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ADELHEID SCHUMANN *
Transkulturalität in der Romanistischen Literaturdidaktik
Kulturwissenschaftliche Grundlagen und didaktische Konzepte am
Beispiel der littérature beur
Abstract. Since the 1990s transcultural literary texts by Maghrebian immigrants (littérature beur) are
an integral part of the French language curriculum. They offer insights into the mixed cultures (métissage
culturel) of the Maghrebian youth living in the France of today and are therefore usually integrated into
cultural study units on migration and Francophone cultures. Intercultural practices in the teaching of
literature such as empathic, intertextual, aesthetic-formal and cultural reading are suitable to support the
understanding of transcultural texts.
1.
Transkulturelle Konzepte in Frankophonen Kulturen
1.1 Die Begriffe des métissage culturel
Transkulturelle Konzepte haben in den frankophonen Kulturen eine lange Tradition. Als
in den 1930er Jahren schwarzafrikanische Studenten in Paris (Senghor; Césaire; Damas)
die Négritude-Bewegung ins Leben riefen, ging es ihnen in erster Linie darum, sich gegen
die koloniale kulturelle Vereinnahmung Frankreichs zur Wehr zu setzen, die eigene
Geschichte und Kultur wieder zu entdecken und afrikanische Werte und Traditionen ins
Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu heben.1 Diese Rückbesinnung auf die eigene
Kultur der Négritude ging jedoch nicht einher mit einer Zurückweisung der Europäischen
Einflüsse und der Forderung nach kultureller Reinheit und Wiederherstellung präkolonialer Zustände. Im Gegenteil: Der kulturelle Dialog zwischen Europa und Asien wurde
ausdrücklich bejaht, und die kulturelle Mischung bis hin zur Akzeptanz der französischen
Sprache als einem privilegierten Medium afrikanischer Kultur begrüßt. Das Konzept der
Négritude wurde als ein erster Entwurf afrikanischer Identitätsbestimmung gewertet, als
*
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Adelheid SCHUMANN, Universität Siegen, Fachbereich 3: Sprach-,
Literatur- und Medienwissenschaften, Didaktik der französischen und spanischen Sprache und Kultur, AdolfReichwein-Str. 2, 57076 SIEGEN.
E-mail: [email protected]
Arbeitsbereiche: Interkulturelle Landeskunde, Kulturwissenschaft, Interkulturelle Kommunikation, Mediendidaktik
1
Die drei Gründungsväter der Négritude-Bewegung Aimé Césaire (Martinique), Léan-Gontran Damas
(Französisch-Guyana) und Léopold Sédar Senghor (Senegal) wurden als Trinité Noir bezeichnet. Senghor war
später von 1960–1980 erster Präsident des unabhängigen Staates Senegal. Das Konzept der Négritude wurde
von späteren antikolonialen Bewegungen kritisiert, weil es die koloniale Unterdrückung und den Skavenhandel
ausblendete und eine zu große Affinität zur früheren Kolonialmacht Frankreich beinhaltete, vgl. FEBEL / STRUVE
/ UECKMANN (2007: 13).
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prise de parole der Kolonisierten und als ein Versuch, die verloren gegangene Würde
wieder herzustellen.
Auch die Konzepte der Antillanité (GLISSANT 1981) und der Créolité (CHAMOISEAU /
BERNABÉ / CONFIANT 1989), die in den 1980er Jahren in der französischen Karibik
entstanden (LÜSEBRINK 1992; FEBEL / STRUVE / UECKMANN 2007: 15), bedienten sich der
französischen Sprache und integrierten französische Kultur und Lebensweise, gingen
dabei jedoch weit über das Dialogkonzept der Négritude hinaus und erklärten die kulturelle Hybritität zur Norm in postkolonialen Kulturen und zur Grundlage ihrer eigenen
Identität: „De plus en plus émergera une nouvelle humanité qui aura les caractéristiques
de notre humanité créole: toute la complexité de la créolité [...], l’ambiguité torrientielle
d’une identité mosaïque“, schreibt CHAMOISEAU in seinem Werk Eloge de la créolité
(CHAMOISEAU / BERNABÉ / CONFIANT 1989: 53). Im Begriff der identité mosaïque wird
die Vorstellung von einer die Biografie und Lebensweise nachhaltig prägenden kulturellen Mischung sichtbar, die transkulturelle Existenzformen als die logische Folge von
Kolonialismus und weltweiter Migration begreift.
Als jüngste Vertreter eines transkulturellen Lebenskonzeptes sind die Autoren der
littérature beur zu nennen.2 Unter dem Eindruck eines aus der Migration erwachsenen
irreversiblen métissage culturel beschreiben diese Nachkommen maghrebinischer Immigranten in Frankreich seit den 1980er Jahren ihre transkulturellen Entwicklungsprozesse und Lebensweisen in autobiographischen Romanen und thematisieren die sozialen
Konsequenzen kultureller Hybridität als Kampf um Anerkennung und Gleichstellung.3
Ihre Werke sind Teil einer politischen und sozialen Aufbruchbewegung, mit der die
Jugendlichen insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren gegen den alltäglichen
Rassismus in Frankreich und für ihre kulturelle Anerkennung kämpften. Egalité et
différence, rechtliche und soziale Gleichstellung bei kultureller Differenz, so lauteten die
Schlüsselbegriffe ihrer Integrationsforderungen (SCHUMANN 2002: 37). Das Identitätskonzept der beurs ist geprägt von Erfahrungen der Marginalisierung und Ausgrenzung,
von einem Leben zwischen den Kulturen.4 Sie fühlen sich weder der maghrebinischen
Kultur der Eltern noch der der französischen Lebenswelt zugehörig und erleben ihre
kulturelle Mischung als ein soziales Defizit, das es zu überwinden gilt. In ihren literarischen Werken, die in neuester Zeit auch als écritures transculturelles bezeichnet werden
(FEBEL / STRUVE / UECKMANN 2007), beschreiben sie ihren langen konfliktreichen Weg
von den ewig Ausgegrenzten bis zur Akzeptanz ihres métissage culturel und ihres Lebens
auf und zwischen kulturellen Grenzen.
