meistens vollkommen zufrieden mit ihr sein konnte, denn sie tat die Dinge mit Genauigkeit, mit Freude & Innigkeit, doch konnte man ihr nie ganz trauen. Möglich, dass alles gut ging, sie sich in nichts von anderen unterschied, doch wusste man nie, wann diese Phase wieder zu Ende war. Dann nämlich übersah sie wichtige Signale, löschte das Licht im Zimmer, ohne sich noch ein letztes Bild gemacht zu haben, vergaß ein Medikament zu geben, eine Infusion umzustecken, eine Spritze einzutragen. Es war, als hätte sie partielle Ausfälle, Erinnerungslücken, sie wechselte zwischen Aufmerksamkeit & Abwesenheit, zwischen Präsenz & Vergesslichkeit. Sie konnte am Morgen unausgeschlafen & niedergeschlagen auf der Station erscheinen, genauso aber hellwach, ja, glücklich & beseelt durch die Zimmer tanzen. Manchmal wieder wandte sich die Stationsschwester, ihre unmittelbare Vorgesetzte, oder gar ein Arzt während der Visite an sie, weil sie völlig unbeteiligt beim Fenster hinausschaute, während wichtige Dinge besprochen wurden. Dann fiel sie aus allen Wolken, hatte nichts gehört und nichts 527 verstanden, sodass zwischen den anderen misstrauische Blicke getauscht Blicke wurden, welche sie sich nicht erklären konnte, Blicke, die sie fürchtete. Und obwohl sie ahnte, was sie meinten, vermochte sie es doch nicht zu ändern, war es ihr nicht möglich zu begreifen, was im Moment genau vor sich ging. Dabei konnte es angenehm sein, mit ihr Dienst zu haben, sie tat alles ganz allein, beklagte sich nie, wollte nicht früher gehen, war nicht ungeduldig oder schlampig, weder desinteressiert noch ungehalten, sich nicht zu gut für die ekeligen Dinge, vor denen sich andere drückten, die Nase rümpften, sich schier übergaben. Wenn Silvia wieder ihre Probleme bekam, sah es jeder sogleich, denn es war nichts, was sie beeinflussen konnte, dessen man sie beschuldigen durfte, und doch waren ihre Kolleginnen gerade dann widerspenstig, spreizten & sperrten sich, mit ihr eingeteilt zu werden. Auf diese Weise verbreitete sich wie im Flug die Information, mit Silvia sei es wieder einmal so weit, es eilten ihr bei jeder Versetzung die Vorurteile voraus, jede Stationsschwester, jede Oberschwester war durch das Verhalten der anderen Schülerinnen, die sich weigerten, mit ihr zusammengespannt zu werden, vorgewarnt. Man nahm sie also besonders genau unter die Lupe, behandelte sie von vornherein herablassend, misstrauisch beobachtend, sagte ihr lieber die Dinge gleich zwei, drei Mal, auch wenn Silvia alles gehört und richtig aufgefasst hatte und sich offensichtlich die größte Mühe gab. Nie konnte sie von vorne anfangen wie die anderen, die als unbeschriebenes Blatt auf die neuen Stationen kamen, egal wie sie sich auf der letzten bewährt hatten. Die Kontrollen ihr gegenüber waren äußerst pingelig, oft unverschämt, peinlich für Silvia, denn sie geschahen regelmäßig vor den Augen der Patienten, der Kolleginnen, der Diplom-schwestern, vor den Ärzten sogar, was der Kränkung noch die Krone aufsetzte. Sie bemühte sich wie niemand sonst, diese Zweifel zu beseitigen, es war ja ihr Leiden, um das sie zuinnerst wusste, dem sie sich 528 fügte, denn sie hatte bei sich beschlossen, was immer ihr widerfahren würde, anzunehmen. Wie es keinen Sinn gehabt hätte, die Krankheit ihrer Mutter nicht zu akzeptieren, das Schicksal, welches ihr damit gegeben worden war, so sah sie auch jetzt keine Möglichkeit, diese Behandlung abzulehnen. Sie hatte nicht gelernt, sich zu wehren, war ans Krankenbett der Mutter über so viele Jahre Tag für Tag, Nacht für Nacht gebunden gewesen; diese totale Bestimmung ihres Daseins hatte sie einsam gemacht und hilflos im Umgang mit anderen. Wenn sie diese Schwesternschule eines Tages hinter sich und das Diplom in der Tasche haben würde, wollte sie zurück in den Norden gehen, zu ihrem lieben Vater, der auf sie wartete, sich nach ihr sehnte, um ihm assistieren zu können, diesmal mit Sinn & Verständigkeit, richtig ausgebildet, um ihn auf seine alten Tage zu entlasten, ihm Hilfe & Stütze zu sein. Er hatte recht gehabt, als er sie nicht gehen lassen wollte, das sah sie jetzt, er wusste so viel mehr als sie, er liebte sie wie niemanden sonst, er wollte sie nicht der rauen Welt eines Krankenhauses aussetzen, sondern sie in seiner Obhut, seinem Schutze wissen. Sie würde Gemeindeschwester sein, die pflegerische Seite seiner Arbeit übernehmen, ach, mit ihm zusammen würde sie alles schaffen, sie waren ja ein Herz und eine Seele, nicht so wie hier in Stockholm, wo die Menschen nicht wirklich gut zu ihr und zueinander waren. In den Jahren am Bett ihrer Mutter hatte sie für sich ganz allein begriffen, freilich ohne es zu wissen, dass es besser war, sich zu fügen, nicht zu kämpfen, wogegen kein Kampf bestehen konnte. Wenngleich es damals das Wort Mobbing noch nicht gab, niemand einen Verstand für das besaß, was später von Psychologen & Psychiatern beschrieben und untersucht werden sollte, so war es doch genau das, was Silvia als junges Mädchen erleben und aushalten musste. So wurde sie denn auch von den Kolleginnen & Nachbarinnen im Schwesternschülerinnenheim gemieden, umgangen, mehr oder 529 weniger sichtbar ausgeschlossen, nie richtig miteinbezogen, das Wichtigste ging an ihr vorüber, sie erfuhr es zu spät, sie streuten ihr Sand in die Augen, hielten sich mit Ausreden über Wasser. Silvia war hübsch wie keine andere, hatte eine besondere Aura, wusste aber nicht, dass auch sie etwas besaß, worum sie beneidet wurde. Sie verfügte über keine Erfahrungen außerhalb des kleinen Ortes, aus dem sie stammte und die Erinnerung an das unendlich lange Sterben ihrer Mutter, etwas, wovon die anderen erst Jahrzehnte später Kenntnis haben würden, wenn auch dies unaufhaltsam auf sie zukam: das Leiden, der Tod, das Persönliche daran, wenn man die Eltern verliert, die, welche jetzt noch in Amt & Würden waren, bei bester Gesundheit, voller Lust & Freude, all das, sie kannte es, und sie hatte es ihnen voraus. Sie sorgte sich um ihren Vater, der in der Einschicht lebte, gewissenhaft & ununterbrochen seiner Arbeit nachging, um zu vergessen, zu verdrängen, was hinter ihm lag, gefangen in seiner Unbeholfenheit, seiner Trauer, seiner Bitterkeit. Ein Mann, der nicht fertig wurde mit dem Verlust seiner Frau und nun in Silvia bereits das zweite Mal jemanden verloren zu haben glaubte, schwer trug an seiner Sehnsucht nach seinem einzigen Kind. Manchmal glaubte sie seine Gedanken, seine Verzweiflung körperlich zu spüren, denn hatte er nicht einst und immer wieder gesagt, der Mensch tue alles nur, um den Gedanken an das Ende zu verscheuchen, halse sich die absurdesten Dinge auf, um den Tod hinauszuschieben, als ließe dieser sich täuschen, aus seinem Kopf und also aus der Welt verbannen. Ein sinnloses Unterfangen zwar, so sinnlos wie so zu tun, als hätte man kein Herz, doch die scheinbar einzige, wenn auch nur vorübergehende Lösung. Der Druck, der auf Silvia lastete, das Wissen um seine Verlassenheit, den Schmerz seiner Einsamkeit, die Enttäuschung darüber, dass auch seine Tochter fortgegangen war, gehen hatte müssen, letztlich für immer, wie er sich einbildete, wie sie mit ihrem Weggang schließlich seiner Angst vor dem eigenen Tod wieder Raum gegeben hatte. 530 Silvia drunten in Stockholm war also nicht weniger zerrissen, dachte & fühlte kaum anders. Unentwegt flogen ihre Gedanken zu ihm, sogar, wenn sie nicht konkret an ihn dachte, war ihr Vater immer in ihr und bei ihr. Silvia hatte das Schwerste bereits hinter sich, als kleines Mädchen schon erfahren, getragen, durchgestanden, doch was wussten ihre Kolleginnen, die bisher verschont worden waren, noch keine Ahnung vom Leid des Lebens hatten, sie aber wegen ihrer Andersartigkeit nicht dabei haben wollten. Vielleicht, weil Silvia sie daran erinnern könnte, dass Krankheit & Tod nicht nur Patienten und fremde Menschen betraf, sondern jeder einzelnen Schwesternschülerin eines Tages, eines Nachts ganz persönlich begegnen und auch in ihnen Spuren der Verwirrung hinterlassen würden. Nicht dass Silvia damit jemanden belästigt hätte, doch wie auch immer, ihre Geschichte war langsam bekannt geworden, jemand musste sie erfahren & weitererzählt haben. Vielleicht war es nur Unsicherheit, Verlegenheit, Ratlosigkeit, aber niemand wollte sich die Laune verderben lassen, sich noch in der Freizeit mit einem Schicksal wie diesem befassen müssen. Es war genug, was jeden Tag auf den Stationen vor sich ging, ohnehin nicht leicht und deprimierend sowieso, was brauchte man also die Beobachtung durch eine Person, die, wie die Kolleginnen meinten, ihre Scherze, ihre Ausgelassenheit, ihre Unreife für dumm & unnütz, vielleicht sogar verletzend halten musste. Silvia konnte nichts dagegen tun, dass sie oft anders reagierte, sich mit einfachen, auch ganz praktischen Dingen schwerer tat, fast nie ein ‚Sehr gut‘ bekam, obwohl sie jedes Mal unheimlich viel gelernt hatte, während die anderen noch am Vorabend der Prüfung ausgingen, doch mit Nervenstärke & Glück leichtfüßig durchkamen. Sie redeten offen über ihre Schwindeleien, kamen gut damit zurecht, wussten sich herauszureden, zwinkerten mit den Wimpern, schlugen die Augen auf & nieder, und meistens funktionierte es. Sie beherrschten die Geheimnisse des Flirtens, des Schmollens, des Liebäugelns, wussten um ihre weiblichen 531 Stärken und darum, sie als Schwächen darzustellen. Silvia hatte keine Methode beim Lernen, von Anfang an schon in der Pflichtschule viel zu viel versäumt, glaubte nicht an sich, an ihr Wissen, ihre Merkfähigkeit, war in ihren eigenen Augen talentlos, fühlte sich begriffsstützig & dumm. Weil sie aber ihre Mutter gepflegt hatte, war über ihre schulischen Schwächen von den Lehrern barmherzig hinweggesehen, dem Mädchen die bessere Note gegeben worden, um der verlorenen Schul- & Kinderzeit Rechnung zu tragen, dem Vater einen Gefallen zu tun, und genau dies rächte sich nun. Wenn sie jetzt in der Schwesternschule etwas nicht wusste, hatte sie keine Möglichkeit, es trotzdem zu schaffen, sie verzweifelte schon bei der ersten Frage, die sie nicht zur Gänze beantworten konnte, doch mit ein wenig Raten wie die anderen, ebenso leicht geschafft hätte. Sie erinnerte sich augenblicklich an nichts mehr, redete sich um Kopf & Kragen, erkannte nicht, wenn der Prüfer ihr zu helfen versuchte. Es tat dem einen oder anderen Professor in der Seele weh, sie durchfallen lassen zu müssen. Wie ein Häufchen Elend saß sie dann vor der Kommission, sagte keinen Pieps mehr, traute sich auch die nächste & übernächste Frage nicht mehr zu, gab vorzeitig auf, verließ den Saal. Die anderen wurden besucht & abgeholt, von ihren Eltern & Geschwistern, Onkeln & Tanten, zum Essen ausgeführt, zum Einkaufen, ins Konzert, ins Kino, ins Theater eingeladen. Silvias Vater kam nie nach Stockholm, und sie wusste auch warum: er war beleidigt, wartete, grollte, erstickte seinen Schmerz, sein Selbstmitleid in Arbeit & Beschäftigung, manchmal wohl auch in Schnaps. Silvia ging, während die Kolleginnen sich vielfältig vergnügten, abends, ja sogar nachts, spazieren, gefährliche Wege, in Bars, lachte sich Männer an, die ihren Augen nicht trauten und die nichts von ihr wollten als schnelle Befriedigung, billig aber gut. Sie wusste sich in der Stadt nicht zu benehmen, hatte keine Ahnung von deren Gefahren, dem anderen Geschlecht, ging in die 532 Höhle des Löwen, ohne sich darüber im klaren zu sein. Sie hatte zwar fürchterliche Angst vor den Männern, dem Fremden an sich, war schüchtern & naiv, doch meinte sie, den Anfang machen zu müssen, nicht im Schwesternheim hocken bleiben zu dürfen, schließlich wollte sie jemanden kennenlernen, sich verlieben, sie sehnte sich nach Zärtlichkeit, träumte von Liebe & Zerstreuung. Sie wollte die Niederlagen des Tages, der Woche vergessen, die Sorgen überhaupt, die Vergangenheit, die allgegenwärtige Angst, was gestern war, was morgen sein wird. Krankenschwestern waren dafür bekannt, leicht zu haben zu sein, aber das wusste Silvia nicht, ahnte nichts davon, dachte, es müsse halt so sein, es wäre vielleicht normal, sammelte ihre Erfahrungen auf brutale Weise mit rohen Männern, die sie hinter dem nächsten Busch zu nehmen versuchten oder mit freizügigen Studenten, die sie in irgendeine Wohngemeinschaftswohnung abschleppten, wo sie mit anderen Mädchen zusammen, die offenbar weiter nichts dabei fanden, auf einer Matte landete. Junge Männer, die sie vor nicht einmal einer Stunde honigsüß bezirzt hatten, sie abgeschmust, ihr den Himmel auf Erden versprochen, warfen sie wie eine läufige Hündin hinaus, wenn sie es gehabt hatten. Sofort musste man