"Das Rote Wien" - Mag.a Monika Löscher

Monika Löscher
DAS ROTE WIEN
1919-1934
Der Gewinn der Wiener Gemeinderatswahlen 1919 ermöglichte es den
Sozialisten, ihre sozialpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Konzepte in die Praxis umzusetzen. Die Kommunalpolitik wurde zum
großen Spielfeld eines gesellschaftlichen Experimentes, den „Neuen
Menschen“ zu schaffen.
In der sozialdemokratischen Vorstellung sollte die parlamentarische
Demokratie durch einen umfangreichen Sozialkatalog legitimiert werden.
Wenn jeder Mensch von der Idee der Demokratie beseelt sei – so Otto
Bauer,
der
sozialistische
Theoretiker
dann
könne
eine
„Sozialdemokratisierung“
durchgeführt
werden.
“Der
Weg
des
Sozialismus“ sollte durch den „Neuen Menschen“ beschritten werden. Die
„Neue-Mensch-Bewegung“ ist eine österreichische Bildungspolitik der
Austromarxisten, die sich an der Programmatik des Marxismus und der
Werteskala des Bürgertums orientierten. Der „Neue Mensch“ umfasste
folgende Leitgedanken:
1. Die Geschichte ist ein Prozess des ständigen kulturellen Aufstieges.
2. Dieser kultureller Aufstieg bedarf der freien bewussten Tätigkeit
aller Menschen.
3. Die Klassenzuteilung bewirkt eine extreme Verzehrung des
Zuganges zu den gesellschaftlichen Gütern wie Schulbildung,
geregelte Arbeit, materielle Güter wie Grund, Wohnung, Geld.... und
bewirkt für die Mehrheit der Menschen eine „Entwertung,
Entfremdung der Menschenwelt“
4. Die Vererbung sozialer Positionen, gesellschaftlicher Rollen,
materieller Möglichkeiten soll durch die klassenlose Gesellschaft
verhindert werden. 1
Voraussetzung für eine eigenständige Kommunalpolitik war zunächst die
Trennung Wiens von Niederösterreich im Jahr 1922. Die Verhandlungen
erwiesen sich als nicht leicht: alle Landesanstalten und Besitz mussten
neu bewertet werden. Die Trennung war für Niederösterreich nicht
besonders günstig. Es gab keine eigene Hauptstadt und Wien war Sitz der
Landesregierung. Folgende Anstalten kamen unter Wiener Verwaltung:
Am Steinhof, Ybbs, das Zentralkinderheim in Schwadorf, das Seehospiz
Lussinggrande, Eggenburg, die Taubstummenanstalt Wien XIX und die
Landeserholungsstätte Hütteldorf.
1
Helmut Reinfeldt, Familienpolitik im Roten Wien: 1919 – 1934. Exkursion auf der Eisbergspitze. Dipl.Arb.,
Wien 1993, 23.
1
Sozialpolitik der christlich-sozialen Gemeindeverwaltung (18951919)
Karl Lueger war bis zu seinem Tod 1910 Bürgermeister von Wien. Er
kommunalisierte die Gas- und Strombetriebe und baute öffentliche
Verkehrsmittel und Wohlfahrtseinrichtungen aus, um das wachsende Elend
weiter Teile der Bevölkerung zu lindern. Mit seinem „Gas- und
Wassersozialismus“ war ein Grundstein gelegt, auf dem dann später die
Sozialisten in den 20er Jahren aufbauen konnten.
Unter christlich-sozialer Verwaltung entstand eine Kommission mit der
Aufgabe die „humanitären Anstalten“ der Gemeinde zu überwachen. Um
die Jahrhundertwende wurden mehrere Reformen der Armenpflege
beschlossen, wesentlich waren die Schaffung eines „Zentralrates für das
Armenwesen“
und
die
Errichtung
einer
Auskunftsstelle
im
„Zentralarmenkataster des Magistrates“. Aufgabe des Zentralrates war es
u.a. mit der privaten Armenpflege zusammenzuarbeiten. Zwar setzte sich
immer mehr die Ansicht durch die Armenpflege zu verbessern, allerdings
war die In-Hilfe-Nahme kommunaler Dienstleistungen immer noch an die
Heimatzugehörigkeit beschränkt.