2
Beur ist ein Begriff des Verlan, eine in der französischen banlieue entstandene Jugendsprache, die mit
Silbenverdrehungen arbeitet, und bedeutet Arabe. Zur Geschichte und Literatur des mouvement beur vgl.
SCHUMANN (2002a), zu neueren Entwicklungen vgl. STRUVE (2007).
3
LÜSEBRINK (1995) spricht von „Identités mosaïques“.
4
Zum Leben zwischen den Kulturen vgl. SCHUMANN (2002a: 134 ff). Die Metapher des Dazwischen in
transkulturellen Texten wird in letzter Zeit auch in anderen kultur- und literaturwissenschaftlichen Kontexten
verwendet, vgl. ETTE (2005).
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1.2 Die Konzepte von Transkulturalität und Interkulturalität
Transkulturalität bezeichnet in den drei genannten Beispielen aus frankophonen Kulturräumen jeweils ein Identitätskonzept, das die koloniale Vergangenheit mit einer multikulturellen Gegenwart zu versöhnen versucht und die kulturelle Mischung nicht nur als eine
unwiderrufliche Gegebenheit akzeptiert, sondern als eine Chance für kulturelle Offenheit
und kulturellen Wandel begreift. Der Begriff der Transkulturalität, der in der kulturwissenschaftlichen Diskussion neben den der Interkulturalität getreten ist und auf kulturelle
Vernetzungsprozesse verweist, die die Grenzen zwischen Eigen- und Fremdkultur aufheben (WELSCH 1999; KÜSTER 2003b; WINTERSTEINER 2006; FEBEL / STRUVE / UECKMANN 2007; HALLET 2007) zielt auf eine prozessorientierte Form der Kulturbetrachtung.
Kultur wird als ein im einzelnen Individuum und in der Gesellschaft sich vollziehender
Prozess der Verknüpfung verschiedener kultureller Wertvorstellungen verstanden, der
sich im Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Traditionen entwickelt und
neue Wertsetzungen hervorbringt. Transkulturelle Identitäten bilden diejenigen aus, die
sich diesem Prozess öffnen und mit ihrer Lebensweise zum métissage culturel, dem
Vermischen und Verknüpfen kultureller Normen verschiedener Herkunft, beitragen.
Der Begriff der Interkulturalität ist im Gegensatz zu dem der Transkulturalität auf den
Verständigungsprozess zwischen differenten Kulturen gerichtet und transportiert die
Vorstellung von Grenzüberschreitung durch Kommunikation. Bei Interkulturalität geht es
um Verständigung über bestehende Grenzen zwischen Eigen und Fremd hinweg, um
Fremdverstehen, wie es im fremdsprachendidaktischen Diskurs heißt5, während dem
Begriff der Transkulturalität die Vorstellung von einer Verwischung der Grenzen innerhalb der eigenen Identität zu Grunde liegt, sodass Eigen und Fremd als Kategorien
aufgehoben werden und das Fremde mit dem Eigenen zu einer neuen Einheit verschmilzt.
Bei der Beschäftigung mit transkulturellen Literaturen und Schreibweisen stößt man
auf die Beschreibung von Identitätsprozessen und Lebensweisen, die sich nicht eindeutig
im Sinne von nationalkulturellen Vorstellungen zuordnen lassen, und man lernt dabei die
schmerzhaften Verwerfungen und konfliktreichen Aushandlungsprozesse kennen, die
diese Entwicklungen begleiten. Um transkulturelle Lebensformen in ihrer Komplexität
verstehen zu können, bedarf es der Entwicklung von Empathie, des Aufbaus eines kulturspezifischen Hintergrundwissens und kulturvergleichender Verfahren des Perspektivenwechsels, Verfahren, die im Allgemeinen als interkulturelles Verstehen bezeichnet
werden und den affektiv und kognitiv gesteuerten Kommunikationsprozess zwischen Text
und Leser betreffen. Es handelt sich bei den Begriffen Transkulturalität und Interkulturalität also weder um Gegensätze noch um Synonyme, sondern vielmehr um zwei sich
komplementierende Vorstellungen. Für den Umgang mit transkulturellen literarischen
Schreibweisen braucht man interkulturelle Verstehensweisen, wobei die Transkulturalität
den Gegenstand der Erkenntnis und die Interkulturalität das Verfahren der Erkenntnis
5
Die Didaktik des Fremdverstehens wurde im Rahmen des Giessener Graduiertenkolleg „Didaktik des
Fremdverstehens“ (1991–2000) entwickelt und von den Professoren und Kollegiaten maßgeblich geprägt.
Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Lothar BREDELLA, Herbert CHRIST und Ansgar NÜNNING.
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darstellt. In diesem Sinne verstehe ich Transkulturalität als eine Lebensweise von Personen mit Migrationshintergrund, aus postkolonialen Kulturen oder anderen multikulturellen
Lebensumständen, sowie als Charakteristikum einer diese kulturellen Überschneidungssituationen widerspiegelnden literarischen Schreibweise, während Interkulturalität den
Prozess der Auseinandersetzung mit transkulturellen Texten betrifft und die Erfahrungen
und Vorstellungen des Lesers in Form seiner Eigenperspektive mit einbezieht.