anscheinend kapieren, dass es vorüber war, es gab keinen Dank, keine Begleitung zur Bushaltestelle, höchstens noch eine gemeinsame Zigarette mit dem letzten Typen, und das war‘s auch schon. Da, zieh‘ dich an, verschwinde!, konnte er jetzt sagen, während er sich die zweite Zigarette anzündete, dringend aufs Klo musste, sich ungeniert bei offener Tür entleerte oder völlig übermüdet zur Seite sackte. Aus der Gemeinschaftsküche qualmte für gewöhnlich Rauch, es ging um heiße politische & gesellschaftliche Diskussionen, Dinge, von denen Silvia kein Wort verstand. Auch die anwesenden oder sogar hier wohnenden Mädchen, normalerweise Studierende aller möglichen Fächer, Töchter aus besseren Häusern, die keine Ahnung von Arbeit hatten und hier die Sau raus ließen, es 533 gewohnt waren, das Wort zu führen, auch sie waren lautstark zu hören. Andere Frauen, als Silvia sie kannte, Intellektuelle, wie sie jetzt modern waren, die wirklich Intelligenten eben, denen sie nicht das Wasser reichen konnte, die eine wie sie nicht einmal beachteten. Krankenschwester bist du? Warum denn das? Warum gibst du dich für diesen alten Weiberkram her? Müssen die nicht den Leuten den Arsch abwischen? Was sie darauf hätte antworten sollen? Am Anfang versuchte sie stammelnd, ihre Arbeit, ihre Position zu erklären, doch es ging in Desinteresse & Lärm, sogar Gelächter unter. Nicht einmal das Rauchen unterbrachen sie, um sich über so etwas Absurdes oder Abgestandenes wie den Schwesternberuf zu informieren. Diese Fräuleins hier studierten Dinge, die hießen Byzantinistik, Romanistik, Kunstgeschichte, Wirtschaftswissenschaften, Sprachwissenschaften, Afrikanistik, Soziologie, Politologie oder Psychologie, sogar Medizin. Silvia verstand nicht einmal die Wörter, doch bei aller Gelehrtheit verfügten sie augenscheinlich über keinerlei Benehmen. Einmal hatte sie ein Turnusarzt, den sie von der Station kannte, unter dem Vorwand, krank zu sein, in seine Wohnung gebeten, oder sollte man besser sagen, gelockt? Als sie ihm beim Aufstehen half, versuchte er, sie zu sich herunterzuziehen, entwickelte riesige Kräfte, schnaufte wie ein Hund, fuhr ihr unter den Rock. Sie riss sich los, wehrte sich, schlug ihn, drohte damit, es zu erzählen. Wo und wem willst du es erzählen, ha! du dumme Gans du! Niemand wird dir glauben, ich werde alles abstreiten, da kannst du dir sicher sein, ich werde dich für verrückt erklären, und du wirst aus der Schule fliegen, verstehst du, so läuft das, nicht andersrum! Du kannst froh sein, wenn ich eine Entschuldigung von dir annehme, wenn es drauf ankommt! Du bist nichts als ein kleines Luder, eine dumme Schlampe wie 534 alle anderen, ihr wollt es doch nicht anders. Ihr macht doch für jeden Medizinstudenten, jeden Assistenten die Beine auseinander, stimmt’s? Hab‘ dich bloß nicht. Denk ja nicht, du bist etwas Besonderes, etwas Besseres. Zuerst machst du mich an, dann kneifst du, das ist wieder typisch für euch Landpomeranzen. Dies hörte sie das erste Mal. Dieser Text schien ihr so ungeheuerlich, so skandalös, dass ihr die Worte fehlten. Niemand hatte sie gelehrt, vorsichtig mit Männern zu sein, niemand ihr gesagt, dass es für ein Mädchen etwas ganz anderes war als für einen jungen Mann, einen Mann überhaupt, wie sehr eine Frau auf sich achten musste, ein Mann sich aber alles erlauben konnte, genug Kraft besaß, sie praktisch überall auf den Boden zu werfen, aufs Kreuz zu legen, wie sie es locker nannten, ein Ausdruck, den sie freilich erst nach und nach verstand. Auch wurde ihr nun bewusst, dass sie bisher kein einziges Mal aufgepasst hatte, sie hätte schwanger werden können, ohne den Burschen überhaupt zu kennen. Was hatte sie doch für ein besonderes Glück im Unglück gehabt! Silvia erkannte & erfuhr, wie es war, ohne Schutz zu sein, sie hatte diesen Schutz ja selber verlassen, dem Vater nicht geglaubt, seine Ängste für Hirngespinste gehalten, für veraltete Vorstellungen & Vorwände einer anderen Generation, weiter nichts. Sie sehnte sich jetzt nach ihm, bedauerte längst ihre Entscheidung, nach Stockholm gegangen zu sein. Tagsüber, während der ganzen Woche, hatte sie die schwere Zeit einer Schwesternschülerin zu überstehen: die Stationen, die sie durchlaufen musste, eine nach der anderen, unter gestrengen Vorgesetzten, oft bösartigen Stations- & Oberschwestern, die selbst frustriert und im Grunde einsam waren, aber nun, im Augenblick eben das Sagen hatten, über die Station, die Patienten, die Schwestern und vor allem die Schülerinnen. Allmächtige Herrinnen waren sie, allwissend, scheinbar perfekt, allgegenwärtig, gefürchtet, gehasst, umschwärmt, befehls-gewaltig, in Stockholm genauso wie anderswo in der 535 Welt. Sie hatten nichts als dies, aber sie hatten es, und sie nützten es weidlich aus, denn, wenn das hier vorüber war, nicht mehr existierte, würden sie verschwinden, versinken, zu Nullen werden, aber dies waren jetzt ihre Jahre, ihre Stunden, ihre Tage, sie hatten es geschafft, wie auch immer, sie übten Macht aus über die jungen Mädchen, die ihnen anvertraut, in Wahrheit zuäußerst ausgeliefert waren, die aus Idealismus, aus Not, aus, was für Gründen auch immer, sich für diesen Beruf entschieden hatten und nun fordernden Personen und eisernen Strukturen gegenüberstanden. Langsam begriff sie wie es lief, schmerzlich wurde ihr bewusst, was sie ihrem Vater nicht geglaubt hatte. Silvia musste alles schmerzlich lernen, ganz allein, wusste meist nicht, wie damit anfangen oder jemals fertig werden, vieles wuchs ihr über den Kopf, die praktische Ausbildung nicht nur, sondern auch die Schule mit dem immensen Stoff, die Bereitschafts-dienste, die Nachtdienste. Besonders die Lehrschwester, welche die praktische Ausbildung leitete, saß ihr auf, holte sie willkürlich zu quasi persönlichen Prüfungen von der Station, obwohl sie keinerlei Recht dazu hatte, doch wen interessierte das. Bei wem hätte sie sich beschweren sollen? Mit ihren über Jahrzehnte krankenpflegerisch geschulten Argusaugen hatte sie Silvias Unbeholfenheit entdeckt, ihre Unsicherheit, ihre Verlorenheit punktgenau erkannt, nahm sie sozusagen auf die Nadelspitze, ließ sie dort tanzen & bluten, gefiel sich in der Rolle der von oben herab Lehrenden, konnte der Verlockung des leichten Spiels nicht widerstehen. Eine Frau, welche im Zweiten Weltkrieg freiwillig in Lazaretten gearbeitet hatte, vielfach vergewaltigt worden war, die Hölle gesehen hatte, wusste, wozu Menschen, Männer vor allem, fähig sind, eine Frau, die ihre Jugend im Dreck des Krieges verloren, ihre Mädchenträume begraben hatte müssen, eine solche Frau besaß kein Verständnis für ein Mädchen wie Silvia, eine Arzttochter, die es nicht bis zum Studium schaffte, davon kannte sie unzählige. Sie hatte keine 536 Lust, genauer zu recherchieren, genügend höhere Töchter dieser Art waren durch ihre Hände gegangen, doch je älter sie wurde, je weiter alles zurücklag, je unverständlicher anderen ihre Vergangenheit sein musste, um so mehr klaubte sie sich diese Mädels heraus und ließ sie leiden, damit sie wenigstens einmal fühlten, was es heißt, nicht alles mit Leichtigkeit zu kriegen. Für sie waren es Lächerlichkeiten, Faulheit, Desinteresse, Wehleidigkeit, was sie gewisse Dinge nicht können ließ, und es mag wohl das eine oder andere Mal so gewesen sein, doch nicht in Silvias Fall. Wenn sie auch nach landläufiger Ansicht kein bisschen verwöhnt war, nicht im Sinne von Besitz & Material, so war sie es sehr wohl, was die Freiheit ihres privaten Lebens anging. Also machte ihr, die in jeder Hinsicht eingeengte aktuelle Lage, derart zu schaffen, dass sie mehr als einmal davonlaufen, alles liegen & stehen lassen, heimfahren, irgendwohin verschwinden, dann wieder sich am liebsten umbringen wollte, am Ende aber vernünftig genug war, ins Schwesternheim zurückzukehren, sich ausweinte, irgendwann einschlief und am nächsten Morgen wieder tapfer aufstand und das Erforderliche tat. Es belasteten sie die Prüfungen, die praktischen wie die theoretischen, die ständige Kontrolle, das überpünktliche Zurückseinmüssen aus der Stadt, von einem Ausflug, einem Spaziergang. Den hauseigenen Geheimdienst aber unter den Mädchen, den vorgesetzten Schwestern & Heimvorsteherinnen empfand sie als das Ärgste, den Tratsch, das Cliquenwesen sowieso. Wie es zu einem derart genauen Wissen über einen kommen konnte, blieb ihr auch später, als alles vorüber war, schleierhaft, die anderen wussten, wie es aussah, beinah mehr über Silvia als sie selbst. Sie lebte anfangs mit fünf Kolleginnen im Zimmer, welche rauchten, redeten, lachten, sich Gebratenes von auswärts holten, es im Bett verzehrten, Alkohol tranken, Unmengen Kaffee in sich hineinschütteten, durcheinander schrien, oft die ganze Nacht, sich 537 keinen Deut darum scherten, dass sie schlafen wollte, lernen musste, Ruhe brauchte. Woher sie selber diese immense Kraft nahmen, konnte Silvia sich nicht erklären. Sie vergaß darüber beinah, wie frei sie einst gewesen war, nach einem halben Jahr schon lebte sie wie in Trance, war weder wach noch schlief sie, bereute nicht einmal mehr, dass sie den Norden verlassen hatte, stumpfte ab, absolvierte ihre Prüfungen, manchmal besser, manchmal schlechter, fiel durch, lernte aufs Neue, trat wieder an, schaffte es schließlich, meistens nach mehreren Anläufen. Dem Vater schrieb sie heiße Briefe, aber nichts von ihrem Kummer, erzählte darin von Dingen, die so nicht wirklich geschehen waren oder geschehen konnten, illustrierte ihr bescheidenes Leben, setzte kleine Glanzpunkte drauf, kaschierte ihre Enttäuschungen, erwähnte sie mit keinem Wort, verzierte hingegen die Blätter mit Zeichnungen, Blumen & Sternen, wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, und im Grunde war sie es noch immer, was sonst hätte sie denn sein sollen? Wie schnell wird man erwachsen, oder wird man es etwa jemals oder gar in allem? Der Vater indes erkannte genau, wie es mit ihr stand, so weit weg von der beschaulichen Welt des Nordens, die er nun allein bewohnte, wo er vor dem Kamin saß, wieder & wieder ihre Zeilen las, immer neue Facetten erkannte, während Silvia in ihrem chaotischen, lauten Zimmer durchzukommen versuchte, keine einzige Stunde der Besinnlichkeit mehr kannte, sondern aus Verzweiflung flüchtete in die Lokale ringsum, wo sie wieder Schwesternschülerinnen traf, aber auch junge Burschen auf der Suche nach schneller Befriedigung, geile ältere Männer, die auf hereinkommende Mädchen Wetten abschlossen, wie schnell sie diese & jene ins Bett kriegen würden, des weiteren freche Kellner, anmaßende, herablassende Turnusärzte, die, wie sie meinten, nur darauf warten mussten, bis ihnen die Mädels ins Netz gingen. Sie suchte aus Verzweiflung, aus Lebensgier, wovor sie sich 538 fürchtete, doch in Wahrheit war sie das unschuldige, arglose Mädchen vom Land, das sie auf ihre Weise bis zu ihrem Tode bleiben sollte. Die Männer zogen sie an & stießen sie ab, dennoch suchte sie wieder & wieder Vergessen bei ihnen, Ablenkung, Abwechslung, bevor am nächsten Morgen der Wahnsinn dieser, in weiten Teilen schier unerträglichen Ausbildung, mir nichts dir nichts, einfach weiterging. Schmerzlich vermisste sie eine Freundin, eine Tante, irgendein nettes Fräulein, bei dem sie hätte ab & zu vorbeischauen, um eine Tasse Tee bitten, sich ausreden oder weinen können. Nie hatte sie so jemanden gekannt. Viele besaßen, auch, wenn sie vom Land kamen wie sie, Verwandte oder befreundete Familien in Stockholm, nahmen Silvia aber nie zu solchen Treffen oder Festlichkeiten mit, hüteten ihre Verbindungen, ihre Orte wie Geheimnisse, verschwanden in der Unerreichbarkeit, in der Anonymität fremder Familien & Kreise, um später von speziellen Einladungen, Bekanntschaften, Erlebnissen zu erzählen, mit ihnen zu prahlen, sie übermütig & stolz vor ihr und anderen auszubreiten. So konnte sie lernen, dass ein Ereignis erst Bedeutung & Wert errang, wenn man es Ahnungslosen & Unbeteiligten erzählte, ja, erzählte überhaupt und dies sogar von eigentlicher Wichtigkeit war; denn was bitte, war eine noch so tolle Geschichte, wenn niemand sie kannte, sie bewunderte, sich daran leid sah? Eine gewöhnliche Schwesterschülerin bekam weder Unterstü-tzung noch Rückhalt, hatte keine Lobby, konnte nicht auf das geringste Verständnis hoffen, sie wurde hineingeworfen in eine Welt, die nicht einmal ein älterer & erfahrener Mensch ohne weiteres verkraftet hätte. Niemand machte sich Gedanken darüber, welche Zumutungen und welche Schrecken die Konfrontation mit Tod & Schmerz & Leid für ein junges Mädchen tagaus tagein mit sich brachte. Die schwersten Dinge so vieler Menschenleben