Situation nach dem Ersten Weltkrieg
Der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie brachte auch einen
Zusammenbruch der bisherigen Gesellschaftsordnung. Das Wien der
Nachkriegszeit war geprägt durch eine große Hungersnot, die medizinische
Versorgung war unzureichend und es mangelte an Heizmaterial. Die
heimkehrenden Soldaten fanden schwer Arbeit und viele von ihnen
prägten schwer traumatisiert von den Fronterfahrungen als sogenannte
Kriegsneurotiker und „Zitterer“ das Stadtbild. Es herrschte eine akute
Wohnungsnot und es gab die „Bettgeher“, die sich keine eigene Wohnung
leisten konnten, und die nur gegen Miete zu genau festgelegten Stunden
ein Bett in einer Privatwohnung benutzen durften. Aufgrund der
ungünstigen Wohnverhältnisse – dunkle, feuchte und meist überbelegte
Wohnungen – konnten sich Krankheiten leicht verbreiten. So wurde die
Tuberkulose auch „Wiener Krankheit“ genannt, da Wien davon besonders
betroffen war. Die Inflation konnte zwar mit den Genfer Anleihen 1922
gestoppt werden, die Wirtschaft hatte aber nur kurz Zeit, sich zu erholen.
Die Weltwirtschaftkrise 1929 verschärfte die schwierigen Wirtschafts- und
Lebensbedingungen und Massenarbeitslosigkeit wurde so zu einem
Dauerphänomen.
2
Wien – die erste sozialdemokratisch regierte Millionenstadt
Europas
Die
sozialistische
Kommunalpolitik
umfasste
neben
dem
Wohnungsbereich, dem Erziehungs- und Kulturbereich vor allem das
Fürsorge- und Gesundheitswesen. Diese vier Bereiche wurden nun nach
sozialistischen Vorstellungen und Überlegungen gestaltet. Wesentlich
geprägt wurde diese Politik von Hugo Breitner, dem Stadtrat für Finanzen,
und dem Anatomen Julius Tandler, dem Stadtrat für Wohlfahrt und
Gesundheit. Eine Unzahl von Reformen wurde im Bereich des
Armenwesens,
des
Gesundheitswesens
und
dem
Schulund
Bildungswesen durchgeführt. Finanziert wurde es durch das „Breitnersche
Steuersystem“, das eine Fürsorgeabgabe und die Wohnbausteuer
beinhaltete.
Sozial- und Fürsorgepolitik
Julius Tandler, der Stadtrat für Wohlfahrt und Gesundheit, legte am 30.
Juni 1921 dem Gemeinderat seine vier Grundsätze vor2:
1. Die Gesellschaft ist verpflichtet, allen Hilfsbedürftigen Hilfe zu
gewähren.
2. Individualfürsorge
kann
rationell
nur
in
Verbindung
mir
Familienfürsorge geleistet werden.
3. Aufbauende Wohlfahrtspflege ist vorbeugende Fürsorge
4. Die Organisation der Wohlfahrtspflege muss in sich geschlossen
sein.
Die Ausgaben für das Fürsorgewesen und das Gesundheitswesen betrugen
je 20% des Budgets der Stadt. Die Erfolge wurden jedoch schnell sichtbar:
Die Säuglingssterblichkeit ging stark zurück und auch die Tuberkulose
nahm ab.
Eugenik in der Volkswohlfahrt
Tandlers Fürsorgekonzept orientierte sich an einem produktiven,
leistungsfähigen „Volkskörper“ als Ganzem. Der Großteil der Investitionen
der Fürsorge in den Einzelnen wurde in der Überzeugung getätigt, dass
damit das Ziel künftiger Kostenersparnis und effizienter Verwaltung des
„Volkskörpers“ - des „organischen Kapitals“ - zu erreichen sei. Im „Roten
Wien“ wurde den Fürsorgebedürftigen ein „Recht auf Fürsorge“
zugestanden, gleichzeitig erwartete man die „Pflicht zu angepasstem
Verhalten“. Fürsorge war im „Roten Wien“ mehr als gesundheitspolitische
Präventionsstrategie. Von immenser Bedeutung war die erzieherische
Absicht,
ein
Verantwortungsgefühl
zu
erwecken
und
verantwortungsbewusste Proletarier zu schaffen.