2.
Transkulturalität als Thema des Französischunterrichts
2.1 Der literarische Kanon für den Französischunterricht
Von der Literaturdidaktik wurde die auf transkulturellen Lebensweisen basierende
frankophone Literatur lange Zeit nicht wahrgenommen, wenn nicht sogar bewusst ignoriert. Im schulischen Französischunterricht wurden, wie eine empirische Studie von Franz
Rudolf WELLER belegt (WELLER 2000), bis Ende der 1990er Jahre fast ausschließlich
Autoren der französischen Klassik (Molière), des Realismus und Naturalismus (Flaubert;
Balzac; Zola), des Existentialismus (Camus; Sartre; Anouilh) oder des Absurden Theaters
(Ionesco) gelesen, kaum aber zeitgenössische Autoren und schon gar keine Literatur aus
frankophonen Ländern oder von maghrebinischen, schwarzafrikanischen oder karibischen
Migranten, die in Frankreich leben.
Das änderte sich erst, als sich im Zuge der Entwicklung interkultureller Zielvorstellungen und der Ausprägung des Lernziels ‚Interkulturelle Kompetenz‘ als Leitkonzept
fremdsprachlichen Lernens die Einsicht in den didaktischen Wert transkultureller Schreibweisen herauskristallisierte und literarische Texte nicht mehr in erster Linie als repräsentative Werke der französischen Nationalkultur ausgewählt wurden, sondern nach Kriterien
der Lernerorientierung und Lernermotivation. Dabei rückten die jugendlichen Lerner mit
ihren Interessen und Themenschwerpunkten zunehmend in den Mittelpunkt, und es
gerieten aktuelle literarische Texte der Migrantenkultur, die Prozesse und Probleme der
interkulturellen Verständigung in multikulturellen Gesellschaften thematisieren, insbesondere diejenigen der Jugendkultur in der banlieue, in den Blickpunkt.
Die Aufwertung der postkolonialen Literatur und ihre Einbeziehung in fremdsprachendidaktische Kontexte hängt natürlich einerseits mit dem aktuellen, gesellschaftspolitisch
motivierten Interesse an transkulturellen Lebensformen zusammen, die im Zuge von
weltweiter Migration und Internationalisierung entstanden sind und das Leben in den
großen Industrienationen heute maßgeblich prägen. Andererseits hängt die Aufwertung
mit einer grundlegenden Neubewertung der Rolle von Literatur im schulischen Fremdsprachenunterricht zusammen und mit der Erkenntnis, dass der Literatur und dabei
insbesondere der Literatur von Minderheiten und Randgruppen beim Erwerb von Interkulturellen Kompetenzen eine zentrale Funktion zukommt:
C Literatur bietet vielfältige Möglichkeiten zur Begegnung mit dem Fremden. Sie
ermöglicht sprachliche und kulturelle Fremdheitserfahrungen und fordert durch die
fiktionale Verfremdung der Wirklichkeit zur Auseinandersetzung mit dem Fremden
heraus.
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C Literatur eröffnet einen affektiven Zugang zur Fremdkultur. Sie verfügt in Gestalt
fiktiver Personen über ein hohes Maß an Identifikationspotential und fördert auf
diese Weise das Einfühlen in fremde Wahrnehmungs- und Deutungsmuster.
C Literatur konfrontiert den Leser mit wechselnden Perspektiven. Sie eröffnet ihm
damit Einsichten in die grundsätzliche Perspektivität von Wahrnehmung und fördert
die Reflexion über den Konstrukt- und Prozesscharakter von Kultur. Sie trägt auf
diese Weise zur Ausbildung einer allgemeinen Kulturbewusstheit bei (SCHUMANN
2007a: 166).
Literarische Texte, in denen Prozesse des Fremdverstehens auf der Ebene der fiktiven
Figuren thematisiert werden, beispielsweise als Begegnung von Personen aus verschiedenen Kulturen, als interkulturelle Aushandlungsprozesse oder als transkulturelle Identitätskonstruktionen, eignen sich besonders für die Auseinandersetzung mit eigenen Fremdheitserfahrungen (VOLKMANN 2000; NÜNNING 2001; KÜSTER 2003a). Der Beitrag von
Literatur zum interkulturellen Verstehen im Fremdsprachenunterricht besteht also vor
allem darin, dass sie den Lerner mit ungewohnten Wahrnehmungsprozessen konfrontiert
und ihn zu einem In-Frage-Stellen und Relativieren eigener Sinngebungsprozesse anleitet,
sowie darin, dass sie zur Reflexion über die Multiperspektivität von Wahrnehmung und
Wertung anstiftet.