sah Silvia täglich 539 auf den Stationen, niemand erklärte ihr, wie damit offiziell oder mit gewissem Abstand umzugehen war. Das Stöhnen, das Schreien und Angeschrienwerden, das überraschende wie das in die Länge gezogene Sterben, das Leiden in jeder erdenklichen & unerdenklichen Form, die oft genug hilflosen Linderungsversuche, die Gleichgültigkeit & Abge-stumpftheit, die ebenso viel Raum einnahmen, verfolgten sie bis in den Schlaf hinein, trieben sie aus dem Haus, brachten oft schwere Angstattacken mit sich. Wusste sie das nicht alles bereits? Lag es denn nicht längst hinter ihr? Und dennoch, in diesem Ausmaß, dieser Menge, war es ihr unbekannt gewesen. Vielen erging es wie ihr, ihrer Mutter, ihrem Vater damals, das sah sie nun. Tag für Tag wurden tödliche Diagnosen gestellt, den Patienten mitgeteilt, deren Welt zusammenbrach in einer einzigen Minute. Gestern waren sie vielleicht noch hoffnungsvoll eingeliefert worden, selbst mit dem Bus, der Straßenbahn gekommen, eine Tasche bei sich mit recht magerem Inhalt, für eine Woche oder höchstens zwei, etwas Rasierzeug, eine Seife, Hauspatschen, was man halt so braucht, Nachthemden bekam man, hieß es, doch für den Notfall oder die Besuchszeit brachten sie ein hübsches mit, hatten keine Angst gehabt, man würde wieder hergestellt, in Kürze die Anstalt verlassen. Wie oft lagen diese zuversichtlichen Annahmen weit neben der Wirklichkeit! Es war als würde mit der Ahnung von der Aussichtslosigkeit, mit der Tragik des unaufhaltsamen Verlaufs die Hoffnung gleich mitgeliefert, jene Vorstellung, die so gut wie nicht umzubringen war, auch dann nicht, wenn es bereits dem Ende zuging. Hinter diesen gesichtslosen Krankenhausfenstern spielten sich die wahren Tragödien ab, nicht im Theater oder im Kino, wo alles unecht war, nur der Unterhaltung, dem Zeitvertreib, der Rührung diente. Kritiker äußersten sich am nächsten Tag in der Zeitung, im Radio über die lebensnahe Darstellung von gespieltem Leben & Leiden, als ginge es dabei auch nur im Entferntesten um etwas, 540 das sich mit einem Krankenhausbetrieb vergleichen ließe, so jedenfalls sah Silvia es und wohl noch etliche andere, die quasi in der gleichen Haut steckten. Was hatte die Wirklichkeit schon mit der Kunst zu tun oder die Kunst mit der Wirklichkeit? Freilich konnte sie hören, wie sich Ärzte und gewitzte Oberschwestern über die letzte Opernaufführung anscheinend fachkundig unterhielten, gleich in der Früh, bei den allerersten Visiten sogar, während sie eine Schwesternschülerin anfahren konnten oder auch für Luft hielten. Neben einem Tschapperl ließ sich ja alles sagen. Silvia ging ab & zu ins Kino, um für eineinhalb, zwei Stunden Ruhe zu finden vor den echten Dramen, die Zeit zu vergessen, das Elend der Wirklichkeit, doch nie hätte sie diese Geschichten geglaubt oder auch nur von ihnen geträumt. Zu offensichtlich war ihre Flachheit, zu platt, um wahrhaftig zu sein. Sie kannte solche Leute nicht, sie war zu klug, zu reif, um sich wie manche ihrer Kolleginnen Illusionen zu machen, die Liebe, um die es in den Filmen meistens ging oder auch nur die Verliebtheit, für bare Münze zu nehmen. Manche Patienten nahmen das Urteil, das eine schwere Diagnose immer ist, gleichmütig entgegen, schweigend sogar. Andere liefen Amok, sprangen dem Arzt an den Hals, wieder andere knieten vor ihm nieder, bettelten um ihr Leben oder nur um ein paar Jahre, so, als ließe sich darüber verhandeln hier & jetzt, als wäre der Mann in Weiß vor ihnen kein Geringerer als Gott der Herr. Manche nahmen es nicht zur Kenntnis, glaubten kein Wort, behaupteten, es handle sich um eine Verwechslung, das beweisende Röntgenbild, die Blutwerte gehörten einer anderen Person, gewiss nicht ihnen, liefen davon, suchten lieber Quacksalber auf, Kräuterhexen, Kurpfuscher, zogen sich in sich zurück, gingen in die Wälder. Viele aber glaubten tatsächlich, ein Arzt sei eine Art Jesus in modernen Kleidern, der ihnen doch helfen können musste, dafür war er ja da, deswegen hatte er studiert, dafür gehörte er schließlich zu den Angesehenen & Allwissenden der Gesellschaft, dafür bekam er Geld, wurde reich und was sonst noch an 541 Annahmen & Vorstellungen in den Köpfen herumgeisterte. In Filmen gab es das nicht, am Ende musste die Kussszene her, die große Musik, das Happy End. Wie sehr sehnte Silvia sich manchmal nach so einer Einstellung im wirklichen Leben! Ob es irgendwo auch einen Mann für sie gab, den sie lieben konnte, der sich in sie verlieben könnte, nicht nur diese Krankenpflege, wo man so viel falsch machen konnte, so viel lernen musste und wo doch nie jemand zufrieden mit ihr war? Er musste ja schließlich schon geboren sein, jener junge Mann, der sie einmal genauso liebevoll in den Arm nehmen und endlos küssen würde wie der Schauspieler die Schauspielerin? Die Gespräche ihrer Kolleginnen drehten sich um nichts anderes als die jungen Ärzte, die älteren Assistenten, die Ehen der Primare, ihre Liebschaften, um, wer mit wem ein Verhältnis hatte. Jede einzelne Schwesternschülerin spitzte wie in einem Groschenroman oder einem Samstagabendfilm auf eine Liebesgeschichte mit einen Arzt, einem Herrn über Leben & Tod, über Freude & Leid. Silvia hatte in ihrem Vater nie den Arzt als Liebhaber, als Ehemann gesehen, nur ihren allerliebsten & besten Papa. Vielleicht war ihre Mutter auch einmal so ein verrücktes junges Mädchen gewesen, eine dumme Gans, die sich nichts Größeres vorstellen konnte, als quasi per Heirat Frau Doktor zu werden? Sie würde es nicht mehr erfahren, und es war auch einerlei. Die Liebe ihrer Eltern war tief & schön gewesen, das wusste sie zuinnerst, ein Ort, wo Eitelkeiten & Äußerlichkeiten keine Bedeutung besaßen. Sie selbst, das Kind dieser Liebe, war der Beweis dafür, dass alles nicht so sein musste, wie es sich hier in der Großstadt darstellte. Darum vielleicht hatte ihr Vater diese Gesellschaft geflohen, war in die Einschicht gegangen, um das Wesentliche zu tun, zu erfahren, sich nicht zu verzetteln in Oberflächlichkeiten oder Nichtigkeiten, Zerstreuungen oder Ablenkungen wie sie hier gang & gäbe waren. Je enttäuschender und trauriger ihre Tage verliefen, umso mehr 542 sehnte sie sich nach wirklicher Liebe oder wenigstens irgendeiner Art von Nähe zu einem Menschen, der ihr eine Perspektive eröffnen könnte und ihre einsamen Gedanken nicht vollends ins Leere gehen ließ. Doch die Wirklichkeit sah trist & leer aus, um sie herum wie in ihrem Inneren. Die wenigen Turnusärzte, die in Frage kamen, hatten überall ihre Gspusi, konnten jede Schwesternschülerin auf der Stelle haben, nützten ihre Stellung in dieser Hinsicht genüsslich aus, ergriffen jede Chance, fühlten sich keiner Enthaltsamkeit oder gar Treue verpflichtet. Es kam darüber höchstens unter den Schülerinnen zu Zank & Streit, sie beschuldigten sich gegenseitig der Falschheit, der Hurerei, der Verführung, der Ausspannung eines Geliebten oder straften einander mit Schweigen & Verachtung. Ständig gab es deswegen Spannungen & Ärger. Bis spät in die Nacht erzählten sie ihre Abenteuer; beschrieben die Mahlzeiten, die sie für Sex, nicht selten den Verlust ihrer Jungfräulichkeit, genossen hatten. Alles wurde genau besprochen: die Lokale, die Komplimente, die Blumen, die Vorspeise, die Hauptspeise, das Dessert, eine Art Ouvertüre auf das folgende Geschehen im Bett, an einem Baum, in einem Hauseingang, auf einer Treppe oder einfach die Abfuhren, die Schäbigkeiten, die Knausrigkeit, die Brutalität, die Kaltschnäuzigkeit, welche ihnen zuteil geworden war für das geringste Zögern im Nachgeben. Wie die Männer reagierten, wenn sie befürchteten, nicht auf ihre Rechnung zu kommen, der Abend nicht nach ihrer Vorstellung verlief. Die daher allgegenwärtige Angst vor Schwangerschaften lag sowieso immer in der Luft. Nachts wurde gelaufen, gekotzt, laut & leise am Gang, in der Dusche, auf dem Klo geredet, geflüstert, gezischt, geheult, aufgeatmet, vor Freude über die endlich gekommene Regel geweint, geschrien, die Stiegen rauf & runter getrampelt. Begierde & Abscheu in einem, was für eine schwere & würdelose Mädchenzeit, dachte Silvia oft, was für eine Jugend, und was hatte dies hier mit den Filmen, der Liebe, dem Leben, das 543 ihr & ihnen beschieden war, zu tun? Wie & wann kam sie hier wieder heraus, weg von der tagtäglichen Sinnlosigkeit, den Anforderungen dieses Berufes, den sie erst lernte und doch schon satt hatte, ihn zuweilen bereits hasste, weil er kaum Freude brachte, weil sich niemand um sie selber scherte, niemand die Schülerin Silvia, das Mädchen Silvia ernst- oder wenigstens wahrnahm. Und doch lernten die meisten anderen das Spital auf eine ganz andere Weise kennen als Silvia, es verbanden sie die mannigfaltigsten Erlebnisse mit den schon vollwertig Bediensteten, sie gingen nicht wie Silvia völlig extra bei den Visiten neben- & hintereinander her, sondern hatten heimlich miteinander zu tun und zu schaffen. Das erleichterte vielen ihrer Kolleginnen die Arbeit, sie duzten manche Ärzte, waren in der Lage, sie beim Vornamen zu nennen, zwei-, dreideutige Blicke zu tauschen, mit Entgegenkommen & Nachsicht rechnen zu können. Wenn ihnen Fehler passierten, wurden sie vertraulich behandelt, vertuscht, einer anderen in die Schuhe geschoben oder vergessen. Wer hier nicht mithalten konnte, war arm dran, durfte sich keinen Ausrutscher erlauben, keine Vergesslichkeit oder Gedanken-losigkeit. Die geringste Unaufmerksamkeit konnte eine Lawine auslösen, eine Kettenreaktion, die kaum noch irgendwo aufzuhalten war, es sei denn einer dieser weißen Götterlehrlinge legte sich für einen ins Zeug. Silvia vereinsamte mitten unter den anderen, obwohl sie nie allein war, nicht einmal nachts im Zimmer, das sie mit den anderen teilen musste. Wieder & wieder hörte sie die Erzählungen der anderen, die Abenteuer, welche sie in der Stadt erlebten, in den Bars, weiters die Bekanntschaften, die sie gerade hatten oder beendeten, Interna über die Ärzte: ihre Beziehungen & Seitensprünge, ihre Kinder, die ehelichen, die unehelichen. Sie konnte es nicht mehr ertragen, floh davor, streifte manchmal 544 nachts allein durch die Stadt, die Parks, vorbei an Gärten und Häusern, bekam auch dort Dinge zu sehen, die sie nicht sehen wollte, doch wenigstens konnte sie das vollkommen verrückte Zimmer verlassen, in dem sie sich weder konzentrieren noch ausruhen konnte, nicht lernen, nicht lesen, nichts Privates tun. Wenn es wieder endlich wärmer & heller wurde, saß sie gerne auf einer Parkbank im Krankenhausgelände, allein unter einem Baum mit ihren Heften & Büchern, schrieb dort ihre Briefe nach Hause, ihr Tagebuch, dem sie ihre ganze Verzweiflung anvertraute. Doch in der langen kalten Jahreszeit Schwedens war sie auf die Bibliothek angewiesen, die nicht immer aufgesperrt war, dann ging sie in die geheizten, erleuchteten Gänge im Keller, was natürlich nicht erlaubt war. Mit Herumtreibern & Obdachlosen teilte sie sich nun die dicken warmen Rohre, das grelle Licht und den Schatten, die Stille, das Rauschen & Knistern der Leitungen, die Namenlosigkeit, im letzten das Erbarmen einer großen Einrichtung, die in ihren schier unendlichen und auch unübersichtlichen Eingeweiden Platz für so manches & manchen bot. Zwar kam von Zeit zu Zeit ein Nachtwächter, ein Hausmeister vorbei, doch sie drückten ihre Augen zu, gingen für gewöhnlich weiter, taten, als hätten sie nichts bemerkt. Sogar die Hunde, die sie begleiteten, wussten, wie es aussah, Bescheid, sie erfassten blitzschnell die Lage, vergewisserten sich mit einem Seitenblick der Stimmung & Haltung ihres Herrn und machten keinen Mucks. Sowieso kannten sie jeden einzelnen am Geruch, schon von weitem, lediglich bei Silvia blieben sie anfangs noch stehen, stutzten kurz, schauten ihr in die Augen, senkten den Blick, entfernten sich lautlos. Die Hunde hatten ein feines Gespür, nie griffen sie von sich aus jemanden an, nie machten sie sich über Gebühr an jemandem oder etwas zu schaffen, sie strahlten Gleichmut aus, Verständnis, ließen den Menschen ihre Würde, ihren Ort zum Ausruhen, einen Platz zum Schlafen, gerade, als wären sie Sozialarbeiter. Nach dem ersten nächtlichen Rundgang normalisierte sich 545 langsam das Leben in diesen Gängen der Unterwelt, man kroch vorsichtig etwas hervor, wagte wieder zu atmen, zu rascheln, zu essen, sich auszubreiten & einzuschlafen. Wenn Silvia Nachtdienst hatte, lernte sie, wann immer es ging, zwischendurch, meistens nach Mitternacht, wenn selbst auf einer Krankenstation Ruhe einkehrt, zwischen eins und vier etwa, unterbrochen durch einige Rundgänge zwar, bevor das große Waschen losging, das