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Editorial
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Vergebung
Sich diesem Thema zu widmen, gibt es hinreichend Anlass: Für Papst
Franziskus wird die „Vergebung von begangenem Unrecht […] zum sichtbarsten Ausdruck der barmherzigen Liebe“, er bedauert zugleich, dass „die
Erfahrung der Vergebung in unserer Kultur immer seltener wird. Sogar
das Wort selbst scheint manchmal zu verschwinden.“ (Misercordiae vultus
Nr. 9f.) Dessen Relevanz kann aus philosophischer Perspektive unterstrichen werden: Klaus-Michael Kodalle sieht in der Verzeihung die „Mitte
des Ethos“ (Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, Paderborn 2013, 10 [Hervorhebung getilgt]), und für Robert
Spaemann ist die Haltung der Nachsicht sogar so essentiell, dass er von
einer „ontologischen“ Verzeihung spricht: In ihr „erlauben wir es dem Anderen, das Versprechen nicht zu halten, das er als vernünftiges Wesen ist“
(Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart
21990, 235, zit. nach: ebd. 13).
Zwei Artikel dieses Heftes entfalten das Thema aus systematischer Perspektive: Schuld und Vergebung sind ganz-menschliche Phänomene, die
eine Art Herausforderung-Antwort-Kaskade auslösen, in die Täter und
Opfer involviert sind. Sie beginnt empirisch-praktisch bei der Untat und
steigert sich über das Böse bis hin zum metaphysisch Unverzeihlichen.
Spätestens hier kommt der eschatologische Horizont göttlicher Verheißung
ins Spiel (Claudia Mariéle Wulf). Daran schließt die Frage nach der kirchlichen Vergebungspraxis an, befindet sich diese doch aktuell massiv in der
Krise und kann in zweifacher Hinsicht problematisiert werden: als erst zu
legitimierenden Übergriff in einen Bereich, der eigentlich nur Gott selbst
zusteht, und als moralpädagogisches Instrument, dem sich Gläubige zunehmend zu entziehen suchen (Gunda Werner). Flankiert werden diese
Überlegungen über Möglichkeiten und Grenzen der Vergebung zum ersten
durch eine tastende Antwort auf eine Anfrage, die Simon Wiesenthal als
Zeuge der Shoah an verschiedene Persönlichkeiten gerichtet hat und die
jetzt noch einmal erneuert wurde (Eberhard Tiefensee); zum zweiten durch
ein Plädoyer für ein Klima der Nachsichtigkeit aus historischer und politikwissenschaftlicher Perspektive (Klaus Dicke).
Multidimensionale Friedensaufbau- und Versöhnungsprozesse sind Themen eines catholic peace-bulding (Alexander Merkl). – Im immer wieder aufflammenden Streit um die Bewertung des Vaticanum II ist Lumen gentium
nicht als abschließender, bestenfalls noch praktisch umzusetzender Text zu
lesen, sondern als Impuls in die Kirche hinein und weit über sie hinaus
(Josef Freitag).
Eberhard Tiefensee