2.2 Die Entdeckung von Migration und Frankophonie als Themen des
Französischunterrichts
Seit Mitte der 1990er Jahre tauchten in den Lehrwerken für die Oberstufe verstärkt die
Themenbereiche Immigration und Frankophonie auf und erschienen in den Lektürereihen
für den Französischunterricht zunehmend Werke frankophoner Autoren aus dem Maghreb
oder aus Schwarzafrika, wie z.B. Tahar BEN JELLOUN, Leila SEBBAR oder Autoren aus
der Zweiten und Dritten Migrantengeneration in Frankreich wie z.B. Azouz BEGAG,
Mehdi CHAREF, Soraya NINI, Paul SMAÏL, DJURA, Nina BOURAOUI etc.6 Hinzu kamen
Jugendbücher von französischen Autoren, die sich mit Migrationsthemen und Prozessen
kultureller Mischung beschäftigten und deshalb in den schulischen Lektürekanon aufgenommen wurden.7
Wenn man sich die Themenschwerpunkte für das Zentralabitur Französisch aus dem
Jahre 2007 ansieht, so stellt man fest, dass die französische Migrantenliteratur in Deutschland mittlerweile im Zentrum der schulischen Literaturbetrachtung angekommen ist. In
Nordrhein-Westfalen befassen sich zwei von insgesamt fünf der vorgeschlagenen literarischen Texte mit den Identitäts- und Integrationsproblemen jugendlicher beurs (Marie
FÉRAUD: Anne ici- Sélima là-bas und Tahar BEN JELLOUN: Les Raisins de la galère).
Hinzu kommen die landeskundlichen Themen Le port du foulard und Racisme. In Baden6
Zu den autobiographischen Romanen der Beur-Autoren liegen eine Reihe von Einzelinterpretationen vor
(vgl. SCHUMANN 2002a; SCHUMANN 2002b; STRUVE 2007).
7
Marie FÉRAUD: Anne ici-Sélima là-bas; Jean-Paul NOZIÈRE: Maboul à Zéro, Didier VAN CAUWELAERT: Un
aller simple, Eric-Emmanuel SCHMITT: Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran, u.a.
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Württemberg werden unter dem Titel Au carrefour des cultures vier Migrationsthemen
angegeben, darunter ebenfalls Le port du foulard und Racisme, sowie die Identitätsprobleme von jungen Mädchen maghrebinischer Herkunft, die auf der Grundlage literarischer Texte und Filme erarbeitet werden sollen (Marie FÉRAUD: Anne ici – Sélima là-bas
und Soraya NINI: Ils disent que je suis une beurette bzw. Samia als Verfilmung des
Romans). Hinzu kommt in Baden-Württemberg als aktuelles Thema Les violences dans
les banlieues. Diesen Themenbereich findet man auch an erster Stelle in den Abiturvorschlägen für Brandenburg, wobei der Film La Haine von Matthieu KASSOVITZ als fiktive
Verdichtung der Problematik die Grundlage liefert. In Brandenburg zählen darüber hinaus
die frankophonen Länder Afrikas zu den landeskundlichen Themenschwerpunkten.
Die Beschäftigung mit Problemen des multikulturellen Zusammenlebens und der
Entwicklung transkultureller Lebensformen hat sich, wie man sieht, inzwischen als
Thema des Französischunterrichts durchsetzen können, wobei vor allem die in Frankreich
lokalisierten kulturellen Überschneidungssituationen und Prozesse kultureller Mischung
Beachtung finden. Dabei liegt der Schwerpunkt einerseits auf den sozialen und kulturellen
Problemen, die sich aus der Anwesenheit einer stetig wachsenden Migrationsbevölkerung
in Frankreich ergeben, und andererseits auf den Identitätsprozessen, die die Jugendlichen
maghrebinischer oder schwarzafrikanischer Herkunft bei der Suche nach Eigenständigkeit
und Unabhängigkeit durchlaufen und die sie zur Ausbildung transkultureller Lebensformen führen.
2.3 Die Verbindung von Literatur und Landeskunde bei der Bearbeitung
transkultureller Themen
Im ersten Fall werden die literarischen Texte in der Regel in landeskundliche Themenbereiche eingebunden und mit anderen Textsorten zu einem interkulturellen und intermedialen Geflecht verknüpft, das vor allem der Bearbeitung des soziokulturellen Interessenschwerpunktes dient (vgl. SCHUMANN 2007b). Die littérature beur liefert in diesem Fall
authentische Zeugnisse und Deutungsmuster für die sozialen und kulturellen Probleme der
Migrantenjugend und bietet im Zusammenspiel der Texte Einblicke in die Innenperspektive der Betroffenen. Die Texte werden als Teil des gesellschaftlichen Diskurses behandelt und ausschließlich im Hinblick auf ihren Beitrag zum thematischen Interessenschwerpunkt ausgewertet. Dabei geht es meist weniger um die interkulturellen Konflikte
und transkulturellen Prozesse der Jugendlichen, sondern vielmehr um ihre sozialen
Lebensumstände in der banlieue. Neben der littérature beur kommen dabei auch eine
Reihe von Filmen über das Leben in der banlieue zum Einsatz. Genannt seien neben den
Verfilmungen der Romane von Mehdi CHAREF, Azouz BEGAG, Paul SMAÏL und Soraya
NINI8, insbesondere die Filme Raï, Héxagone, L’Esquive und La Haine.
8
Le Thé au Harem d’Archimède 1985, Hexagone 1994, La Haine 1996, Le Gone du Châaba 1997, Samia
2000, Vivre me tue 2004, L’esquive 2005, Raï 2006. Zu Didaktisierungsvorschlägen für einige der Filme vgl. die
Themenhefte Cinéma et littérature beur (8/1992), Spielfilme (62/2003) und Le cinéma (91/2008) der Zeitschrift
Der Fremdsprachliche Unterricht Französisch.