Spritzenaufziehen, das Vorbereiten der Infusionen, der Dienstübergabe am Morgen, das Laufen & Rennen, das Schüsselaustragen, das Desinfizieren, das Sterilisieren, das Wegräumen & Herräumen. Gab es keine akuten Aufnahmen in der Nacht, keine besonders schweren Fälle, verrannen die Stunden ruhig, tickte der Zeiger stetig, von einem schwarzen Strich zum nächsten, Viertelstunde um Viertelstunde, nach einer jeden, Zeit, das Buch, die Mappe hinzulegen und leise nachschauen zu gehen, dies waren die Stunden, in denen sich Stoff zum Auswendiglernen weiterbringen ließ. Am Morgen, auf den sie sich wie jede Nachtschwester die ganze Nacht freute, hatte sie dann viel gelernt, konnte sich also später leichten Gewissens hinlegen, es durfte nur nicht noch in der Früh während der Morgenarbeit etwas Unvorhergesehenes passieren, eine Verschlechterung etwa oder eine plötzliche Aufnahme. In jedem Nachtdienst wieder, wenn alle weg waren, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass alles gut vorübergehen möge, sie nichts vergessen, keinen Fehler machen, nichts übersehen würde, die Nacht schnell und ohne Zwischenfall vergehen sollte und sie die Verantwortung bald an die Kolleginnen des Tages übergeben konnte, denn was gab es Schöneres, und wer, außerhalb des Krankenhauses, konnte dies überhaupt verstehen? Doch irgendwann in ihrem bereits letzten Lehrjahr kam es zu einem tragischen Ereignis für Silvia. Sie beging jenen schweren Irrtum, der ihr ganzes folgendes Leben entscheidend verändern sollte, denn in einem Krankenhaus bedeutet ein scheinbar geringes Versehen, eine Gedankenlosigkeit nicht etwa den Verlust 546 von Geld oder Material wie im Geschäftsleben, es handelt sich ja nicht um Büroarbeiten mit Zetteln & Schreibmaschinen nur. Krankenschwestern, sogar Schwesternschülerinnen bereits, tragen Verantwortung für menschliches Leben, und ein Fehler kann über nichts Geringeres als Leben & Tod entscheiden. Mit diesem Wissen, dieser Vorstellung gehen sie jeden Tag in den Dienst, ein Leben lang, und dies ist es, was sie so verschieden von anderen, so schwierig als ganzes, macht. Seit etwa einem Monat ist Silvia auf einer chirurgischen Frauenstation, als sie zum ersten Mal zum Nachtdienst eingeteilt wird. Die Zimmer sind überfüllt, viele komplizierte Fälle gibt es im Moment, eine belastende Aufgabe für eine Lernschwester ohne Routine, die mit nichts anderem beschäftigt ist, als wenigstens nichts Gravierendes zu vergessen, sich alles zu merken, seitenweise zu notieren, zu erkennen, worauf es hier ankommt und das Wesentliche wie das scheinbar Unwesentliche im Auge zu behalten. Silvia ist dementsprechend nervös, sehnt schon jetzt den Morgen herbei, hat keine Ahnung, wie sie diese Nacht mit den vielen schwerkranken Patienten ganz allein überstehen soll. Die Dienstübergabe am Abend war bereits mehr als chaotisch gewesen, die Abendschwestern sind erschöpft von einem langen Tag, das meiste wird ihr nicht einmal gesagt, lediglich auf die umfangreichen Aufzeichnungen und die Krankenblätter verwiesen. Neuaufnahmen, Verschlechterungen, akute Schmerz-anfälle, unzusammenhängende Berichte, ausständige oder eben eingetroffene Befunde, Namen & Diagnosen ihr noch völlig unbekannter Patientinnen stürzen durcheinander auf sie ein, doch für die Verhältnisse eines Krankenhauses im allgemeinen und einer chirurgischen Station im besonderen ist daran nichts Ungewöhnliches. Alle wollen endlich Schluss machen, nach Hause gehen, sind bereits verspätet, müssen den Bus, den Zug erwischen, haben noch Verpflichtungen. Die hauptverantwortliche 547 Schwester gibt ihr knappe Anweisungen, läuft von einem Zimmer ins andere, redet von diesem & jenem, manches versteht Silvia nicht, anderes hört sie nicht. Später geht sie ganz allein in jedes Zimmer, von Patientin zu Patientin, liest alles durch, macht sich Notizen, versucht Ruhe zu bewahren, beginnt bereits mit Vorbereitungen, für die es noch viel zu früh ist. Eigentlich ist sie jetzt froh, dass erst einmal alle weg sind, denn es herrscht kein freundliches Klima auf dieser Station. Das Verhältnis unter den Schwestern ist kompliziert & distanziert, schwankt zwischen übertriebener Betulichkeit und barschem Umgangston. Silvia hat viel Arbeit die ganze Nacht, kommt kaum dazu, sich hinzusetzen, einen Tee zu trinken, ihre Jause zu essen. Dauernd wird geläutet, das Telefon klingelt, es gibt Neuzugänge, Angehörigenanrufe, außerdem muss sie Krankengeschichten ordnen, Befunde einkleben, Infusionen umstecken, Medikamente spritzen, sie ist immer auf den Beinen. Doch richtig dicht wird es in den Morgenstunden, wenn die unmittelbar vor der Operation stehenden Patientinnen für den Eingriff konkret vorbereitet werden müssen. Silvia muss sie wecken, waschen, in frische Hemden kleiden, bevor sie noch ein wenig weiterschlafen dürfen. Das oberste Gebot aber lautet: weder Essen noch Trinken. Schon am Abend hatte die Hauptabendschwester aus diesem Grund die Schilder mit dem gedruckten Wort „Nüchtern“ ausgehängt, in übergroßen Lettern stand es rot auf weiß darauf, über den Betten der betreffenden Patientinnen angebracht, auch bei einer Frau, die seit langem auf ihre Operation vorbereitet worden war. Ein komplizierter, verworrener Fall, an dem seit Jahren von verschiedenen Ärzten in verschiedenen Anstalten gearbeitet & gerätselt wurde. Es dürfte wie es ab & zu bei Krankengeschichten vorkam, schon einiges schief gelaufen gewesen sein, es stand, wie es aussah, kein guter Stern über ihr. Sie lag genau genommen nicht einmal in jenem Trakt, den Silvia 548 zu betreuen hatte, und dies war auch die Ursache des Verhängnisses. Der Nachtdienst neigt sich bereits dem Ende zu, es ist bald sieben Uhr früh, die Morgenarbeit seit halb vier Uhr fast vollständig getan, die bettlägrigen & präoperativen Patientinnen sind gewaschen, haben ihre Infusionen, ihre Spritzen, die anderen ihr Frühstück erhalten. Es werden die letzten Dinge überprüft, die Dienstübergabe geschrieben, die ersten Lernschwestern kommen bereits, um die Betten zu machen, als es in einem Zimmer plötzlich einen Alarm gibt. Eben jene Frau, die endlich zu ihrer, so lange geplanten Operation, gebracht werden soll, läutet. Die Stationsschwester, die bereits eingetroffen ist, sich ein erstes Bild des Morgens, der vergangenen Nacht zu machen versucht, bittet Silvia, nachzusehen. Sie geht sofort, macht kein Licht, will die anderen noch schlafen lassen, geht zum einzigen Bett, das mit einer kleinen Nachttischlampe beleuchtet ist. Die Dame bittet sie um etwas zu trinken, behauptet, sie habe nicht wie die anderen ihr Frühstück bekommen, sei einfach vergessen worden. Silvia ist übermüdet, in Gedanken bereits weg von der Station, will endlich schlafen, diese Nacht hinter sich lassen, die Verantwortung abgeben, übersieht daher das im Dunklen hängende Nüchternschild, geht hinaus und organisiert für Frau Lundvall, nie im Leben wird sie diesen Namen vergessen, nie mehr ohne Gänsehaut sagen oder denken können, organisiert also ein Tablett mit Kaffee & Milch, ein, zwei Butterbroten, Marmelade, einem Glas Wasser. Das Hausmädchen, welches heute für das Frühstück zuständig ist, wird beauftragt, ins Zimmer zu gehen und zu servieren. Frau Lundvall ist bereits sediert, das heißt, sie hat Beruhigungsmittel bekommen, auch dies übersieht Silvia. 549 Bedenkenlos lässt sich die Patientin das verspätete Frühstück wie sie meint, schmecken, hat vergessen, dass man sie am Vorabend noch über ihre Operation am nächsten Morgen informiert hatte. Eine dreiviertel Stunde später liegt sie auf dem Operationstisch, und als der Anästhesist sie intubiert, beginnt sie endlos zu erbrechen. Ein Albtraum beginnt, nimmt seinen Lauf, die Patientin ringt mit dem Tod, Ärzte & Schwestern schreien wild durcheinander, die Botschaft verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Keine Atmung, bald auch keine Herzfrequenz mehr. Es ist nicht schwer, herauszufinden, was passiert war, Silvia wird auf der Stelle überführt, wie eine Kriminelle zuerst ins Schwestern-, dann ins Ärztedienstzimmer gebracht. Sie erzählte später nie jemandem, was sie dort zu hören bekam, am Ende hätte sie es wohl selber nicht sagen können. Während im Operationssaal noch um das Leben der Patientin gekämpft wird, bricht die Lernschwester zusammen. Sie hat niemanden und nichts mehr, findet keinen Trost, kein Verständnis weit & breit, ist zu einem Häufchen Elend geworden von einer Minute auf die andere. Der Primar, der als letzter kommt, weiß schon Bescheid, läuft aufgebracht durch den Korridor, während vor und neben ihm die Türen auf- und zufliegen, in wenigen Minuten hat sich alles verändert, liegt kein Stein mehr auf dem anderen. Danach läuft Silvia leichenblass & panisch durch die Hauptglastür, stößt mit einem jungen, noch ahnungslosen Arzt zusammen, und, als existiere er nicht, läuft sie ihn schier über den Haufen. Was ist geschehen?, fragt er sie und mustert sie misstrauisch, während er sie mit Nachdruck aufhält. So ein Zusammenstoß in einem Krankenhaus kann nichts Gutes bedeuten, denkt er. Das Mädchen ist vollkommen von Sinnen, schreit, tobt, weint. Jeder, der dort arbeitet, hat immer wieder einen Traum, eine Ahnung, eine Angst dieser Art, ist jedes Mal aufs Neue froh, wenn ein Tag 550 ohne Zwischenfall, ohne sich am Leben eines Patienten schuldig gemacht zu haben, vorübergeht. Jeder Handgriff, jede Gedankenlosigkeit, jedes Missverständnis birgt die Gefahr des Todes, der Schuld am Sterben eines Menschen in sich. Ich, ich, ich habe etwas falsch gemacht!, ist schließlich zu vernehmen, kaum, dass er es versteht. Was ist los? Was hast du falsch gemacht? Frau Lundvall, ich, ich! Was ist mit ihr? Sie sollte heute operiert werden! Ja, und? Ich, ich hhhhabe......., ich habe ihr etwas zu essen gegeben! Man kann sie immer noch morgen drannehmen, versucht er sie zu beruhigen, das macht doch nichts, es wird bestimmt alles wieder gut! Nein, nichts wird gut, sie ist erstickt! Oh Gott! Er lässt sie los. Stille, absolute Stille. Auch ihm stockt der Atem, er fängt sich aber schnell, um sie zu trösten: Man wird sie reanimieren, beatmen, alles versuchen, bestimmt!, sie wird gewiss überleben!, antwortet er beschwörend und mechanisch, ohne seinen Schrecken verbergen zu können. 551 Ja, aber......... Dies war wie in einem kitschigen Groschenroman Silvias erste Begegnung mit dem jungen Doktor Sommerfeld. Ein Unglück hat sie zusammengeführt, Jahre später sollte ein ebenso großes Unglück sie trennen. Frau Lundvall konnte lebend vom Tisch gebracht werden, was dem Ehrgeiz der Ärzte zu verdanken war, die niemanden im Operationssaal sterben lassen wollen. Auch wurde sie tatsächlich nach langer Behandlung und sorgfältigster Vorbereitung noch einmal operiert, doch nicht lange darauf, wenige Tage nach ihrer Entlassung, starb sie. Nach allgemeiner Ansicht war dieser erste dramatische Vorfall aber die Ursache für den späteren, so schlechten körperlichen & geistigen Zustand, von dem sich die Patientin nicht mehr erholte. Silvia kehrte auf diese Station nicht mehr zurück, beendete anderswo das vorgeschriebene Praktikum, musste unangenehme Befragungen und sogar alle möglichen Tests über sich ergehen lassen. Es gab Untersuchungen, Gespräche, Besprechungen mit anderen Bediensteten, mit Silvias Schulkolleginnen. Silvia wurde zunächst von Schule & Dienst suspendiert, ihr Geistes- & Nervenzustand unter die Lupe genommen, ihr Vater kontaktiert, der schließlich, wohl weil er Arzt war, bewirken konnte, dass sie ihre Ausbildung abschließen durfte. Dem jungen Doktor Sommerfeld aber ging dieses Mädchen nicht mehr aus dem Sinn, es beschäftigte ihn, sie tat ihm in der Seele leid. Er war ja selbst jemand, gegen den sich die anderen oft gewandt hatten, jemand der also wusste, was es bedeutete, mit Schmerz & Verzweiflung allein zu sein. Dazu war Silvia in ihrem Schwesternschülerinnengewandl ein allerliebstes Geschöpf, hübsch, unschuldig, voller Idealismus, guten Absichten, und es gab eigentlich nichts, was ihm an ihr 552 nicht gefiel, abgesehen von dem schicksalhaften Fehler, den sie begangen hatte, doch wer, wenn nicht er, verstand ihre Lage, wer, wenn nicht er, wusste um die Gefahr des Schwesternberufes, hatte er sich doch, seit er seinen Turnusdienst versah, oft gewundert, wie unheimlich viel die Schwesternschülerinnen lernen mussten ohne die dicke Grundlage eines Medizinstudiums und wie sie im letzten genauso viel zu verantworten hatten wie ein Arzt; die Zumutung, die darin lag, die Vermessenheit, ja Verwegenheit seitens derer, die es doch verstehen mussten, die jungen Mädchen eine Verantwortung aufbürdeten, von