2
Karl Sablik, Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer. Wien 1983, 205.
3
Ziel der Fürsorge war es, sich eines Tages selbst überflüssig zu machen.
Diese Zukunftsvision formulierte Tandler im Mai 1931 anlässlich der Bilanz
„Zehn Jahre Wohlfahrtsamt“: Wir alle, Ärzte, Sozialbeamte, Schwestern
und Fürsorgerinnen, Helfer und Helferinnen auf allen Gebieten
menschlicher Not, wir haben daran zu arbeiten, uns selbst überflüssig zu
machen. Zehn Jahre Weg haben uns noch lange nicht zum Ziele geführt.
Vor uns liegt in weiter Ferne das Ziel unserer Selbsterübrigung, das Ende
des Elends und der Not. [Das Wohlfahrtsamt der Stadt Wien und seine
Einrichtungen 1921-1931 (Wien 1931), Vorwort]
Dieses „präventive Konzept“ brachte eine besondere Betonung der
Jugendfürsorge mit sich, die als „Fundament jeder Fürsorge“ galt und die
Entstehung
sozialen
Elends
und
körperlicher
wie
geistiger
„Minderwertigkeit“ bereits im Keim ersticken sollte. [Tandler, Gefahren der
Minderwertigkeit, In: Das Jugendhilfswerk. Jahrbuch 1928, Wien 1928, S.
3-22]. Die Wohlfahrtsphilosophie verdichtet sich im berühmten Spruch
Tandlers: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“ Tandler
forderte nun Maßnahmen gegen die „körperliche und geistige
Verwahrlosung“ der Jugend. Er unterschied dabei zwischen jenen Kindern,
die, selbst wenn sie aufwendiger finanzieller Zuwendung bedurften, eines
Tages die in sie investierten Gelder wieder „abarbeiten“ und an die
„Allgemeinheit“ zurückzahlen können würden und jenen „Minderwertigen“,
die nicht Werte schaffen, sondern nur konsumieren würden. Sein Ziel war,
dass ein Teil der Fürsorge, nämlich der Bereich der Erwachsenenfürsorge,
eines Tages überflüssig werden sollte. Dies konnte dann gelingen, wenn
man Kindern aus allen sozialen Schichten eine möglichst gute Erziehung
und Ausbildung ermöglichte, sie geistig und körperlich förderte; dann
würden sie später keine kranken Erwachsenen werden. Somit stellt das
Programm Tandlers ein Beispiel einer eugenisch motivierten Sozialpolitik
dar, in der Wohlfahrtsinstitutionen eine Vermittlungsinstanz zwischen
staatlicher Politik und Bevölkerung einnahmen.
Bevölkerungspolitik im „Roten Wien“
Ziel und Aufgabe von Bevölkerungspolitik war nach Tandler „die
Bewirtschaftung des organischen Kapitals, das durch die in einem
Gemeinwesen lebende Menschheit dargestellt ist.“ Als amtsführender
Stadtrat für das gesamte Wohlfahrtswesen oblag nun ihm die Aufgabe als
„Verwalter des organischen Kapitals“ tätig zu sein. Julius Tandler
differenzierte zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem Leben“ und
leitete
hiervon
seine
Unterscheidung
von
„produktiven“
und
„unproduktiven“ bevölkerungspolitischen Ausgaben ab. Unproduktive
Ausgaben waren für ihn Ausgaben für „Alte, Gebrechliche, Sieche, Irre,...“
[Tandler, Ehe- und Bevölkerungspolitik, In: Wiener Medizinische
Wochenschrift 74, (1924), Sonderabdruck im Josephinum] Produktive
Ausgaben, also Gelder, die vor allem in die Jugendfürsorge gingen, sollten
überwiegen, dann sei das Wohlfahrtsbudget vom Standpunkt der
Bevölkerungspolitik in Ordnung. Die Aufstellung des Budgetvorschlages im
4
Wiener Gemeinderat war zumindest unterschwellig von diesem dualen
Denken, das seinen Niederschlag in „bevölkerungspolitisch produktive“
und „bevölkerungspolitisch unproduktive“ Ausgaben fand, bestimmt.