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Der marginalisierte Raum der banlieue, sozialer Brennpunkt und multikultureller
Treffpunkt zugleich, rückt aus landeskundlicher Perspektive in den Mittelpunkt der
Betrachtung. Er ist der Ort zwischen den Kulturen, an dem die beurs Ausgrenzung und
Marginalisierung erfahren, ein kulturelles Niemandsland, das zur Entwicklung neuer und
eigenständiger kultureller Ausdrucksformen zwingt. Wenn man die Entstehung der
französischen banlieue rund um die großen Städte Paris, Lyon, Marseille in historische
und politische Zusammenhänge wie die koloniale Vergangenheit Frankreichs, den Algerienkrieg und die französische Integrationspolitik einordnet, dann wird deutlich, welche
Rolle die banlieue für die Herausbildung transkultureller Lebensformen spielt: Sie ist der
Ort, wo interkulturelle Gegensätze aufeinander prallen und soziale Konflikte ausgetragen
werden, wo Aushandlungsprozesse nicht selten gewaltsam ablaufen und jeder gezwungen
ist, sich mit seinen eigenen Wertsetzungen und Überzeugungen auseinander zu setzen, um
sich gegenüber anderen Normvorstellungen behaupten zu können und seinen eigenen
Weg zu finden. Bei einer landeskundlich orientierten Lektüre der littérature beur wird
man die banlieue als einen Ort des Widerstandes und der Entscheidungen, der interkulturellen Konflikte und des individuellen Aufbruchs kennen lernen und dabei indirekt die
Identitätsprozesse der Protagonisten nachvollziehen können.
2.4 Die Behandlung transkultureller Themen aus der literarischen
Innenperspektive
Zum zentralen Thema wird Transkulturalität, wenn die in der littérature beur dargestellten Identitätsprozesse der Jugendlichen maghrebinischer oder schwarzafrikanischer
Herkunft direkt in den Blick genommen werden und die Brüche in ihren Biografien
sichtbar werden. Die autobiografischen Werke der littérature beur enthalten eine Fülle
von Entwürfen für eine identité métisse und beschreiben die Bedingungen, unter denen
transkulturelle Lebensweisen entstehen und erfolgreich verlaufen (SCHUMANN 2002a:
228 f), sodass sich die Lektüre dieser Romane zur Auseinandersetzung mit Transkulturalität besonders eignet. Es sind vor allem drei Formen von Identitätskonstruktionen, die
häufig thematisiert werden:
C die losgelöste Identität: eine Selbstkonstruktion, die sich aus allen Bindungen befreit
und sich in einer Zwischenwelt einrichtet,
C die gespielte Identität: eine wechselnde Anpassung der Identität an die jeweiligen
Gegebenheiten und ein Spiel mit verschiedenen Masken,
C die doppelte Identität: eine Mischung der verschiedenen kulturellen Prägungen zu
einer neuen transkulturellen Identität.
Die losgelöste Identität wird beschrieben als Leben in einer Zwischenwelt, die die beurs
sich selbst aufbauen müssen. Mehdi CHAREF sieht seinen Helden in einer solchen Situation: „Il n’est ni arabe, ni français depuis bien longtemps. Il est fils d’immigrés, pommé
entre deux cultures, deux histoires, deux langues, deux couleurs de peu, ni blanc, ni noir,
à inventer ses propres racines“ (CHAREF 1983: 14). Sich seine Identität selbst konstruieren, „s’inventer ses propres racines“, das erscheint als einziger Ausweg aus dem Konflikt
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zwischen den Kulturen, doch führt diese Identitätskonstruktion in allen in den Romanen
gestalteten Fällen zum Scheitern, weil es eine Flucht vor der Realität bedeutet.
Die gespielte Identität erscheint dagegen als eine Verkörperung der Ambivalenz: Die
beurs müssen sich verschiedene Gesichter zulegen und ihre Identität nach Bedarf wechseln können, um in der Situation des Kulturkonfliktes im Elternhaus, in der Schule, bei
der Stellensuche bestehen zu können. Paul SMAÏL bekennt sich zu diesem Spiel der
wechselnden Identitäten: „Le seul moyen d’exister est de jouer un personnage. On ne te
demande pas ta vérité en ce monde, mais de ressembler le mieux possible à l’image toute
faite qu’on a de toi“ (SMAÏL 1997: 21), doch es schwingt ein bitterer Unterton mit und
Zweifel daran, ob sich dieses Spiel lohnt, da das Fremdbild ohnehin unveränderbar
erscheint. Aber die Verlockung, sich als ein anderer auszugeben und die ungeliebte
Identität wenigstens für kurze Zeit abzustreifen, ist dennoch groß und spiegelt sich in den
Romanen der littérature beur in zahlreichen Spielen mit dem eigenen Namen wieder. Paul
SMAÏL z.B. braucht seinen Namen nur ein wenig englisch auszusprechen, um seiner
arabischen Identität scheinbar zu entkommen: „D’ordinaire, je triche un peu, je prononce
à l’anglaise, avec chic en souriant: Smile. A quoi cela tient! Il me semble alors qu’à
l’autre bout du fil l’employeur sollicité sourit aussi“ (SMAÏL 1997: 11). Auch die Protagonistin des Jugendromans Anne ici – Sélima là-bas bedient sich dieses Namenspiels. Sie
legt sich für die Schule den Namen Anne zu, um als Französin à part entière akzeptiert zu
werden und gebraucht ihren eigentlichen Namen Sélima nur im Kreise der Familie und
Verwandtschaft.