deren Ausmaß sie zunächst keine Ahnung hatten und über welches man sie im Unklaren ließ. Silvias kleines viereckiges Häubchen saß gerne etwas schief hinten im lockigen, dunklen Haar, ihre Wangen waren rot wie bei allen Landmädchen, sie wurde leicht verlegen und wusste dennoch genau, was sie wollte. Auf der Nase gab es die letzten Sommersprossen, die noch an ihre Kindheit erinnerten, sie war bummelig, alles andere als raffiniert, ehrlich. Alexander schaffte es nicht, sich nicht um sie zu kümmern, besuchte sie im Schwesternschülerinnenheim, was genau genommen verboten war, sorgte sich um sie während der langen ungewissen Zeit, in der über ihr Schicksal entschieden wurde. Schließlich konnte sie doch noch ihre letzten Prüfungen ablegen, ihre ausständigen Stationen absolvieren und erhielt ihr Diplom, wenn auch ein halbes Jahr später als ihre Jahrgangskolleginnen, mit recht guten Noten. Langsam gewann sie, nicht zuletzt durch Alexanders Hilfe, ihr Selbstvertrauen wieder und kehrte, begleitet von Rückschlägen, Alpträumen, Depressionen schließlich in ein halbwegs normales Leben zurück. Abends kam Alexander vorbei, ging mit ihr spazieren, ließ sie nicht fallen, was sie zuerst gar nicht verstehen konnte, denn ihr Selbstwertgefühl hatte unendlich gelitten, war auf den Boden geplumpst, und er war & blieb der einzige, der sich so fürsorglich & verständnisvoll verhielt. Alle anderen zogen sich 553 zurück, sorgten für Distanz, schauten weg, gingen ihr aus dem Weg, wo immer sie konnten. Sie sehnte sich nach ihrem Vater und durfte doch nicht zu ihm, musste hier & jetzt zu ihrem Fehler stehen, die Verantwortung tragen, wurde hin- & hergerissen zwischen Zuversicht & Hoffnungslosigkeit. Doch wie ein Engel tauchte Abend für Abend, außer, wenn er Nachtdienst hatte, Alexander bei ihr auf. Lange schon spähte sie hinaus, hielt Ausschau, freute sich bereits den ganzen Tag auf den Augenblick, wenn er in seinem roten Jackett um die Ecke bog, auf den kleinen Gartenweg, der zum Schwesternheim führte, näher & näher kam, seinen Blick schon von weitem in ihr Fenster, an dem sie stand, lenkte und zu ihr hinaufwinkte, obwohl er sie hinter den Vorhängen doch nur erahnen konnte. Sie lief an den Türöffner, ohne auf das Klingeln zu warten, drückte wie verrückt auf den Knopf, sodass es in allen Gängen zu hören war und ließ ihn herein. Warum dies niemand unterband?, vielleicht gab es im Hintergrund eine barmherzige Seele, die wegschaute, die Lage verstand und nichts unternahm. Auch durch Unterlassung geschehen Dinge, nicht nur durch Zulassung, sollte Alexander später sagen. Alexander brachte allerlei Essen mit, Gebäck, Getränke, die eine oder andere Flasche Wein sogar, schließlich führte er sie aus, sie gingen tanzen, umarmten sich, küssten sich, am Ende, am Ende machte er ihr einen Heiratsantrag. Längst kannte er ihre Geschichte, ihr Schicksal und sie das seine. Sie schienen, wie es so schön heißt, füreinander bestimmt zu sein. Die Zeit der Verliebtheit ließ Silvia gesund werden, Zuversicht gewinnen. Sie wurde beneidet um diesen besonderen jungen Arzt namens Alexander Sommerfeld, der so ganz anders war, so still und doch so einflussreich, so anerkannt, so bewundert, so begabt. Die älteren Ärzte, die allesamt seine Vorgesetzten waren, beobachteten ihn, sie mochten seine andächtige Art, an die Dinge heranzugehen, bezogen ihn in ihre Entscheidungen ein, fragten ihn nach seiner Meinung, obwohl sie noch kaum medizinisch 554 fundiert sein konnte. Die Stille, die ihn schon damals umgab, sollte er immer ausstrahlen, die Kraft dieser Stille, ihre schier unendliche Tiefe. Auch, als er mir das erste Mal gegenübertrat, ging etwas von ihm aus, das ich kein einziges Mal zuvor in solchen Situationen erlebt hatte, nämlich eben diese Stille, diese Ruhe trotz der Hektik, die plötzlich keine mehr war, gegenstandslos wurde vor dem Augenblick, der jene höchste Konzentration verlangte, in der er die Entscheidungen traf ohne äußere Anzeichen von Aufregung, ohne zu schreien, zu fuchteln wie ich es sonst von Ärzten gewohnt war. Auch ich hielt inne vor dieser Aura, diesem Moment, der einer heiligen, fast priesterlichen Handlung glich. Als Krankenschwester muss man allerhand gewohnt werden, vieles ausgleichen, aushalten, verstehen, verdrängen. Ärzte sind oft anmaßend, arrogant, etliche sogar dumm, beschränkt, bestimmend, und doch haben sie das Sagen, so meinen sie, besonders über die Schwestern. So musste es auch Silvia einst ergangen sein, genau wie mir in jener Nacht, als ich zum ersten Mal Alexander sah und meinen Augen & Ohren nicht traute, nicht zu trauen wagte. Wer hatte jemals einen solchen Arzt, einen solchen Menschen gesehen? Die, für ihn verblüffende Ähnlichkeit zwischen seiner, lange toten Frau Silvia & mir, hatte zur Folge, dass er zwar in vielen Jahren erst, doch umso sicherer zurückkehrte in mein Leben. Obwohl ich nichts davon wusste, es unvorstellbar & skandalös anmuten musste, kam er zurück, denn es war, als stünde es geschrieben irgendwo, und als gäbe es nichts anderes als diesen Weg zu gehen, als müsse sich eine Schrift, ein Schicksal, eine Prophezeiung erfüllen. Was bestimmt ist, muss geschehen, sollte er eines Tages zu mir sagen, und es geschah. Selbst damals ahnte ich nicht, wie gläubig er war; er, der Jude, der Seinem Gott anhing, einem Gott, der ihm Sinn & Halt gab, der ihn so besonders, so außergewöhnlich 555 machte. Er traf jede Entscheidung im Einklang, in Absprache mit Seinem Herrn in der Unendlichkeit, ganz gleich wie groß oder klein sie war. Daraus schöpfte er den Mut, der getrost eine ungeheure Dreistigkeit genannt werden darf, brachte ihn auf die Idee, zurückzukehren und mein Leben genau wie das seine, bis in die Grundfesten zu erschüttern und zu verändern, ja sogar jenes von Ottokar, meinem Mann und unseren Kindern, das von diesem Moment an nicht nur nicht mehr das unsere, das uns vertraute, sondern ein vollkommen anderes war. Alles konnte zerbrechen sogar, zerfallen, sich aufhören, und doch sollte es, sollten wir alle zusammengehören, wie es uns bestimmt war von Anbeginn der Welt, so wie es geschrieben stand vielleicht in den Sternen, im dunklen Himmel der Nacht, im grellen Licht des Tages, in den Tiefen des Meeres, den Weiten, den Bergen, dem Schnee, dem Sand, irgendwo in der Ewigkeit von Raum & Zeit. XXI Silvias & Alexanders Hochzeit Als die familiären Formalitäten mit der Hochzeitserlaubnis seitens Silvias Vater endlich vorüber waren, und nachdem Silvia ihr Schwesterndiplom in der Tasche hatte, wurde alsbald geheiratet. Alexanders Vater, als er es erfuhr, war zu gleichen Teilen besorgt & erfreut, besorgt, weil er seinen einzigen Sohn noch lieber länger in Freiheit gesehen hätte, erfreut, weil Alexander wohl sehr 556 glücklich sein musste, wenn er diesen Schritt jetzt tat und seinen Vater um seinen Segen bat. Es lag ja noch nicht allzu lange zurück, dass er ihn wegen seiner Promotion nach Stockholm eingeladen hatte. Gerade, dass er es noch geschafft hatte, der Verleihung des Doktortitels beizu-wohnen. Der Brief hatte ihn erreicht, als er gerade so gut wie eingeschneit gewesen war und ein heftiger Wettereinbruch drohte, die Reise in den Süden Schwedens unmöglich zu machen. Die Zeit drängte ungeheuer, doch es war ihm sogar gelungen, Alexander in Stockholm anzurufen, dieser hatte ihm dann versichert, er müsse nicht kommen, erwarte es auf keinen Fall, er solle sich nicht in Gefahr begeben, es sei nichts Besonderes, eine rein universitäre Veranstaltung, bei der die meisten Eltern überhaupt nicht anwesend seien, was natürlich mitnichten der Wahrheit entsprach. Alles war viel zu knapp, doch für Herrn Sommerfeld wäre das Versäumen der Promotion seines Sohnes eine persönliche Katastrophe gewesen, ein Versagen, welches er sich nicht verziehen hätte. Mein Gott, wie hatte er sich beeilt, während Alexander allen Ernstes hoffte, sein Vater möge nicht kommen, die Feier schnell vorübergehen. Er wünschte sich nur ein paar freie Tage, vielleicht Wochen zu bekommen, bevor er seinen Turnus antreten musste, und wer weiß, wann er wieder aus dem Krankenhaus herauskam. Doch Herr Sommerfeld ließ nichts unversucht, er eilte, hetzte, setzte alles daran, pünktlich zu sein, bewegte sich langsam & hurtig zugleich, also sicher zu auf Stockholm. Am Tag der Promotion hatte Alexander noch immer keine Nachricht von seinem Vater. Beim Betreten der großen Aula sah er eine Menge Menschen, Eltern, Familienangehörige anderer Studenten, es gab sogar schreiende Säuglinge unter ihnen, einfache Bäuerinnen, elegante Damen mit Hüten, Herren in dunklen Anzügen, angereist von überall, doch sein Vater war nicht darunter. 557 Alexander war erleichtert, ein bisschen aber auch traurig. Sein Vater hatte es nicht geschafft. Doch immerhin, es war Januar, was konnte man erwarten, es waren die denkbar widrigsten Umstände für eine Reise. Er war einer von zwölf Medizinern, die heute ihre Doktorwürde erhalten sollten, und wenn sein Vater auch verspätet kam, würden sie gewiss dieses Ereignis bald privat feiern und für wenige Augenblicke alles vergessen und zusammen sein wie früher, und hatte er ihm schließlich nicht selbst geschrieben, er müsse nicht kommen, es sei nicht nötig, ja, gar nichts Besonderes, doch nun, als es soweit war, wurde es Alexander doch etwas bange, denn die Angehörigen aller anderen waren ja gekommen, hatten sich gewiss auch nicht ganz einfach durchgeschlagen, außerdem gab es noch den Gedanken, die Sorge, ob seinem Vater wohl nichts zugestoßen war. Es fingen schon die gesalbten Reden an, der Dekan, der erste Professor, der zweite Professor, ein weiterer Professor, ein Doktorant. Ein Kollege nach dem anderen erhielt seine Urkunde, Alexander war an vorletzter Stelle, nach ihm kam nur noch einer namens Zanthorst. Plötzlich öffnete sich quietschend wie im Theater die schwere Tür und Alexander sah sofort, dass es sein Vater war, der eintrat und sich verbeugend & schleichend & entschuldigend in den vorderen Bereich des Saales arbeitete. Just als Alexander aufgerufen wurde, stand auch er ganz vorne, und als ob das nicht genug wäre, blieb er nicht etwa stehen, um das Geschehen aus geringer Entfernung zu beobachten, sondern stieg auf das Podium und richtete aus dem Stand das Wort an den Vorsitzenden. Entschuldigen Sie bitte vielmals meine Verspätung, ich bin so schnell ich konnte, gekommen, denn sehen Sie, dies ist mein einziger Sohn, der heute Doktor wird. Sie müssen wissen, er ist ohne Mutter aufgewachsen, sie kann heute nicht hier sein, sie ist bei Alexanders Geburt gestorben, weil der Arzt wegen eines Schneesturms damals nicht gekommen ist. Seinem Vater rannen die Tränen über die Wangen, er konnte nicht 558 mehr weiterreden. Er hatte sich so überaus schön & sorgfältig gekleidet, trug einen schwarzen Gehrock mit weißem Hemd & weißer Fliege, und doch genierte sich Alexander, was ihm gleichzeitig sehr leid tat, denn er liebte seinen Vater über alles, doch hier vor seinen Kollegen, dem ganzen Auditorium, der ehrwürdigen Universität, den Eltern der anderen, war es ihm peinlich, seinen Vater das Privateste, beinah Allerheiligste offenbaren zu hören. Der Professor aber war sehr beeindruckt, lobte Alexander, denn er promovierte als einziger mit Auszeichnung, gratulierte gerührt dem eleganten Herrn, der da vor ihm stand und vor Stolz & Demut zitterte. Dem Dekan kamen solche Szenen durchaus öfters unter, er wusste um die Opfer, welche die Familien der Absolventen mitunter brachten, auf wie viel sie verzichten hatten müssen, was ein Tag wie dieser vor allem, vor allem für die Eltern und sogar für die Geschwister, Onkeln, Tanten, Großeltern, die alle mitgeholfen hatten, eine Promotion wahr werden zu lassen, bedeutete und auch ihrer Ehre genüge getan werden musste, dass sie Dank & Anerkennung erwarteten, mit feuchten Augen im Publikum saßen und ihre ganz persönlichen Entbehrungen im Hintergrund belobigt wissen wollten. Vater, bitte!, hatte Alexander ihn zu unterbrechen versucht, aber er hatte sich nicht beirren lassen, sondern weitererzählt, wie schwer es für Alexander gewesen war in all den Jahren, und wie übergroß daher die Freude in diesem großen Augenblick. Sein Vater wählte die Worte mit Bedacht und doch mochten sie auf die Leute befremdlich wirken, so dachte Alexander, doch in Wahrheit waren alle betroffen, still, manche weinten sogar, vielen sprach er aus dem Herzen. Er hätte zerspringen mögen vor Stolz auf seinen Sohn, auf Rahel, die Mutter, seine geliebte, seine tote Frau, die jetzt, jetzt in dieser Stunde ganz nah und ganz bei ihnen war. Danach gingen sie in ein Restaurant, und es