Tandler, der den Arzt als „Verwalter des organischen Kapitals“ sah, teilte
die Menschen in Produzenten und Konsumenten und dachte dabei in
Kategorien der Arbeitsleistung. [Tandler, Arzt und Wirtschaft, In:
Volksgesundheit 7, (1932), S. 2-13, sowie Gesundheitsfürsorge, In:
Volksgesundheit 1, (1927), S. 11]. Der jugendliche Mensch, bevor er zu
produzieren imstande ist, fällt bei ihm unter die Kategorie
„Nurkonsument“,
darauf
folgt
die
Zeit
des
„ProduzentenKonsumententums“ des erwerbsfähigen Menschen, und schließlich wieder
das „Nurkonsumententum“ [Tandler, Arzt und Wirtschaft, 1932, S. 6].
Tandler ging es also um eine unverhohlene Kalkulation mit menschlicher
Arbeitskraft. Er rechnete vor, dass nur 49% der Kinder der
Armenbevölkerung das 16. Lebensjahr erreichten und merkte an: ...das
heißt jedes zweite Kind ist umsonst gezeugt und tilgt nicht die
Aufzuchtsspesen. Nur eine ganz gedankenlose Bewirtschaftung des
organischen Kapitals kann einen solchen Unfug, einen solchen Mangel an
Rationalität überhaupt erdulden. Man schlage einmal einem Tierzüchter
vor, mit gleichem Risiko zu züchten; kein Züchter der Welt wird sich für
ein solches Experiment hergeben. [Tandler (1924), Ehe- und
Bevölkerungspolitik, S. 4]
In der Wiener Medizinischen Wochenschrift schreibt Julius Tandler im Jahr
1924 von seinem Wunsch, die Zahl der „Irrsinnigen“ durch
„bevölkerungspolitische Maßnahmen“ herabzusetzen sowie weiters: Das
Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens gewinnt im Interesse der
Erhaltung lebenswerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiss, es
sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe,
welche dagegen sprechen, aber schliesslich und endlich wird auch die
Idee, dass man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu
erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewusstsein dringen. Denn
heute vernichten wir vielfach lebenswertes Leben, um lebensunwertes zu
erhalten [...] Dieselbe Gesellschaft, welche in ihrer Verständnislosigkeit, in
ihrer leichtsinnigen Gleichgültigkeit hunderte, darunter vielleicht Talente
und Genies, glatt zugrunde gehen läßt, füttert in sorgsamer Ängstlichkeit
Idioten auf und rechnet es sich als eine Leistung an, wenn es ihr gelingt,
denselben ein behagliches Greisenalter zu sichern. [Tandler, Ehe- und
Bevölkerungspolitik, 1924, S. 2, 3] Aber, fragt man sich heute, hat dies
nicht gerade Tandler durch den Ausbau des Wohlfahrtswesens ermöglicht?
Sein geschlossenes System der Fürsorge umfasste den Menschen von der
Geburt bis zum Tod, unabhängig von sozialer Klasse. Wieso kritisiert er
einerseits den modernen Sozialstaat, der doch nach Theorie vieler
Eugeniker das Selektionsprinzip außer Kraft setzt und damit die
„Degeneration“ weiter verschärft, und baut andererseits diesen doch
gerade im „Roten Wien“ auf?