Die doppelte Identität wird als einzige der Identitätskonstruktionen als gelungen
präsentiert, als das Ergebnis eines Prozesses der Durchdringung und Aneignung verschiedener kultureller Einflüsse. Nur wenigen beurs scheint es zu gelingen, zu solch einer
positiven Definition ihrer Identität zu kommen und sich weder im Raum zwischen den
Kulturen, noch im Spiel mit wechselnden Masken, sondern im realen Raum Frankreich
als eine Person mit mehreren Kulturen, als transkulturelle Identität zu konstituieren und
sich zu ihrer identité métisse zu bekennen. DJURA, eine erfolgreiche Sängerin gehört z.B.
dazu. Sie schreibt in ihrem autobiographischen Roman: „J’étais au carrefour de deux
cultures, je pouvais enrichir mes créations de ces deux réalités“ (DJURA 1990: 139). Die
beurs und beurettes, die zu einem Frieden mit den verschiedenen Elementen ihrer kulturellen Identität finden und ihre Transkulturalität akzeptieren, verstehen es, einerseits das
kulturelle Erbe der Eltern als Quelle der Inspiration und Stärkung der Persönlichkeit zu
nutzen und andererseits gleichzeitig die Möglichkeiten, die die französische Kultur ihnen
bietet, zu ergreifen, doch die Texte der littérature beur zeigen auch, dass der Weg zu
diesem Gleichgewicht in der Identitätskonstruktion lang und schwierig ist und nur wenigen gelingt.
In den meisten Werken der littérature beur werden verschiedene Identitätskonstruktionen gestaltet, sodass im Unterricht durch Vergleich herausgearbeitet werden kann, welche
Lebensumstände zur Ausbildung von transkulturellen Identitäten führen und welche das
verhindern. In dem Roman Les Raisins de la galère von Tahar BEN JELLOUN, der zu Zeit
in Nordrhein-Westfalen zu den empfohlenen literarischen Werken für den Französischunterricht in der Oberstufe gehört (vgl. HABERKERN 2006), gibt es z.B. drei verschiedene
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Typen von jungen Mädchen algerischer Herkunft, die unterschiedliche Identitäten ausbilden. Allein Nadia, der Protagonistin, gelingt es, ihre gegensätzlichen kulturellen
Prägungen miteinander zu vereinen und zu einer transkulturellen Lebensweise zu finden,
indem sie sich sozial und politisch engagiert und zu eigenständigem Handeln findet. Ihre
Freundin Naïma entspricht dem Typ der losgelösten Identität. Sie bricht mit der Familie
und ihrem persönlichen Umfeld und zerstört hinter sich alle Brücken, um in Italien ein
alternatives Leben zu beginnen. Die Schwester von Nadia, Zohra, repräsentiert einen
anderen Typ, den der maghrebinischen Frau, die sich strikt an die kulturellen Normen
ihrer Eltern und ihres Gatten hält und jegliche kulturelle Mischung verweigert. Sie lebt in
Frankreich in dem kulturellen Gefängnis einer algerischen Kultur, die sie selbst in der
Realität nie kennen gelernt hat. Der Roman, der aus der Innenperspektive der Protagonistin Nadia geschrieben ist, bietet einen guten Einblick in die Konflikte und Niederlagen,
die die beurs zu bestehen und zu überwinden haben, um eine eigenständige Persönlichkeit
ausbilden zu können.
3.
Transkulturelle Schreibweisen als Ausgangspunkt für interkulturelle
Lernprozesse
3.1 Interkulturelle Verfahren beim Umgang mit transkulturellen Texten
Wie oben bereits beschrieben, dienen interkulturelle Verfahren in der Literaturdidaktik
der Herstellung einer erfolgreichen Kommunikation zwischen Leser und Text. Ziel der
Beschäftigung mit Texten der littérature beur oder anderen Werken der écriture transculturelle ist es, die literarisch gestalteten Prozesse kultureller Sinngebung aufzudecken
und ihre Konstruktionsmechanismen zu durchschauen, um auf diese Weise die Entwicklung transkultureller Lebensformen nachvollziehen zu können. Dabei sind einerseits
Verfahren des empathischen Lesens von Nutzen, andererseits Verfahren des intertextuellen Lesens (HALLET 2002; HALLET 2007).9
Verfahren des empathischen Lesens sind unter dem Begriff des Fremdverstehens
(BREDELLA 2007; NÜNNING 2001; VOLKMANN 2000) schon häufig beschrieben worden.
Es geht darum, sich durch Perspektivenwechsel in die Probleme und Konflikte der
Protagonisten einzufühlen, ihre Handlungen und Entscheidungen aus der Innenperspektive nachzuvollziehen und auf diese Weise die beschriebenen Identitätsprozesse zu
verstehen. Anschließend werden die aus der Innenperspektive gewonnenen Erkenntnisse
einer kritischen Prüfung unterzogen und den eigenen Positionen und Wertsetzungen
gegenübergestellt, d.h. auf den Schritt des Sich-Einlassens auf die Perspektive des Erzählers folgt der Schritt der Distanzierung, Reflexion und Einordnung. Bei der Lektüre
transkultureller Texte erlaubt dieses Verfahren ein sehr genaues Nachvollziehen des
9
HALLET beschreibt als kulturwissenschaftliche Ansätze bei der Arbeit mit literarischen Texten fünf
verschiedene Arten des Lesens und Lernens: Ästhetisches Lesen, Soziales Lernen, Generisches Lernen,
Kulturelles Lesen, Kulturelles Lernen (vgl. HALLET 2007).
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Entwicklungsprozesses der Protagonisten und ein Aufspüren der Bedingungen und
Lebensumstände, die kulturelle Mischidentitäten hervorbringen. Es ist in der Regel
verbunden mit einer Aktivierung des Vorwissens der Lerner und einer Reflexion ihrer
eigenen Wahrnehmungsperspektiven.