stellte sich heraus, dass Herr Sommerfeld dort einen Tisch reserviert hatte, um mit 559 seinem Sohn stilvoll zu dinieren. Es kamen nach & nach noch einige Freunde, Bekannte, die Haushälterin, und alle überreichten dem Doktoranten Geschenke, Blumen, Glückwünsche. Sie tranken Champagner, feierten bis in den Abend hinein, brachen schließlich vollgegessen, vollgetrunken & überglücklich auf. Und nun, nach weniger als einem Jahr nach diesem Ereignis ging es bereits um Alexanders Hochzeit. Als der erste Schreck vorüber war, freute sich Herr Sommerfeld darüber, wollte nicht mehr länger eifersüchtig & griesgrämig sein, ließ sich nichts anmerken und begann, Alexanders Heirat zu planen, zu finanzieren. Nicht ahnen konnte er, welch‘ schwieriges Gegenüber er in Silvias Vater bekommen würde. Als seine zukünftige Schwiegertochter ihm vorgestellt wurde, wunderte er sich über die Einfachheit und natürliche Schönheit des Mädchens, auch er, so dachte er, hätte sie sich ausgesucht. Er konnte Alexander verstehen, und doch ging von ihr etwas aus, das Herrn Sommerfeld beunruhigte, denn Silvia erschien ihm fahrig, ungeduldig, etwas desinteressiert im allgemeinen, zuweilen sogar abwesend. Vielleicht ignorierte sie gar Alexanders Sensibilität, seine tiefe Gescheitheit, seine Feinheit, stellte selbstsüchtig nur sich in den Mittelpunkt, solche Frauen gab es, und jetzt zu Anfang merkte Alexander es noch nicht, er war verliebt, gewissermaßen nicht zurechnungsfähig. Und doch, war es nicht richtig so, wenigstens für den Anfang? Später würde sie an Alexanders Seite womöglich kein ganz einfaches Leben haben, denn er würde viel Zeit mit seiner Arbeit verbringen, überlegte er, würde sich der Forschung widmen, doch Silvia war ja selbst Krankenschwester, die Tochter eines Landarztes, sie würde gewiss alles verstehen, und Alexander konnte am Ende wohl nichts Besseres als eine Frau wie Silvia passieren. Wenigstens hatte er sich keine höhere Tochter genommen, der er nur zu dienen hätte, die sich ständig in der Gesellschaft herumtreiben wollte, von Haus aus verwöhnt war, Erwartungen hatte, ständig Ansprüche stellte, sich vernachlässigt 560 fühlte und im Grunde nur an sich dachte. Doch ihm wäre schließlich jedes Fräulein recht gewesen, er durfte sich nicht einmischen, war nur besorgt um seinen einzigen Sohn, aber die Hauptsache blieb doch, dass Alexander glücklich war und mit ihr zurecht kam, es war seine Frau, sein Glück, und die Schwiegertochter konnte man sich nicht aussuchen. Er gewann Silvia lieb, sie war ihrem zukünftigen Schwiegervater gegenüber schweigsam, schüchtern, wäre am liebsten davongelaufen, das sah er sogleich, doch ließ sie tapfer die Zeremonie des Vorstellens & Befragens über sich ergehen, und was durfte er mehr erwarten. Geheiratet wurde ohne Frage nach evangelischem Ritus in Stockholm, man war nicht gefragt worden, es wurde bestimmt, und Alexander nahm es an, sein Vater verlor darüber kein Wort, schließlich konnte er nicht auf einer jüdischen Hochzeit bestehen, doch schmerzte es ihn, obwohl er kaum ein gläubiger Jude genannt werden durfte, schmerzte es ihn, dass es für Alexander keinen Tag unter der Chupa geben sollte. Vielleicht hatte Alexander Silvia gegenüber sein Judentum nicht erwähnt, gewiss war sie ohne Ahnung davon, ebenso ihr Vater, aber man musste sich fügen, man musste still sein, dachte er traurig, sein Innerstes in sich verschließen und es auf diese Weise retten. Wer weiß, wie es aufgenommen worden wäre, wer weiß? Vielleicht war es besser so, vielleicht sicherer, es war so viel geschehen seit aller Zeit, seit der Diaspora, seit man einem Volk auf Wanderschaft angehörte. Was wussten die Gojim, was interessierte es sie? Und war schließlich nicht, nicht einmal Rahel eine ganze Jüdin, obwohl Tochter eines Rabbiners, gewesen? Ach, was war es doch mit diesen Dingen, sollte man sie nicht endlich begraben, ad acta legen und sich vollkommen assimilieren? Alexander, sein Sohn, hatte wohl recht, man sollte nicht länger auf dem Alten bestehen, sondern froh sein, dass man dazu gehörte und nicht länger ausgegrenzt wurde. Und dennoch dachte er in diesen Wochen & Monaten oft an Rahel, wie gläubig sie gewesen war, ihre Familie, Alexanders verstorbene Großeltern, und was sie 561 wohl alle dazu sagen würden. Der Tod löst manche Komplikation, so schmerzlich er ist, er schafft klare Verhältnisse, lässt keine Zweideutigkeit mehr zu, jene Menschen, an die er so oft denken musste, sie waren nicht mehr, all dies war nicht mehr, Alexander jetzt Bräutigam, Silvia seine auserwählte Braut, in ihr hatte Herr Sommerfeld nun eine Tochter, und es war gut. Eine neue Familie würde entstehen auf einer neuen Grundlage, nichts sonst zählte, nur die Liebe, genau wie es einst für ihn & Rahel gewesen war. Nun konnte die Zeit der Vorbereitungen beginnen, sich mit Silvias Vater zu treffen, war ihm wichtig, der indes kam kein einziges Mal aus dem Norden herunter, beantwortete keine Briefe, traf keinerlei Vorkehrungen, sondern arbeitete, wie es aussah, wohl einfach weiter, scherte sich um nichts, gerade so, als ginge es ihn nichts an. Man musste kein Hellseher sein, um sich einen Reim darauf zu machen, einfach würde es gewiss nicht werden, vielleicht schmollte sein Gegenüber, vielleicht wollte er gar dem ganzen fern bleiben. Herr Sommerfeld ließ sich nichts anmerken, lief von hier nach dort, ging ganz in den Tätigkeiten, die ein solches Fest erforderte, auf, bezahlte die tausend Dinge, um die es nun ging, ob es Silvias Brautkleid oder Alexanders Frack war, die Blumengestecke, der Brautstrauß, das Menü, die Einladungskarten, das Hotel oder die Hochzeitsmesse im Stockholmer Dom. Es machte ihm gar nichts aus, für seinen prächtigen Sohn mit Geld um sich zu werfen, er wollte nur, dass alles so schön wie möglich war. Alexander versuchte ihn einzubremsen, war gar nicht der Ansicht, man müsse diesen Aufwand treiben, doch Silvia, die zum ersten Mal einen solchen Luxus sah, war hellauf begeistert. Und schließlich hatten beide keine Mutter, das Mädchen einen Vater, welcher vollkommen ausließ, so musste er doch alles ersetzen & ausgleichen, so gut es ging. Doch je näher das Hochzeitsdatum rückte, umso nervöser & unberechenbarer wurde Silvia. Bald fing sie an, an Alexander 562 herumzumeckern, war launisch, unausgeglichen, es kam zu Streit, sogar heftigen Auseinandersetzungen wegen Kleinigkeiten, die sie später meistens vergessen hatte, zuvor aber wichtig genug gewesen waren, um Alexander schwere Vorhaltungen zu machen. Der Dienst im Krankenhaus setzte ihr zu, wegen Alexander wurde sie, so behauptete sie jedenfalls, gemoppt, weil man sie beneidete. Sie begann damit, ihm Eifersuchtsszenen zu machen, auch wenn er nur dienstlich mit einer ihrer Kolleginnen sprach. Natürlich war der fesche junge Arzt ein besonderer Anziehungspunkt für Schwestern & Schwesternschülerinnen, er hätte leichtes Spiel gehabt, was er dennoch nicht ausnutzte. Immer wieder geriet er in kleine Fettnäpfchen, welche man um ihn herum aufstellte, und in die er arglos hineintappte. Silvia, die ohnehin alles mit Adleraugen betrachtete, fand in jeder noch so kleinen Begebenheit einen Grund, um mit Alexander zu streiten, sich auf die unsinnigste Weise seiner Liebe versichern zu lassen. Alexander indes hoffte, es würde nach der Hochzeit damit vorbei sein und versuchte, ein wenig Abstand zu gewinnen, ihre Launen nicht allzu ernst zu nehmen. Auch wenn es Silvia nach diesen Streitereien aufrichtig leid tat, sich hysterisch aufgeführt zu haben, sie sich dramatisch entschuldigte, steinerweichend weinte, konnte sie doch im Augenblick nicht anders. Weil Alexander ihre Kindheitsgeschichte inzwischen kannte, das Leid, welches sie tragen hatte müssen, brachte er unendlich viel Geduld & Verständnis auf, sagte seinem Vater nichts von seiner Sorge, es könnte womöglich auch nach der Hochzeit so bleiben, obwohl er gerne mit jemandem darüber gesprochen hätte. Einmal gab es ein Treffen mit Tante Marie, die sofort Silvias schwierigen Charakter erkannte und Alexander mit strengen Augen ansah, darauf bestand, ihn bald, also vor der Hochzeit, allein zu sprechen. Sie warnte ihn, sie beschwor ihn, es sich noch einmal zu überlegen. Ganz offen meinte sie, Silvia sei nicht gut genug, nicht gut genug für einen Sommerfeld, und Alexander erschrak über die 563 Ehrlichkeit, nein, die Überheblichkeit seiner Tante, die zwar das beste für ihn wollte, doch gegen seine zukünftige Frau herablassend & abweisend war. Wie konnte sie so etwas sagen, war er selber blind oder war sie es? Ließ ihre Eifersucht sie so unangemessen reagieren? Das Gespräch ließ ihn nachdenklich & verunsichert zurück, seine Tante hatte ihm ins Gewissen geredet, ihm eine Seite gezeigt, die er bisher weder an Silvia noch an Marie zu erkennen vermochte, und doch hatte sie irgendwie recht, denn seit er mit Silvia zusammen war, lebte er ständig in Furcht, etwas falsch zu machen, zu wenig für sie zu tun, zu viel zu arbeiten, alles brachte ihn seither aus dem Konzept. Doch wenn die Hochzeit erst vorüber wäre, würde es sich einrenken, würden sich seine Sorgen erübrigen, dies war die einzige Antwort, die einzige Hoffnung, welche ihm einfiel. Wie einen Rosenkranz wiederholte er für sich immer wieder diesen einfältigen Satz. Doch niemand wusste es, die Tage vergingen schnell, sie waren schon leicht abzählbar, es blieb keine Zeit mehr für einen Aufschub, für irgendwelche Überlegungen, jedes Innehalten seinerseits würde Silvia falsch auslegen, alles wäre auf eine Flucht hinausgelaufen, doch Alexander war sogar trotz seiner grundsätzlichen Verliebtheit dieser Gedanke bereits gekommen, vor allem da Silvia fortfuhr, ihre Launen an ihm auszulassen und kaum ein Treffen verging, an dem sie sich nicht stritten. Er versuchte, keine Anlässe zu liefern, jede noch so kleine Frage zu umgehen, doch jedes Wort, jede Geste konnte das Fass zum Überlaufen bringen, und wenn er alles richtig zu machen schien, kam sie mit völlig unvorhersehbaren Behauptungen, mit irrwitzigen Konstruktionen, die auf ihre bereits krankhafte Eifersucht hindeuteten. Alexander wusste längst, dass es ihr lediglich an Selbstvertrauen fehlte, an Bewusstsein überhaupt, fand aber keine Möglichkeit, ihr das zu sagen oder ihr zu helfen außer durch Geduld & Liebe, die er ihr immer & immer beteuern & beweisen musste. Sie brauchte eben noch Zeit, und daran hing er seine Hoffnung. 564 Der Hochzeitstag verging schneller als erwartet, alles lief nach Plan, sein Vater hatte die Organisation in die Hand genommen und ein wunderbares Fest ausgerichtet. Sogar Silvias Vater war rechtzeitig da gewesen, die Väter hatten sich bekannt gemacht und artig nebeneinander gesetzt, es war eine kleine doch allerfeinste Hochzeitgesellschaft, die Gäste sahen zufrieden aus, waren guter Dinge, und die Braut war so bezaubernd wie eine Märchenfee. Tante Marie ließ sich nichts anmerken, sie lächelte in jedem Augenblick, trug einen hübschen Hut, ein seidenes hellblaues Kostüm und bewegte sich sicher neben Alexanders Vater, beinah, als wäre sie die Mutter des Bräutigams. Sie war es schließlich, die ihre Schwester Rahel vertrat an diesem Tag aller Tage, und auch Herr Sommerfeld genoss sichtbar ihre Nähe, ihre Schönheit, ihre Eleganz. Ihre Augen ruhten nur auf Alexander, ihr Herz weinte um ihn, während ihre Lippen lächelten, ihre Sorge galt nur ihm, ihr Segen, ihre Sehnsucht, ihre Wünsche für seine Zukunft, sie mochte sich nicht ausdenken wie nun alles werden würde, welches Schicksal auf Alexander wartete, was ihm sein Leben an der Seite dieser Frau bringen würde. Doch sein Herz hatte sich für sie entschieden, und diese Entscheidung musste sogar Marie hinnehmen. Doch zuinnerst wusste sie, dass diese Ehe unter keinem guten Stern stand, dafür war Silvia viel zu seltsam, zu ungebildet, sie schätzte in Maries Augen Alexander nicht, hatte keine Ahnung, wer er war und würde es auch nie begreifen. Maries Urteil über sie war gesprochen, ein hartes unveränderbares Urteil, das wie ein böses Orakel über ihr hing und keinen Segen für die Braut bereit hielt. Silvia freilich hatte keine Ahnung von den tatsächlichen Gedanken Maries, und doch ging auch sie ihr aus dem Weg. Alexander war nun einmal verliebt in Silvia, das verstand sogar Marie, und bei aller Schwierigkeit war er doch auch zuversichtlich und freute sich auf sein neues Leben als Ehemann. Die Hochzeitsnacht verbrachten sie in einem Hotel in Stockholm, später im Sommer würden sie ihre Hochzeitsreise nach Venedig 565 angehen, darauf freuten sie sich, anders und schneller war es wegen Silvias Dienstplan nicht möglich gewesen. Bereits