Bezugnehmend auf die „Minusvarianten“ in der Gesellschaft argumentierte
Tandler folgendermaßen: Wenn ein Epileptiker eine Schwachsinnige
5
heiratet, so gehört nicht viel Kenntnis der Vererbungstheorie dazu, um
von vornherein sagen zu können, daß die Gemeinde Wien die Kinder
dieser Ehe wird erhalten müssen, solange sie leben. Ich sehe darin eine
Ungeheuerlichkeit,
weil
wir
wissentlich
etwas
gestatten,
was
bevölkerungspolitisch, finanzpolitisch ein Unsinn ist. [WStLA, GRSP,
27.6.1921]
Für sein Ziel, daß „Minderwertige“ erst gar nicht geboren werden, boten
sich ihm neben einem moralischen Appell an das Verantwortungsgefühl
des Menschen prinzipiell drei Möglichkeiten: Eheberatung, Sterilisation,
Abortus sind vorderhand die bescheidenen Mitteln der Auslese, die uns zur
Verfügung stehen, sind die Wege, auf denen es der Eugenik gelingen
kann, an die Stelle der verlorenengegangenen natürlichen Auslese die
künstliche zu setzen. [Tandler, Qualitative Bevölkerungspolitik, In:
Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik
(Wien 1927), S. 17] In die Praxis konnte Tandler aber nur die
Eheberatung umsetzen. Seine Haltung zu Maßnahmen der negativen
Eugenik ist sehr ambivalent und nicht eindeutig bestimmbar. In den
Quellen findet man immer wieder sich widersprechende Aussagen. So ist
seine Position zur Frage der Abtreibung von Anfang an durch eine
Doppelstrategie bestimmt: Prinzipiell lehnt er die Abtreibung vehement
ab, da für ihn menschliches Leben mit dem Zeitpunkt der Zeugung
beginnt und unantastbar ist; andererseits ist seine Furcht vor
„lebensunwertem“ Leben noch größer. Deswegen findet man in seinen
Aufsätzen oft divergierende Meinungen. Tandler kann man immer mit
Tandler widerlegen. Noch 1932 betonte Tandler, dass er nicht vor „Laien“
die „Kardinalsfrage“ des Abortus diskutieren wolle, bevor die Ärzte sich
nicht geeinigt hätten [ Tandler, Arzt und Wirtschaft, 1932, S. 9] Er
entwickelte aber ein Konzept der Indikationslösung bei medizinischer,
sozialer und eugenischer Indikation. Den Embryo verstand er als „Teil der
Gesellschaft und nicht als Teil der Mutter“, so hätte auch die Gesellschaft
sowohl die Pflicht, sich um dieses Individuum zu kümmern, als auch das
Recht, es im “Interesse der Allgemeinheit“ zu opfern. Er argumentiert sein
dualistisches
Menschenbild
zwischen
Biologie
und
Soziologie
folgendermaßen: „Biologisch“ so meint er, sei der „Embryo vom
Augenblick der Zeugung ein Individuum und nicht Teil der Mutter“.
„Soziologisch“ hingegen sei der „Embryo Teil der Gesellschaft und nicht
Eigentum der Mutter“.
Tandler entwickelte Pläne einer Kommission, die den „Wert“ des Embryos
zu überprüfen hätte. Diese Kommission sollte aus einem Richter bestehen,
einem „Anwalt des Embryos“, einem „gewählten Vertreter der
Gesellschaft“ und einer Frau. Sämtliche Mitglieder der Kommission sind
also durch ihre gesellschaftliche Stellung definiert - außer der Frau. Die
medizinische Indikation sollten drei Ärzte bestimmen, bei eugenischer
Indikation kämen noch zwei Sachverständige dazu. Diese Kommission war
jedoch heftig umstritten und wurde nicht realisiert.
Zur Frage der Sterilisation ist zu bemerken, dass Julius Tandler sie bei
„blödsinnig geborenen Kinder und den Insassen der Anstalten für
Epileptiker und unheilbar Geisteskranke vor deren Entlassung“ forderte.
6
Eine Sterilisation von Frauen mit unehelichen Kindern lehnte Tandler
allerdings ab [Tandler, Gefahren der Minderwertigkeit, 1928, S. 15] Seine
Haltung zur Sterilisation ist aber nicht so einfach zu bestimmen. So
schrieb er 1928: Die Unfruchtbarmachung der Minderwertigen
selbstverständlich unter allen Kautelen der Wissenschaft und der
Menschlichkeit und unter voller Bürgschaft des Rechtes ist meiner
Überzeugung nach eine unabweisliche Forderung. [Tandler, Gefahren der
Minderwertigkeit, 1928, S. 16] Er hatte aber die Vorstellung, dass jemand,
durch Aufklärung belehrt, von sich aus, dieser Operation zustimmen
würde. Auf die Frage, was passiert, wenn sich jemand „uneinsichtig“ zeigt,
geht Tandler jedoch nicht ein. Die Rechtslage war bei der Sterilisierung
alles andere als eindeutig. Vor allem wurde zwischen der Sterilisierung als
therapeutische Maßnahme und der Sterilisierung zum Zwecke der
Unfruchtbarmachung bei eugenischer Indikation unterschieden. Letztere
fiel unter den Tatbestand der Körperverletzung. [Jochen-Christoph
Kaiser/Kurt Nowak/Michael Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“:
Politische Biologie in Deutschland 1890-1945. Eine Dokumentation (Berlin
1992), XIX]
Julius Tandler ging es um Präventivmaßnahmen, d.h. die Geburt eines
behinderten Kindes war zu verhindern; war es aber einmal auf der Welt,
so gab es dafür ein Fürsorgemodell und die Pflicht, es zu versorgen. Unter
diesem Aspekt muss man die Mutterberatungsstelle betrachten, in denen
schwangere Frauen in den ersten vier Monaten der Schwangerschaft
untersucht werden sollten, ob sie an Syphilis erkrankt seien. Wie bereits
erwähnt, war die hereditäre Syphilis in Wien nach dem Krieg relativ weit
verbreitet. War die Frau gesund, so erhielt sie eine Bescheinigung
darüber, war sie krank, bekam sie eine Behandlungsanweisung. Erschien
die Frau nach der Geburt des Kindes mit dem Gesundheitsnachweis bzw.