Verfahren des intertextuellen Lesens (HALLET 2002) stellen den literarischen Text
dagegen in einen größeren Kontext und werten ihn als Teil eines gesellschaftlichen
Diskurses. Sie konfrontieren ihn mit anderen Perspektiven und differenten Textsorten.
Dabei geht es nicht nur darum, ein kulturelles Kontextwissen aufzubauen, wie der oben
beschriebene landeskundlich orientierte Zugang zu den Texten der littérature beur es
nahe legt, sondern vor allem um das Aufdecken von Bezügen im gesellschaftlichen
Diskurs, um das Herausfiltern der kommunikativen und medialen Verflechtungen, die die
Entwicklung transkultureller Lebensformen begünstigen. Für die Beschreibung ihrer
identité métisse bedienen sich die beurs sowohl der Diskurse ihrer Herkunftskultur als
auch derer ihrer französischen Lebensumwelt. Das Verfahren des intertextuellen Lesens
ermöglicht es, die Differenzen in den Diskursen aufzudecken und in einen größeren
Zusammenhang zu stellen. Die gesellschaftlichen Diskurse, die für das Verständnis der
littérature beur relevant sind, betreffen die Immigrations- und Integrationsdebatten in
Frankreich seit den 1980er und 1990er Jahren und die im Front National sich konzentrierende Ausländerfeindlichkeit, die politischen Auseinandersetzungen um die Islamisierung der banlieue, den Umgang mit den Jugendkrawallen in der banlieue und der multikulturellen Vorstadtjugend, der jeunesse black-blanc-beur, sowie die Debatten um den
Verlust der republikanischen Werte (SCHUMANN 2002: 259 f).
3.2 Sprachanalytische und kulturanalytische Verfahren zum Aufdecken
kultureller Codes
In der Sprachwissenschaft ist von code switching die Rede, wenn die sprachliche und
kulturelle Mischung jugendlicher Migranten beschrieben wird. Unter Codes werden dabei
zunächst einmal die verschiedenen Sprachen verstanden, derer sich die Jugendlichen
bedienen und die sie je nach Bedarf mitten im Satz wechseln können. Unter Codes
werden in der Kulturwissenschaft darüber hinaus Kulturstandards verstanden, die im
Verlauf der Sozialisation in Elternhaus und Schule erworben werden und als fest verankerte anthropologische Vorstellungen die Konstrukte kultureller Identität und das
gesellschaftliche Wertesystem nachhaltig prägen. Transkulturelle Persönlichkeiten
verfügen über mehrere kulturelle und sprachliche Codes, die sie nicht nur im Alltag
miteinander vermischen, sondern die auch in Gestalt eines Spiels mit Mehrsprachigkeit
und Plurikulturalität ihre Schreibweise charakterisieren. In den Texten der littérature beur
findet man eine Fülle von sprachlichen und kulturellen Mischungen, die auf die identité
métisse ihrer Autoren verweisen. Sie in den Texten aufzuspüren bedeutet, die Zeichen für
transkulturelle Verflechtungen zu erkennen und interpretieren zu können. Dazu bieten
sich die Verfahren des ästhetisch-formalen Lesens und des kulturellen Lesens an.
Verfahren des ästhetisch-formalen Lesens gelten dem Aufspüren sprachlicher Mischungen und narrativer Elemente, die den kulturellen métissage der Autoren wider37 (2008)
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spiegeln. Es sind vor allem zwei sprachliche Elemente, die die Werke der littérature beur
charakterisieren: oralité, d.h. die Verwendung von Umgangssprache und Sprachmischungen des alltäglichen Lebens und ironie, d.h. die Distanzierung vom Sprachgebrauch der
Umgebung. Mit der oralité erzeugen die Autoren Nähe. Sie ziehen den Leser hinein in
den Alltag der beurs in der banlieue und lassen ihn teilhaben an der sprachlichen Vielfalt
dieses Lebens. Mit der ironie hingegen schaffen sie Distanz zu ihren eigenen Lebensgeschichten und enthüllen die kulturelle Ambivalenz ihres Migrantendaseins. In jedem
der autobiographischen Werke sind in mehr oder weniger ausgeprägter Weise vier
verschiedene Sprachschichten anzutreffen:
C die französische Schriftsprache als Grundlage des Erzähltextes,
C die verschiedenen diatopischen, diastratischen und diaphasischen Sprachvarietäten
der gesprochenen Sprache der banlieue,
C die Herkunftssprache der Eltern als Kommunikationsmittel innerhalb der Familien,
C die ironische Entstellung und Verdrehung der verschiedenen Sprachvarietäten.
Jede Sprachschicht hat ihre spezifische Funktion im Erzählprozess und ist symbolischer
Ausdruck der Positionierung der beurs zwischen den Kulturen. Mit der französischen
Schriftsprache als Grundlage des Erzähltextes verorten die beurs sich innerhalb der
französischen Literatur, mit den verschiedenen lokalen und schichtenspezifischen Sprachelementen geben sie sich als Angehörige eines bestimmten Stadtviertels zu erkennen, mit
der Verwendung einzelner Worte und Begriffe aus der Sprache der Eltern verweisen sie
auf die kulturelle Herkunft der Familie und mit Hilfe der ironischen Brechungen der
sprachlichen Besonderheiten ihres Milieus distanzieren sie sich wieder von ihren kulturellen Grundlagen und stellen sich außerhalb dieser Gemeinschaft. Mit der Verwendung
verschiedener Sprachschichten und unterschiedlicher Sprachen, mit dem Spiel zwischen
Nähe und Distanz, oralité und ironie, schaffen die beurs sich ihre eigenen, ihrer transkulturellen Lebensform angemessenen Stilmittel, die ihre kulturellen Suchprozesse
zwischen französischer und maghrebinischer Kultur abbilden.