in dieser ersten Nacht kam es wieder zu Streit, Alexander fand, dass Silvia & er viel zu müde & erschöpft waren nach diesem anstrengenden Tag, nach all den Tagen davor, um unbedingt miteinander zu schlafen. Er schlug vor aus Rücksicht auf ihre und seine Müdigkeit und da ohnehin unendlich viel Zeit, wie er meinte, vor ihnen lag, lieber zu schlafen und nicht krampfhaft alles durchzuziehen. Doch Silvia drehte durch, war weder bereit, mit ihm ins Bett zu gehen noch es bleiben zu lassen, fand das eine wie das andere roh & rücksichtslos. Aus Furcht, die anderen Gäste könnten von ihrem Streit aufwachen und weil er diese Nacht nicht entweihen wollte, zog Alexander seinen Mantel an und ging aus dem Haus. Hinunter zum Hafen wie schon früher manchmal, um nachzudenken, Klarheit zu gewinnen, auszulüften, den Kopf frei zu bekommen von den ängstlichen Gedanken, die ihn besonders jetzt bedrückten. Er war auch verletzt, er wollte allein sein, keine Ausflüchte, keine Entschuldigungen suchen, sondern einfach ans Wasser gehen, in den Himmel schauen, niemanden sehen, und er spürte wie heiße Tränen über seine Wangen zu rinnen begannen, ließ ihnen endlich freien Lauf, ergab sich dem Weinen, vielleicht wurde sein Herz davon leichter, denn sein Glück hatte sich bereits in Unglück verwandelt. Als er ein enges Gässchen entlanggeht, kommen ihm just sein Vater und sein Schwiegervater entgegen. Alexander kann nicht weg, ein Zusammentreffen lässt sich nicht verhindern, und dies zu einer Stunde, da wohl alle denken, das Brautpaar würde sich miteinander vergnügen, die Hochzeitsnacht in Glück & Freude verbringen, all die romantischen Vorstellungen bedienen, welche gewöhnlich um dieses Ereignis kreisen. Doch nun stand Alexander den beiden Männern gegenüber. Alexanders Vater erkannte sofort, was los war, während der andere den Bräutigam scharf zur Rede stellte. Wo es das gäbe, dass eine Braut in der Hochzeitsnacht alleine wäre, wo um Himmels Willen seine 566 Tochter sei. Alexander konnte sich später an nichts erinnern, sein Vater erzählte es ihm nach Jahren erst, sodass er eine Idee davon bekam, was dieser damals für ihn getan hatte. Wie schwer musste es für seinen Vater gewesen sein, für diese Situation eine Erklärung zu finden, seinem Sohn in diesem Moment zu helfen. Gerade hatten sich die beiden Väter etwas angenähert, waren ein klein wenig weinselig & angeheitert unterwegs, da kam ihnen mir nichts dir nichts ein verzweifelter Bräutigam entgegen. Alles andere hätten sie jetzt erwartet, nur nicht dies, selbst eine königliche Limousine, welche vor ihnen gehalten hätte, um nach dem Weg zum Palast zu fragen, wäre normaler gewesen. Herr Sommerfeld konnte nichts tun als seinen Sohn in die Arme zu nehmen und mit ihm zu weinen. Silvias Vater dachte zunächst, er hätte zwei Irre vor sich, doch für die beiden war es selbstverständlich, Freude & Leid miteinander zu teilen, und sie schämten sich nicht, es zu zeigen. Und doch, in diesem Augenblick muss auch dem anderen klar geworden sein, dass seine Tochter vielleicht nicht ganz bei Trost war, es womöglich an ihr lag, an ihrer Kindheit, der Abgeschiedenheit, in der er sie nach dem Tod seiner Frau erzogen hatte, und dies vielleicht die Gründe sein mochten, warum es nun mit Silvia nicht klappte und auch er nicht anders konnte als andere in Schwierigkeiten zu bringen. Ein jeder schließlich sah, Alexander und sein Vater, sie waren gute Leute, großzügig, verständnisvoll, bestimmt nicht hochmütig oder herablassend. Man sah ihnen ihre Bildung, auch ihre Herzensbildung an, sie hatten Charakter, waren zwar reich aber dennoch einfach im Umgang. Alexander hatte sich in seine Tochter Silvia verliebt, obwohl sie nichts darstellte, ein schlecht ausgebildetes Mädchen vom Land war, dennoch war er bereit gewesen, sie zu heiraten. Für den Augenblick beschämten sie ihn sogar, doch später bei Tageslicht betrachtet, fiel auch er wieder zurück in seine alten misstrauischen Ansichten. Alexander & Silvia zogen in eine eigene Altbauwohnung, und 567 zunächst arbeiteten sie beide am selben Krankenhaus, wenn auch auf verschiedenen Abteilungen. Wer jeweils früher vom Dienst nach Hause kam, heizte den eisernen Ofen ein, bereitete das Essen zu. Silvia hatte große Schwierigkeiten mit dem Einheizen, das Feuer ging ihr meistens aus, einmal war das Holz zu nass, einmal stopfte sie zu viel Papier hinein, ein andermal zu wenig, und wenn sie sich inzwischen seelisch auch etwas stabilisiert hatte, konnte sie doch immer wieder wegen Kleinigkeiten oder aus Gründen, die außerhalb ihres gemeinsamen Lebens mit Alexander liegen mussten, die Nerven verlieren. Alexander absolvierte seinen Turnus, war bald Assistenzarzt, entschied sich für die Ausbildung als Kinderfacharzt, durchlief fast mühelos die Jahre seiner Spezialisierung, denn die Arbeit machte ihm Spaß, und eines Tages kam er mit einer Idee nach Hause, die ihrer beider Leben mit einem Schlag verändern sollte. Er breitete auf dem Küchentisch ein buntes Dossier aus, eigentlich eine Werbebroschüre, die Ärzte animieren & ermuntern sollte, in armen Ländern Entwicklungshilfe zu leisten. Dritte Welt, Erfahrung im Ausland, Unterstützung für Afrika, Asien, Lateinamerika. Vom Amazonas bis zum Mekong. Der Idealismus wurde angesprochen, die Humanitas, die Caritas, die Verantwortung, die Nächstenliebe, die Forschung, große Wörter, große Möglichkeiten, ein Traum von Freiheit, unterlegt mit Fotographien, welche Ärzte & Schwestern in den entlegendsten Gebieten der Erde zeigten, umringt von kleinen schwarzen Kindern, ganz nackt oder kaum bekleidet, dankbaren Müttern, die ohne solche Projekte der Armut, dem Hunger, dem Tod preisgegeben wären, so die logische Erklärung. Werden auch Sie Mitglied in unserer Vereinigung, die sich den Kampf für eine bessere Welt zum Ziel gesetzt hat, welche die Linderung der Not, die Heilung von Krankheiten und ein Leben in Würde auch in den ärmsten Ländern unseres Planeten ermöglicht. Widmen Sie einige Jahre ihres Lebens einer wirklich guten Sache! 568 Investieren Sie in die Zukunft, helfen Sie uns helfen… . Es handelte sich konkret um ein medizinisches Entwicklungs-hilfeprojekt in Zentralafrika. Alexander wollte das Prospekt Silvia nur zeigen, er hatte nicht vorgehabt, sie zu überreden, nicht im Traum daran gedacht, sie zu einer Zustimmung zu bewegen. Doch sie war sofort begeistert, verdrehte die Augen, seufzte und meinte lapidar, dann brauchen wir wenigstens nicht mehr einheizen und uns darüber streiten, wer es tut. Alexanders Vater war zwar besorgt, doch nicht dagegen während Silvias Vater darauf bestand, persönlich unterrichtet zu werden. So machten sie sich eines Tages auf den Weg hinauf in den Norden, wo sie nach einer langen beschwerlichen Reise bei Wind & Wetter wieder abweisend empfangen wurden. Silvias Vater war strikt dagegen, er wollte seine Tochter nicht nach Afrika! Afrika! fliegen lassen, war es doch schlimm genug, dass er sie nach Stockholm verloren hatte. Hörte es denn nie auf, war sie denn noch immer nicht weit genug fort von ihm, hatte sie ganz vergessen, dass er sterben könnte, nicht mehr unendlich viel Zeit auf Erden hätte, dass es eines Tages für alles zu spät sein könnte! Ohnehin würde sie nicht zurückkommen wie anfangs vereinbart, ohnehin hätte er keine Enkelkinder bei sich, ohnehin war er längst der Einsamkeit anheim gegeben. Jetzt konnte er nicht einmal mehr nach Stockholm reisen, um sie zu sehen. Er hatte also recht behalten, hatte es gewusst, es war soweit, seine Tochter hatte vor, ihn vollkommen & endgültig zu verlassen. Du bringst sie mir persönlich hierher zurück, hörst du, Alexander!, Schwiegersohn, persönlich! Ich werde hier sein und warten, die drei Jahre werden vergehen, ich werde mir etwas ausdenken, um sie zu überstehen, aber du musst mir versprechen, sie zurückzubringen. Und es ist das letzte Mal, es wird keine weiteren Jahre außerhalb Schwedens für sie geben. Alexander versprach es, auch ihm war es ernst, er hatte Mitleid mit Silvias Vater, verstand ihn nur zu gut, wusste, was es bedeutet, 569 vom einzig geliebten Menschen getrennt zu sein, kannte das Wort „Warten“ in seiner innersten, seiner schwersten, seiner hauptwörtlichen Bedeutung. Mit diesem Versprechen verließen sie ihn. Die nächste Zeit war geprägt von umfangreichen fachlichen & persönlichen Vorbereitungen, Sprachkursen, Spezialausbildungen, Informationsabenden. Herr Sommerfeld verabschiedete die beiden schließlich auf dem Flughafen von Stockholm, auch ihm musste heilig versprochen werden, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, regelmäßig, also mindestens alle zwei Wochen zu schreiben, damit wenigstens ab & zu etwas Post ankam. Er wollte sich mit Silvias Vater kurzschließen, ihn nach Möglichkeit besuchen, eine eigene Korrespondenz mit ihm pflegen. Dennoch schmerzte es, Alexander gehen zu lassen, seine junge Frau Silvia, die Herr Sommerfeld liebgewonnen hatte, auch er sorgte sich, er gab nur vor, guter Dinge und voller Zuversicht zu sein, während sein Herz rasend klopfte und gegen seine Brust hämmerte, als wollte es demnächst herausspringen. Als sie außer Sichtweite waren, rannen ihm die Tränen die Wangen hinunter, wischte er sich mit Tüchern & Ärmeln das Wasser aus den Augen, dem Gesicht. Zitternd drehte er sich um, verließ, ohne sich noch einmal umzuwenden, die Halle. Ein schwerer Abschied für alle, voller Bedrückung & Sorge. Aber so ist es, dachte er, man muss die Kinder eines Tages gehen lassen, man darf sie nicht zurückhalten, so schwer es auch fällt, so weh es auch tut, sie gehören einem nicht, auch nicht, wenn es nur ein einziges ist. Und er begann mit Rahel zu reden, mit Rahele, und sie gab ihm recht, sie verstand ja alles, sie war ja im Himmel gleichermaßen wie auf Erden, ach, was täte er ohne sie! Wie gut, dass er seiner Arbeit nachgehen konnte, so verging die Zeit, schon war der erste Tag vorüber, morgen der zweite, bald die ganze Woche und so weiter und so weiter. Die Tage würden sich aneinander reihen, Woche an Woche, ein 570 Monat ist fast nichts, zwölf davon gibt es pro Jahr, vierundzwanzig mal Post, das ganze wiederum drei mal. Ach, es war schon nicht mehr aussichtslos, er würde den beiden ein hübsches Häuschen kaufen, vielleicht gar bauen lassen, was insofern besser wäre, als es Zeit bräuchte, die wiederum gerade darum schneller verrinnen würde. Er nahm sich so viel vor, dass er beinahe Eile hatte, sich sputen musste, um alles planmäßig & rechtzeitig zu ihrer Rückkehr fertig zu haben. Herr Sommerfeld wartete quasi professionell, arbeitete viel & effektiv, wenn sie, er & sein Sohn, etwas konnten, dann dies, Alexander würde gewiss wie er ihn kannte, dasselbe tun und auf diese Weise seine Zeit, sein Heimweh verkürzen. Über die längsten Strecken & Entfernungen hinweg konnten sie so einander nahe sein, waren es immer gewesen, jetzt gereichten ihnen die Ereignisse der Vergangenheit zum Trost, ließ sie alles durchstehen & erträglich werden. Doch auch der junge Alexander war schließlich nicht leicht gegangen, sorgte sich nicht weniger um seinen Vater, wusste wie es um ihn, um sie beide stand, auch er weinte, auch er wischte sich die Tränen aus den Augen während Schweden unter ihm & Silvia in der Ferne verschwand. Das Flugzeug brachte sie weit fort, unvorstellbar weit, und doch, er würde zurückkehren; würde in Afrika Gutes tun, viel lernen, um letztlich auch in seinem Land besser helfen zu können. Seine Gedanken waren idealistisch, Gedanken wie diese gehörten zur Jugend, Gedanken wie diese mussten nun in die Wirklichkeit umgesetzt werden, auf dass er später einmal seinen Kindern vielleicht, seinen Enkelkindern davon erzählen konnte. Er gehörte zu keiner Generation, von der verlangt wurde, in den Krieg zu ziehen, sein Land war neutral, der geographisch so nahe Holocaust war an ihm vorüber gegangen, er kannte nur Frieden, hatte immer alles gehabt außer einer Mutter, und war er es nicht gerade ihr und gerade deswegen schuldig, aus seinem Leben etwas besonderes zu machen! Nein, nicht kleinmütig & engstirnig wollte er werden, sondern großherzig & 571 mutig, auch wenn er in Wahrheit Angst hatte zu versagen. Auch gab ihm seine Ehe einiges Kopfzerbrechen auf, Silvia hatte sich als schwierig herausgestellt, als unsicher, und doch, sie war jetzt seine Frau, mit der er alles meistern konnte, mit seiner Entscheidung für sie war sie auch sein Schicksal geworden, seine Zukunft, seine Familie, sein Leben. Er trug nun auch private Verantwortung, eine Verantwortung, an die er nicht dauernd erinnert sein wollte, auch wenn sie zu ihm gehörte, er sich dafür freiwillig & bewusst entschieden hatte. Die berufliche Seite seines Lebens würde ihn halten, ihm Sicherheit geben, schließlich Sinn. Es war ihm bereits klar, dass er daraus seine Stärke ableiten würde, dort seine Ziele liegen mussten, denn nach allem, was zwischen ihm & Silvia bereits geschehen war, hatte sich eine gewisse Ernüchterung in ihm breit gemacht, ihm Wind aus den Segeln genommen, auch ein wenig die Zuversicht, welche ihm sein erfolgreiches Studium gegeben hatte. Alexander wusste schon jetzt, dass seine Ehe nicht unkompliziert verlaufen würde, Silvia viel zu viel Schweres, Vergangenes, Unbewältigtes mit sich trug, was sich wahrscheinlich nicht übergehen ließ, nicht lösen, ohne es aufzulösen, nicht überspringen, sondern immer wieder zu Tage treten würde, vielleicht gerade dann, wenn genug anderes seine ganze Kraft erforderte. Er war guten Willens, sein Bestes zu geben, Silvia, so schwer es ihm manchmal erschien, zu lieben, ihr in allem beizustehen, über vieles hinwegzusehen, ohne es zu übersehen. Noch hatte er keine Ahnung, wie es in Afrika laufen würde, welche Aufgaben auf ihn warteten, es war ein Schritt ins Ungewisse, und doch, wie könnte es anders sein? Zu allen Zeiten war es so gewesen, niemand weiß schließlich, niemand wusste es jemals, und war es nicht gut so!? Was jetzt & ferner auch vor ihm liegt, was die Zukunft bringt, er muss zuversichtlich bleiben, Vertrauen haben, mutig sein. Alexander lenkte den Blick auf Silvia, die neben ihm saß, verloren zum Fernster hinausschaute, bald einschlief. Ihr Kopf sank an 572 seine Schulter. Er war es, der jetzt stark sein, ihr Halt geben musste, in seinen Händen lag ihr Glück, und wenn er es schaffte, würden sie beide es gut haben. Er war jetzt nicht nur fertiger Arzt, sondern auch Ehemann, vielleicht bald Vater, wer weiß, es war sein Leben, das nun begonnen hatte, und er war allein, auch wenn die guten Gedanken seines Vaters ihn immer & überall hin begleiteten, doch jetzt ließ er ihn zurück, seinen lieben Vater. Doch war es nicht immer so gewesen, und ist es nicht einerlei, ob tausend oder zehntausend Kilometer zwischen ihnen liegen? Sie gehören zusammen auf immer, und ihre Gedanken & Wünsche weilen verlässlich beieinander. Das einzige, was fähig wäre, sie zu trennen, bleibt der Tod, und doch ist die Entfernung von seinem Vater bereits die Vorbereitung darauf, die Generalprobe für seine wirkliche Einsamkeit auf Erden, für jene, hoffentlich späte Zeit, wenn er einmal niemanden mehr hinter sich haben wird, die letzte Katastrophe vor dem eigenen Sterben. Sein Vater hatte ihn gehen lassen & gehen lassen müssen, und zum ersten Mal fühlte er sich erwachsen, wusste er, was es mit diesem Wort für eine Bewandtnis hatte. Es war nun mit allem ernst geworden, und doch, war es nicht so gut wie allen Männern, ganz gleich, welcher Zeit, welchem Volk sie angehörten, vor ihm ähnlich ergangen? Er fühlte sich eins mit ihnen, ob in Schweden, in Russland, in China, wo auch immer. Sein eigener Weg führte ihn nun nach Schwarzafrika, sein Beruf, den er gewählt hatte, gab ihm die Möglichkeit, dies zu tun, und zum ersten Mal vielleicht in der ungeschriebenen Geschichte seiner Familie, betrat jemand die Mitte dieses, des Schwarzen Kontinents. Doch er war auch glücklich, jetzt in diesem Augenblick, er wollte ihn genießen, sich immer seiner erinnern, ihn nie vergessen, eines Tages davon erzählen können, auch wenn noch alles vor ihm und in weiter, weiter Ferne lag. Sich merken, welch‘ bange Gedanken ihn bewegt hatten, welche Schüchternheit trotz allen Mutes, aller Hybris in ihm gewesen war, doch jetzt musste er erst einmal seine Aufgaben bewältigen, seine und vor allem die Erwartungen 573 anderer erfüllen. Über diesen Gedanken überkam ihn die Müdigkeit, sodass er einschlief, genau wie Silvia, und schlafend erreichten sie nach vielen, vielen Stunden die Zentralafrikanische Republik, das Ziel ihrer Reise, den Ort ihrer Arbeit. Sie bekamen eine jener kleinen Hütten zugeteilt, die dem Personal vorbehalten waren, und es gab kein Ehepaar außer ihnen, alle anderen waren allein gekommen, wohnten in Gemeinschafts-unterkünften oder mit einem Freund, einer Freundin zusammen, selbstverständlich streng nach Geschlechtern getrennt. Es gefiel ihnen allen sofort, alles war einfach, doch zweckmäßig, klein, aber ausreichend. Silvia & Alexander verfügten sogar über eine kleine Küche, eine Schlafnische mit einer großen durchhängenden Pritsche aus geflochtenen Lianen, eine Bank mit einem Kuhfell darauf, alles auf gestampftem Boden, elektrisches Licht gab es keines. Einige Truhen, die wohl von auswärts oder früheren Bewohnern stammten, standen herum, die Tür verschloss man mit einem Holzgitter, Kerzen & Streichhölzer konnte man sich zuteilen lassen. Zuerst erhielten sie eine Führung durch die Wohnanlage, bekamen die wichtigsten Dinge erklärt, welche das private Leben und die Organisation des Lagers betrafen, anders konnte diese Hütten-Ansammlung ja nicht genannt werden. Jeder begriff sofort, dass es mit Feierabend oder Unterhaltung, wenn es denn so etwas geben sollte, nicht weit her war. Dennoch war man guter Dinge, durfte sich wenigstens nach den Strapazen der Anreise und der Einführung einmal eine Woche lang akklimatisieren, dann erst würde die letzte Mannschaft, welche bisher hier tätig gewesen war, abreisen, und für den Augenblick waren alle erschöpft & zufrieden. Die ersten drei Tage & Nächte schliefen Silvia & Alexander, brauchten weder Nahrung noch Wasser. Die schier außerirdische Hitze weckte sie schließlich, die Kleider klebten an ihrer Haut, 574 ihre Schleimhäute sogar waren ausgetrocknet. Als sie die Augen aufschlugen, sahen sie ein schwarzes, spärlich bekleidetes Mädchen in der Tür stehen, das ihnen scheinbar zugeteilt war und auf Anordnungen wartete. Als diese nicht daherkamen, sondern die beiden auf der Pritsche sie nur anstarrten, ging sie hinaus und brachte zwei Tongefäße mit Wasser. Sie stürzten sich darauf, tranken alles in einem Zug aus und übergaben sich auf der Stelle mitten auf den Boden. Das Mädchen wischte stoisch alles mit einem struppigen Besen aus dem Häuschen hinaus vor die Tür, wo die Flüssigkeit im Nu verschwunden war. Als es zurückkam, schlief das Ehepaar bereits wieder. Silvia & Alexander sollten mehr als vier Wochen brauchen, ehe sie einsatzbereit, also sicher auf zwei Beinen stehen konnten und gleichzeitig bei Verstand waren. Das ständige hin & her zwischen Trinken & Erbrechen hatte sich so lange fortgesetzt, hinzu kamen Durchfall, Fieber, Zittrigkeit, abgrundtiefer Schlaf, hektisches Aufwachen, Schwindel, Schwäche, und nur schemenhaft nahmen sie in einigen wacheren Momenten ihre Bedienstete war, die andauernd damit beschäftigt zu sein schien, sie irgendwie zu tränken und mit Not am Leben zu erhalten. Ab & zu kam ein weißer Mann, wahrscheinlich ein Arzt, legte ihnen eine Infusion, gab jedem eine Spritze, später schüttete das Mädchen eimerweise Wasser über sie, entfernte sich wieder. Irgendwann, eines Nachts dann, standen sie auf, traten aus der Behausung und sahen über sich einen Sternenhimmel, der so hell war, dass sie in der Dunkelheit einander erkennen konnten. Die Hitze in ihren Körpern war vorüber, sie fühlten sich hohl & leer, doch gesund, endlich wieder wach und klar im Kopf. Der Weg aus der Kälte Skandinaviens in die Hitze Afrikas hatte erst nach der Landung begonnen, denn ihre Körper ließen sich nicht überlisten, nicht betrügen. Noch lange kämpften sie gegen das Klima, denn nicht nur die Seele war noch in Schweden. Langsam nur betraten sie den fernen Kontinent, langsam nur wurden sie brauchbar, langsam nur erlangten sie den Punkt, ab 575 dem sie selber helfen konnten und ihnen nicht mehr geholfen werden musste. Die meisten anderen waren bereits in den Dschungel, die Dörfer gefahren, hatten sich schlau gemacht über alles Mögliche, das zentrale Krankenhaus, die kleinen Stationen & Camps außerhalb, kannten sich längst aus, nicht so das Ehepaar Sommerfeld. So in etwa schilderte Alexander mir im Jahr 1993 seine erste Ankunft in Afrika vor inzwischen beinahe dreißig Jahren. Als Silvia nicht mehr lebte, kam er noch mehrmals zurück nach Afrika, blieb für Jahre, ließ sogar seinen Vater kommen, der auf die Idee kam, draußen in der Wildnis, wo es bisher nur wandernde Lazarette gab, ein Krankenhaus zu bauen. Auch Alexander war dieser Gedanke schon gekommen, doch sah er derweil keine Möglichkeit, ein Projekt dieser Größenordnung in Angriff zu nehmen, war noch viel zu beschäftigt mit der aktuellen Arbeit, hatte für sich ein Forschungsgebiet entdeckt und verfolgte zunächst neben den eigentlichen Aufgaben, vor allem diese Idee. Auch hatte Alexander keine Ahnung, dass sein Vater auf der Suche nach etwas war, das seinem Reichtum einen Sinn zu geben vermochte. Während Herr Sommerfeld seinen Sohn besuchte, im Zentralkrankenhaus oder auch einer Dschungelstation auf ihn wartete, gingen ihm ununterbrochen diese Überlegungen durch den Kopf. Wie es inzwischen seine selbstverständliche Art war, unterhielt er sich mit Rahel über alles, überredete sie, und mit ganz konkreten Vorstellungen fuhr er eines Tages zurück nach Schweden, um nach einem halben Jahr mit einem Architekten wiederzukommen, der bereits die fertigen Pläne in der Tasche mit sich führte und einem verdutzten Alexander vorlegte. Ein klassizistisches Haus sollte es nach seines Vaters Vorstellung werden mit einem antiken griechischen Portikus, mit weißen Säulen und im dreieckigen Giebel des Eingangsbereichs musste stehen in Stein gemeißelt: VON RAHEL & ALEXANDER. Fast konnte man meinen, es wäre ihm nur darauf angekommen, so 576 wichtig war ihm dieses Detail. Als Alexander die Pläne zum ersten Mal sah, sogar ein kleines papierenes Modell wurde auseinandergefaltet, hielt er seinen Vater zwar für übergeschnappt, doch freute er sich auch über diese Geste, erkannte zum ersten Mal, dass er wohl aus einem wirklich reichen Hause stammte, denn, wie es aussah, spielte Geld keine besondere Rolle, wie sonst wäre kein einziges Mal ein Wort darüber verloren worden, doch gleichzeitig tat es ihm leid, dass es so mühelos ging. Während Alexander arbeitete & forschte, wuchs das Haus. Sein Vater stellte alles Nötige auf die Beine, ließ einen schwedischen Baumeister mit seinen Männern einfliegen, die nicht eher heimdurften, als bis alles fertig war. Wie ein antiker europäischer Tempel stand es da, das Krankenhaus, umringt von uralten Bäumen. Jedes Mal, wenn Alexander vorbeischaute, um sich mit seinem Vater zu treffen, konnte er sich vom Fortgang des Baus überzeugen. Bald fehlte nur noch die Inneneinrichtung. Nach weniger als zwei Jahren wurde das neue Gebäude in Anwesenheit des Präsidenten sowie der Stammeshäuptlinge in aller gebotenen Feierlichkeit eingeweiht. Aus nah & fern kamen die Leute, schwarze & weiße, vor allem schwarze, Frauen & Kinder, sogar uralte Männer & Medizinmänner, christliche wie muslimische Priester, Magiere, und alle feierten & segneten sie die Errichtung dieses Hauses, Herrn Sommerfeld und seinen Sohn, und Alexander sollte es mir so erzählen: Es gab Schwarze darunter, die hell waren wie ein Milchkaffee und andere blauschwarz wie Heidelbeeren im schwedischen Spätsommer, Frauen mit verstümmelten Nasen & Ohren, tätowierten Gliedmaßen & Gesichtern mit feuerroten Entzündungen, und doch, es hatte wohl alles seine Richtigkeit, es war ein Fest wie es noch keines in dieser Gegend oder sonst wo gegeben hatte. Es wurde die ganze Nacht getrommelt, getanzt, gegrillt, gegessen, getrunken, und mein Vater war der glücklichste von allen, er saß ganz still unter den Menschen, verwundert, 577 entzückt, zwischen Ungläubigkeit & Stolz, zwischen Freude & Leid, zwischen Lachen & Tränen, zwischen Zeit & Ewigkeit, ja, zwischen Himmel & Erde. Und wer hätte es ihm verdenken können, denn seine Augen ruhten auf mir, glänzten wie zwei Sterne, und als er mich zu sich rief, war er nicht imstande, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Tränen der Freude, der Stille inmitten des Lärms ringsherum, Tränen der Sehnsucht nach Mutter rannen ihm die Wangen hinunter, und heute weiß ich, dass sich für ihn der Kreis nun geschlossen hatte und er angelangt war am Ende seines irdischen Weges, am Beginn der Ewigkeit. Und als hätte ich es geahnt, sagte ich zu ihm: Vater, Mutter wäre stolz auf Dich, sodass er antworten konnte, sie ist es, sie ist es, mein Sohn, auf mich und auf Dich, ich glaube, wir haben ihr entsprochen, ich glaube, sie ist zufrieden mit uns, ja, vielleicht sogar stolz! Als wir dieses Zwiegespräch am
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