mit einem Behandlungsschein und brachte sie ihr Kind zur „weiteren
Befürsorgung“, so erhielt sie von der Gemeinde Wien eine finanzielle
Zuwendung. Diese Maßnahme wurde „Mutterhilfe“ genannt.
Tandler ging es aber vor allem um einen Appell an das
Verantwortungsgefühl der Menschen, sie sollten das richtige Wissen
vermittelt bekommen. Es ging ihm um die Weckung der so genannten
generativen Ethik, dass heißt eine die Fortpflanzung betreffende Ethik. Die
Vorstellung war, dass mittels Aufklärung und Propaganda jeder einzelne
ein „Eugenik-Gewissen“ entwickeln, die Grundsätze und Hierarchisierung
dessen, was eugenisch gut bzw. falsch ist, verinnerlichen sollte. Die
Erziehung zur generativen Ethik war nach Tandler Hauptaufgabe der
Jugendfürsorge, weil es ja um die Verantwortung der menschlichen
Gesellschaft für die nächste Generation gehe. Ein Ort dieser
Wissensvermittlung wurde die „Gesundheitliche Beratungsstelle für
Ehewerber“. Diese Beratungsstelle für „Ehewerber“ bestand seit Juni 1922
und war im städtischen Gesundheitsamt organisiert. Wie der Name bereits
impliziert, ging es nur um eine Beratung und um keine Behandlung. Die
Aufgaben und Ziele wurden folgendermaßen definiert: Aufgabe ist es, die
Ehewerber darüber zu beraten, ob ihre geistige und körperliche
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Verfassung mit Wahrscheinlichkeit entspricht, dass die von ihnen
gezeugten Nachkommen geistig und körperlich gesunde Menschen sein
können. [Tandler, Wohltätigkeit oder Fürsorge? 1925, S. 6, 7] Nach
dreijährigem Bestehen der Eheberatungsstelle resümiert Tandler im Jahre
1925, dass die Eheberatung ganz ausgezeichnet wirksam und die Zahl der
„Ehewerber“, die sich in den Beratungsstellen einfänden, in
ununterbrochenem Ansteigen begriffen sei. Ende der zwanziger Jahre
wirkte Tandler aber etwas ernüchtert. Denn trotz massiver Werbung in
Zeitschriften, Kinos und Rundfunk entsprachen die Besucherzahlen nicht
seinen Erwartungen.
Versorgungsheim Lainz
Wien hatte 1910 etwa 2 Millionen Einwohner, davon waren 148.000
Personen über 60 Jahre. 1930 hatte zwar die Einwohnerzahl
abgenommen, die Zahl der alten Menschen wuchs jedoch auf 167.000. Für
das Versorgungsheim Lainz bedeutete dies eine zusätzliche Belastung.
In Lainz befand sich auch seit 6. September 1921 die zentrale Aufnahme
für alle anderen Versorgungsheime. Jährlich gingen durch diese Stelle
etwa 6000 bis 7000 Personen. Gleichzeitig wurde auch eine
Quarantänestation
eingerichtet.
Aufnahmekriterien
waren
Pflegebedürftigkeit, nicht aber soziale Not. Der Normalbelag in Lainz war
um 1926 an die 5 800 Betten, 240 Betten waren in der Ehepaarabteilung.
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