Das Verfahren des kulturellen Lesens gilt der Suche nach Spuren der kulturellen
Verortung in literarischen Texten in Form von Auseinandersetzungen mit den kulturellen
Werten der Herkunfts- und der Zielkultur oder einer subjektiven Aneignung bzw. Umdeutung kollektiver Mythen. Von Interesse für eine Analyse sind bei diesen kulturellen
Aneignungsprozessen vor allem die Verfahren der Wertung und der Selektion, die von
den Autoren im Sinne ihrer transkulturellen Identitätskonstruktion vorgenommen werden.
Die Mythen werden beispielsweise so umgedeutet, dass sie in ein neues, aus verschiedenen Kulturen zusammengesetztes Wertekonzept passen.
Auch für eine solche Spurensuche bietet die littérature beur eine Fülle von Beispielen,
wobei nicht nur die autobiografischen Romane als Grundlage dienen können, sondern
auch die Chansons und Raps der beurs. In ihnen werden verschiedene kollektive Mythen
Frankreichs, wie z.B. die Vorstellung von der ,Douce France‘ als einem Ort traditionellen
französischen Lebens, das Konstrukt des ,Hexagone‘ als gleichmäßig geformtem französischen Territorium oder der republikanische Slogan ,Liberté, Egalité, Fraternité‘, um nur
einige Beispiele zu nennen, einer kulturellen Umdeutung unterzogen, die den Prozess des
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métissage culturel deutlich erkennen lässt. So wird die ,Douce France‘ zur süßen Heimat
der beurs erklärt, das ‚Hexagone‘ zum Symbol der Migrantenjugend hochstilisiert und der
französische Slogan ‚Liberté, Egalité, Fraternité‘ um den Begriff der ,Diversité‘ erweitert.10 Aber auch kollektive Mythen der maghrebinischen Kultur der Eltern werden
von den beurs einer Re-Lektüre unterzogen und für die eigene Identitätskonstruktion
genutzt. Als Beispiele sind der mythe du retour zu nennen, der von den beurs widerlegt
wird, oder die Gestalt der algerischen Berberkönigin Kahina, deren Rebellion gegen die
traditionelle Rolle der Frau in arabischen Gesellschaften von einer beurette für das eigene
Aufbegehren gegen die männliche Dominanz in der Familie genutzt wird (SCHUMANN
2002: 137 und 182). Die Auseinandersetzung mit den kollektiven Mythen führt in jedem
Fall dazu, dass die im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft verankerte ursprüngliche
Bedeutung aufgehoben wird und die Mythen neu kodiert werden für eine Identität zwischen den Kulturen.
Während die interkulturellen Verfahren auf ein perspektivisches und kontextualisierendes Lesen der transkulturellen Texte zielen, geht es bei den sprach- und kulturanalytischen Verfahren um ein selektives Lesen, bei dem die Aufmerksamkeit des Lesers auf
sprachliche und kulturelle Zeichen gerichtet ist, die den métissage des Textes belegen. Im
Umgang mit transkulturellen literarischen Texten sind verschiedene Zugänge notwendig,
um einerseits eine lernerorientierte subjektive Rezeption zu ermöglichen, die es dem
Lerner erlaubt, über die Auseinandersetzung mit der Identitätssuche der Protagonisten
eigene Identitätsprozesse zu reflektieren, andererseits enthalten die Texte eine Fülle von
kulturellen Zeichen, die einen analytisch-kognitiven Zugang erfordern und zu einem
Aufspüren kultureller Verflechtungen, Hybridisierungen und Grenzverschiebungen, d.h.
zum Verstehen der Transkulturalität des Textes, einladen.
Literatur
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10
Eine genaue Analyse solcher Umdeutungen von kollektiven Mythen Frankreichs habe ich in folgenden
Aufsätzen vorgelegt: „‚Douce France‘: Die Aneignung der mémoire collective Frankreichs durch die Immigranten der zweiten Generation“. In: Frankreich Jahrbuch 2000, Opladen; „Multikulturelle Farbspiele im
Französischunterricht: Black-Blanc-Beur gegen Bleu-Blanc-Rouge“. In: Fremdsprachenunterricht: Multi-Culti
im Fremdsprachenunterricht, Sonderheft 2003, 62–67; „Allons enfants de la patrie. Die Marseillaise als Ort der
Aushandlung von nationaler Identität und Zugehörigkeit zu Frankreich“. In: Französisch heute 3/2003,
238–253; „L’Hexagone. Vom Kollektiven Mythos zum Markenzeichnen“. In: THOMA / RÖSEBERG (Hrsg.)
(2008): Interkulturalität und wissenschaftliche Kanonbildung. Frankreich als Forschungsgegenstand einer
interkulturellen Kulturwissenschaft. Halle: Logos, 179–187.
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Ttranskulturalität in der romanistischen Literaturdidaktik ...
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SCHMITT, Eric-Emmanuel (2001): Monsieur Ibrahim ou les fleurs du Coran. Paris: Albin Michel.
SEBBAR, Leïla (1996): La jeune fille au balcon. Paris: Editions du Seuil.
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SMAÏL, Paul (1998): Casa, la Casa. Paris: Balland.
VAN CAUWELAERT, Didier (1994): Un aller simple. Paris: Albin Michel.
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